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SABINE MATTHES' ROOM
Fotogalerie, Portraits (September 2011)
Web-Bibliografie
2014
- Kant, Kolonialismus und Black Consciousness. Der 4. Panafrikanismus-Kongress München war Steve Biko gewidmet. Von Sabine Matthes. In: Afrika Positive Nr. 52/14, S. 17-18,
Teil 1 (jpg), Teil 2 (jpg)
- Leserbrief zum Fall Edathy: "Entsetzt und fassungslos", SZ vom 18.2.2014, Seite 5

2013
- Kant, Kolonialismus und Black Power. Spektrum | Ausstellung: Biko: The Quest for a True Humanity. Von Sabine Matthes. TITEL Kulturmagazin, 2.11.13
- Leugnen und lernen. Panafrikanismus in München als Kongreß. Von Sabine Matthes. junge Welt 26.10.2013 / Feuilleton / Seite 13
- Leserbrief zu: "Freiheit? Welche Freiheit? Die FDP hat ein Wahldebakel erlebt, der Liberalismus steckt in einer tiefen Krise." SZ vom 28./29.9.2013, Seite V2/8
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Bayerns Abgeordnete" Bayern-Teil SZ vom 19.9.2013, Seite R 18
- "Marsmission mit Missionar", Cristina De Middles Fotoprojekt "The Afronauts" (PDF), Von Sabine Matthes. In: Afrikapost, Juni 2013
- Die Erde öffnen. Spirituelle Landkarten als Besitzurkunde: Die Kunst der australischen Spinifex People im Münchner Völkerkundemuseum. Von Sabine Matthes. In: junge Welt, 06.05.2013 / Feuilleton / Seite 12
-
Ein Wasserloch, das Tuwan heißt. Spirituelle Landkarten als Besitzurkunde: die Kunst der australischen Spinifex People im Münchner Völkerkundemuseum. Von SABINE MATTHES. In: Titelblog, 03.05.2013
-
Spacegirl Matha auf dem Mars. In: TITELblog, 05.04.13
-
Eine eigene Geschichte. Cristina De Middels Fotoprojekt »The Afronauts« erinnert an das vergessene Raumfahrtprogramm von Sambia. Von Sabine Matthes junge Welt,02.04.2013 / Feuilleton / Seite 13
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu Chrismon 04.2013, Seite 12. Landesbischof a.D. Johannes Friedrich: "Hinfahren und reden!"
-
(Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Flüchtlingsheim-Gegner formieren sich", SZ vom 8.2.2013, Münchner Teil, R7
"Zukunftsmarkt Afrika. Auma Obama wünscht sich bei der Jahresinvestmentkonferenz Afrika 2012 in München eine nachhaltige ökonomische Entwicklung". In "Africa Positive", Nr. 48, 2013, Jan. 2013 (JPG). Teil 1 Teil 2

2012
- John Cage Konzertankündigung mit Foto von Sabine Matthes (PDF)
- Interview: Im Gespräch mit Fluxus-Pionier Benjamin Patterson Fluxus wird 50! Der Fluxus-Pionier Ben Patterson über Fluxus als Haltung, die schwarze Bürgerrechtsbewegung und ein Versprechen an Mount Fuji. Titel-Magazin 08.09.2012
- "Jeden Tag Performance" Fluxus wird 50 und stellt aus. Ein Gespräch mit dem Künstler Benjamin Patterson. junge Welt 03.09.2012
- Die Rache der Wassergeister "Letzte Ölung Nigerdelta" – das Münchner Völkerkundemuseum erzählt vom Drama der Erdölförderung. junge Welt 02.07.2012
- Neverland Palästinensische Videokunst und Filme experimentieren in London mit dem Leben in der Warteschleife. Artechock.de 03.05.2012
- Affengott in Badehose Die phantastische Welt des indischen Götterplakats wird in München ausgestellt. junge Welt 05.03.2012

© Eric Sangaret

Sabine Matthes is a Munich-based journalist and photographer. Her website is sabinematthes.blogspot.com
Sabine Matthes aus München ist Journalistin und Fotografin. Ihre Website ist sabinematthes.blogspot.com
2011
- Nommo und die Zwillinge Eine Pariser Ausstellung über das Weltkulturerbe der afrikanischen Dogon in der Kunsthalle Bonn, junge Welt 12.12.2011
- Schwarze Genesis Zwitterwesen und Zwillingspaare – die faszinierende Kultur der afrikanischen Dogon ist in der Bundeskunsthalle Bonn zu sehen
TITEL-Kulturmagazin, 11.12.2011
- Lumumba, komm zurück! Entwicklungshilfe, nein danke: In München tagte der dritte Panafrikanismus-Kongreß
junge Welt, 04.11.2011
- Freiheit oder Tod Die Fotografin Leah Gordon entdeckt im Karneval von Haiti Voodoo, Politik und Revolution – junge Welt, 21.10.2011
- Aristokraten der Finsternis Leah Gordons Fotoband entdeckt im Karneval von Haiti Voodoo, Politik und Revolution. – Titel-Kulturmagazin, 08.09.2011
- Leserbrief zu: "Dritter Weg nach Palästina. Wie die Europäer versuchen, den Friedensprozess im Nahen Osten endlich wieder in Gang zu bringen." SZ vom 23./24.7.2011, Seite 9
- PDF 5.7.2011: Einladung FDP Bezirksverband Oberbayern Bezirksfachausschuss Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik, München / Antrag: Einen gemeinsamen Staat Israel/Palästina anerkennen
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Anrennen gegen die Besatzung", SZ vom 16.5.2011, Seite 7
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Stadtrat buht Bahn aus", SZ vom 19.5.2011, Seite R 2, Münchner Teil
- Leserbrief zu: "Schonungslos gegen Schwarzfahrer", SZ vom 18.5.2011, Seite R 4, Münchner Teil
- Blumen des Bösen. "Deadly and Brutal. Filmplakate aus Ghana" in der Münchner Pinakothek der Moderne, Sabine Matthes, junge Welt vom 03.05.2011 / Feuilleton / Seite 13
- Garten der Dämonen (Rezension, JPG), von Sabine Matthes. Aus: Cinearte 238, 21.04.2011, S. 16-17
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu: Außenansicht "Ein Frieden, zwei Staaten" von Yoram Ben Zeev, SZ vom 4.4.2011, Seite 2
- Safari durch den Moloch. "Afropolis. Stadt, Medien, Kunst" zeigt den radikalsten urbanen Zustand: Kairo, Lagos, Nairobi, Kinshasa, Johannesburg. Von Sabine Matthes artechock.de 03.03.2011 und Titel Kulturmagazin 12.03.11
- Lilienrevolte gegen den Tod. Mark Morrisroes intime Memoiren der elften Stunde im Fotomuseum Winterthur. Von Sabine Matthes. artechock.de 03.02.2011
- Melancholie des Exhibitionismus. Intime Eskapaden: Der US-amerikanische Fotokünstler Mark Morrisroe in Winterthur. Ausstellungsrezension von Sabine Matthes junge Welt vom 02.02.2011 / Feuilleton / Seite 12
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Ist Frieden möglich?", Sonntagsblatt vom 30.1.2011, Seite 5

2010
- (Veröffentlichter) Leserbrief in: Deutsches Pfarrer Blatt, Heft 9/2010, Seite 500
zu: "Das "Kairos-Dokument" der Christen in Palästina" von Stefan Meißner, DPfBl 7/2010, 386ff
- Endstation Sehnsucht. Picknick in Beirut und anderswo: "Weltenwandler. Die Kunst der Outsider" in der Schirn in Frankfurt/Main. Von Sabine Matthes. junge Welt 18.12.2010
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Seehofers Plan für die Ausländer", SZ vom 25.10.2010, Seite R 14, Bayern
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Ein allzu durchsichtiges Angebot" SZ vom 13.10.2010, Seite 8
- Pulsierende Kunst- und Wunderkammern. "Zelluloid. Film ohne Kamera" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle Sabine Matthes, artechock 19.08.2010
- Cinearte 12.08.2010: Pulsierende Wunderkammer: Viel zu schön, um nur Filme zu machen. Die Ausstellung "Zelluloid. Film ohne Kamera" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle zeigt, was mit ein wenig Kreativität noch so möglich ist: Ein Panorama des Experimentalfilms von den 1930er Jahren bis in die Gegenwart. von Sabine Matthes
- Leserbrief zu: Amos Oz: "Tödliche Spirale – Solange Israel Gewalt mit Stärke verwechselt, wird der Konflikt andauern. Die Hamas ist so nicht zu besiegen.", FAZ vom 4.Juni 2010, Seite 33
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Samsons Stärke war seine Schwäche", David Grossman erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2010, SZ vom 11.6.2010, Seite 13 und "Literatur ist das Gegenteil von Krieg", Grossman im Salzburger Literaturhaus, SZ vom 12./13.6.2010, Seite 19
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu: Bayernteil: "Weiß-blau, grau" , SZ vom 7.5.2010, Seite 51

2009
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Historiker Pappe beklagt Redeverbot", , SZ vom 18.11.2009, Seite 37
- Leserbrief zu: "Endlich was Großes erleben" , Chrismon Nr.11/2009
- Leserbrief zu Johannes Ludewig: "Weniger Bürokratie", SZ vom 10./11.10.2009, Seite 24
- (Veröffentlichter) Leserbrief zu: Heribert Prantl "Der Held von Solln", SZ vom 19./20.9.2009, Seite 4
- Leserbrief zu der Außenansicht von Abdallah Frangi: "Der Bluff des Benjamin Netanjahu", SZ vom 20./21.6.2009, Seite 2
- Veröffentlichter Leserbrief zu: Susanne Petersen: "Zaungäste mit wachsamem Blick – Israel, Palästina und der große Zaun: Aus dem Alltag eines Friedensaktivisten", Sonntagsblatt Nr.11, 2009 Seite 4
- Leserbrief zu: Bischof Dr. Wolfgang Huber. "Naher Osten – Palästinenser und Israelis brauchen Führer mit dem Mut zum Frieden. Und viele Dolmetscher der Versöhnung" Chrismon 03.2009, Seite 10
- Leserbrief zu: Thorsten Schmitz: "Stillstand in Israel" SZ vom 20.2.2009, Seite 4

2008
- (Gedruckter) Leserbrief zu: Tomas Avenarius: "Annapolis ist tot. Der künftige US-Präsident muss ein neues Konzept vorlegen, um den Nahost-Konflikt zu lösen" SZ vom 11.11.2008, Seite 4
- Israel-Palästina Ausstellung: Schmerzhafte Reise in die Vergangenheit , von Sabine Matthes, Zenith, 01.05.2008
- Leserbrief zu: "Agitator des letzten Kampfes. Haarspalterei um Aussage des iranischen Präsidenten" SZ vom 27.3.2008, Seite 13
- Leserbrief an den Bayern Teil, zu: "Beckstein ruft zu Kampf gegen Rassismus auf" SZ vom 22.-24.3.2008, Seite 47
- Leserbrief zu: "Steuermoral – ein globales Problem. Rebellen in Florida", SZ vom 20.2.2008, Seite 24
- Leserbrief zu: "Unbekannter verprügelt Studenten in der U-Bahn ... Stadtrat debattiert über mehr Sicherheit", SZ vom 15.1.2008, Seite 38
- Leserbrief zu: "Das zweite Leben des Yehuda Shaul", chrismon, 01.2008, Seite 31

2007
- (Am 06.12. gedruckter) Leserbrief zu: "Israel verspricht Palästinenserstaat bis 2008", SZ vom 28.11.2007, Seite 1
- Leserbrief an den Münchner Teil zu: "Unfallopfer stirbt im Krankenhaus", SZ vom 27.11.2007, Seite 41
- (Am 9./10.6.2007 gedruckter) Leserbrief zu: "Hamas-Politiker festgenommen", SZ vom 25.5.2007, Seite 9
- "Gleichberechtigung als strategische Gefahr" , von Sabine Matthes, Zenith, 23.07.2007
- (Am 9./10.6.2007 gedruckter) Leserbrief zu: "Hamas-Politiker festgenommen", SZ vom 25.5.2007, Seite 9
- Leserbrief zu: Amos Oz: "Israels große Aufgabe – Es gibt keinen Aufschub mehr: Wir müssen das Flüchtlingsproblem lösen" FAZ vom 11.05.2007, Seite 39
- (Gedruckter) Leserbrief zu: Heribert Prantl "Das Verschwinden der Flüchtlinge", SZ vom 11.1.2007, Seite 4

2006
- Leserbrief zu: Thorsten Schmitz: Profil "Avigdor Lieberman – Scharfzüngiger Rechter auf dem Weg in Israels Kabinett" und "Olmert trifft auf Widerspruch", SZ vom 13.10.2006, Seite 4 und 9
- Leserbrief zu: Judith Bernstein: "Das Schweigen Europas", SZ vom 23.6.2006, Seite 12
- "Das Flüchtlingsproblem ist zentral im Nahost-Konflikt". Gespräch mit Nihad Boqai, Peter Hansen, Michael Fischbach und Ilan Pappe. Über die seit 58 Jahren anhaltende Vertreibung von Millionen Palästinensern, das Recht auf Rückkehr und Entschädigung sowie "israelische Kollateralopfer" (junge Welt 13.05.06, Wochenendbeilage)
- Zum 58.Jahrestag der palästinensischen Katastrophe – al Nakba (30.04.2006, Deutsch-Arabische Gesellschaft)
- Zu: "Brüssel stoppt Zahlungen an Hamas-Regierung" und "Palästinenser in großer Geldnot", SZ vom 8./9.04.06
- Gedruckter Leserbrief zu: "Nichts ist unumkehrbar in Nahost",Sonntagsblatt Nr.4, Seite 3, 27 Jan 2006
- Gedruckter Leserbrief zu: "Ein beispielloser Prozess. Kann ein Jude Antisemit sein?", SZ vom 14.1.06
- Leserbrief zu: "Terminals statt Theken", SZ vom 12.1.2006, Seite 41, Münchner Teil

2005
- Leserbrief zu: Moshe Zimmermann "Wer ist der Nächste?", SZ, S. 19 (4.11.2005)
- Gedruckter Leserbrief zu: "Zusammen leben oder sterben", Sonntagsblatt Nr.40 (06.10.05)
- Leserbrief zu: "Europa braucht Grenzen" (05.10.05)
- "Heimatsuche im Geist des Judentums", Neue Zürcher Zeitung 4.7.2005 (Yakov Rabkin beleuchtet das Verhältnis von Zionismus und Orthodoxie. Zu den jüdischen Intellektuellen, die der Politik des Staates Israel kritisch gegenüberstehen, gehört auch der in Kanada lehrende Historiker Yakov M. Rabkin. Er beruft sich dabei nicht zuletzt auf jüdisch-orthodoxe Positionen, die er in einer unlängst erschienenen Studie in ihrem geschichtlichen Horizont dargestellt hat. Sabine Matthes führte in München ein Gespräch mit dem Wissenschafter.)
- "Frieden ist mehr als Befriedung." Gespräch mit Mazin Qumsiyeh über den Israel-Palästina-Konflikt, über Gazaabzug, Menschenrechte sowie den moralischen Imperativ der Ein-Staaten-Lösung. Interview: Sabine Matthes junge Welt vom 13.08.2005
- English translation "Peace is more than pacification" at Al-Jazeerah and and Press Release of the Green Party of the United States: www.gp.org/press/pr_2005_08_16.shtml
- (Gedruckter) Leserbrief zu "Streit um Moschee eskaliert", SZ vom 6.5.2005, S. 51
- (Gedruckter) Leserbrief zu "Israel lehnt Friedensplan aus Algier ab", 24./25.3.2005, Süddeutsche Zeitung (Email vom 04.01.05)
- (Gedruckter) Leserbrief zu Titelthema "Spielball der Interessen" von Helmut Frank, Sonntagsblatt Nr.4" (Email vom 22.01.05)

