home   ao english   musik   literatur   journalismus   bilder   sprachen   mehr   shop   sitemap
Rezension / Review
Kai Wiedenhöfer: Wall
Anis Hamadeh, 24.08.07

Der Fotograf Kai Wiedenhöfer aus Berlin begleitet den israelisch-palästinensischen Konflikt seit mehr als einem Jahrzehnt. Für den vorliegenden Bildband „Wall“ (Mauer) ist er alle sechs Monate ins Land gereist, um die Errichtung der israelischen Trennanlage zu dokumentieren. Die Bilder stammen aus dem Zeitraum zwischen Oktober 2003 und Januar 2006.

Kai Wiedenhöfer: Wall
Anis Hamadeh, 08/24/2007

Photographer Kai Wiedenhöfer from Berlin has accompanied the Israeli Palestinian conflict for more than a decade. To produce the photo book at hand, "Wall", he had traveled into the country every six months and documented the building of the Israeli separation device. The pictures date from the time between October 2003 and January 2006.


The wall in Abu Dis/Jerusalem. March 2004, © Kai Wiedenhöfer

Alle 51 Fotos wurden mit einer 6 x 17 cm Panorama-Kamera aufgenommen und füllen jeweils eine Doppelseite im Format 59 x 20 cm. Am Ende des Buches finden sich Anmerkungen in englischer Sprache zu den einzelnen Motiven, zu Ort und Zeit der Aufnahme und zum Hintergrund. Die Bilder zeigen einzelne Abschnitte der Mauer, aus der Jerusalem-Region, aus der eingemauerten Stadt Qalqilya und anderen Orten der Westbank und auch des Gazastreifens. Oft sieht man die Mauer im Bau, mit Zwischenräumen oder als Fragment. Der Betrachter ahnt die Ausmaße, die das Gebäude einmal haben wird und sieht, wie Dörfer und Straßenkreuzungen in der Mitte durchgeschnitten werden. Darüber hinaus werden wir Zeugen von Mauerszenen, zum Beispiel Palästinenser, die die Trennvorrichtung an den Teilen überklettern, wo sie noch nicht fertiggestellt ist. Begegnungen zwischen der Militärmacht und der arabischen Bevölkerung, Demonstrationen und passiver Widerstand. Ein Junge, der als menschliches Schutzschild auf einen israelischen Militärjeep gebunden ist, Kunst am Bau, und immer wieder die Trümmer palästinensischer Häuser und Infrastruktur.

All 51 photos were taken with a 6 x 17 cm panorama camera and each fills a double page of the format 59 x 20 cm. At the end of the book you find annotations in English about the individual motifs, the place and time of the shot and the background. The pictures show individual parts of the wall, from the Jerusalem region, from the village Qalqilya, that is walled in, and from other places in the Westbank and also the Gaza strip. Often one sees the wall in the making, with spaces in between, or as fragments. The spactator can guess the dimensions the building will attain and sees how villages and junctures are being cut in the middle. Apart from that we can witness scenes at the wall, for example Palestinians climbing over the separation device where its building is not finished yet. Encounters between the military power and the Arab population, demonstrations and passive resistance. A boy who is tied on an Israeli army jeep as a human shield, art on the wall, and again and again the rubble of Palestinian houses and infrastructure.


