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Im Interview: Knut Mellenthin
Über Websites, Journalismus, Malerei und Hamburg

Knut Mellenthin, Jahrgang 1946, ist freier Journalist und Historiker. Seit Jahrzehnten gehört er zur deutschen Medienkultur. Viele kennen ihn von seinen Artikeln in der Tageszeitung junge Welt. Anis steht seit einigen Jahren mit ihm in Email-Kontakt. Das vorliegende Interview entstand im Oktober 2006 anlässlich seiner nun erschienenen Website www.knutmellenthin.de. Fragen von Anis


Frage: Seit einiger Zeit steht die Website www.holocaust-chronologie.de im Netz, die Deiner langjährigen Recherche entstammt. Wie kamst Du auf den Gedanken und was ist neu oder besonders daran?

Knut Mellenthin: Die meisten Holocaust-Timelines oder -Chronologien gehen über 30 Seiten Umfang nicht hinaus, beschränken sich also auf verhältnismäßig wenig Daten und auf stichwortartige Sätze. Eine wichtige Ausnahme bildet die Auschwitz-Chronologie von Danuta Czech, die tageweise aufgebaut ist und ungeheuer viel Material enthält, aber eben nur zum Vernichtungslager Auschwitz. Inzwischen gibt es mindestens ein weiteres umfangreiches Chronologie-Projekt im Internet, aber als ich vor 15-16 Jahren mit dem Sammeln des Material begann, gab es noch gar nichts Vergleichbares. Meine Chronologie hat derzeit über 400 Seiten; das von mir gespeicherte Rohmaterial ist mindestens drei Mal so umfangreich.

Eine wesentliche Intention meines Projekts besteht in dem Versuch, Grundlagen einer politischen Geschichte des deutschen Völkermords an den Juden zusammenzutragen. Ich habe deshalb alle einschlägigen Äußerungen von Hitler und Goebbels, sowie anderer NS-Politiker, in die Chronologie aufgenommen, ebenso alle wesentlichen Passagen aus der antijüdischen Gesetzgebung des NS-Staates und viele lange Auszüge aus der auf den Völkermord bezogenen diplomatischen Korrespondenz.

Frage: Abgesehen davon, dass ein griffiger Name für ein solches Projekt benötigt wird: Hältst Du den Begriff „Holocaust“ für neutral? Ist er nicht bereits ideologisch verzerrt, zumindest aber suggestiv?

Knut Mellenthin: Jeder denkbare Begriff kann wohl nur „ideologisch verzerrt“ und nicht „neutral“ sein, weil die Diskurse um die Ereignisse hochgradig politisiert sind. Der Holocaust, oder wie immer man sagen will, wird politisch instrumentalisiert. Die Hauptform besteht darin, ihn mit ganz anderen Erscheinungen gleichzusetzen, um politische Gegner zu diffamieren. Ich denke, dass jede Relativierung des Holocaust von Übel ist. Ganz egal, von welcher Seite, ganz egal, aus welchen politischen Motiven. Ganz egal, ob es die israelische Kriegführung im Libanon ist, die mit den NS-Verbrechen und -Verbrechern gleichgesetzt wird oder der iranische Präsident Ahmadinedschad.

Dies vorausgeschickt möchte ich auf deine Frage antworten, dass ich den Begriff „Holocaust“ benutze, weil er der gebräuchlichste ist, und weil ich keinen Sinn darin sehe, unbedingt etwas Neues erfinden zu wollen. Ich halte den Begriff jedoch für sachlich falsch. Das griechische Wort „Holocaust“ bezeichnet ein Brandopfer, das Gott dargebracht wird. Der Begriff „Holocaust“ beinhaltet also eine abwegige Form der Sinngebung, abwegige Interpretationen des Völkermords an den Juden. Etwa in dem Sinn, als sei dieses „Opfer“ mehr oder weniger bewusst gebracht worden, um den Staat Israel zu gründen und zu legitimieren. Ich denke, solche Gedanken lagen den Millionen, die ermordet wurden, ganz fern. Ebenso unsinnig sind extrem orthodoxe Interpretationen, wie man sie ebenfalls lesen kann, dass die Ermordeten als „Sühneopfer“ für den „Abfall der Juden von Gott“ gestorben seien. Also, der „Opfer“-Gedanke, wie immer er gemeint ist, führt meiner Ansicht nach in falsche Richtungen.