2004
- (Gedruckter) Leserbrief zu "Damals", Jan. 2005, Jerusalem: "Ewig und unteilbar?" (19.12.04)
- (Gedruckter) Leserbrief zu SZ 28.10. S.2, Scharons Rückzugsplan (17.11.04)
- (Gedruckter) Leserbrief zu FAS Nr. 45, Politik, S. 3. "Ein Leben in Sackgassen" von Barry Rubin (11.11.04)
- Initiative für einen einzigen demokratischen Staat in Palästina/Israel (12.08.04)
- (Gedruckter) Leserbrief zu: "Israel erkennt die Herrschaft des Rechts an", SZ 31.7./1.8. 2004
- Interview mit Uri Davis zum palästinensischen Rückkehrrecht (Englisch) (11.03.2004)
- zu Leserbrief Ludwig Arnold, SZ 8./9.4.04 (10.04.04)
- Leserbrief an die SZ gegen die Gleichstellung von Antisemitismus mit Antizionismus (22.02.04)
2014

Leserbrief zum Fall Edathy: "Entsetzt und fassungslos"
SZ vom 18.2.2014, Seite 5

Sehr geehrte Redaktion Forum,
Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel sagte bei der Pressekonferenz, dass Sebastian Edathys Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag "mehr als gerechtfertigt" sei, da Edathys "Handlungen und Verhalten" "nicht zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands passt" – "unabhängig von der strafrechtlichen Relevanz"(!). Ist eine solche Partei, die ihre eigene Moralvorstellung über das Gesetz erhebt, eine "demokratische" Partei? Gilt das Antidiskriminierungsgesetz zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der sexuellen Orientierung nicht für Edathy? Ist ein Politiker gesellschaftskonform und damit moralisch untadelig, glaubwürdig und verantwortungsvoll, wenn er alle paar Jahre Frau und Kinder für eine jüngere Geliebte verlässt? Edathy hat niemandem Schmerz bereitet, das Ansehen von Bildern ist kein Kindesmissbrauch. Würde die bloße Betrachtung von Bildern bereits eine Straftat darstellen, müsste dann nicht die ganze Nation vor Gericht sitzen, die sich allabendlich dem kollektiven, morbiden Voyeurismus vor dem Fernseher hingibt, um sich bei Gewalt und Gemetzel, Krimis und Kindersoldaten zu entspannen?

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München

2013
Kant, Kolonialismus und Black Power
Spektrum | Ausstellung: Biko: The Quest for a True Humanity

Von Sabine Matthes. TITEL Kulturmagazin, 2.11.13.

Der 4.Panafrikanismus-Kongress München war dem südafrikanischen Bürgerrechtler Steve Biko gewidmet. SABINE MATTHES blickt zurück auf die Tagung und die noch laufende Ausstellung.

Optisch hatte die Inszenierung etwas vom Reiz eines Boxkampfes. Nur ging es hier um die Verhandlung blutiger historischer Fakten und den schmucken Rahmen der Nummern-Girls bildeten prachtvoll gekleidete Moderatorinnen in leuchtfeuerfarbenen, afrikanischen Stoffen. Inhaltlich folgte der 4.Panafrikanismus-Kongress München, der am 18. und 19.Oktober in der InitiativGruppe und der Muffathalle stattfand, dem Motto »Lernen aus der Vergangenheit«. Er wurde von zwei Ausstellungen begleitet, über das Leben des südafrikanischen Bürgerrechtlers Steve Biko und den Völkermord in Namibia.

Parlamentarische Vertreter aus Namibia mahnten, Deutschland solle seiner Verantwortung für den dortigen Völkermord nachkommen. Etwa 80 Prozent der Herero und 60 Prozent der Nama hatten 1904-1907 unter dem Befehl des Generalleutnants von Trotha ihr Leben verloren. Während Deutschland eine offizielle Entschuldigung bis heute verweigert, um keine Reparationen zahlen zu müssen, sieht man aus namibischer Sicht diese Leugnung als Verlängerung des Genozids und fragt, warum man nicht gleichberechtigt wie die jüdischen Opfer des Holocaust entschädigt wird.

Die Ordnung der Welt als hierarchische Stufenleiter

Um Kolonialismus und Sklaverei zusammenzubringen, sprach der Senegalese Eloi Coly von Goree Island, einer kleinen Insel vor Dakar, wo er der Leiter des Maison des Esclaves de Goree (Haus der Sklaven) ist. In drei Jahrhunderten sind von hier aus 15 bis 20 Millionen West Afrikaner Richtung Amerika verschifft worden. Sechs Millionen starben auf dem Weg. Häufig wurden ganze Familien auseinandergerissen. Entsprechend der potentiellen Abnehmer konnte der Vater nach Louisiana in die USA, die Mutter nach Brasilien oder Cuba und die Kinder nach Haiti verschickt werden. Heute ist Goree Weltkulturerbe, ein Symbol der Erinnerung und Versöhnung.

Den Bogen zur modernen Sklaverei des 21. Jahrhunderts spannte der mauretanische Menschenrechtler Biram Dah Abeid. Bis zu 600.000 Menschen sind in der Islamischen Republik Mauretanien trotz Verbot versklavt, was 20 Prozent der Gesamtbevölkerung entspräche. Es sind die Nachfahren von vor Generationen versklavten und bis heute nicht freigelassenen Menschen, die den »weißen Mauren« als Sklaven dienen. Durch sein Engagement konnte Abeid die Einleitung von Ermittlungen gegen mehrere Sklavenhalter bewirken, woraufhin Tausende Sklaven freigelassen und öffentliche Debatten zu Sklaverei und Diskriminierung von Schwarzafrikanern angeregt wurden.

Schuld trägt nicht nur der europäische, sondern auch der arabische Rassismus und Imperialismus. Der nigerianische Historiker Michael Onyebuchi Eze sieht die Rolle von Boko Haram heute in Nigeria als arabischen Nationalismus übersetzt in Religion. Auch Darfur sei kein christlich-muslimischer Konflikt, sondern arabischer Rassismus gegen Schwarze. Eze beschrieb, wie der europäische Rassismus durch die Denker der Aufklärung – Hegel, Hume, Kant und Montesquieu – geprägt wurde. Sie verstanden die Ordnung der Welt als eine hierarchische Stufenleiter, wo die Affen als am höchsten stehende Tiere in die unmittelbare Nähe der »niedrigsten« Menschen gestellt wurden, als welche man meist die Schwarzen ansah. Sie konstruierten eine menschliche Identität, die den weißen Europäer an die Spitze der Vernunftbegabten stellte und den Afrikaner als ein Kind des Augenblicks sah, dem Rationalität, Geschichte, Kultur und Tradition fehle. Solche Afrikaner, die »noch keine Menschen« waren, »mussten« kolonialisiert und »zum Menschsein erzogen« werden.

»Landesverräterisches Treiben«

Als Reaktion auf diese Demütigungen entstand der Panafrikanismus und das »Black Consciousness«-Movement in Südafrika. Der Münchner Kongress war zwei seiner prominentesten Vertretern gewidmet: der politisch engagierten Sängerin Miriam Makeba, die 1963 den Fall der Apartheid vor die UNO brachte, sowie dem Anti-Apartheid-Kämpfer und Gründer der »Black Consciousness«-Bewegung, Steve Bantu Biko. Biko hatte die South African Students’ Organisation (SASO) mitgegründet, die ein »schwarzes Bewußtsein« und politische Eigenverantwortung propagierte. Nachdem 1963 im Rivonia-Prozess Nelson Mandela und andere ANC-Führer verhaftet wurden, entstand in diesem politischen Vakuum aus der SASO die von Biko geführte »Black Consciousness«-Bewegung. Während der ANC weiße Teilhabe in seinem Kampf für eine gemeinsame Zukunft befürwortete, lehnte die »Black Consciousness«-Bewegung dies aus Angst vor Bevormundung ab und war damit den Black Panthers in den USA näher. Neben Protesten und Streiks wurden Selbsthilfe-Gruppen organisiert, die in den schwarzen Gemeinden Schulen und Kliniken bauten. Da die Apartheidsregierung dies als »landesverräterisches« Treiben ansah und Bikos Heimatstadt King William’s Town zum Zentrum des gewaltlosen Widerstands avancierte, wurde Biko als Symbol der Bewegung 1977 verhaftet. Er starb, 30-jährig, in Polizeigewahrsam an den Folgen von Folter. Sein Credo, dass der eigene Tod ein politischer Akt sein könne, erfüllte sich. Durch seine Bekanntheit machte der Mord weltweit Schlagzeilen und öffnete vielen die Augen über die Brutalität des Apartheidsregimes.

Als Ehrengast war Steve Bikos Sohn eingeladen, Nkosinathi Biko. Er erinnerte daran, dass Hendrik Verwoerd, der als Architekt der Apartheid gilt, kurze Zeit vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten zum Psychologiestudium in Deutschland war, wo er den Geist der Zeit aufnahm. Und dass für Steve Biko das gefährlichste Instrument des Unterdrückers die Seele des Unterdrückten war. Neben Frantz Fanon prägte der brasilianische Befreiungspädagoge Paulo Freire sein Denken. Als größter Erfolg von Bikos Bewegung gilt, das Minderwertigkeitsgefühl und die Furcht aus den Köpfen der Schwarzen vertrieben und durch ein neues Gefühl von Stolz, Selbstvertrauen und gegenseitigem Respekt ersetzt zu haben. Den selbstverantwortlichen Bürgersinn, mit dem sein Vater damals ohne staatliche Hilfe eine Klinik baute, wünscht er sich auch für das neue Südafrika, in dem zwar Gleichberechtigung, aber immer noch eine Konzentration von Armut in den schwarzen Gemeinden herrscht. Denn »das Wohlergehen des Nachbarn definiert, ob es uns gut geht, und wenn es der Peripherie nicht gut geht, dann geht es uns, Südafrika, nicht gut.«

Ausstellung
Biko: The quest for a true humanity
18.10.2013 – 17.11.2013
Karlsstr. 50, 80333 München




Leugnen und lernen. Panafrikanismus in München als Kongreß
junge Welt 26.10.2013 / Feuilleton / Seite 13
Von Sabine Matthes. URL: www.jungewelt.de/2013/10-26/011.php

Am vergangenen Wochenende fand in München der 4. Panafrikanismus-Kongreß statt. Er stand unter dem Motto »Lernen aus der Vergangenheit«. Parlamentarische Vertreter aus Namibia mahnten, Deutschland solle seiner Verantwortung für den Völkermord in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika nachkommen. Etwa 80 Prozent der Herero und 60 Prozent der Nama hatten 1904–1907 unter dem Befehl des Generalleutnants Lothar von Trotha ihr Leben verloren. Während Deutschland eine offizielle Entschuldigung bis heute verweigert, um keine Reparationen zahlen zu müssen, wird in Namibia diese Leugnung als Verlängerung des Genozids betrachtet und gefragt, warum man nicht gleichberechtigt mit den Überlebenden des Holocaust entschädigt wird.

Über den Zusammenhang von Kolonialismus und Sklaverei sprach der Senegalese Eloi Coly, der auf Goree Island, einer kleinen Insel vor Dakar, das »Maison des Esclaves de Goree« (Haus der Sklaven) leitet. In drei Jahrhunderten sind von hier aus 15 bis 20 Millionen Westafrikaner Richtung Amerika verschifft worden. Sechs Millionen starben auf dem Weg. Heute ist Goree Weltkulturerbe, ein Symbol der Erinnerung und Versöhnung.

Den Bogen zur modernen Sklaverei des 21. Jahrhunderts spannte der mauretanische Menschenrechtler Biram Dah Abeid. Bis zu 600000 Menschen seien in Mauretanien immer noch versklavt, was 20 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Es gebe einen arabischen Rassismus gegen Schwarze, führte der nigerianische Historiker Michael Onyebuchi aus, der unter dem Deckmantel der Religion propagiert würde. So sei beispielsweise der Darfur-Konflikt keiner zwischen Christen und Muslimen, sondern Ausdruck des arabischen Rassismus.

Der Kongreß war zwei Südafrikanern gewidmet: der politisch engagierten Sängerin Miriam Makeba (1932–2008), die 1963 in einer Rede vor der UNO erstmals Südafrika der Apartheid angeklagt hatte, und Steve Bantu Biko (1946–1977), dem Gründer der »Black Consciousness«-Bewegung. Während der ANC weiße Teilhabe an seinem Kampf für eine befreite Gesellschaft befürwortete, wurde dies von der »Black Consciousness«-Bewegung aus Angst vor Bevormundung abgelehnt. Damit war sie den Black Panthers in den USA näher. Neben Protesten und Streiks wurden Selbsthilfe-Gruppen organisiert, die Schulen und Kliniken bauten. Biko wurde verhaftet und zu Tode gefoltert. In München gibt es eine Ausstellung über ihn. Sein Sohn Nkosinathi Biko war Ehrengast auf dem Kongreß.

Ausstellung: »Biko: The Quest for a True Humanity«, in Kooperation mit der Steve Biko Foundation, bis zum 17.11.2013 in der InitiativGruppe, München


Leserbrief zu: "Freiheit? Welche Freiheit? Die FDP hat ein Wahldebakel erlebt, der Liberalismus steckt in einer tiefen Krise."
SZ vom 28./29.9.2013, Seite V2/8

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Die FDP hat ein Wahldebakel erlebt und verschwindet nach 46 Jahren aus dem Bundestag. Detlef Esslinger erklärt dazu in seinem Artikel "Freiheit? Welche Freiheit?", dass es die Weltanschauung des Liberalismus im Vergleich zum Konservatismus und Sozialismus in Deutschland immer schon schwer hatte. Wenn Liberale, wie er schreibt, "von Natur aus Individualisten" sind, leidet Deutschland diesbezüglich unter einer gefährlichen Mangelerscheinung. Was besonders befremdlich ist, da gerade wir in der Nazi- und DDR-Zeit doch die denkbar schlechtesten Erfahrungen mit Staats- und Obrigkeitshörigkeit gemacht haben. Wieso trauen die Deutschen trotz dieser Totalitarismus Erfahrungen dem Staat mehr Menschlichkeit zu, als dem Einzelnen? Warum wollen sie mehr Staat anstatt weniger?

Ein Einwanderungsland wie die USA, und wie Deutschland es werden sollte, lebt vom Liberalismus. Darin liegt die Verheißung: so viel Freiheit wie möglich, so wenige Vorschriften wie nötig. Der soziale Kitt ist nicht die sozialstaatliche Hängematte, sondern eine generelle Offenheit und Vertrauen gegenüber dem Fremden. Die soziale Verantwortung – Arbeit und Lohn, Wohnung und Nestwärme zu geben – wird nicht an den Staat delegiert, sondern obliegt jedem einzelnen. Bereits die regulierte Anarchie der indianischen Gesellschaften war im Wesen herrschaftsfeindlich. Die neuen Einwanderer kamen häufig als Flüchtlinge mit ihren negativen Erfahrungen von repressiven Regimen. "Der Staat ist am besten, der am wenigsten regiert", befand der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau (1817-1862), ein Vordenker des Anarchismus, der in seinem berühmten Essay über den zivilen Ungehorsam das Gesetz des Gewissens über das Gesetz des Staates stellte und damit unter anderem auch Mahatma Gandhi inspirierte.