Junction in al-Ram/Jerusalem. October 2004, © Kai Wiedenhöfer

Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation Btselem wird die Mauer eine Länge von etwa 700 Kilometern haben, von der mehr als die Hälfte fertiggestellt ist. Nicht nur die schöne Landschaft wird zerstört und verschandelt, die Trennvorrichtung ist ganz bewusst nicht auf der Grenze geplant und gebaut worden, sondern vielerorts auf palästinensischem Gebiet, wie man auf dieser Karte sehen kann: www.btselem.org/Download/ Separation_Barrier_Map_Eng.pdf. Der damit verbundene Landraub ist ein Garant für mehr Unsicherheit und Ärger in der Region. Er erinnert an 1948, als Israel gegründet wurde – auf einem größeren Teil als vom ohnehin umstrittenen UN-Teilungsplan vorgesehen. Deutlicher als durch den Bau einer solchen Mauer kann man die eigene Konfliktbereitschaft kaum demonstrieren. „Wir wollen die Palästinenser zermürben“, sagt das Bauwerk aus, und vor allem: „Wir wollen euer Land, Stück für Stück.“ Den Bevölkerungen in Israel und der westlichen Welt hingegen sagen die israelischen Politiker, dass es um die Sicherheit gehe und um den Schutz der jüdischen Einwohner. Es ist dasselbe Argument, mit dem auch alle anderen Menschenrechtsverletzungen gerechtfertigt werden: die Hinrichtungen oppositioneller Politiker, die kontinuierliche Tötung von Zivilisten, die Inhaftierung von 10.000 Palästinensern, die Flüchtlingsfrage, die Besatzung, die Enteignung, der ständige Beschuss, die Straßen und Siedlungen „nur für Juden“ auf fremdem Territorium, die Zerstörung von Häusern, das Entwurzeln von Olivenbäumen, die Beschlagnahmung von Wasser (auch durch die Mauer wechseln wieder Brunnen von arabischem auf israelisches Gebiet), die Schikanen an den Checkpoints, die Kollektivstrafen für die Bevölkerung, und so weiter und so fort. Es sind der Antisemitismusvorwurf und das Veto der USA, die dafür sorgen, dass Israel für seine Taten nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Um dem angesichts der Besatzung ebenso absurden wie ideologisch-dogmatischen Vorwurf des Antisemitismus zu entgehen, berichten die Mainstream-Medien in Deutschland und anderen Ländern regelmäßig selektiv und suggestiv. Sie legen nahe, dass sich Israel das Terrorproblem nicht selbst geschaffen hat und sind dabei sehr erfinderisch, weshalb sie eine Mitverantwortung tragen und sich zum Komplizen machen. Dasselbe gilt leider für die allermeisten Politiker. Sie versuchen zu balancieren und stellen den Nahostkonflikt so dar, als gäbe es zwei gleichgewichtige Gegner, die gegeneinander kämpfen, was Unsinn ist. Sie erwähnen die Besatzung und die Flüchtlingsfrage gar nicht erst, ebenso die drei Milliarden Dollar, die Israel jedes Jahr von den USA bekommt – rein für militärische Zwecke, ohne die Wirtschaftshilfe. So obliegt es anderen, darüber zu schreiben und zu sprechen, nämlich denen, für die eine Demokratie ohne Menschenrechte nicht denkbar ist.

According to the Israeli human rights organization Btselem the wall will have a length of about 700 kilometers, more than half of it being accomplished by now. Not only is the beautiful landscape destroyed and disfigured, the separating device also is consciously built and planned not on the border, but in many places on Palestinian territory, as you can see on this map: www.btselem.org/Download/ Separation_Barrier_Map_Eng.pdf. The land theft, that goes along with this, is a guarantee for more insecurity and trouble in the region. It reminds one of 1948, when Israel was founded – on a larger territory than suggested by the UN partition plan (which was controversial to begin with). It is hardly possible to demonstrate ones own readiness for conflict more evidently than with the erection of such a wall. "We want to wear down the Palestinians", is what this building is saying, and most of all: "We want your land, bit by bit." Addressing the populations in Israel and the western world, though, Israeli politicians say that it is all about security and the protection of the Jewish inhabitants. It is the same argument that also serves as a justification for all other human rights violations: the executions of oppositional politicians, the uninterrupted killing of civilians, the imprisonment of 10.000 Palestinians, the refugees issue, the occupation, expropriation, the constant shooting, streets and settlements "for Jews only" on alien territory, the demolition of houses, uprooting of olive-trees, confiscation of water (the wall lets more wells shift from Arab to Israeli land), the harassments at the checkpoints, the collective punishments for the population, and so on and so forth. The reproach of anti-Semitism and the US veto are the reasons why Israel cannot be made responsible for its deeds. In order to escape the reproach of anti-Semitism – which, in view of the occupation, is as absurd as it is ideologic-dogmatic – mainstream media in Germany and other countries pursues a selective and suggestive news coverage on a regular basis, suggesting that Israel did not produce the terror problem by itself and being quite inventive in that. Thus the media is co-responsible and an accomplice. The same unfortunately holds true for most of the politicians. They try to balance and draw a picture of the Middle East conflict that suggests the existence of two equal oppponents fighting against each other, which is nonsense. They do not even mention the occupation and the refugees issue, as they do not mention the three billion dollars Israel receives annually from the USA – merely for military purposes, without the economic aid. So it remains with others to write and speak about it, namely those for whom a democracy without human rights is unthinkable.