Frage: Der Networker Günter Schenk schrieb kürzlich in einem Kommentar zu dem umstrittenen Artikel „Honesty heißt Ehrlichkeit. Gibt es einen neuen Judenhass – in Deutschland, Europa, der Welt?“ von Horst Helas (Neues Deutschland 29.09.2006): „Nur indem an vergangene schwere Verbrechen erinnert wird, neue Verbrechen möglicherweise damit verglichen werden, ist eine heilsame Wirkung der Erkenntnis aus der Vergangenheit möglich. Wozu sonst sollte z.B. staatsbürgerliche Erziehung, Aufklärung über vergangene Verbrechen, dienen, wenn nicht als Maßstab dafür, was, auch in Ansätzen nie mehr geschehen darf?“

Knut Mellenthin: Dem stimme ich zu, sofern wir uns einig sind, dass „vergleichen“ nicht etwa „gleichsetzen“ heißt und dass, wie ich schon sagte, eine Relativierung der NS-Verbrechen und NS-Verbrecher ausgeschlossen ist.

Frage: Hast Du bereits Feedback auf die Chronologie bekommen? Etwas Interessantes darunter?

Knut Mellenthin: Das Feedback ist leider, nachdem die Holocaust-Chronologie nun schon rund ein Vierteljahr im Netz steht, nicht viel größer als Null. Ein paar aufmunternde Worte von Freunden und alten politischen Bekannten. Von mir Unbekannten in der ganzen Zeit vielleicht zwei, drei Mails. Keine Beschimpfungen von Rechts. Junge Welt und Neues Deutschland haben berichtet, die SOZ hat ein Interview mit mir veröffentlicht.

Frage: Wie bitte?? Unser gesamter politischer und journalistischer Diskurs beruft sich täglich auf den Genozid an den Juden. Und da willst Du mir erzählen, dass ein öffentliches, fundiertes Werk wie dieses nicht in der FAZ besprochen wird? Nicht in der Süddeutschen? Im Spiegel? in der ARD? Auf Arte? Du willst mir sagen, dass keine Partei auf Dich zugekommen ist, um Dich einzuladen? Das ist unglaublich!! Nein, ich kann das nicht glauben. Es würde ja bedeuten, dass das öffentliche Interesse nur geheuchelt ist. Bist Du sicher, dass Medien und Politik hinreichend Kenntnis von der Chronologie haben?

Knut Mellenthin: Ja, ich habe, auch mit Unterstützung von Freunden, die ihrerseits Leute in Verlagen und Medien kannten, schon seit 1996 wirklich eine ganze Menge versucht. Aber ich möchte meine eigene Bedeutung, als ein „Niemand“ auf diesem Gebiet, nicht überschätzen. Deshalb zitiere ich lieber, was bei Wikipedia zu Raul Hilberg nachzulesen ist, dessen 1961 veröffentlichtes Buch „The Destruction of the European Jews“ nicht nur das erste, sondern viele Jahre lang auch das wichtigste zusammenfassende Werk zum deutschen Völkermord an den Juden war:
„Erst nach einer Odyssee von sechs Jahren durch viele Verlage wurde seine Dissertation – das ist das Buch, von dem ich eben sprach – von dem kleinen amerikanischen Verlag Quadrangle Books (Chicago) verlegt. (....) Historiker von Yad Vashem hatten Hilbergs kritische Einschätzung des aktiven und passiven jüdischen Widerstandes beanstandet. (...) Auch beim deutschen Verlag Droemer/Knaur und bei Hannah Arendt stieß seine akribische Untersuchung zunächst auf Ablehnung.

Durch die Fürsprache und sein hartnäckiges Engagement gegen interne Widerstände gelang es dem Lektor für Zeitgeschichte im S. Fischer Verlag, Walter Pehle, 1990 – also 29 Jahre nach Erscheinen der amerikanischen Ausgabe! – die erste deutsche Edition von Hilbergs Dissertation zu veröffentlichen und damit erst zu einem Standardwerk- gemeint ist offenbar: in Deutschland, denn international war es das zu diesem Zeitpunkt längst – zu etablieren. An einer vorherigen Ausgabe 1982 scheiterte der linke Berliner Kleinverlag Olle & Wolter in finanzieller Hinsicht. Bis heute jedoch wurde Hilbergs Werk nicht in Israel verlegt.“


Frage: Du hattest mir gegenüber einmal angedeutet, dass Du malst. Das war mir neu. Könntest Du ein paar Pics dazu zeigen, damit die Leser sich ein Bild machen können, um welche Art Malerei es sich handelt?