Aus eigener Erfahrung, als Fotografin in New York am Ende von Ronald Reagans Präsidentschaft und danach, habe ich erlebt, wie wunderbar befreiend und produktiv das Leben ohne die lähmende Diktatur der deutschen Bürokratie und Formalismen sein kann. Der Wegfall der FDP und die generelle Liberalismus-Feindlichkeit der Deutschen lassen befürchten, dass wir uns von einem solchen Lebensgefühl immer weiter entfernen.


(Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Bayerns Abgeordnete"
Bayern-Teil SZ vom 19.9.2013, Seite R 18

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Die SZ hat die 180 bayerischen Abgeordneten im neuen Landtag mit Namen und Gesicht gelistet. Knapp 30 Prozent davon sind Frauen. Warum aber haben nur ein oder zwei Abgeordnete einen erkennbaren Migrationshintergrund? Klare Mehrheit haben die 101 CSU Abgeordneten, davon sind nur 21 Prozent Frauen und anscheinend kein einziger mit Migrationshintergrund. Auf einem Wahl Flyer hatte die CSU für sich geworben, indem sie unter anderem vor einer Rot-Grünen Politik warnte, die Deutschland zu einem "Einwanderungsland" machen wolle – obwohl dies aus demographischer und wirtschaftlicher Notwendigkeit dringend forciert werden muss. Mit diesem bayerischen Kulturchauvinismus und einer rigiden Flüchtlingspolitik bekam die CSU jetzt sogar auch bundesweit gesehen prozentual doppelt so viel Zustimmung wie die liberale FDP. Dieser beunruhigende Rechtsruck ist kein gutes Aushängeschild für ein Land, das mit einer Willkommenskultur um Fachkräfte und andere Zuwanderer werben sollte.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


"Marsmission mit Missionar", Cristina De Middles Fotoprojekt "The Afronauts" (PDF)
Von Sabine Matthes. In: Afrikapost, Juni 2013
Die Erde öffnen. Spirituelle Landkarten als Besitzurkunde:
Die Kunst der australischen Spinifex People im Münchner Völkerkundemuseum

Von Sabine Matthes
junge Welt, 06.05.2013 / Feuilleton / Seite 12,
www.jungewelt.de/2013/05-06/029.php

Als Kapitän James Cook 1770 in der Botany Bay in Australien landete, erklärte er das Land zur leeren, unbewohnten Terra Nullius. Die Briten begründeten damit ihre Landnahme und unterwarfen die Bewohner einer kolonialistischen Routine nach dem Motto "Zivilisieren, Christianisieren, Ausrotten, um Vergebung bitten". Erst 1967 wurden die Aborigines Staatsbürger und eine starke Landrechtsbewegung begann. Der Fall "Mabo vs. Queensland" wurde 1992 zum bahnbrechenden Präzedenzfall: das Oberste Bundesgericht sprach Eddie Mabo und anderen indigenen Klägern das Besitzrecht an den von ihnen bewohnten Murray Islands zu. Dies war eine historische Wende, denn das britische Terra-Nullius-Prinzip wurde als fiktiv und illegal verworfen. Das Mabo-Urteil half anderen Aborigines-Gemeinden die Rückgabe ihres Landes (Native Title) zu fordern – sofern sie eine kontinuierliche traditionelle Verbindung dazu nachweisen konnten.

So wurde die Landrechtsbewegung zu einem enormen Stimulans für die zeitgenössische Aboriginal Art. Denn der Erfolg der Landansprüche hing auch von der bildlichen Darstellung dieser Beweisführung ab. Die Kunstwerke, verstanden als eine Art Schöpfungsgeschichte, erzählen von der Landschaft und ihren Bewohnern; davon, wie ihre Sitten, Gebräuche und Gesetze entstanden. Es sind spirituelle Landkarten, die zu Besitzurkunden werden. "Wenn ich diese Geschichte nicht male, kommt irgendein Weißer und stiehlt mir mein Land" – lautet häufig die Motivation zu malen.

Mit der überlieferten Bildsprache von Zeichen und Symbolen aus einer 50 000 Jahre alten Kulturtradition der Aborigines kommuniziert der initiierte Künstler seinen Geburtsort, dessen spezielle Verbindung zur Schöpfungsgeschichte und seine persönliche Verantwortung dafür. In den Bildern der Spinifex People, die gegenwärtig im Münchner Völkerkundemuseum zu sehen sind, sind die überlebenswichtigen Wasserlöcher vorherrschend. Die Kreise sind oft wichtige Versammlungsorte, um die sich gepunktete Linien und Wege ranken – Geschichten in Form von Emuspuren, menschlichen Sitzabdrücken, magischen Wasserschlangen oder dem Reiseweg des Pythonmannes Wati Tiru.

Die Spinifex People leben als Nomaden im südwestlichen Australien in der Abgeschiedenheit der Great Victoria Desert. Dort gibt es 500 heilige Stätten, zu denen Exkursionen unternommen werden. Man fegt den Sand beiseite und beginnt zu malen – oft gemeinschaftlich auf einer auf der Erde liegenden Leinwand, Frauen und Männer allerdings getrennt. Einem Ritual gleich, wird durch das Malen die Erdoberfläche sozusagen geöffnet und die Kraft der Ahnen angezapft. Die Aborigines glauben, daß diese die Welt erst erträumt und dann geschaffen haben. Als sie damit fertig waren, gingen die Ahnen ermüdet in die Erde, den Himmel, die Wolken und die Geschöpfe zurück, um als Kraft in allem, was sie geschaffen hatten, nachzuhallen. Das Malen soll diesen Schöpfungsakt regenerieren.

Einerseits müssen die Bilder diskret geheimes Wissen verbergen, andererseits sollen sie vor Gericht präzise Beweisstücke sein. Die Spinifex People mußten ihr Land in den 1950er Jahren wegen schwerer Dürren und den britischen Atombombentests in Maralinga verlassen. Viele wurden in sogenannte Missionen umgesiedelt, Hunderte Kilometer von ihrem Land entfernt. Während sie mit der australischen Regierung 1995 bis 2000 über ihre Landrechte verhandelten, wobei ihnen schließlich 55000 Quadratkilometer zuerkannt wurden, begann 1997 das Spinifex Arts Project. Die Stammesältesten malten zwei Gemälde, je ein Gemeinschaftswerk der Männer und der Frauen, die ihre Identifikation mit dem ganzen beanspruchten Land darstellten. Diese Bilder wurden offiziell in die Präambel der Native-Title-Vereinbarung aufgenommen. Erst dieser politische Erfolg ermunterte die Spinifex, auch für den Kunstmarkt weiter zu malen.

Ihre Bilder entfalten den Sog einer sich endlos abspulenden minimalistischen Wüstenoper. Ihre Farben und Muster vibrieren wie die flirrende Hitze, das Licht und der Sand. Die Spinifex Kunst ist roher und ursprünglicher als die bereits Ende der 1980er Jahre international gefeierte Central Desert Art. Dort, in der unerbittlichen Wüste Zentralaustraliens, fand 1971 die Initialzündung der zeitgenössischen Aboriginal Art statt. Der Lehrer Geoffrey Bardon arbeitete damals in einer Schule nahe der Regierungssiedlung Papunya, wo Aborigines lebten, die man von ihrem traditionellen Land vertrieben hatte. Er gab ihnen Farbe und ermunterte sie, ihre Geschichten zu malen. So entstand das Honigameisen-Dreaming als Wandbild auf einer Schulmauer – das erste Bild, das nicht mehr auf eine natürliche Oberfläche wie Haut, Holz, Felsen oder Erde gemalt war, sondern auf einen permanenten, vertikalen Untergrund nach westlichem Kunstverständnis. Acrylbilder auf Leinwand folgten. Die rasch wachsende Popularität der daraus sich entwickelnden Papunya-Tula-Kunst-Bewegung fiel mit der indigenen Landrechtsbewegung zusammen. Das Spinifex Arts Project folgte dem erfolgreichen Papunya-Modell. Aber die Spinifex-People gehörten zu den letzten Gemeinden, die ihre Geheimnisse, im Tausch gegen Landrechte, preisgeben wollten.

Spinifex Arts Project, Aboriginal Art aus der Great Victoria Desert, bis 12. Mai, Staatliches Museum für Völkerkunde München



Abbildung: Tjaruwa (Angelina Woods), Kamanti, 90 x 136 cm, 2012. Tjaruwa gehört zu den letzen sieben Nomaden der australischen Wüste, die erst 1986 ihren ersten Kontakt mit der "weißen" Welt hatte. © Spinifex Arts Project
Ein Wasserloch, das Tuwan heißt.
Spirituelle Landkarten als Besitzurkunde: die Kunst der australischen Spinifex People im Münchner Völkerkundemuseum. Von SABINE MATTHES
Titelblog, 03.05.2013

Als Kapitän James Cook 1770 in der Botany Bay in Australien landete, erklärte er das Land zur leeren, unbewohnten Terra Nullius. Die Briten begründeten damit ihre Landnahme und unterwarfen die Ureinwohner einer erniedrigenden Routine nach dem Motto "Zivilisieren, Christianisieren, Ausrotten, um Vergebung bitten". 1967 wurden die Aborigines schließlich Staatsbürger und eine starke Landrechtsbewegung begann. Der Fall "Mabo vs. Queensland" wurde 1992 zum bahnbrechenden Präzedenzfall: das Oberste Bundesgericht sprach Eddie Mabo und anderen indigenen Klägern das Besitzrecht auf die von ihnen bewohnten Murray Islands zu. Dies war eine historische Wende, denn das britische Terra Nullius Prinzip wurde als fiktiv und illegal verworfen. Es hatte nicht zur Auslöschung von Mabos ursprünglichem Eigentumsrecht an seinem angestammten Land geführt. Das Mabo-Urteil half anderen Aborigines-Gemeinden die Rückgabe ihres Landes (Native Title) zu fordern – sofern sie eine kontinuierliche traditionelle Verbindung dazu nachweisen konnten.

So wurde die Landrechtsbewegung zu einem enormen Stimulans für die zeitgenössische Aboriginal Art. Denn der Erfolg der Landansprüche hing auch von der bildlichen Darstellung dieser Beweisführung ab. Die Kunstwerke erzählen von der Schöpfungszeit, in der Ahnenwesen die Landschaft, deren Bewohner, Sitten, Gebräuche und Gesetze erschaffen haben. Es sind spirituelle Landkarten, die zu Besitzurkunden werden. "Wenn ich diese Geschichte nicht male, kommt irgendein Weißer und stiehlt mir mein Land" – lautet häufig die Motivation zu malen.

Mit der überlieferten Bildsprache von Zeichen und Symbolen aus einer 50.000 Jahre alten Kulturtradition der Aborigines kommuniziert der initiierte Künstler seinen Geburtsort, dessen spezielle Verbindung zur Schöpfungsgeschichte und seine persönliche Verantwortung dafür. In den Bildern der Spinifex People, die als Nomaden im südwestlichen Australien in der Abgeschiedenheit der Great Victoria Desert leben, sind die überlebenswichtigen Wasserlöcher vorherrschend. Die Kreise sind oft wichtige Versammlungs- oder Kraftorte um die sich gepunktete Linien und Wege ranken – Geschichten in Form von Emuspuren, menschlichen Sitzabdrücken, magischen Wasserschlangen oder dem Reiseweg des Python-Mannes Wati Tiru. Lennard Walker malte sein Land und die Wasserlöcher seines Geburtsorts Kuru Ala, eine für Frauenrecht bedeutende Stätte der Sieben-Schwestern-Schöpfungsgeschichte, zu der er als Mann jedoch keinen Zugang hat.

Etwa 500 solcher heiligen Stätte liegen im Spinifex Country. Exkursionen werden dorthin unternommen. Man fegt den Sand beiseite und beginnt zu malen – oft gemeinschaftlich auf einer auf der Erde liegenden Leinwand, Frauen und Männer gemäß Geschlechtersegregation getrennt. Einem zeremoniellen Ritual gleich, wird durch das Malen die Erdoberfläche quasi geöffnet und die kreative Kraft der darunter immer noch wirksamen Schöpferahnen angezapft. Die Aborigines glauben, dass die Welt in der Epoche der Traumzeit von den Schöpferischen Ahnen geschaffen wurde. Bei ihren Wanderungen formten diese die topographische Landschaft und träumten im Schlaf die kommenden Abenteuer und Dinge die sie erschaffen würden. Als die Welt mit den Arten gefüllt war und sich alle gegenseitig ineinander verwandeln konnten, gingen die Ahnen ermüdet in die Erde, den Himmel, die Wolken und die Geschöpfe zurück, um als Kraft in allem, was sie geschaffen hatten, nachzuhallen. Das Malen regeneriert diesen Schöpfungsakt und den Kontakt mit den Ahnen.

Einerseits müssen die Bilder diskret geheimes Wissen verbergen, andererseits müssen sie vor Gericht präzise Beweisstücke sein. Die Rinden-Petitionen an das australische Parlament konnten 1963 zwar noch nicht die Schürfarbeiten im Arnhem-Land-Reservat verhindern, markierten aber den Beginn einer Phase, in der Aborigines immer häufiger mit Malerei Anspruch auf Land erhoben.

Die Spinifex People mussten ihr Land in den 1950er Jahren wegen schwerer Dürren und den britischen Atombombentests in Maralinga verlassen. Viele wurden in Missionen umgesiedelt, hunderte Kilometer von ihrem Land entfernt. Während sie mit der australischen Regierung 1995-2000 über ihre Landrechte verhandelten, wobei ihnen schließlich 55.000 Quadratkilometer zuerkannt wurden, begann 1997 das Spinifex Arts Project. Die Stammesältesten malten zwei wesentliche Gemälde, je ein Gemeinschaftswerk der Männer und der Frauen, die ihre Identifikation mit dem ganzen beanspruchten Land darstellten. Diese Bilder wurden offiziell in die Präambel der Native-Title-Vereinbarung aufgenommen. Erst dieser politische Erfolg ermunterte die Spinifex, auch für den Kunstmarkt weiter zu malen.

Die Bilder entfalten den Sog und die pulsierende Ruhe einer sich endlos abspulenden minimalistischen Wüsten Oper. Ihre Farben und Muster zittern und vibrieren wie die flirrende Hitze, das Licht und der Sand. Die Spinifex Kunst ist roher und ursprünglicher als die bereits Ende der 1980er Jahre international gefeierte Central Desert Art. Dort, in der unerbittlichen Wüste Zentralaustraliens, wo die Siedler das Land wegen seiner besonders zahmen Kaninchen Utopia nannten, fand 1971 die Initialzündung der zeitgenössischen Aboriginal Art statt. Der Lehrer Geoffrey Bardon arbeitete damals in der nahe Alice Springs gelegenen Regierungs-Siedlung Papunya, wo Aborigines lebten, die man von ihrem traditionellen Land vertrieben hatte. Er gab ihnen Farbe und ermunterte sie, ihre Geschichten zu malen. So entstand das Honigameisen-Dreaming als Wandbild auf der Schulmauer – das erste Bild, das nicht mehr auf eine natürliche Oberfläche wie Haut, Holz, Felsen oder Erde gemalt war, sondern auf einen permanenten, vertikalen Untergrund nach westlichem Kunstverständnis. Acrylbilder auf Leinwand folgten. Die rasch wachsende Popularität der daraus sich entwickelnden Papunya Tula Kunst Bewegung fiel mit der indigenen Landrechtsbewegung zusammen. Das Spinifex Arts Project folgte dem erfolgreichen Papunya Model. Aber die Spinifex People gehörten zu den letzten Gemeinden, die ihre Geheimnisse, im Tausch gegen Landrechte, preisgeben wollten.