Village of Nazlat 'Isa. October 2003, © Kai Wiedenhöfer

Kai Wiedenhöfer lässt Fotografien sprechen. Seine Mauerbilder sind ein Zeitdokument. Sie zeigen eindrucksvoll eine politische Tat in ihrer Entstehung und lassen den Betrachter und die Betrachterin ratlos zurück. Es bedarf keines internationalen Gerichtshofs, um zu erkennen, dass dieses Bauwerk kein Beitrag zum Frieden ist, sondern ein zerstörerisches Monster. Der Fotograf Kai Wiedenhöfer hat den Mauerfall in seiner eigenen Stadt Berlin dokumentiert, was ihn zu der Überzeugung gebracht hat, dass Mauern – selbst wenn sie auf der Grenze gebaut sind! – keine realistischen Lösungen für politische Konflikte bieten.

Kai Wiedenhöfer (2007): Wall. Steidl Verlag, Göttingen. ISBN 978-3-86521-117-0

Kai Wiedenhöfer lets photographs speak. His pictures of the wall are a time document. They impressingly show a political deed in its making and leave the spectator in perplexity. It does not need an international court to recognize that this building is not a contribution to peace, but a destructive monster. Photographer Kai Wiedenhöfer had documented the fall of the wall in his own city, Berlin, which brought him to believe that walls – even if they are built on the borderline! – offer no realistic solutions for political conflicts.

The English version of this review also appeared on The American Muslim
Kai Wiedenhöfer (2007): Wall. Steidl Verlag, Göttingen. ISBN 978-3-86521-117-0

Peaceful demonstrators from Kharbatha Bani Harith, where the wall is to cut their farmland, are attacked with gas.
March 2004, © Kai Wiedenhöfer

Perfect Peace –
The Palestinians from Intifada to Intifada

(11.11.02, English:) For more than ten years, from 1990 to 2001, Kai Wiedenhöfer lived and photographed in the Israeli-occupied territories. He has learnt the Arabic language, taken a close look at the Middle East, and thoroughly tried to understand the mentality of its inhabitants. He has a new photo book (see below): "Perfect Peace – The Palestinians from Intifada to Intifada"

(Deutsch:) Über zehn Jahre lang, von 1990 bis 2001, lebte und fotografierte Kai Wiedenhöfer in den israelisch besetzten Gebieten. Er studierte Arabisch und den Nahen Osten und bemühte sich besonders darum, die Mentalität der Bewohner zu verstehen. Er hat jetzt ein neues Fotobuch im Steidlverlag (siehe unten): „Perfect Peace – The Palestinians from Intifada to Intifada“


Palestine © kw

Iran © kw

Afghanistan © kw

Kai Wiedenhöfer
Begleittext für das Photobuch
Perfect Peace – The Palestinians from Intifada to Intifada

Steidlverlag

September 2001, das zweite Jahr der al-Aqsa Intifada, ein Checkpoint nördlich von Jerusalem. Ofer Marx, ein israelischer Soldat, kontrolliert meinen Pass. Irritiert blickt er auf die Baden-Württembergische Fahne an meinem Motorrad. „Hey, is that a new crusade? Where are you from?“ Die Fahne mit den drei Löwen auf schwarz-goldenem Grund des süddeutschen Staates ähnelt der von Richard Löwenherz, die 900 Jahre zuvor über dem Heiligen Land wehte. Heute soll sie helfen, mich von Siedlern und Palästinensern zu unterscheiden. Es wird zuviel geschossen auf den Straßen. Die Fahne verwirrt, niemand kennt sie. Bis die Leute sich einen Reim darauf gemacht haben, ob Freund oder Feind, bin ich nahe genug heran, um mit ihnen zu reden. Ofer Marx lacht. So ein Zufall, gerade letztes Jahr sei er in meiner Heimat gewesen. Wo? Auf der schwäbischen Alb. Genauer! Buttenhausen, einem kleinen Dorf auf der Alb, sein Großvater war dort Viehhändler.