Knut Mellenthin:


Frage: Gefällt mir! Wie lange malst Du schon, wie viele Bilder hast Du und wie kamst Du dazu?

Knut Mellenthin: Ich habe mit 16 angefangen zu malen, während der Schulzeit. Viel gemalt habe ich, bis ich 24 war. Danach wegen der starken Inanspruchnahme durch linke Organisationspolitik und Publizistik kaum noch. Ein paar neue Sachen in den 90er Jahren, als ich arbeitslos wurde.

Es ist typisch für meinen Stil – ich fürchte: nicht nur in der Malerei –, dass ich sehr viele Bilder begonnen, aber nur wenige fertiggestellt habe. Ich glaube, es sind nicht mehr als sieben, maximal zehn fertige Bilder. Und vielleicht doppelt oder drei Mal so viele angefangene. Bei schlechter Stimmung habe ich, damals als Jugendlicher, schon mal ein paar unschuldige Bilder massakriert. Am Ende zeigte sich, dass meine 1 in „Kunsterziehung“ bitter nötig war, um beim Abitur meine Schwäche in den Naturwissenschaften auszugleichen.


Frage: Kommen wir zu Deiner Website www.knutmellenthin.de. Du gehörst für mich zu den wichtigsten und besten Journalisten des Landes, wie Du weißt, und ich bin ein großer Bewunderer Deiner Arbeit. Wie viele Deiner Artikel hast Du jetzt online, welches sind die Hauptthemen und warum hat es so lange gedauert, bis Dein Werk endlich für jedefrau zugänglich ist?

Knut Mellenthin: Wir sind jetzt, glaube ich, so ungefähr bei 150-200 Seiten. Die neu veröffentlichten Artikel werden alle sofort ins Netz gestellt, die älteren allmählich. Das ist ja eine Frage der verfügbaren Arbeitszeit. Ich bin seit 1971 politischer Journalist, ab ungefähr 1991 liegen meine Artikel PC-erfasst vor. Aber auch von den vor dieser Zeit erschienenen Texten will ich einige ins Netz stellen, durch Einscannen der Druckfassungen oder durch Abschreiben.

Hauptthema meiner Arbeit seit dem 11. September 2001 ist der von Neokonservativen und Rechtszionisten ausgerufene neue Kreuzzug gegen die islamische Welt, vor allem gegen die Staaten und Völker des Nahen und Mittleren Ostens. Aus den 90er Jahren sind im Archiv meiner Website vor allem eine Reihe von Artikeln zu finden, die ich zum Bürgerkrieg in Jugoslawien geschrieben habe. Ich will möglichst bald auch einige alte Artikel zum deutschen Rechtsextremismus ins Archiv stellen.

Im Archiv sind jetzt unter dem Stichwort Tierschutz unter anderem die Texte nachzulesen, die ich 2000-2001 zur damaligen Kampagne gegen die sogenannten Kampfhunde geschrieben habe. Dort habe ich, insbesondere in dem Artikel „Es ist der Bevölkerung nicht mehr zuzumuten...“, auf strukturelle Übereinstimmungen dieser Kampagne mit der NS-„Judenpolitik“ der 30er Jahre hingewiesen. Das Verhalten der Linken und der Grünen, die zu dieser Kampagne schwiegen oder sich ihr sogar anschlossen, hat mich damals sehr erschüttert und mir lange Zeit fast jeden Mut genommen. Aber schau dir doch den Artikel bitte mal an.


Frage: Mach ich gleich. Was heißt „wir“? Wie viele Leute sind denn an dem Projekt beteiligt?

Knut Mellenthin: Es gäbe weder die Holocaust-Chronologie noch meine Seiten im Netz ohne die überhaupt nicht hoch genug einzuschätzende Unterstützung meiner Frau, die die Seiten graphisch gestaltet und zusammen mit ihrem Wiener Firmenpartner von Pixel-Melange auch technisch umgesetzt hat. Deshalb das „wir“.

