Rahmen 3: Palästina-Szenario
Die Palästinenserinnen und Palästinenser verloren viele ihrer Dörfer 1948 mit der Gründung Israels durch die Zionisten. Das konnten auch die befreundeten Armeen nicht verhindern, ebensowenig wie die Besatzung der Westbank und des Gazastreifens 1967. Obwohl die UNO, das internationale Recht, die Menschenrechte und die Genfer Konventionen seit Jahrzehnten fordern, den Palästinensern ihr Recht zu geben, ist dies nicht geschehen. Die PLO hat inzwischen Israel anerkannt und die Palästinenser haben mehr Zugeständnisse gemacht als je zuvor. Man kann nicht erwarten, dass jeder einzelne Palästinenser zum Pazifisten wird, bevor die Gesamtheit zu ihrem Recht kommt. Statt der Freiheit nimmt die Mauer ihnen jetzt noch mehr Land weg und das Töten der politischen Gegner geht weiter. Die Palästinenser geben aber nicht auf. Immer wieder argumentieren die Zionisten und die Freunde Israels, dass das Existenzrecht der Juden in Israel gesichert werden muss. Dabei hat Israel Atomwaffen. Sehr häufig wird der schwerwiegende Antisemitismus-Vorwurf als Rechtfertigung für israelische Staatsgewalt eingebracht. Man spricht seit einer Weile auch von arabischem Antisemitismus und islamischem. Das Menschenrecht der Palästinenser kommt am Antisemitismusvorwurf nicht vorbei und seine Fürsprecher werden in der Öffentlichkeit marginalisiert und auch aus dem Diskurs gedrängt. Wieder werden Menschen herausgenommen und zum Sündenbock gemacht. Das ist alarmierend und muss gestoppt werden.

- Scheideweg der Werte -
So ungefähr lassen sich drei Rahmen beschreiben, die alle am Phänomen Antisemitismus bzw. Antisemitismus-Vorwurf teilhaben. Sie scheinen, jedes für sich genommen, plausibel, zumindest kohärent. Die Probleme jedoch, die sich aus ihrer Interaktion ergeben, sind mannigfaltig und bilden den Kern der vorliegenden Untersuchung.
Welche Werte liegen unseren Denkrahmen zu Grunde? Betrachten wir einleitend, was Jürgen Habermas am 07.06.02 in der Süddeutschen Zeitung schrieb: "Der Vorwurf des Antisemitismus, gleichviel ob er zurecht oder zu unrecht erhoben wird, bezieht sich auf die Verletzung einer Wertorientierung, die in unserer politischen Kultur inzwischen verankert ist." (S.13) Diese Aussage repräsentiert auch das, was mit den Begriffen des "Sonderverhältnisses" und des "demokratischen Grundkonsenses" gemeint ist, die im Verlauf der Debatte von hochrangigen deutschen Politikern betont wurden. Die Begründung für diesen Wert und diese Norm geht aus dem ersten Szenario hervor.
Diese von Habermas so genannte "Wertorientierung" liegt im ersten der obigen Szenarios begründet und betont das erste und das zweite. Das dritte kommt nicht vor, weil das Hauptaugenmerk auf der Verhinderung eines erneuten Judenhasses und damit einer Wiederholung des Weltkriegstraumas liegt. Aus der Perspektive des dritten, des Palästina-Szenarios besteht hier die Sorge, dass es zu strukturellen Ähnlichkeiten kommen kann zwischen so genannten "Kollateralschäden", bei denen einige unschuldige Opfer als Preis für erfolgreiche Terrorismusbekämpfung in Kauf genommen werden, und solchen Palästinensern, Arabern, Muslimen, politisch Interessierten, Pazifisten und Menschenrechtlern, die im Falle einer Übertreibung in der Antisemitismus-Bekämpfung mitbetroffen, eigentlich aber gar nicht gemeint sind.
Abgesehen davon ist das Nichtvorhandensein des dritten Szenarios ein Diskursmerkmal, wie dieser Ausschnitt zeigt aus einem Interview mit dem libanesischen Botschafter in den USA, Farid Abboud, auf dem patriotischen US-Fernsehsender Fox. Die Problematik ist im deutschen Diskurs sehr ähnlich: "Fox interviewer (sighing): Mr. Abboud, do you recognize Israel's right to exist ? Abboud: Yes, I recognize PALESTINE'S right to exist !!! Fox interviewer (no words to describe his face): Mr. Ambassador. Please stop this aversion in answering, and answer our specific questions !!! Do you recognize Israel's right to exist or not?! Abboud: Israel already exists, Sir. It does not need my recognition. It is the recognition of Palestine to exist that should be addressed." (Fox News, 27.10.03, "Fox Interviews Ambassador Farid Abboud of Lebanon").
Dabei ist zu berücksichtigen, dass das dritte Szenario den jüdisch-israelisch-deutschen Diskurs mitbetrifft und nicht außerhalb seiner steht. So ist etwa Moshe Zuckermanns Buch "Zweierlei Israel? Auskünfte eines marxistischen Juden an Thomas Ebermann, Hermann L. Gremliza und Volker Weiß" (2003) in der Süddeutschen Zeitung wie folgt besprochen worden: "Einig werden sich Zuckermann und seine Gesprächspartner nicht, da sie mit Israel ganz Unterschiedliches verbinden: Der israelische Staatsbürger Zuckermann, der erklärtermaßen gerne in Israel lebt, redet über die israelische Gesellschaft, den Nahost-Konflikt oder die Notwendigkeit, die Besatzung zu beenden. Dabei liefert er den Lesern wunderbar scharfe Analysen zur israelischen Politik. Die Konkret-Publizisten denken dagegen bei Israel an Antisemitismus, völkisches Denken und - letztlich - an Deutschland." (SZ 21.07.03, Literatur, Dirk Eckert).