Dreizehn Jahre zuvor hatte ich in Buttenhausen mit meinen ersten fotografischen Gehversuchen begonnen, einer Reportage über den jüdischen Friedhof. Auf meinem Kontaktbogen Nr. 0051 finde ich, sogar ohne Lupe, einen Grabstein von Ofers Familie: Karoline Hirsch Marx, geboren 23. Februar 1839, gestorben 27. September 1923. Fast alle Juden des Dorfes wurde im Holocaust ermordet, nur der Friedhof und eine Gedenktafel am Platz der Synagoge erinnern noch an sie. Hätte es den Massenmord nicht gegeben, würde Ofer vielleicht in diesen Morgenstunden im Hörsaal einer deutschen Universität sitzen, statt palästinensische Ausweise zu kontrollieren.

Einen Monat später rollen Sharons Panzer in autonome palästinensische Städte. Die Hügel und Täler um Bethlehem und Beit Jala, wo ich ein halbes Jahr lebte, hallen wider von ihren Maschinengewehren und Kanonen. Vereinzelt erwidern palästinensische Schützen das Feuer. Wenige hundert Meter von mir stirbt eine junge Frau an einer Panzergranate, während sie die Straße überquert. Dieser Krieg kennt keine Fronten. Panzer fahren kreuz und quer, zerquetschen Autos unter ihren Ketten. Als sie in Beit Jala einfahren, feuern palästinensische Polizisten symbolisch einige Kugeln auf sie, Kalaschnikow 7,62 mm gegen 12-Zentimeter-Kanone und faustdicke Mehrschichtpanzerung. Ich renne weg, überwinde meine Angst und laufe wieder zu den vier Panzern zurück. Vor der orthodoxen Kirche haben sie halt gemacht. Soldaten springen heraus und versuchen in Gebäude einzudringen, zerschlagen Fenster, schießen auf Häuser und in die menschenleeren Straßen des mittelalterlichen Ortes. Nach der vierzehnten Stahltür geben sie auf. Die Aktion erscheint mir völlig absurd. Ich muß anfangen zu lachen, während ich die angespannten Gesichter der Soldaten fotografiere. Als sie schon auf dem Rückzug sind, öffnet sich doch noch eine Tür, die mit Stiefeln und Gewehrkolben traktiert wird. Der Zugführer stürmt hinein, fünf Soldaten hinter ihm her. Ich folge ihnen. Fathen Mukarker steht vor mir, die mich mehrmals zu Kaffee und Kuchen eingeladen hat. Die Soldaten sprechen nicht genug Arabisch, ich übersetze: Wie heißen die Nachbarn? Sie sagt, sie wisse es nicht, da sie meist nicht hier wohne. Unzufrieden ziehen die Soldaten ab, treten im Vorübergehen noch eine Tür ein. Zum Abschied schießen sie vor dem Haus wahllos um sich. Fathen schreit und bricht in Tränen aus. Ich halte sie kurz im Arm und renne dann zum Panzer. Der Turmschütze feuert einen Meter über mich hinweg. Die Kugel durchschlägt einen Wassertank und bleibt im Kinderzimmer von Fathens Tochter Monika stecken. Sollte ich irgendeine Hoffnung gehabt haben, dass sich in naher Zukunft etwas zum Besseren wende, so gebe ich sie nun auf. Tot ist der Friedensprozeß, der nie einer war. Ein paar Verse von Erich Fried, die daheim an meiner Magnetwand hängen, kommen mir in den Sinn:

Eure Sehnsucht war
wie die anderen Völker zu werden
die euch mordeten
Nun seid ihr geworden wie sie

Ihr habt überlebt
die zu euch grausam waren
Lebt ihre Grausamkeit
in euch weiter?