Frage: Den Kampfhund-Artikel habe ich gelesen, ist interessant. Sicher sind da strukturelle Übereinstimmungen, es sind beides klare Feindbilder. Allerdings ist mir das Halten von Hunden in der Stadt eher fremd, da bin ich Araber. Hunde im Haus und in der Zivilisation finde ich seltsam. Die Hysterie, die Du in diesen Artikeln schilderst, führ(t)en aber in der Tat zu Tierquälerei und Unrecht und es ist gut, dass Du darüber geschrieben hast. – Ich möchte Dich etwas zu Hamburg fragen, denn wir sind beide aus dieser Stadt. Ich hatte in Hamburg bestimmte Orte, die mir Kraft gaben, zum Beispiel einen kleinen Teich in Planten un Blomen, zwischen Plaza und Heiligengeistfeld, auch den Wanderweg an der Tarpenbek bis oben zum Flughafen, wo der Walnussbaum wächst. Kennst Du in Hamburg auch solche Kraftorte?

Knut Mellenthin: Dass du aus Hamburg bist, hatte ich nicht bemerkt, wohl aber meine Frau, die sich deine Seite angesehen hatte. Kraftorte? Spontan fällt mir das Eppendorfer Moor ein, das kleinste Naturschutzgebiet Hamburgs, und dort insbesondere eine bestimmte Stelle am Wasser. Vor ca. einem Vierteljahr habe ich dort sogar eine Sumpfschildkröte beobachtet. Ich kenne das Moor, seit ich ein Kind war. Ich bin in Eppendorf aufgewachsen, habe hier von 1951 bis Ende 1970 gelebt, und seit 1986 wohne ich mit meiner Frau wieder in Eppendorf. Das hat auch seinen Reiz, fast ein ganzes Leben im selben Stadtteil. Vielleicht ist das ein bisschen in der Tradition meiner Vorfahren, die Bauern (in der Gegend von Stettin) waren und auch kaum aus ihrem Dorf rausgekommen sind?

Den Wanderweg an der Tarpenbek bin ich früher oft mit unserer Hündin gegangen, bis zum Flughafen, dann quer durch die Kleingarten-Kolonien und durch das Eppendorfer Moor zurück. Sehr schön ist auch der Wanderweg an der Kollau, insbesondere der Teil, wo man rechterhand das Niendorfer Gehege und linkerhand Felder hat. Man kann dort die Illusion haben, auf dem Land zu sein – wenn man sich die Autobahn in der Ferne mal wegdenkt. Früher, Anfang der 60er Jahre, habe ich das Ohemoor sehr geliebt, aber das wurde durch den Ausbau des Flughafens weitgehend zerstört. Die Reste sind kümmerlich, wenn man die Gegend früher kannte.


Frage: Bist du als Journalist eher optimistisch oder pessimistisch? Siehst Du Dich als engagierten Journalisten?

Knut Mellenthin: Überhaupt keine Frage: ich bin Pessimist. Engagierter Pessimist. Aber auch Realist. Das heißt, ich versuche wirklichkeitsnahe Einschätzungen zu gewinnen und realistische Prognosen zu entwickeln. Ich muss, um nur ein Beispiel herauszugreifen, feststellen, dass von den Atomwaffen, die in einigen Ländern massenhaft gelagert sind, irgendwann Gebrauch gemacht werden wird. Jede andere Prognose widerspräche sämtlicher historischen Erfahrung. Das ist so ein Punkt, wo ich es vorziehe, nicht allzu intensiv weiterzudenken.

Frage: Gibt es ganz neue Projekte, die Du gern in Angriff nehmen möchtest?

Knut Mellenthin: Ich habe viele Projekte mit dem Arbeitstitel „Man müsste mal..., man sollte mal...“. Das hängt mit dem zusammen, was ich vorhin über meinen Stil sagte. Sehr viele Ideen, aber die Umsetzung kann mit dem Tempo nicht Schritt halten.

Meine Projekte liegen überwiegend außerhalb der Tagespolitik. Beispielsweise würde ich gern eine Jesus-Biographie schreiben. Eine Biographie anhand der Quellen, keine Fiktion und kein Geschwafel. Zu Jesus fällt mir immer Melanie ein: „What have they done to my Song, Ma...“ Ich weiß auf Anhieb niemanden, niemanden in der ganzen Menschheitsgeschichte, dessen Ideen stärker verhunzt und missbraucht wurden und werden, ohne dass er selbst die geringste Schuld daran trug.


Anis: Vielen Dank für dieses Interview.

Mainz/Hamburg, den 12.10.2006

                                  hoch
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