Spacegirl Matha auf dem Mars
In: TITELblog, 05.04.13 (mit Fotos)

Als der Wettlauf zum Mond in den 1960er Jahren auf dem Höhepunkt war, triumphierte eine Zeitung mit der Überschrift: "We're going to Mars! With a Spacegirl, two Cats and a Missionary." Verfasser des Artikels war ein ambitionierter Exzentriker namens Edward Makuka Nkoloso, ehemaliger Aktivist für die Unabhängigkeit von Sambia, Lehrer und Direktor seiner eigenen Akademie der Wissenschaft, Weltraumforschung und Philosophie – Sambias inoffiziellem Raumfahrtprogramm. Von SABINE MATTHES

Wäre es nach seinen Wünschen gegangen und er Bürgermeister von Lusaka geworden, schwärmt Nkoloso, so wäre Sambia aus der Startschuss-Explosion seiner Rakete geboren. An einem geheimen Ort nahe der Hauptstadt wird die Mannschaft samt Katzen in Schwerelosigkeit trainiert. In Overalls und britische Uniformen gekleidet rollen sie in Öltonnen holprige Hügel hinab, während mit Teleskopen der Mars untersucht wird. Der Missionar wird instruiert, die Marsianer keinesfalls zwangszumissionieren. Alles scheint bereit, um den Wettlauf zwischen USA und Sowjetunion für Sambia zu entscheiden, wären da nicht die Spione der beiden Supermächte, die das Spacegirl Matha und ihre Katzen entführen wollen, um ihnen Geheimnisse zu entlocken. Vor allem aber weigert sich die UNESCO, die beantragten sieben Millionen Pfund zu zahlen und blockiert damit das tollkühne Projekt, ehe es erfolgreich abheben kann.

50 Jahre später hat die spanische Fotografin Cristina De Middel jetzt Sambias vergessenes Raumfahrtprogramm von 1964 wieder zum Leben erweckt. Ihre fiktive Dokumentation The Afronauts rekonstruiert und inszeniert diesen heroischen nationalen Traum in Farbfotos, Briefreproduktionen und Zeichnungen. Das 2011 im Eigenverlag erschienene Debüt-Fotobuch steht neben drei anderen Anwärtern auf der Shortlist des renommierten Deutsche Börse Photography Prize 2013, der am 10. Juni vergeben wird.

Cristina De Middel arbeitet für Zeitungen und NGOs wie Ärzte ohne Grenzen, stellt aber in ihrer eigenen Arbeit die Wahrhaftigkeit von Fotografie infrage, indem sie die Grenzen von Realität und Fiktion verwischt. Sie konstruiert Lügen, die jeder glaubt, oder verfolgt wahre Geschichten, wie bei den Afronauten, die unglaublich sind. Jenseits von Dokumentar- oder Kunstfotografie sollen die Bilder wie Worte eine Geschichte erzählen. Das Afronauten-Essay könnte die Standfoto Montage einer nigerianischen Nollywood B-Movie Version von Fritz Langs Stummfilm Frau im Mond (1929) sein, für den Lang den rückwärtsgezählten Countdown vor dem Raketenstart erfunden hat, der später von der realen Raumfahrt übernommen wurde. Cristina De Middel lässt ihre Afronauten mit Motorradhelmen Boogie-Woogie tanzen, Elefantenrüssel liebkosen, neben bügeleisenförmigen Raketenattrappen träumen und Schaltpulte bedienen. Die traumwandlerische Expedition führt durch ein Niemandsland unberechenbarer Naturgesetze und seltsamer Zeichen. Eine ufoartige Wolke, ein abgestürzter Vogel, Wrackteile unter bleiernem Himmel, eine wie durch Hitze geschmolzene Marsfrau im Krankenbett. Die Afronautenanzüge im Ethnolook sind von der Künstlerin und ihrer Großmutter selbst genäht, die Köpfe stecken in riesigen Christbaumkugeln. Ein Wolf lauscht der funkelnden Stille des nächtlichen Weltalls.

Ein ähnlich kreatives Spiel mit der Wahrheit betreibt das US-amerikanische Sensationsblatt Weekly World News. Es berichtete 1992 von einer geheimen NASA-Sonde, die im Weltraum die Stimmen singender Engel aus einem schwarzen Loch aufgenommen hat. Mit Vorliebe informiert das inzwischen online gegangene Blatt seine Leser über die neuesten Alienentführungen, Loch Ness- und Elvis Presley-Sichtungen, aber auch über "unglaublich, aber wahre" Geschichten und wurde mit seinen charakteristischen Schwarz-Weiß-Fotos Popkultur. Ist das sambische Raumfahrtprogramm womöglich dessen Erfindung? Beginnt der Schwindel bei den Fotos oder bereits bei der Geschichte? Orson Welles berühmte Radiosendung einer fiktiven Invasion von Marsmenschen konnte 1938 sogar eine Panik auslösen. Für kreative Denker scheint das Weltall eine Spielwiese unmöglicher Möglichkeiten und bizarrster Extravaganzen par excellence, so nah und unüberprüfbar fern liegen hier Dichtung und Wahrheit beisammen.

Seit der ersten bemannten Mondlandung 1969 übertrifft die Realität beinahe die Fantasie und provoziert ebenso verwegene Verschwörungstheorien. So hätte angeblich die NASA mit gestellten Fotos die Landung vorgetäuscht, um den Wettlauf zum Mond für die USA zu gewinnen. Der Filmemacher Stanley Kubrick hatte 1968 seinen Science-Fiction-Klassiker 2001 – Odyssee im Weltraum herausgebracht, der mit modernen Spezialeffekten realistisch eine fiktive Mondmission schildert. Kubrick wurde deswegen beschuldigt, mit Hollywood und Walt Disney Filmmaterial für Apollo 11 und 12 produziert zu haben. Es wurde behauptet, dass während 2001 Anfang 1968 in der Post-Produktion war, die NASA Kubrick heimlich angetragen hätte, die ersten drei Mondlandungen zu filmen. Die Verschwörungstheorie wurde in kubanischen Schulen gelehrt und wo immer kubanische Lehrer unterrichteten. Manche Hindus begründen sie mit ihrer Mythologie, dass der Mond weiter entfernt als die Sonne sei; und bei einer englischen Umfrage 2009 gab ein Viertel der Befragten an, sie glaubten nicht daran, dass Menschen auf dem Mond gelandet seien. Sind die Afronauten Teil eines Verschwörungskomplotts? Die ursprüngliche Heimat der Götter ist heute zur ultimativen Herausforderung für Wissenschaftler geworden. Weltraumtourismus-Pläne von Space Adventures bieten ab 2015 einen Blick auf die dunkle Seite des Mondes an, Hin- und Rückflug für 100 Millionen Dollar. Ein amerikanischer Motel-Tycoon will mit aufblasbaren Modulen ein Weltraumhotel im Erdorbit eröffnen und Virgin Galactic bietet Privatleuten Kurzflüge an die Grenze des Weltalls.

Hinter dem verführerischen Exotismus des Afronauten-Projekts und dem Hinterfragen von Authentizität verbirgt sich auch eine subtile Kritik unserer Haltung zu Afrika, dem wir eine echte Weltraummission nicht zutrauen. Tatsächlich wurde Edward Makuka Nkolosos Vision einer afrikanischen Marsmission von einem prominenten Nachfolger beinahe verwirklicht. Cheick Modibo Diarra, bis letzten Dezember Premierminister von Malis Übergangsregierung, kam 1988 als erster afrikanischer Forscher zur NASA. Als interplanetarischer Nautiker arbeitete er an fünf NASA-Projekten: der Magellan Mission zur Venus, der Ulysses Sonde zu den Polen der Sonne, dem Galileo Raumschiff zum Jupiter, am Mars Observer und Mars Pathfinder. Sicher war Nkoloso im Himmel mit dabei.


Eine eigene Geschichte.
Cristina De Middels Fotoprojekt "The Afronauts" erinnert an das vergessene Raumfahrtprogramm von Sambia.
Von Sabine Matthes
junge Welt, 02.04.2013 / Feuilleton / Seite 13,
www.jungewelt.de/2013/04-02/012.php

Hörst du die Stimmen, singender Engel?
Foto: Cristina de Middel

Als der Wettlauf zum Mond in den 1960er Jahren auf dem Höhepunkt war, triumphierte eine sambische Zeitung mit der Überschrift: "We're going to Mars! With a Spacegirl, two Cats and a Missionary." Verfasser des Artikels war ein ambitionierter Exzentriker namens Edward Makuka Nkoloso, ehemaliger Aktivist für die Unabhängigkeit von Sambia, Lehrer und Direktor seiner eigenen "Akademie der Wissenschaft, Weltraumforschung und Philosophie" – Sambias inoffiziellem Raumfahrtprogramm. Wäre es nach seinen Wünschen gegangen und er Bürgermeister von Lusaka geworden, schwärmt er, so wäre Sambia aus der Startschuß-Explosion seiner Rakete geboren worden.
Wie hatte man sich das vorzutellen? An einem geheimen Ort nahe der Hauptstadt wird die Mannschaft samt Katzen in Schwerelosigkeit trainiert. In Overalls und britische Uniformen gekleidet rollen sie in Öltonnen holprige Hügel hinab, während mit Teleskopen der Mars untersucht wird. Ein Missionar wird instruiert, die Marsianer keinesfalls zwangszumissionieren. Alles scheint bereit, um den Wettlauf zwischen USA und Sowjetunion dann doch für Sambia zu entscheiden, wären da nicht die Spione der beiden Supermächte, die das Spacegirl Matha und ihre Katzen entführen wollen, um ihnen Geheimnisse zu entlocken. Vor allem aber weigerte sich die UNESCO, die beantragten sieben Millionen Pfund zu zahlen und blockierte damit das tollkühne Projekt, ehe es erfolgreich abheben kann.
50 Jahre später hat die spanische Fotografin Cristina De Middel nun Sambias vergessenes Raumfahrtprogramm von 1964 wieder zum Leben erweckt. Ihre fiktive Dokumentation "The Afronauts" rekonstruiert und inszeniert diesen heroischen nationalen Traum in Farbfotos, Briefreproduktionen und Zeichnungen. Ihr 2011 im Eigenverlag erschienene Künstlerbuch, das Produkt einer Madrider Ausstellung, steht auf der Shortlist des renommierten "Deutsche Börse Photography Prize 2013", der am 10. Juni von der Bankenlobby vergeben wird.
Cristina De Middel arbeitet für verschiedene Medien und NGOs wie "Ärzte ohne Grenzen", stellt aber in ihrer künstlerischen Arbeit den Anspruch auf Wahrhaftigkeit der Fotografie in Frage, indem sie die Grenzen von Realität und Fiktion verwischt. Sie konstruiert Lügen, die jeder glaubt, oder verfolgt wahre Geschichten, wie bei den Afronauten, die unglaublich sind.

Jenseits von Dokumentar- oder Kunstfotografie sollen ihre Bilder eine eigene Geschichte erzählen. So könnte ihr fotografischer Afronauten-Essay die Standfoto-Montage einer nigerianischen Nollywood B-Movie Version von Fritz Langs Stummfilm "Frau im Mond" (1929) sein, für den Lang übrigens den rückwärtsgezählten Countdown vor dem Raketenstart erfunden hat, der später von der realen Raumfahrt übernommen wurde. Cristina De Middel läßt ihre Afronauten mit Motorradhelmen Boogie-Woogie tanzen, Elefantenrüssel liebkosen, neben bügeleisenförmigen Raketenattrappen träumen und Schaltpulte bedienen. Die traumwandlerische Expedition führt durch ein Niemandsland unberechenbarer Naturgesetze und seltsamer Zeichen. Eine ufoartige Wolke, ein abgestürzter Vogel, Wrackteile unter bleiernem Himmel, eine wie durch Hitze geschmolzene Marsfrau im Krankenbett. Die Afronautenanzüge im Ethnolook sind von der Künstlerin und ihrer Großmutter selbst genäht, die Köpfe stecken in riesigen Christbaumkugeln. Ein Wolf lauscht der funkelnden Stille des nächtlichen Weltalls.
Ist das eine Geschichte, die auch im US-amerikanischen Sensationsblatts Weekly World News stehen könnte? 1992 war dort beispielsweise von einer geheimen NASA-Sonde zu lesen, die im Weltraum die Stimmen singender Engel aus einem schwarzen Loch aufgenommen haben sollte. Für kreative Denker scheint das Weltall eine Spielwiese unmöglicher Möglichkeiten und bizarrster Extravaganzen. Man muß nur einmal die Verschwörungstheorien Revue passieren lassen, die seit der ersten bemannten Mondlandung 1969 im Umlauf sind. Beispielsweise die Behauptung, die NASA habe mit gestellten Fotos die Landung vorgetäuscht, um den Wettlauf zum Mond für die USA zu gewinnen. Und weil der Filmemacher Stanley Kubrick 1968 seinen Science-Fiction-Klassiker "2001 – Odyssee im Weltraum" herausgebracht hatte, wurde er beschuldigt, für Hollywood und Walt Disney Filmmaterial für Apollo 11 und 12 produziert zu haben. Manche Hindus glauben auch daran, daß der Mond weiter entfernt als die Sonne sei, so wie einer britischen Umfrage 2009 zufolge jeder vierte versicherte, daß noch nie Menschen auf dem Mond gelandet seien. Sind also die "Afronauten" Teil eines Verschwörungskomplotts?
Hinter deren verführerischem Exotismus steckt allerdings eine subtile Kritik an der westlichen Arroganz, eine afrikanische Weltraummission für unmöglich zu halten. Tatsächlich wurde die Vision einer Mars-Mission von Edward Makuka Nkolosos von einem prominenten Nachfolger beinahe verwirklicht. Cheick Modibo Diarra, der 2012 von Malis putschistischer Militärregierung erst zum Premierminister ernannt und dann verhaftet wurde, kam 1988 als erster afrikanischer Forscher zur NASA. Als interplanetarischer Nautiker arbeitete er an fünf NASA-Missionen: der "Magellan Mission" zur Venus, der "Ulysses Sonde" zu den Polen der Sonne, dem "Galileo"-Raumschiff zum Jupiter, am "Mars Observer" und "Mars Pathfinder".
The Afronauts. A Zambian Space Program by Cristina De Middel, Eigenverlag, Madrid 2011. vergriffen


(Veröffentlichter) Leserbrief zu Chrismon 04.2013, Seite 12
Landesbischof a.D. Johannes Friedrich: "Hinfahren und reden!"