Mit vierzehn las ich mein erstes Buch über den Nahostkonflikt. Mich faszinierte das Thema. Ich las mehr, verfolgte 1982 gebannt den israelischen Einmarsch in den Libanon. 1989 reiste ich zum ersten Mal ins Heilige Land. In der Altstadt von Jerusalem diskutierte ich mit einem jüdischen Studenten über den Konflikt. Kurz zuvor hatte ich zum ersten Mal CS-Gas eingeatmet, als israelische Soldaten in ein Flüchtlingslager einfielen und um sich schossen – eine Aktion, die ich nicht verstand, die mich völlig vor den Kopf schlug. „You've just focused in“, sagte der Student zu mir und meinte, ich hätte nur einen kleinen Ausschnitt des Konflikts gesehen. Mir gefiel der Doppelsinn: Ich sehe nur einen kleinen Ausschnitt und fokussiere in diesen mit der Kamera hinein. Ich musste mehr versuchen.

Robert Capa riet seinen Kollegen, die Menschen zu mögen und sie dies wissen zu lassen. Während meines ersten Aufenthalts in den besetzten Gebieten erkannte ich, dass dies ohne Kenntnis der Landessprache schwer möglich ist. Ich schrieb in mein Notizbuch: „Ohne Sprache ist keine gute Fotografie möglich.“ Nachdem ich in Deutschland mehrere Intensivkurse besucht hatte, zog ich 1991 für ein Jahr nach Syrien und studierte Arabisch in Damaskus. Über Nacht verschwand dort mein Freund und Lehrer. Nach Wochen der Ungewissheit erfuhr ich, daß ihn der syrische Geheimdienst verhaftet hatte. Ich hatte Angst um ihn, konnte aber nichts für ihn tun.

Arabisch wird die Grundlage für meine Arbeit über die Palästinenser. Der direkte Kontakt mit Menschen ist durch nichts zu ersetzen, ein Dolmetscher ist nur ein Hilfsmittel. Sprache schafft Vertrauen, und gute Bilder leben von der Nähe zu den Menschen. Stundenlang höre ich den frustrierten Palästinensern zu, verstecke mich nicht hinter meiner Kamera. Die emotionale Distanz, die von meinem Beruf oft verlangt wird – ich habe sie nicht.

Bei einer meiner täglichen Patrouillen durch das Flüchtlingslager Schati treffe ich Yussief, 38, am Strand. Er beklagt die vielen Toten an der Netzarim-Kreuzung in Gaza und trauert um den zwölfjährigen Mohammed al-Dura, der an der Seite seines Vater niedergeschossen wurde. „Efo ha schalom? Efo?“, Wo ist der Frieden? Wo? brüllt er mich auf Hebräisch an, als ob ich für den Nahostkonflikt verantwortlich wäre. Er hat in Tel Aviv gearbeitet, die Sprache der Besatzer beherrscht er gut. Ich leider nicht, aber immer hängt über mir der Verdacht, ich könnte ein israelischer Spion zu sein – eine irritierende Unterstellung, der ich täglich ausgesetzt bin. Yussief ist seit Beginn der al-Aqsa Intifada arbeitslos. Er spricht über seine Orangenhaine in Jaffa, die er nie sah. Zornentbrannt läuft er zu seinem Betonverschlag und kehrt zurück mit einer Metallschatulle, die in dicke Plastikfolie eingehüllt ist. Bedächtig packt er seinen Schatz aus. Einst war sie prächtig. Die Kanten und Füße sind in Messing gefaßt, doch am grünen Metall nagt schon der Rost der salzigen Luft von Schati Camp. Fotografieren darf ich nicht – zu heilig, sagt Yussief. Auf der Flucht hatte sie sein Vater vor 53 Jahren mit ins Lager gebracht. Yussief öffnet sie. Sauber und in Plastik gehüllt liegen darin die Besitzurkunden für 250 Dunum Land bei Jaffa, ausgestellt vom „British Governate of Palestine“. Die jüngste von 1942. Er zeigt mir die Dokumente, jedes einzeln. „Dies ist mein Land! Ich will es zurück, ich will nicht länger in dieser Gosse leben. Die Juden sollen dahin zurückgehen, wo sie hergekommen sind, nach Russland, Polen, Äthiopien!“