Auch geht es bei der Interaktion um die Frage, inwiefern die Repräsentanten des dritten, des Palästina-Szenarios, die anderen Szenarien anerkennen. Wenn man dabei nicht vergisst, dass Israel Palästina besetzt hält und nicht umgekehrt, wenn man auch berücksichtigt, dass es die Nazis und ihre Verbündeten waren, die mit Hilfe des Antisemitismus den Holocaust angerichtet und zu verantworten haben und nicht die Araber, dann ist es ebenfalls notwendig, über die - und sei sie kritische - Anerkennung des Israel-Szenarios seitens Palästinensern, Arabern und Muslimen zu sprechen. Die Judenverfolgung in Deutschland und Europa hat ja der zionistischen Idee erst die Akzeptanz verschafft, die die Gründung des Staates Israel in dieser Form ermöglicht hat. Es ist auch für Araber und Muslime wichtig, diesen Rahmen zu kennen, weil der politische Gegner dadurch berechenbarer und verständlicher wird. Missverständnisse und einige Provokationen können so umgangen werden. Die Anerkennung des Staates Israels vom palästinensischen Mainstream ist jedenfalls schon vor einer Weile erfolgt, und auch auf saudi-arabischer Seite hat es international beachtete Annäherungen diesbezüglich gegeben. Es muss auf arabischer Seite klar sein, dass das Menschenrecht auch für Juden und Israelis unteilbar ist.
Die Menschheit hat sich in revolutionären Prozessen, die über Jahrhunderte, ja Jahrtausende verliefen, auf einige Werte weitgehend geeinigt. Die wesentliche Errungenschaft der Zivilisation war die zunehmende Gewaltvermeidung im Prozess der Demokratisierung und der Erarbeitung einer Charta der Menschenrechte.3
Dazu gehören das Selbstbestimmungsrecht von Individuen und Gesellschaften. Das Recht zu leben. Das Recht auf freie Meinungsäußerung. Auf Bildung und Reisefreiheit. Auf Arbeit und Kommunikation. Auf freie Entfaltung. Freie Wissenschaft. Auch wurde die UNO gegründet, um den Frieden zwischen den Ländern zu sichern und um gemeinsame Normen vorzuleben.
Faktisch aber gibt es keine Priorität des Menschenrechts und der UNO4. Zu den Topoi des ersten Szenarios (Topos, Plural Topoi: wiederkehrendes Motiv im Diskurs) gehört zwar das Argument, dass Menschenrechtsverletzungen auch anderswo geschehen. Allerdings ist anderswo nicht die "einzige Demokratie im Nahen Osten", die es zu verteidigen gilt.5 Auch der Einwand, dass es auch unter den Palästinensern genau so Täter gibt wie unter den Israelis, trifft nicht genau, denn im einen Fall handelt es sich um Staatsgewalt, im anderen nicht. Es ist ein "asymmetrischer Konflikt", wie Michael Schneider in seinem langen Artikel schreibt: "Seit wann ist Okkupation zu relativieren? Einseitige Wahrnehmung eines ‚asymmetrischen Konflikts'. Auch das deutsch-jüdische Verhältnis blockiert eine Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern" (Wochenzeitung Freitag, 26.09.03). Siehe auch den Kommentar von Werner Pirker in der jungen Welt vom 29.01.04: "Historische Schuld. Neun Tote bei Vorstoß in den Gazastreifen".
Das Plädoyer in dieser Studie gilt dem gleichen Maß für alle.
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Fußnoten:
1: In der Attac-"Erklärung zu Antisemitismus und zum Nahostkonflikt" vom 18.10.03 wurde der Begriff "Philosemitismus" trotz der begründeten Einstufung als "Essential" im Schlusstext nicht zugelassen. (zurück)
2: Donald Schön (1979), "Generative Metaphor: A Perspective on Problem-Setting in Social History." In: Ortony, A. (Hrsg.): Metaphor and Thought. Cambridge, England (zurück)
3: Siehe Statistiken über nicht-militarisierte Staaten, Kriegsdienstverweigerer und Abschaffung der Todesstrafe bei Glenn D. Paige (2002): "Nonkilling Global Political Science", Xlibris, (S. 42 ff). Direkt-Link zum Downloaden: www.globalnonviolence.org/docs/nonkilling/nonkilling_text.pdf (zurück)
4: Siehe z.B. Ulrich Arnswald im Freitag 35, 22.08.03, "Präventiv-Krieg oder Präemptiv-Krieg? Begriffsverwirrung. Die USA wollen den Feldzug im Irak nutzen, um durch die Macht des Faktischen einen neuen Kriegstyp zu legitimieren", auch Freitag, 14.02.2003, "'Die Begründungslüge'. Der Zweck und die Mittel. Eine mögliche Irak-Invasion wäre kein 'Präventivkrieg'" von Ulrich Arnswald, auch taz 21.03.03. (zurück)
5: Siehe z.B. "(...) sei klargestellt: Die Welt braucht Israel. Als das einzige westliche Land des Orients, als die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten." (taz 29.11.03, Magazin S. I-II, "Wozu noch nach Israel?" von Philipp Gessler) oder "Israel ist eine funktionierende Demokratie - die einzige im Krisengebiet Nahost, und als solche wichtig für die Interessen auch Europas." (SZ 05.11.03, "Mit der Moralkeule nach Nahost", Stefan Kornelius) (zurück)