Sehr geehrte Leserbrief Redaktion,
Landesbischof a.D. Johannes Friedrich beklagt in seinem Artikel "Hinfahren und reden!" den dramatischen Rückgang der Christen im Heiligen Land innerhalb der letzten 30 Jahre, die dort, wie in anderen arabischen Ländern, unter einem wachsenden Extremismus litten. Unerwähnt bleibt, dass die palästinensischen Christen heute mehr oder weniger freiwillig emigrieren, während die meissten bereits 1948 im Zuge der israelischen Staatsgründung zwangsweise zu Flüchtlingen wurden. Insgesamt sind damals 750.000 palästinensische Muslime und Christen vertrieben, enteignet und ausgebürgert worden, nur 150.000 blieben. So sind zwei der offiziell zwölf palästinensischen UNRWA-Flüchtlingslager im Libanon, Dubayeh und Mar Elias, christlich. Ihre über 5.000 Bewohner kamen größtenteils ursprünglich aus christlichen Dörfern in Galiläa. Auch sie würden gerne ins Heilige Land "hinfahren und reden", Israel verbietet ihnen aber ihre Heimat zu besuchen oder zurückzuziehen – obwohl UNO-Resolution 194 ihnen das Recht dazu gibt. Die Deutschen haben den Holocaust begangen, nicht die Palästinenser. Trotzdem hat ein deutscher Christ wie Johannes Friedrich, der sechs Jahre als evangelischer Probst in Jerusalem lebte, mehr Rechte in der Heimat der palästinensischen Christen, als diese selbst. Für dieses Unrecht und unsere historische Mitschuld am Exodus der Christen mutet Friedrichs Statement, unsere wichtigste Aufgabe sei es zu "beten", allzu bequem und zynisch an.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


(Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Flüchtlingsheim-Gegner formieren sich"
SZ vom 8.2.2013, Münchner Teil, R7

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Wie bereits andernorts im Münchner Umland formiert sich jetzt auch in Putzbrunn der Widerstand gegen eine geplante Asylbewerberunterkunft für 120 Flüchtlinge. Warum stellen heute, in einem reichen Land das dringend Zuwanderung braucht, ein paar wenige (ausländische) Flüchtlinge eine Zumutung dar, wo sogar das zerstörte Nachkriegsdeutschland zig Millionen (deutschstämmiger) Flüchtlinge integrieren konnte? Würde der Staat den heutigen Flüchtlingen die gleichen Rechte und Pflichten geben, wie den damaligen, wäre deren Integration leichter und die Ressentiments der Bevölkerung geringer. Die Senioren der benachbarten Theodor-Heuss-Wohnanlage könnten profitieren: gegen kleine Handwerks- oder Einkaufsdienstleistungen könnten sie den Flüchtlingen beim Deutschlernen helfen. Ebenso ließe sich mit den benachbarten Kinderheimen eine Zusammenarbeit organisieren. Da sich die Putzbrunner aber hauptsächlich an der "riesigen Zahl" der Flüchtlinge und deren Unterbringung in "Gemeinschaftsunterkünften" stören, fragt man sich, ob sie zukünftig auch gegen "Gemeinschaftsunterkünfte" für Senioren (Seniorenheime) oder Kinder (Kinderheime) protestieren. Und das berühmte Statement des Nazi-Widerstands-Theologen Martin Niemöller scheint erschreckend aktuell:

"Zuerst kamen sie wegen der Kommunisten,
und ich schwieg weil ich kein Kommunist war ...
Dann kamen sie wegen der Juden,
und ich schwieg weil ich kein Jude war.
Dann kamen sie wegen der Katholiken,
und ich schwieg weil ich kein Katholik war.
Dann kamen sie um mich zu holen,
und keiner war mehr da um seine Stimme für mich zu erheben."

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München



"Zukunftsmarkt Afrika. Auma Obama wünscht sich bei der Jahresinvestmentkonferenz Afrika 2012 in München eine nachhaltige ökonomische Entwicklung". In "Africa Positive", Nr. 48, 2013, Jan. 2013 (JPG). Teil 1 Teil 2

2012

John Cage Konzertankündigung mit Foto von Sabine Matthes. Klanghalle, Neue Musik im H2- Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast Augsburg, Samstag, 15. 12. 2012 (PDF)


Interview: Im Gespräch mit Fluxus-Pionier Benjamin Patterson 08.09.2012
Der Fluxus-Pionier Ben Patterson über Fluxus als Haltung, die schwarze Bürgerrechtsbewegung und ein Versprechen an Mount Fuji

http://titelmagazin.com/artikel/167/11371/interview-im-gespr%C3%A4ch-mit-fluxus-pionier-benjamin-patterson.html [Link erloschen]

Vor 50 Jahren kratzten Unbekannte "Die Irren sind los" in das Werbeplakat. Im Hörsaal des städtischen Museums Wiesbaden fanden damals im Rahmen der Fluxus-Festspiele Neuester Musik vom 1.-23.September 1962 die weltweit ersten Fluxus-Performances statt. Das Fernsehen sendete die Ereignisse und die subversive Strahlkraft dieses Fluxus-Urknalls verbreitet seitdem ihr Unwesen. Von SABINE MATTHES

George Maciunas, Dick Higgins, Wolf Vostell, Ben Patterson und Emmett Williams gaben eine eigenwillige Interpretation von Phil Corners Piano Activities. Das Piano, edelstes Pferd im Arsenal der etablierten Hochkultur, wurde in einem anarchischen Gemetzel lustvoll durchgesägt und abgeschlachtet. Nam June Paik begoß sich mit einem Eimer Wasser und Alison Knowles rasierte Dick Higgins den Schädel, auf dem er sich rohe Eier aufschlug. Ben Patterson malträtierte seinen Kontrabass, der aufgepumpt und abgestaubt, Zielscheibe und Briefkasten wurde – seine Variations for Double-Bass und Paper Piece sind heute Klassiker im Fluxus-Repertoire.

Diesen Sommer feiert Wiesbaden das 50-jährige Jubiläum mit zahlreichen Veranstaltungen, Ausstellungen und der großen Retrospektive Benjamin Patterson: Born in the State of FLUX/us im Nassauischen Kunstverein. Mit kindlichem Erstaunen genießt man die Ausstellung wie einen Rummel am Meer, denn, so Ben Patterson: "FLUXUS ist wie ein großes Schiff, mit dem man einen schönen Ausflug macht."

Sabine Matthes traf sich mit Benjamin Patterson zum Interview:


Ist Fluxus ein typisches Produkt der 1960er Jahre? Ist es eine Haltung oder ein Stil? Gibt es Fluxus auch außerhalb der Kunst?

Ja, wenn man all den sozialen Aufruhr der 60er Jahre betrachtet, scheint es offensichtlich, dass die Welt bereit war für Fluxus. Man sollte sich auch vergegenwärtigen, dass viele der archetypischen Arbeiten, die 1962 in Wiesbaden aufgeführt wurden, in einer Klasse von John Cage entwickelt waren, die er 1958 an der New School for Social Research in New York gegeben hat. Es ist auch interessant zu sehen, dass die größte Teilnahme von Fluxus durch Künstler und Sammler in den USA, Deutschland, Japan und Italien (wo es mehr Sammler als Künstler gab) stattfand und dass diese Nationen die Hauptakteure im 2.Weltkrieg waren.

So wurde es dann in den späten 50ern bis frühen 60ern, nachdem die physische Zerstörung bereinigt war, Zeit, darüber nachzudenken, was mit den Philosophien falsch war, die zu diesem Krieg geführt haben. So betrachtet glaube ich, dass Fluxus mehr eine "Haltung" ist, als ein "Stil". Also kann Fluxus außerhalb der Kunst existieren. (Neulich sah ich eine Reklame für ein Damenmode Geschäft, das Fluxus hieß!)

Obwohl die meißten Protagonisten Amerikaner waren, lag der Fluxus-Geburtsort in Deutschland. Ist das der U.S.Armee zu verdanken?

Ja, zufällig war die U.S.Armee ein Hauptgrund für den Stapellauf von Fluxus in Wiesbaden. George Maciunas hatte New York verlassen um einen Job als ziviler Zeichner bei der U.S.Armee zu nehmen (mache sagen, um Rechnungseintreibern zu entgehen) und kam nach Wiesbaden. Wäre er einem Stützpunkt in England, Frankreich, Italien oder Spanien zugeteilt worden, dann wäre vielleicht eines dieser Länder der Geburtsort von Fluxus geworden.

Mit Ihrer klassischen Ausbildung für Kontrabass und Komposition (u.a. bei Ross Lee Finney) wurden Sie als schwarzer Musiker 1956 nicht zum Houston Symphony Orchestra zugelassen, obwohl sich dessen damaliger Dirigent Leopold Stokowski für sie einsetzte. Stattdessen spielten Sie in Kanada und kamen 1958 mit dem Symphonieorchester der U.S.Armee nach Deutschland. Dort lernten Sie 1960 in Mary Bauermeisters Studio in Köln John Cage kennen, der Sie zum Mitspielen aufforderte. Waren Sie in der experimentellen Avantgarde willkommener, weil Ihre schwarze Präsenz dort einen Zugewinn an Radikalität bedeutete?

Ich möchte annehmen, dass mein Schwarzsein wenig oder nichts zu tun hatte mit meiner Anerkennung ... in Europa. Europa hatte nicht dieselben Rassenprobleme wie sie die USA hatte (es gab nie einen bedeutenden Handel mit schwarzen Sklaven in Europa). Ich glaube, die ersten Überlegungen waren immer "Interesse und Fähigkeiten". Und ich war nicht der einzige Schwarze, der von der "Hochkultur" aufgenommen wurde. William Pearson, ein schwarzer Amerikaner der in Köln lebte, war damals der "Sänger der ersten Wahl" für jeden Avantgarde-Komponisten. In den Niederlanden war Stanley (One Way) Brouwn – ein Schwarzer aus Surinam – eine wichtige Figur in der holländischen Fluxus-Szene. Auch Joseph Moore – ein schwarzer amerikanischer Posaunist, der an der Universität von Michigan in meiner Klasse und später, zu meiner Zeit, im 7.U.S.Armee Symphonieorchester war – blieb bis heute in Deutschland, nachdem er seinen Militärdienst beendet hatte. Er war erster Posaunist beim Heidelberger Opern Orchester von 1959 bis zu seiner Pensionierung vor ein paar Jahren.

In den USA war die Situation wohl etwas anders. Obwohl ich die meisten der "Sünden" (bei Something Else Press-Dick Higgins und Decollage-Wolf Vostell zu veröffentlichen oder an Charlotte Moormans Avant-garde Festivals teilzunehmen) begangen habe, die einen gemäß "Pope George" für die "Exkommunikation" von Fluxus qualifizierten, wurde ich nie exkommuniziert. (War er um sein "Image" besorgt, wenn er den einzigen amerikanischen Schwarzen exkommuniziert hätte?)

Soweit ich mich erinnere, wurden Rassenfragen mit meinen (rein weißen) Fluxus Gefährten nie diskutiert, obwohl es zu der Zeit ein Hauptthema von Diskussionen (und Protestmärschen) im ganzen Land war. War die Avantgarde so weit voraus (oder isoliert), dass sie "jenseits" dieses Themas waren?

Ich denke sogar, dass es mehr "unausgesprochene" Fragen wegen meiner Fluxus-Aktivitäten in der allgemeinen schwarzen Gemeinde gab. "Warum vergeude ich meine Zeit für diese alberne "weiße Kunst" anstatt seriöse "schwarze Kultur" zu machen/zu unterstützen?" Vorhin sagte ich "allgemeine schwarze Gemeinde", weil die meisten der schwarzen Künstler-Gemeinschaften wussten, dass ich in meinen verschiedenen Verwaltungsjobs vielen "schwarzen Kulturaktivitäten" bedeutende finanzielle Unterstützung beschaffte – von Straßenfesten zu Jazz und klassischen Kammerkonzerten.

Was waren Ihre wichtigsten Begegnungen in Köln, Paris und New York? Wie hat sich Ihre Arbeit dadurch verändert?

Köln war sicher der Ort der meisten meiner frühen wichtigen Begegnungen. Zu der Zeit war das wichtigste elektronische Musikstudio Europas (der Welt?) beim WDR in Köln und zog junge Komponisten aus der ganzen Welt an. Das brachte mich nach Köln, wo ich das erste Mal John Cage und Dutzende ehrgeizige, junge Künstler, Musiker und Schreiber traf ... und aus meinem geplanten Drei-Tage-Besuch wurden eineinhalb Jahre.

Obwohl ich mit vielen jüngeren Künstlern in und um Köln herum arbeitete, glaube ich, dass die Begegnung mit der Musik von John Cage (präpariertes Klavier, Geräusche und Zufallsprozesse) zweifellos der entscheidende Einfluss war ... woraus mein Paper Piece und Variations for Double Bass entstanden. In Paris waren meine fast täglichen Treffen mit Daniel Spoerrie und Robert Filliou die größten Einflüsse. Genauer: Daniels Ermutigung und Hilfe meine Methods & Processes (manche Experten sagen, dies sei das "erste Künstlerbuch") zu veröffentlichen – und Roberts Galerie Legitime, wo ich zuerst mein puzzle poem ausstellte – was die Tür für zukünftige Arbeiten mit Publikumsbeteiligung öffnete.

In New York war wohl einfach das Kollektiv der 40+ Künstler, in und um Fluxus herum, wichtig, was als gegenseitige Unterstützungsgruppe diente, um Forschen und Experimentieren zu ermuntern und stärken. George Maciunas war natürlich sehr wichtig auf einer organisatorischen Ebene, aber – zumindest für mich – nicht auf einer ästhetischen. Auf dieser Ebene wurde ich mehr durch den Tanz von Yvonne Rainer oder die Filme von Stan Vanderbeek inspiriert.

Ameisenhügel, psychoanalytische Sitzungen, schlagsahnebesprühte nackte Frauen oder Zen – alle Wunder dieser Welt springen durch Ihren Zirkusreifen und werden zu Poesie, Musik oder Objekten verarbeitet. Gibt es etwas, dass für Sie NICHT kunst- oder Fluxus-würdig ist?

Naja, ich hoffe, ich werde nie einen Krieg beginnen, einen Mord begehen, Apartheid unterstützen, ein religiöser Fanatiker werden ... und, und, und. Ja, es gibt Grenzen: "Tue anderen an, was Du Dir selbst angetan hättest" ist ein guter Wegweiser.

Wie war Fluxus in der 1960er Jahren mit den anderen experimentellen Künstlern der Beat Generation, Pop Art oder Minimal Music verbunden?

Beinahe jede Nacht, in Paris waren wir alle bei La Coupole und in New York bei Max`s Kansas City ... aber jede Gruppe an verschiedenen Tischen. Ich nehme an, wir (Fluxus Künstler) respektierten die "Beat Poeten" und "Minimal Komponisten" und besuchten ihre Lesungen und Konzerte, aber betrachteten schließlich die "Pop Künstler" als "Ausverkauf" und boykottierten ihre Galerie Ausstellungen.

Gab es regionaltypische Ausdrucksformen von Fluxus in Deutschland, Italien, Frankreich, Japan oder den USA?

Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber, wenn ich jetzt darüber nachdenke – die Franzosen mögen es, zu reden und die Arbeit von Robert Filliou und Ben Vautier (die beiden bekanntesten französischen Fluxuskünstler) basiert auf Sprache. Und von den Italienern sagt man, dass sie "mit ihren Händen reden". Steht das in Zusammenhang mit Giuseppe Chiaris denkwürdigster Arbeit, Gesti sur piano? Ist Tomas Schmits Zyklus ein Beispiel für teutonische Logik? Oder wie viel Zen ist in Yoko Onos Fly? Betrachtet man die USA, ist es schwieriger für mich – als ein Teil davon – oder weil die Kultur eine Mischung so vieler anderer Kulturen ist?

George Brechts Drip Music oder Joe Jones Music Machines scheinen sich mehr auf Berufe zu beziehen, als auf bestimmte Kulturen. Natürlich könnte man sagen, dass die Redefreiheit Fluxus in den USA einen fruchtbaren Boden für radikale Experimente bereitet hat – aber das grenzt an Chauvinismus.

Welche Rolle spielte George Maciunas für die Etablierung von Fluxus?

George Maciunas WAR Fluxus! ... zumindest im Sinne einer "Organisation". George war derjenige, der alle Elemente zusammenband, ihnen einen "Markennamen" gab und diesen bekanntmachte und vermarktete. Jedoch war sein "ästhetischer" Einfluss auf Fluxus weniger groß, als manche denken. Obwohl er mehrere Manifeste schrieb (die nie von irgendeinem Fluxuskünstler unterzeichnet wurden) und Leute "exkommunizierte", erkennt die Geschichte viele Kunstwerke als Fluxus an – obwohl diese Arbeiten gegen die in den Manifesten veröffentlichten Positionen zu verstoßen scheinen, ... und heute werden "exkommunizierte" Künstler (Beuys, Vostell, Higgins, Paik) als Fluxuskünstler betrachtet!