Im selben Flüchtlingslager esse ich mittags köstlichen Barsch bei Abu Khalid, dem Fischer, mit dem ich seit acht Jahren befreundet bin. Abends gibt es bei Schimon, vier Kilometer weiter nördlich im Kibbuz Yad Mordehai, die wunderbare Schwarzwälder Kirschtorte seiner Frau Miriam, wie immer am Schabbat. Shimons Kibbuz steht zum Teil auf dem Boden von Hirbiya, dem Heimatdorf Abu Khalids, aus dem er 1948 im Alter von sieben Jahren vertrieben wurde. Das Dorf wurde dem Erdboden gleich gemacht und dem Kibbuz einverleibt. Noch immer ist Abu Khalid wütend über das Unrecht, das ihm angetan wurde. Seine Heimat ist so nah und doch unerreichbar. Shimon weiß, daß seine Existenz auf Unrecht gegründet ist, das anderen zugefügt wurde. Solche Einsicht ist selten. 1993/94 lebe ich für zehn Monate in Gaza. Es ist eine schwierige, erlebnisreiche Zeit. Die Umgebung ist trist, ich fühle mich einsam. Die Palästinenser setzen große Hoffnungen auf Frieden, aber ich befürchte, daß sie sich nicht erfüllen werden. Ich berichte über die Umsetzung eines Friedensvertrages, von dessen Scheitern ich überzeugt bin. Er sieht kein Ende der Besatzung vor, versieht sie nur mit einem anderen Etikett : Autonomie. Siedlungsbau, Jerusalemfrage und Flüchtlingsproblem werden nicht einmal im Ansatz gelöst. Die westlichen Medien bejubeln das Abkommen, aber es ist ein „Versailles des Nahen Ostens“, es schafft neue Probleme, statt die alten zu lösen. Ich stehe dieser Tatsache machtlos gegenüber, und frage mich ob meine Arbeit als Photograf noch einen Sinn hat. Dieses Buch soll mich von diesem Zweifel befreien.

Die äußeren Umstände sind schwierig. Die Ausgangssperre ab acht Uhr abends lässt keinerlei Vergnügungen zu und sei es auch nur der Besuch einer Pizzeria. So sitze ich in meiner Bleibe, lese, entwickle Filme oder belichte Kontakte an meinem 35 Jahre alten Leicavergrößerer, den ich aus Deutschland mitgeschleppt habe. Allgegenwärtige Gewalt und Unrecht beginnen an mir zu nagen. Alle drei Wochen fahre ich ins christliche Beit Jala, um mich bei Freunden ein paar Tage zu erholen. Intifada ist dort ein Fremdwort. Dass heute Panzer durch den Ort rasseln, an dem ich mich von Gaza erholt habe, ist für mich symptomatisch für das Scheitern des Osloabkommens. Nur: In Beit Jala fahren die Panzer durch die Straßen, in Gaza durch die Häuser.

Die Arbeit ist ermüdend. Manchmal stehe ich zweifelnd morgens in meiner Wohnung, vier Stockwerke über der Omar Muchtar, der Hauptstraße im Zentrum Gazas. Mein Blick wandert über das betongraue Häusermeer: Kenne ich das alles nicht in- und auswendig? Muß ich mir jeden Tag den gleichen Unsinn antun? Zum x-tenmal höre ich „Hitler good, killed Jews“, weil die eingepferchten Palästinenser nicht über den Zaun ihres Homelands Gaza schauen können. In der Nachbarschaft schießt ein israelischer Scharfschütze in einer halben Stunde sechzehn Leuten durchs Knie, ohne Anlass, getreu dem Motto „Palestinians are cockroches anyway“. Die immer gleichen Straßenschlachten, in denen Verlierer und Gewinner von vorneherein feststehen. Die Kinder, die mich umringen, an mir zerren und „Sauwwrni! Sauwwrni!“, Fotografier mich, schreien. Die Teenager im Flüchtlingslager, die wieder „Djasus“, Spion, hinter mir her rufen und meinen Pass kontrollieren, obwohl keiner von ihnen einen lateinischen Buchstaben entziffern kann. Ein paar arabische Visastempel lassen mich in ihren Augen vertrauenswürdig erscheinen. Der israelische Major, der mich mit seinem Jeep in den Straßengraben drängt, mir grußlos „I think you are a very dangerous person“ ins Gesicht schleudert, auf dem Absatz kehrt macht und entschwindet. Gefährlich – für wen? Für ihn oder die Moral seiner Soldaten? Weil ich mit dem alten BMW-Motorrad meines Onkels 20000 Kilometer durch „Feindesland“ fahre, ohne dass mir etwas passiert? Oder will er mir Angst einjagen? Fragen, die ich mir nicht mehr stellen mag, da mein Kopf zu träge geworden ist angesichts des Unsinns um mich herum.

Ich glaube, daß mein beharrliches Arbeiten ein gutes Ergebnis hervorbringt. Schwäbisch-protestantisches Arbeitsethos mischt sich mit einer Art Schützengrabenmentalität, der ich nicht entrinnen kann. Liebe zum Thema und Neugier treiben mich an, sonst würde ich mich dem nicht aussetzen. Ich nehme jeden Morgen die Kamera wieder in die Hand und ziehe los, kenne Gaza inzwischen besser als Essen, die Stadt, in der ich sechs Jahre studierte.

Der oft gehörte Anspruch von Fotografen, Veränderungen zu bewirken, motiviert mich nicht. Eine Diskussion provozieren, für ein wenig Verständnis sorgen – vielleicht. Für mich kommt dem Fotografieren und dem Erleben von Wirklichkeit die gleiche Bedeutung zu wie den Bildern selbst. Die Erfahrungen helfen mir, über mein Leben nachzudenken. Einerseits lösen sie Gefühle der Entfremdung aus, andererseits lassen sie mich Werte bewusster erleben, die mir selbstverständlich geworden sind: Friede, Sicherheit, Wohlstand – vor allem Freiheit.

1993/94 fahre ich Hunderte Male mit dem Motorrad durch den 45 Kilometer langen Küstenstreifen. Viele Journalisten halten mich für verrückt: Spätestens in ein paar Wochen sei ich tot oder verletzt. Doch das einzige Motorrad im Gazastreifen wird zum Sesam-öffne-dich, mit ihm kann ich mich in israelisch wie in palästinensisch kontrolliertem Gebiet bewegen. Habib al-Schaab nennen mich die Palästinenser, „Freund des Volkes“. Man kennt mich an Orten, an denen ich nie zuvor gewesen bin. Ein junger Palästinenser meint grinsend zu mir: „You are more famous in Gaza than Michael Jackson.“ Viel lieber, als Michael Jackson in Gaza zu sein, würde ich in diesem Moment im Stammcafé meiner Heimatstadt sitzen und Schokolade trinken. In all dem Elend und Stumpfsinn bildet das Motorrad eine Insel. Oft vergesse ich den Ärger des Tages wieder, wenn ich ohne Helm an der Küste des Mittelmeeres oder durch Orangenhaine fahre.

Diese Zeiten sind vorbei. Nahe der Siedlung Netzarim bekomme ich im September 2001 einige Warnschüsse vors Rad. Es wundert mich nicht, ich drehe um. Kein Baum, kein Strauch, kein Haus steht mehr um die Siedlung. Israelische Panzer und Bulldozer haben ein Niemandsland geschaffen. Aus den dunklen Augen eines Bunkers starren Maschinengewehre.