War Fluxus politisch? Wie reagierte Fluxus, wie reagierten Sie auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung?

Ich habe bereits etwas dazu gesprochen. Aber, noch einmal: ... Nein, ich glaube nicht, dass "Real Politik" Teil der Fluxus Agenda war. Generell sieht sich die Avantgarde gerne als liberal, sozial denkend und links. Gedanken sind jedoch etwas anderes, als sich mit vollem Körpereinsatz zu engagieren. Mit anderen Worten, ich habe nie einen meiner Fluxus "Kameraden" bei einem March on Wasshington gesehen. (Vor einigen Jahren, als ich zum ersten Mal diese "Abwesenheit" erwähnte, sagte einer meiner "Genossen": "Aber Ben, ... warum hast Du uns nicht gefragt?")

Ihre Sektflasche Patent Pending (1988) mit dem dubiosen Zündmechanismus erinnert an den radical chic (Tom Wolfe) der späten 1960er Jahre, als Leonard Bernstein sich auf Partys politisch-progressiv mit den Black Panthers schmückte. Gibt es in Ihren Arbeiten einen speziellen satirischen Humor, wie ihn Schwarze als Form von Protest benutzen? Oder sind Humor und Slapstick ein allgemeines Fluxusmerkmal?

Ich kann nicht sagen, dass ich Satire und Humor reserviere, um gegen irgendein spezielles Problem zu protestieren. Aber sie gehören zu meinen wichtigsten Werkzeugen. Ja, "Slapstick" war ein wesentlicher Faktor für George Maciunas und einige andere, aber nicht für George Brecht und andere. So findet man Humor – in der einen oder anderen Form – nicht immer, aber oft in Fluxusarbeiten.

Dick Higgins verglich Sie mal mit James Baldwin, der zuerst ein "guter" Künstler und dann erst ein "schwarzer" Künstler sein wollte.

Ich finde diese Aussage seltsam und fehlerhaft (und vielleicht spiegelt sie etwas "radikal schicken, unbewussten Rassismus" wider). Jeder – schwarz, blau, rot, grün oder gelb – möchte zuallererst ein "guter Künstler" sein. Welche Themen Gegenstand seiner/ihrer Arbeit werden oder welche Ausdrucksweisen verwendet werden, um den Arbeiten Identität zu verleihen, ist eine ganz andere Frage.

Ein Gullideckel vor Ihrer jetzigen Ausstellung im Nassauischen Kunstverein Wiesbaden ist der Eingang zu Ihrem Museum for the Subconscious, das bereits 1996 in Namibia eingeweiht wurde. Was geht da vor sich?

Ganz einfach, dies ist einer von fünf "Eingängen" (andere sind in Namibia, Argentinien, Israel und Texas) wo Sie darum ersuchen können, dass nach der Schenkung Ihres Unterbewusstseins an das Museum für das Unterbewusstsein, Ihr Unterbewusstsein durch dieses spezielle Portal passieren wird, auf dem Weg registriert und Teil der ständigen Sammlung des Museums wird. Mehr Information gibt es auf der Webseite des Nassauischen Kunstvereins.

In How to be happy (1996) empfehlen Sie, jeden Tag als Performance zu leben. Wie gestaltete sich Ihre 70.Geburtstags-Performance mit der Transsibirischen Eisenbahn? Gibt es schon eine Idee für den 80.Geburtstag in zwei Jahren?

Dieser 70. Geburtstags "Event/Performance/Expedition" war eine siebenwöchige Reise per Zug oder Schiff von Wiesbaden zum Mount Fuji – mit zwölf Performances in Russland, der Mongolei, China und Japan. Die Reise sollte auf dem Gipfel des Mount Fuji ihren Höhepunkt erreichen, aber ich hatte meine physische Kondition überschätzt und war zu langsam hochgestiegen.

So musste ich 200 Meter vor dem Gipfel die Entscheidung treffen: entweder eine Stunde weitergehen und den Gipfel erreichen, oder umkehren und rechtzeitig am Ausgangspunkt ankommen um 40 Künstler aus Tokyo zu treffen – in einem von Ay-O organisierten Bus – die gekommen waren, um zu helfen, meinen Geburtstag zu feiern. Gute Manieren erforderten eine Entscheidung zugunsten der Party. Aber, ehe ich umkehrte, versprach ich Fuji-san wiederzukommen und die letzten 200 Meter an meinem 80.Geburtstag zu beenden. (Falls jemand einen günstigen Hubschrauber-Service am Mount Fuji kennt?)

Titelangaben:
Nassauischer Kunstverein Wiesbaden: Benjamin Patterson: Born in the State of FLUX/us (bis 23.9.2012).
Museum Wiesbaden: Fluxus at 50 (bis 23.9.2012).
Schaufenster Stadtmuseum: Fluxus 50 – live dokumentiert (bis 30.10.2012).
Museum Wiesbaden: Festspiele Neuester Musik (1.9.-20.9.2012)
Festspiele Neuester Musik, Museum Wiesbaden, 1.9.-20.9.2012


"Jeden Tag Performance"
Fluxus wird 50 und stellt aus. Ein Gespräch mit dem Künstler Benjamin Patterson
Interview: Sabine Matthes
Link:
www.jungewelt.de/2012/09-03/020.php

Der Künstler Benjamin Patterson, Jahrgang 1934 ist einer der Mitgründer der Fluxus-Bewegung. Er hat gegenwärtig in Wiesbaden eine Retrospektive und sagt: "Fluxus ist wie ein großes Schiff, mit dem man einen schönen Ausflug macht."

Vor 50 Jahren kratzten Unbekannte "Die Irren sind los" in ein Werbeplakat, als im Städtischen Museum Wiesbaden die Fluxus-Festspiele Neuester Musik vom 1. bis 23. September 1962 stattfanden. Es waren die ersten Fluxus-Performances. George Maciunas, Dick Higgins, Wolf Vostell, Ben Patterson und Emmett Williams gaben eine eigenwillige Interpretation von Phil Corners "Piano Activities". Das Piano, edelstes Pferd im Arsenal der etablierten Hochkultur, wurde in einem anarchischen Gemetzel lustvoll durchgesägt und abgeschlachtet. Nam June Paik begoß sich mit einem Eimer Wasser und Alison Knowles rasierte Dick Higgins den Schädel, auf dem er sich rohe Eier aufschlug. Ben Patterson malträtierte seinen Kontrabaß, der aufgepumpt und abgestaubt, Zielscheibe und Briefkasten wurde – seine "Variations for Double-Bass" und "Paper Piece" sind heute Klassiker im Fluxus-Repertoire. Diesen Sommer feiert Wiesbaden das 50jährige Fluxus-Jubiläum mit zahlreichen Veranstaltungen, Ausstellungen und der großen Retrospektive "Benjamin Patterson: Born in the State of FLUX/us" im Nassauischen Kunstverein.

Ist Fluxus ein typisches Produkt der 1960er Jahre?
Ja, wenn man all den sozialen Aufruhr der 60er Jahre betrachtet, scheint es offensichtlich, daß die Welt bereit war für Fluxus. Man sollte sich vergegenwärtigen, daß viele der archetypischen Arbeiten, die 1962 in Wiesbaden aufgeführt wurden, in einer Klasse von John Cage entwickelt worden waren, die er 1958 an der New School for Social Research in New York hatte.

Obwohl die meisten Fluxus-Protagonisten US-Amerikaner waren, lag der Fluxus-Geburtsort in Deutschland. Ist das der US-Armee zu verdanken?
Ja, zufällig war die US-Armee ein Hauptgrund für den Stapellauf von Fluxus in Wiesbaden. George Maciunas hatte New York verlassen, um einen Job als ziviler Zeichner bei der US-Armee anzunehmen (manche sagen, um Rechnungseintreibern zu entgehen) und kam nach Wiesbaden. Wäre er einem Stützpunkt in England, Frankreich, Italien oder Spanien zugeteilt worden, dann wäre vielleicht eines dieser Länder der Geburtsort von Fluxus geworden.

Sie haben eine klassische Ausbildung für Kontrabaß und Komposition und wurden als schwarzer Musiker 1956 nicht zum Houston Symphony Orchestra zugelassen, Statt dessen kamen Sie 1958 mit dem Symphonieorchester der US-Armee nach Deutschland. Waren Sie als Schwarzer in der experimentellen Avantgarde willkommener?
Ich möchte annehmen, daß mein Schwarzsein wenig oder nichts zu tun hatte mit meiner Anerkennung in Europa. Europa hatte nicht diesselben Rassenprobleme wie die USA. Ich glaube, die ersten Überlegungen waren immer "Interesse und Fähigkeiten". Und ich war nicht der einzige Schwarze, der von der "Hochkultur" aufgenommen wurde. Soweit ich mich erinnere, wurden Rassenfragen mit meinen (rein weißen) Fluxus-Gefährten nie diskutiert, obwohl sie zu der Zeit ein Hauptthema von Diskussionen (und Protestmärschen) im ganzen Land waren.

Ameisenhügel, psychoanalytische Sitzungen, schlagsahnebesprühte nackte Frauen oder Zen. Gibt es etwas, das für Sie nicht Fluxus-würdig ist?
Naja, ich hoffe, ich werde nie einen Krieg beginnen, einen Mord begehen, Apartheid unterstützen, ein religiöser Fanatiker werden … und, und, und. Ja, es gibt Grenzen: "Tue anderen an, was du dir selbst angetan hättest" ist ein guter Wegweiser.

Welche Rolle spielte George Maciunas, der 1961 das Magazin Fluxus gestaltete, für die Etablierung der Bewegung?
George Maciunas war Fluxus – zumindest im Sinne einer "Organisation". George war derjenige, der alle Elemente zusammenband, ihnen einen "Markennamen" gab und diesen bekannt machte und vermarktete. Jedoch war sein "ästhetischer" Einfluß auf Fluxus weniger groß, als manche denken. Obwohl er mehrere Manifeste schrieb (die nie von irgendeinem Fluxus-Künstler unterzeichnet wurden) und Leute "exkommunizierte", erkennt "die Geschichte" viele Kunstwerke als Fluxus an, obwohl diese Arbeiten gegen die in den Manifesten veröffentlichten Positionen zu verstoßen scheinen. Und heute werden "exkommunizierte" Künstler (Joseph Beuys, Wolf Vostell, Dick Higgins, Nam June Paik) als Fluxus-Künstler betrachtet!

War Fluxus politisch? Wie reagierte Fluxus, wie reagierten Sie auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung?
Nein, ich glaube nicht, daß "Realpolitik" Teil der Fluxus-Agenda war. Generell sieht sich die "Avantgarde" gerne als "liberal", "sozial denkend" und "links". Gedanken sind jedoch etwas anderes, als sich mit vollem Körpereinsatz zu engagieren. Mit anderen Worten, ich habe nie einen meiner Fluxus-"Kollegen" bei einem "March of Washington" gesehen. Vor einigen Jahren, als ich zum ersten Mal diese "Abwesenheit" erwähnte, sagte einer meiner "Genossen": "Aber Ben, … warum hast du uns nicht gefragt?"

Dick Higgins verglich Sie mal mit James Baldwin, der zuerst ein "guter" Künstler und dann erst ein "schwarzer" Künstler sein wollte.
Ich finde diese Aussage seltsam und fehlerhaft (und vielleicht spiegelt sie etwas "radikal chicen unbewußten Rassismus" wider). Jeder – schwarz, blau, rot, grün oder gelb – möchte zuallererst ein "guter Künstler" sein. Welche Themen Gegenstand seiner/ihrer Arbeit werden oder welche Ausdrucksweisen verwendet werden, um den Arbeiten "Identität" zu verleihen, ist eine ganz andere Frage.

Ein Gullydeckel vor Ihrer jetzigen Ausstellung im Nassauischen Kunstverein Wiesbaden ist der Eingang zu Ihrem "Museum for the Subconscious", das bereits 1996 in Namibia eingeweiht wurde. Was geht da vor sich?
Ganz einfach, dies ist einer von fünf "Eingängen" (andere sind in Namibia, Argentinien, Israel und Texas) wo Sie darum ersuchen können, daß nach der Schenkung Ihres Unterbewußtseins an das Museum für das Unterbewußtsein, Ihr Unterbewußtsein dieses spezielle Portal passieren wird, auf dem Weg registriert und Teil der ständigen Sammlung des Museums wird.

In "How to be happy" (1996) empfehlen Sie, jeden Tag als Performance zu leben. Wie gestaltete sich Ihre 70.-Geburtstags-Performance mit der Transsibirischen Eisenbahn? Gibt es schon eine Idee für Ihren 80. Geburtstag in zwei Jahren?
Dieser 70. Geburtstags-"Event/Performance/Expedition" war eine siebenwöchige Reise per Zug oder Schiff von Wiesbaden zum Mount Fuji – mit zwölf Performances in Rußland, der Mongolei, China und Japan. Die Reise sollte auf dem Gipfel des Mount Fuji ihren Höhepunkt erreichen. Aber ich hatte meine physische Kondition überschätzt und war zu langsam hochgestiegen. So mußte ich 200 Meter vor dem Gipfel die Entscheidung treffen: entweder eine Stunde weitergehen und den Gipfel erreichen, oder umkehren und rechtzeitig am Ausgangspunkt ankommen, um 40 Künstler aus Tokio zu treffen, die gekommen waren, um zu helfen, meinen Geburtstag zu feiern. "Gute Manieren" erforderten eine Entscheidung zugunsten der Party. Aber, ehe ich umkehrte, versprach ich "Fuji-san" wiederzukommen und die letzten 200 Meter an meinem 80. Geburtstag zu beenden. (Falls jemand einen günstigen Hubschrauberservice am Mount Fuji kennt?)

"Benjamin Patterson: Born in the State of FLUX/us", Nassauischer Kunstverein Wiesbaden, bis 23.9.; "Fluxus at 50", Museum Wiesbaden, bis 23.9.

"Fluxus 50 – live dokumentiert", Schaufenster Stadtmuseum Wiesbaden, bis 30.10.; Festspiele Neuester Musik, Museum Wiesbaden, bis 20.9.


Die Rache der Wassergeister
"Letzte Ölung Nigerdelta" – das Münchner Völkerkundemuseum erzählt vom Drama der Erdölförderung
Von Sabine Matthes
Link:
www.jungewelt.de/2012/07-02/022.php

Der Ruß der Tage. Akintunde Akinleye, Lagos, 26.12.2006
Foto: Akintunde Akinlege

Als die Royal Dutch Shell 1956 das Öl in Oloibiri im Nigerdelta entdeckte, wurden in den Mangrovenwäldern die Lagunen, Flüsse und Seen von Wassergeistern beschützt. Dieser Glaube der Menschen prägte ihren ehrfürchtigen Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen. Verletzten Fischer die Ansprüche bestimmter Fischarten, konnten rachsüchtige Geister "unbefugtes Eindringen und menschliche Unachtsamkeit rigoros ahnden und mit Krankheit oder Tod" bestrafen. So beschreibt es Stefan Eisenhofer, Mitkurator der Ausstellung und Leiter der Afrikaabteilung des Münchner Völkerkundemuseums, im Katalogtext.

Die spirituellen Besitzer der Gewässer wurden häufig von bestimmten Sägefischarten verkörpert, die durch Masken und Feste verehrt wurden. Auf einem Behälter stellen die geschnitzten Figuren Anjenu-Flußgeister dar, die bei Regelverstößen Krankheiten verursachen. Solch traditionelle Objekte und Masken wirken in der Ausstellung, zwischen der fotografischen Science-Fiction-Realität in den Leuchtkästen, wie magische Irrlichter, fragile Mahnmale einer verlorenen Zeit.

Die postapokalyptischen Bilder der 15 international renommierten Fotografen wie Ed Kashi, George Osodi, Akintunde Akinleye und die fast zeitgleich in Libyen erschossenen Kriegsreporter Tim Hetherington und Chris Hondros dokumentieren die heutige alltägliche Umweltkatastrophe – in teils irritierend unheimlicher Schönheit. Andere Objekte zeigen, daß die Vergewaltigung des Nigerdeltas lange vor der Erdölförderung, mit dem globalen Handel von Sklaven und Elfenbein begonnen hat.

Mit seinem Labyrinth mäandernder Wasserarme ist das Nigerdelta etwa so groß wie Belgien. Es ist das drittgrößte Feuchtgebiet der Erde. Von den 140 Millionen Einwohnern Nigerias leben hier etwa 30 Millionen, aus 40 verschiedenen Ethnien. Am Golf von Guinea liegend, umschließt es neun Erdöl fördernde Bundesstaaten und macht Nigeria zum sechstgrößten Ölexporteur der Welt. Doch obwohl die Erträge der 606 Ölfelder rund 80 Prozent der Staatseinnahmen ausmachen, die 2006 mit etwa 40 Milliarden Dollar ihren Höhepunkt erreichten, gelangt nur ein Bruchteil davon in die Ölregion selbst, wo es an Benzin, Strom und asphaltierten Straßen fehlt.

Während die nigerianische Zentralregierung in Abuja, multinationale Ölkonzerne und wir alle als Konsumenten in hohem Maße von der Erdölförderung profitieren, hat sie vor Ort den Lebensraum zerstört. So stellt die mit weißer Ölfarbe bekleckerte Justitia-Skulptur "Birdshit Justice" (2007) der nigerianischen Künstlerin Sokari Douglas Camp gleich zu Beginn der Ausstellung klar, wie beschissen es mit der Gerechtigkeit aussieht.

"Sechs Sonnenaufgänge kann man im Delta am Tag erleben", sagt sie – immer wenn das Gas abgebrannt wird und leuchtend rot und heiß am Himmel brennt. Tag und Nacht fauchen riesige Gasfackeln nahe der Siedlungen, manche benutzen die Hitze zum Backen. Das Abfackeln des mit dem Öl aus der Erde gepumpten Gases verschwendet Gas im Wert von Milliarden. Der Ruß legt sich auf Schleimhäute und Atemwege, auf Felder und Gewässer.

Durch den konstanten sauren Regen und das aus verrosteten oder sabotierten Pipelines auslaufende Öl ist der traditionelle Ackerbau und Fischfang unmöglich. Wer Fische und Krebse fangen will, paddelt in einer schwarzen Soße ausgelaufenen Rohöls. Nutzvieh muß importiert werden. Durch die Umweltverschmutzung sank im Delta die Lebenserwartung im Vergleich zum Rest Nigerias um etwa zehn Jahre.

Das Ausstellungsplakat, ein Foto des nigerianischen documenta-XII-Künstlers George Osodi, zeigt einen völlig weiß geschminkten jungen Mann während einer Protestkundgebung am Isaak-Adaka-Boro-Gedenktag. Erratisch wirkt er, wie ein japanischer Butoh-Tänzer, mit den blauen Lettern "HELP DELTA boy" auf der Brust und von einer bewaffneten Gestalt an den Bildrand gedrückt.

Die Farben des Sonnenuntergangs verzerren sich in den Fotos zu "Flammen der Hölle", so ein Buchtitel von Ken Saro-Wiwa. Bei George Osodi bersten sie gold-schwarz aus einem silbrigen Gewässer und haben acht Menschen getötet, weil mutmaßliche Milizkämpfer durch die Explosion einer sabotierten Pipeline einen Großbrand auslösten. Bei Akintunde Akinleye, der die Ausstellung mitkuratierte, löscht ein Mann in einem Vorort von Lagos mit heroischer Geste ein Feuer, das 269 Menschen getötet und Dutzende verletzt hat, weil eine Pipeline von einer bewaffneten Bande angezapft wurde und in Brand geriet, als die Anrainer den ausgelaufenen Treibstoff aufsammelten.

Obwohl der jetzige Präsident selbst aus dem Nigerdelta ist, wurde es eher schlimmer – da er nicht den drei mächtigen Bevölkerungsgruppen angehört, ist er ein eher schwacher Präsident. Seit 2006 kämpfen die MEND-Rebellen ("Movement for the Emancipation of the Niger Delta") um die Kontrolle im Delta und werden in ihrer Regierungskritik von Wole Soyinka, dem nigerianischen Literaturnobelpreisträger, unterstützt. Auf Michael Kambers Bildern patrouillieren sie die Flüsse, maskiert, uniformiert und mit Kalaschnikows bewaffnet, wie moderne Schutzgeister. Gestärkt, mit roten und weißen Stoffetzen, werden sie von ihrem Kriegsgott Egbesu.

"Letzte Ölung Nigerdelta. Das Drama der Erdölförderung in zeitgenössischen Fotografien", Staatliches Museum für Völkerkunde München, noch bis zum 16.9.2012


Neverland
Palästinensische Videokunst und Filme experimentieren in London mit dem Leben in der Warteschleife
Von Sabine Matthes
Link:
www.artechock.de/film/text/artikel/2012/05_03_palestina.html

Wie fühlt es sich an, Palästinenser zu sein? Hätten Jackson Pollock und Samuel Beckett die Frage mit den Mitteln des Action paintings und des absurden Theaters beantwortet, sähe das Ergebnis wohl aus, wie Manar Zuabis Video "In Between" (2005). Die in Nazareth lebende Performance- und Installationskünstlerin komprimiert die über 60 Jahre andauernde Leiderfahrung der Palästinenser in ihrem 3-Minuten Video zu einem kraftvollen Bild. In einem erdrückend engen weißen Raum steht sie barfuß in einer glitschig ölschwarzen Pfütze und versucht sich, mit vergeblicher Beharrlichkeit, seilspringend daraus zu erheben. Die zähe Flüßigkeit hält sie am Boden, die niedere Decke verhindert den Spaß sich freizufliegen. Mühsam und umständlich, um nicht auszurutschen, steigt sie über das Seil, das dann wie Peitschen- und Pinselhiebe gegen die Wände knallt und alles mit dem schwarzen Etwas besudelt, in das sie immer mehr zu versinken droht, je verzweifelter sie sich daraus zu befreien versucht. Die Kraft eines unermüdlichen Lebensdrangs, der sich gegen widrigste Umstände behauptet, steckt auch in Zuabis Installation "Green Green Grass" (2008). Wie Gras schlängeln sich rote Kabelfäden durch feinste Mauerritzen ihren Weg ins Freie, ganz ohne Erlaubnis.

Welche Erniedrigungen und Strapazen die Menschen tatsächlich auf sich nehmen müßen, dokumentiert Khaled Jarrars Video "Journey 110" (2009, 12 Min.). Heimlich schleichen sie, gefilmt während des Ramadan, durch die stinkende Dunkelheit eines 110 Meter langen Abwasserkanals von der abgeriegelten Westbank zu ihren Familien, Freunden und Feierlichkeiten nach Jerusalem. Taschen und Kinder an sich gepresst, Schuhe und Beine notdürftig mit blauen Plastiksäcken umwickelt, ballancieren sie von Stein zu Stein durch die ekelige Sauce einem entfernten Lichtschein entgegen, als wäre es ein Todestunnel in einem Alptraum von Hieronymus Bosch. Die unheimliche Stille wird durch "Soldaten ... Soldaten ... geht zurück!"-Rufe unterbrochen. Inzwischen ist der Tunnel geschlossen, aber Jarrar hat beobachtet, wie ihn 500 bis 600 Menschen in drei Stunden benutzten.

Für den in Jenin geborenen Fotografen, Video- und Performance-Künstler sind Fragen von Bewegungsfreiheit und Beschränkung zentral. So parodiert Jarrar das israelische Grenzregime, wenn er im zentralen Busbahnhof von Ramallah in die Pässe der Touristen als Willkommensgeste seinen "State of Palestine" Stempel drückt: einen nektarnaschenden Kolibri, der auf Englisch "Palestine Sunbird" heißt. Es soll eine Demonstration gegen Besatzung, gegen die Teilung Palästinas und für eine Ein-Staat-Lösung sein. Vielleicht war es diese subversive Unschuld künstlerischer Amtsanmaßung, die auch Slavoj Zizek, den slowenischen Philosophen, gereizt hat, seinen Pass stempeln zu lassen und damit am Ben Gurion Flughafen eine Irritation zu provozieren. Letzten Juli stempelte Jarrar Pässe am Berliner Checkpoint Charlie. Für die diesjährige 7.Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst hat er sein Palästina Logo auf deutsche 0,55-Euro-Briefmarken drucken lassen, die man erwerben und verwenden kann.

Wenn Kunst Wünsche wahr machen soll, kann sie vielleicht auch Unerwünschtes verschwinden lassen. So dachte sich der 1961 in Jerusalem geborene, in Ramallah lebende, Künstler und Kurator Khalil Rabah, als er bei einem Berlin Besuch die Reste der Mauer als Souvenirs sah, daß er "seine" Mauer in Israel/Palästina bei einer Auktion einfach weg-verkaufen sollte. Am 13. März 2004 wurden in dem von ihm gegründeten "Palestinian Museum of Natural History and Humankind" in Ramallah acht Objekte versteigert, die natürliche und künstliche Materialien aus der Mauerzone enthielten. Sein Dokumentar-Video "The 3rd Wall Zone Auction" (2004, 6 Min.) zeigt die Auktion, wobei die Grenze zwischen Realität und Performance verschwimmt. Man sieht den Auktionator in Aktion: "Wer bietet 100.- Dollar? ... Ein bedeutendes Stück Geschichte Palästinas von direkt unterhalb der Mauer für 300.- Dollar!"; draußen wartet der Lieferwagen mit den ersteigerten Kisten auf den Abtransport. Soll hier der Ausverkauf Palästinas gezeigt oder die Wiedervereinigung a la Deutschland vorweggenommen werden? Zeigt sich hier die Metamorphose des konkreten Lebensraums Palästina in ein abstraktes, mythisch aufgeladenes Kunstprodukt, eine Fiktion die nicht mehr und noch nicht existiert? Die Irrealität dieses Schwebezustands zwischen Wunschtraum und Wirklichkeit, dieses zur Permanenz verdammten Provisoriums? Das Surreale des geographischen Konstrukts, wo die Palästinenser in der Westbank gleichzeitig innerhalb israelischer Grenzen eingeschlossen sind, aber – wie in Apartheid-Südafrika – außerhalb des israelischen Staatssystems leben? Los Nr.448 heißt "ALESTINIAN" und besteht aus elf Olivenbäumen. Anwesenheit, Abwesenheit und Verdrängung sind bei Rabah wiederkehrende Themen, wobei für ihn der Olivenbaum als Verkörperung eines Museums der Seele fungiert. In einer Zeit, wo tausende Olivenbäume für israelische Siedlungen, Umgehungsstraßen und die Mauer entwurzelt werden, versetzte er einige palästinensische Olivenbäume nach Genf und pflanzte sie vor dem Hauptquartier der Vereinten Nationen wieder ein – als eine Kunstform die ständig lebt und gedeiht.

Das Gefühl von Verlust und Sehnsucht, Nostalgie und Melancholie, für etwas auf immer Verlorenes, wird in den poetisch-mysteriösen Videos von Basma Alsharif greifbar bewußt. "Everywhere was the same" (2007, 11 Min.) erzählt in einer Diaprojektion mit Untertiteln die imaginäre Geschichte zweier Mädchen, die am Ufer eines präapokalyptischen Paradieses Zeugen eines Massakers werden. Bilder verlassener Orte mischen sich mit der eloquenten Eröffnungsrede von Haidar Abdel-Shafi bei den Madrider Friedensverhandlungen. Ein herzzerreißender Song von Fairuz gleitet über eine palästinensische Stickerei. Die Stärke des Videos liegt in der Andeutung all seiner möglichen Interpretationen, von der blutigen Vertreibung der Palästinenser 1948, bis zu dem Massaker im Sommer 2006 an einer Familie, die am Strand von Gaza picknickte.

Die 28-jährige Basma Alsharif ist in Kuwait geboren, in Frankreich aufgewachsen, studierte in Chicago, lebte in Kairo und zog nach Beirut, aber ihre halbe Familie ist aus Gaza. So waren die Videobilder des Massakers, das bei einer Explosion auf einen Schlag sieben Mitglieder einer einzigen Familie tötete und das 10-jährige Mädchen Huda Ghalia alleine, weinend und verzweifelt am Strand umherrennend, zurückließ, besonders prägend für sie. Variationen von Ghalias Tragödie sind auch in die komplexen Schichten anderer Arbeiten verwebt. In "We Began by Measuring Distance" (2009, 19 Min.) klingen ihre stechenden Schreie wie eine unheilvolle Warnung zu den ruhigen Bildern einer brennenden Sonne, die sich über einer chaotischen Stadt am Meer wie in einer Sonnenfinsternis zu einem Mond verdunkelt. Eine anonyme Gruppe misst zum Zeitvertreib Entfernungen, die ihren unschuldigen Charakter verlieren und politische Brisanz gewinnen. Die Bilder oszillieren in verführerischer Ambivalenz , rosa Quallen schweben verletzlich und verletzend durchs Wasser, Feuerwerke oder Bombenexplosionen erleuchten eine nächtliche Stadt, ein durch Zeitlupe zum Lachen oder Schreien verzerrtes Gesicht läuft uns entgegen. "An einem Tag wie jedem anderen," sagt eine tiefe männliche Stimme, "würden all unsere Erinnerungen nur im Rückblick bedeutsam werden."

Die Frage, was es bedeutet, an einen Ort, ein Narrativ, eine Idee gebunden zu sein, an etwas das nicht wirklich existiert, steckte in all den Arbeiten der Ausstellung "Navigations: Palestinian Video Art, 1988-2011". Insgesamt wurden damit im Londoner Barbican Centre 15 Arbeiten von 12 Künstlern gezeigt. Es war die fünfte jährliche Ausstellung, die das "Palestine Film Festival" in London begleitete und die erste, die sich palästinensischer Video Kunst widmete.

Auf dem "Palestine Film Festival" gab es über 50 Arbeiten aus 16 Ländern zu entdecken – von seltenem Archivmaterial aus der Zeit britischer Kolonialherrschaft in Palästina, über Susan Sontags einzigen Dokumentarfilm "Promised Lands" (1974), einer eindrücklichen Meditation über Zionismus, Militarismus und Trauma, die in Folge des Oktober-Kriegs von 1973 entstand und zunächst von der israelischen Zensur verboten wurde, bis zu Tawfik Abu Waels heiß erwartetem Nachfolgerfilm seines preisgekrönten Debüts "Atash" (Durst). Nabil Ayouchs Dokumentarfilm "My Land" (2010) zielte, ganz im Sinne der isralischen Gruppe "Zochrot", auf den Kern des Konflikts: er konfrontiert jüdische Israelis mit den Videozeugnissen palästinensischer Flüchtlinge, deren Land und Häuser sie in Besitz genommen haben. Unter den Rednern des Festivals waren Karma Nabulsi, Ilan Pappe, Eyal Sivan und Ella Shohat, die eine Neuauflage ihres von Edward Said gepriesenen Buchs "Israeli Cinema" vorstellte – eine Analyse, wie Film zionistische Politik und Kultur über ein Jahrhundert vermittelt, verbreitet oder gebrochen hat.