Im Dezember 2001 gerate ich in eine Schießerei. Palästinenser feuern bei der Beerdigung eines Mitglieds des Islamischen Djihad aufeinander. Am Tag zuvor hatte ihn die eigene Polizei erschossen, als er versuchte, eine Mörsergranate auf eine israelische Siedlung im besetzten Gazastreifen abzufeuern. Wutentbrannte Demonstranten werfen Steine auf eine palästinensische Polizeistation. Ein Polizist schießt das Magazin seiner Kalaschnikow leer. Drei Meter vor mir bricht neben der Bahre des Toten sein bester Freund mit einem Bauchschuss zusammen. Wir zerren ihn von der Straße in Deckung, in kaum einer Minute ist er verblutet. Sieben Jahre zuvor war ich an der selben Stelle, damals schossen israelische Soldaten.

Zwei Tage später treffe ich Yaron in Bethlehem. Er bewacht das Grab von Rahel, der Frau des alttestamentlichen Propheten Abraham, die hier ruhen soll. Yaron sitzt seinen Reservedienst ab, zwischen betenden orthodoxen Juden und palästinensischen Heckenschützen. Er zeigt auf die arabische Inschrift aus dem dreizehnten Jahrhundert, die das Grab verziert; sie ist teils schon von jüdischen Frömmlern zerstört. „Ich bewache ein arabisches Grab vor Arabern für Juden, die an etwas glauben, was einfach nicht stimmt, Rahel liegt hier nicht begraben.“ Es spiele keine Rolle, meint er, das Grab sei nur ein Alibi für die israelische Armee, um in der palästinensischen Stadt zu bleiben.

In den besetzten Gebieten zu fotografieren, erscheint mir so sinnlos und grotesk wie die Gewalt und die Situationen, die ich dort erlebe. Meine Enttäuschung ist so sehr gewachsen, dass ich nicht mehr zurückkehren möchte. Ein Ende der Gewalt ist nicht abzusehen, am Horizont zeichnen sich neue Schrecken ab, und doch geben Kriegsdienstverweigerer und Friedensdemonstrationen wieder Anlaß zur Hoffnung. „Get out of the Territories“, steht auf einem Transparent einer Demonstration in Tel Aviv im Februar 2002. Schon vor über dreißig Jahren meinte der israelische Philosoph Jeshajahu Leibowitz, sein Land habe den Sechstagekrieg am siebten Tag verloren. Sogar der einstige Verteidigungsminister Moshe Dayan erkannte: „Die schlimmsten Kriege sind die, die niemals enden. Sie sind schlimmer als die verlorenen.“ Das sagte er 1966 – nach einem Besuch in Vietnam. Ein Jahr, bevor er mit seiner Armee in den Sechs-Tage-Krieg zog, mit dem die Besatzung begann.

Kai Wiedenhöfer / Steidl Publishers

Perfect Peace – The Palestinians from Intifada to Intifada

For more than ten years, from 1990 to 2001, Kai Wiedenhöfer lived and photographed in the Israeli-occupied territories. He has learnt the Arabic language, taken a close look at the Middle East, and thoroughly tried to understand the mentality of its inhabitants. It wasn't long before the Palestinians called him Habib al-Schaab, friend of the people. They opened up toward him, and allowed him to gain an insight into a world, which generally is reported about in stereotypes. Kai Wiedenhöfer's photographs live on his closeness toward the human beings depicted. They are telling about the everyday life of children, women and men, the victims and warriors of the Intifada, the dogged fight against the occupation. Perfect Peace expresses the hopes and disappointments in a region which only will be finding peace through mutual understanding.

Kai Wiedenhöfer, born in Germany in 1966, studied photojournalism at the Folkwang School in Essen and Arabic in Damascus, Syria. A photographer with Lookat Photos in Switzerland, he works in the Middle East since 1989. He received numerous awards, most recently the Leica Medal of Excellence, the Alexia Grant, a World Press Award and the Eugene Smith Grant.

Bookdesign by Kai Wiedenhöfer
174 pages, 125 duotone plates
9.6 x 13 in. / 24.5 x 33 cm
Hardcover with dustjacket
August 2002
US $ 40.00 / £ 27.00 / Euro 44.00
ISBN 3-88243-814-

 
                                  up
Datenschutzerklärung und Impressum (data privacy statement and imprint)