Affengott in Badehose
Die phantastische Welt des indischen Götterplakats wird in München ausgestellt
Von Sabine Matthes
In:
junge Welt 05.03.2012 / Feuilleton / Seite 13

Altarbilder, leuchtend schrill wie Feuerwerksexplosionen. Wild tanzende, androgyn lächelnde Götter und Asketen. Eine lila Göttin, bizarr bewaffnet und geschmückt mit einer Halskette aus Totenköpfen und einem Minirock aus abgehackten Menschenarmen, die uns die Zunge herausstreckt und zum Liebling der Feministinnen wurde. Ein fliegender Affengott in Badehose, ein vielarmiger Elefantengott, der Süßigkeiten nascht. Ist das Kitsch, Kunst oder Camp? Anfangs war es für die Münchner Indologin und Religionswissenschaftlerin Eva-Maria Glasbrenner Kitsch. Ihre ersten beiden Götterbilder brachte sie 1996 von einer Indien-Reise eher zum Scherz mit nach Hause, erkannte aber dahinter deren ikonographische, mythologische und philosophische Ebene. Es wurde der Beginn ihrer Götterplakatforschung und -sammlung, die noch bis Sonntag in der Münchner Ausstellung "120 Jahre Hochglanzgötter. Die Welt des indischen Götterplakats" als Pionierleistung zu bestaunen ist.

Wie ein Prisma entfalten die rund 120 ausgestellten Exponate eine phantastische Welt in einer Melange aus indischer Mythologie, europäischer Kunst und deutschem Druckhandwerk. Die Hochglanzglitzerwelt hinduistischer, christlicher, muslimischer und weltlicher Gottheiten, Heiliger und Filmstars ist in Indien allgegenwärtig.

Die erste Druckerpresse brachte ein spanischer Jesuitenpater 1556 zu christlichen Missionszwecken nach Indien. Doch die entscheidende Erfindung war die der Lithographie 1797/98, die in Europa einen Boom von Postkarten-, Kunstdrucken und Heiligenbildern zeitigte, die auch in Indien begeistert aufgenommen wurden. Davon inspiriert wurden die ersten indischen Götterplakate nach der Vorlage indischer Gemälde in Deutschland hergestellt ("Made in Germany") und nach Indien exportiert. 1892 eröffnete der berühmte Porträtmaler Raja Ravi Varma (1848-1906) mit Hilfe deutscher Techniker die erste indische Götterplakatpresse in Bombay. Er signierte mit dem Markenzeichen "Made as Germany". Um 1900 wurden Chromolithographien mit Silberpulver beklebt oder bestickt. Allgemein wurde mit glanzstiftenden Drucktechnologien experimentiert: metallisches, strukturiertes Radium-Papier läßt die Götterfamilie mit sich veränderndem Lichtfall aktiv strahlen. Doch die Mehrzahl der in München ausgestellten Plakate sind zirka 30 x 45 cm große cellophanierte Offsetdrucke seit den 1960er Jahren. Unterschiedlichste Götteraufkleber und -Magnetbilder machen Taxis und Rikschas zu fahrbaren Tempeln, missionarischen Werkzeugen oder zum Auswahlkriterium für ihre Kunden.

Der theologische Einheitsgedanke letztlich zusammenwirkender und einsseiender Gottheiten kommt drucktechnisch als Wackelbild daher: ein Altarbild mit 3-D-Effekt zeigt je nach Betrachtungswinkel Shiva, Durga oder Hanumat, die zu einer Einheit verschmelzen. Die Plakate fungieren als Türen zwischen der Götterwelt und der Menschenwelt. Die Gottheit soll ermuntert werden, wohlwollend in das Leben der Menschen einzugreifen. Zentral für die religiöse Wirksamkeit ist die makellos korrekte Götterdarstellung mit den richtigen Farben und Attributen. Die Individualität des Künstlers ist auf minimale Abweichungen im Stil beschränkt und darf gerade nicht phantasievoll und anders sein. Dahinter steht das, dem westlichen Konzept von Originalität entgegengesetzte Denken, wonach ein Götterplakatmaler kein Original, sondern eine materielle Kopie einer überindividuellen, vorgegebenen Wahrheit anzufertigen hat.

Shiva ist der im Hinduismus meistverehrte Gott, der die Welt erschafft, erhält und zerstört. Man erkennt ihn an seinem Lendenschurz aus Tigerfell und seinen Ketten aus Kobras und Nüssen. In seinen zwei bis zehn Händen hält er einen Dreizack und eine sanduhrförmige Trommel – er kann seine eigene Musik spielen und gleichzeitig dazu den dionysischen Tanz der Erschaffung oder Zerstörung der Welt vollführen. Sein blauer Hals zeugt dabei von seinem Mut, als er das Gift der Schlange Vasuki schluckte, um die Welt davor zu retten.

Ein Aufkleber zeigt den Weltenherrn Vishnu auf seinem Schlangensofa, der mehrköpfigen Kobra Ananta. Seine Gattin, die Glücksgöttin Lakshmi, die Händlern Reichtum und Frauen Schönheit schenkt und sogar den Kuhdung glücklich macht, massiert ihm die Füße, während aus seinem Bauchnabel eine Lotosblüte wächst, aus der der Schöpfergott Brahma hervorgeht. Einst stritten die beiden, wer von ihnen der größere Gott sei, da erschien ein riesiger Phallus (Linga) vor ihnen und sagte, wer von beiden seine Enden erreiche, der sei der größere Gott. Vishnu stürzte sich in Gestalt eines Ebers am Phallus entlang in die Tiefe, und Brahma flog auf seiner Gans reitend an ihm empor. Endlich trat Shiva donnergrollend aus dem Linga – seiner abstrakten Darstellungsform – hervor und beendete den Wettstreit. Schließlich sollen alle zuerst an ihrem Bewußtsein arbeiten, ehe sie Gott spielen können.

Bis 11.3. Aspekte Galerie der Münchner Volkshochschule im Gasteig, München

2011
Nommo und die Zwillinge
Eine Pariser Ausstellung über das Weltkulturerbe der afrikanischen Dogon in der Kunsthalle Bonn
Von Sabine Matthes
In: junge Welt 12.12.2011 / Feuilleton / Seite 12


Like a Sex-Machine: Vielen Masken ist jeweils ein Tanz mit unveränderlichen Schrittfolgen zugeordnet. Foto: Ausstellungshalle Bonn

Als Mali 1960 unabhängig wurde, kam die Befreiung der Jugend wohl besonders durch Musik zum Ausdruck. Kolonialismus, Christentum und Islam hatten die Afrikaner ihrer Götter und Rituale beraubt und ihnen eine Art des Gebets gebracht, bei dem man sich Gott unterwerfen sollte, statt ihm im Tanz nahe zu kommen. Vor der Unabhängigkeit war die hauptsächlich muslimische Jugend in Malis Hauptstadt Bamako ohne Rhythmus, jetzt tanzte sie umso enthusiastischer, vor allem zu den Liedern von James Brown. Dessen Körpersprache war in den 60ern ein universeller Ausdruck neuen schwarzen Selbstbewußtseins. In Bamako posierten Mädchen in Malick Sidibés heute legendärem Fotostudio mit Browns "Live at the Apollo"-Album oder gaben ihren Vätern Schlafmittel, um sich nachts mit einem kurzen Rock unter der Tunika zum Tanzen davonzustehlen. James Brown war der Hohepriester eines Rituals, das denen ähnelte, die in der Volksgruppe der Dogon schon sehr viel länger zelebriert wurden. Der Godfather of Soul verknüpfte die Moderne mit den afrikanischen Wurzeln. Der Kulturtheoretiker Manthia Diawara, der in Bamako geboren wurde und heute Professor in New York ist, hat James Brown mit Nommo verglichen, dem im komplizierten Weltbild der Dogon ersten vom Schöpfergott Amma geschaffenen Wesen, halb Gott halb Mensch, das uns durch die Erfindung der Trommeln neben den ersten beiden abstrakteren und geheimeren Sprachen eine dritte, moderne Sprache bringt, die demokratischer und für alle verständlich ist.

Verschiedene Dogon-Gruppen waren zwischen dem 10. und 15. Jahrhundert vor Sklavenhandel und islamischer Missionierung in die schwer zugängliche Felslandschaft von Bandiagara, südlich von Timbuktu, geflohen. Zusammen mit den dort bereits ansässigen Telem brachten sie eine der faszinierendsten Kulturen Afrikas hervor. Die abgeschiedene Lage hat ihren reichen Mythenschatz weitgehend vor äußeren Einflüssen bewahrt. Bis heute leben die Dogon – die sich selbst "Kinder der Sonne" nennen – in mehreren hundert Dörfern, die teils wie Schwalbennester an dem spektakulären Sandsteinplateau hängen. Seit 1989 ist ihr Gebiet Teil des UNESCO-Weltkultur- und Weltnaturerbes. Mehr als 270 Skulpturen, Masken und Alltagsgegenstände zeigt die vom Pariser Musée du Quai Branly konzipierte Ausstellung "Dogon – Weltkulturerbe aus Afrika" in der Bundeskunsthalle Bonn.

Star der Ausstellung ist eine recht bekannte, über zwei Meter hohe Djennenké-Figur aus Holz aus dem 10. Jahrhundert, ein majestätischer Hermaphrodit mit erhobenem Arm. Die hochgereckten Arme vieler Dogon-Skulpturen erbitten vom Himmel Regen und den Schutz der Ahnen. Zwitterwesen und Zwillingspaare spielen in der Mythologie eine wichtige Rolle, weshalb viele Skulpturen zweigeschlechtlich sind. Möglicherweise auch Variationen von Nommo, der sich selbst in vier Zwillingspaare verwandelte, woraus die acht direkten Vorfahren der Menschen entstanden. Die acht ist den Dogon eine magische Zahl. Ihre Schöpfungsgeschichte kennt acht Weltalter, ein Dogon hat acht Zwiebelbeete und das Palaverhaus des Ältestenrats, das extra flach gehalten ist, damit es nicht zu Rangeleien kommen kann, muß auf acht Pfeilern stehen.

Im Glauben der Dogon werden Männer und Frauen als Hermaphroditen geboren, wobei die klitoris als männlich und die Vorhaut als weiblich betrachtet werden – überkommenerweise müssen Mädchen und Jungen beschnitten werden, um ihr individuelles Geschlecht zu erhalten. "Die perfekte Existenz ist, wenn Mann und Frau wieder eins werden", lautet ein Sinnspruch.

Gott Amma war männlich, die Erde weiblich. Als Amma mit einem Ameisenhügel Sex haben wollte, kam ein Termitenhügel dazwischen, Amma beschnitt ihn und machte weiter, aber die Harmonie der Welt war gestört. So wurde der bleiche Fuchs geboren, ein Geschöpf kosmischer Unordnung. Die Kanaga-Maske, die bekannteste der Dogon, erinnert daran, wie er, in Rückenlage verdurstend, seinen Schöpfer um Vergebung anfleht. Aus dem fortgesetzten Verhältnis Ammas und der Erde entstand Nommo. Die Masken sind Zeichen des Ursprungs. Vielen ist jeweils ein Tanz mit unveränderlichen Schrittfolgen zugeordnet.

Die wichtigste Zeremonie der Dogon ist das Sigi-Fest. Es symbolisiert den Tod des ersten Ahnen und findet nur alle 60 Jahre statt. Das letzte begann 1967 und endete 1973, das nächste beginnt 2027. Alle Männer tragen Masken und tanzen in langen Prozessionen über Monate oder Jahre von einem Dorf zum nächsten. Mitgeführt wird eine Sirige-Maske, die aus aus 80 Etagen besteht und mehrere Meter hoch ist.

Der französische Ethnologe Marcel Griaule unternahmen zwischen 1931 und 1956 auf Forschungsreisen zu den Dogon. Er ließ sich von Ogotemmêli, einem fast blinden Weisen, in die Geheimnisse der Kosmologie einweihen, berichtete in seinem Bestseller "Dieu d'eau" (1948, deutscher Titel: "Schwarze Genesis") und löste einen wahren Dogon-Boom aus. Besonders die kosmologischen Kenntnisse der Volksgruppe führten zu wilden Spekulationen. Wie konnten ihre Legenden von den vier Monden des Jupiter und den Ringen des Saturn erzählen, wo sie kein Teleskop besaßen? Woher kam ihr Wissen, daß der hellste Stern am Himmel, Sirius ("sigi tolo"), zwei unsichtbare Begleiter hat und der Umlaufzyklus 60 Jahre beträgt? Hatten die Dogon Kontakt mit Außerirdischen oder einer astronomischen Expedition, die 1893 bei ihnen eine Sonnenfinsternis studierte? Der Filmemacher Jean Roch, der die letzte Sigi-Zeremonie ausführlich dokumentiert hat, vermutete damals, Sirius sei bis 50 v.u.Z. mit bloßem Auge als Doppelstern sichtbar gewesen, was die Dogon über viele Generationen überliefert hätten.

Im vergangenen Jahrhundert kam ein großer Teil des kulturellen Erbes der Dogon in europäische Museen. Die reduzierten geometrischen Formen afrikanischer Kunst beeinflußten französische Kubisten wie deutsche Expressionisten. Aber in den aseptischen Glasvitrinen sind die Ritualobjekte natürlich ihrer eigentlichen Bestimmung beraubt, wirken unnahbar und verloren. Zwölf Themenboxen verhandeln in der Bonner Ausstellung Fragen über einen zeitgemäßen Umgang mit afrikanischer Kunst. Einerseits sind die Dogon stolz auf ihre Präsenz im Ausland, andererseits sagen sie: "Es sind mehr von diesen Objekten in Frankreich und Europa als bei uns. Können sie nicht wieder zurückkommen? Die Europäer sollten das in unserer Heimat besichtigen und hier herkommen."

noch bis 22. Januar, täglich außer montags 10-19 Uhr, Bundeskunsthalle Bonn


Schwarze Genesis
Zwitterwesen und Zwillingspaare – die faszinierende Kultur der afrikanischen Dogon ist in der Bundeskunsthalle Bonn zu sehen.
Von Sabine Matthes
In: TITEL-Kulturmagazin, 11.12.2011 [Link erloschen]

Als Mali 1960 unabhängig wurde, war es besonders die Musik, die die Jugend befreite. Kolonialismus, Christentum und Islam hatten die Afrikaner ihrer Götter, Rituale und Kulturen beraubt, sie hatten ihnen eine andere Art des Gebets gebracht, wobei man sich Gott unterwerfen sollte, anstatt ihm im Tanz nahe zu kommen. Vor der Unabhängigkeit war die hauptsächlich muslimische Jugend in Malis Hauptstadt Bamako ohne Rhythmus, jetzt tanzte sie enthusiastisch dem Aufbruch entgegen.

James Browns neue Körpersprache der 60er Jahre war die universelle Sprache der Bürgerrechtsbewegung und eines schwarzen Selbstbewusstseins. Junge Mädchen posierten in Malick Sidibés Fotostudio mit seinem Live at the Apollo-Album oder gaben ihren Vätern Schlafmittel, um sich nachts, im kurzen Rock unter der Tunika, heimlich zum Tanzen davonzustehlen. James Brown war der Hohepriester eines Rituals – ähnlich, wie es die Dogon seit jeher zelebriert haben. Er verband Malis Jugend mit der Moderne in der Diaspora und mit den eigenen afrikanischen Wurzeln. Manthia Diawara vergleicht ihn mit Nommo, der im komplizierten Weltbild der Dogon das erste vom Schöpfergott Amma geschaffene Wesen ist, halb Gott halb Mensch, das uns durch die Erfindung der Trommeln neben den ersten beiden abstrakteren und geheimeren Sprachen eine dritte, moderne Sprache bringt, die demokratischer und für alle verständlich ist.

Kinder der Sonne

Verschiedene Dogon-Gruppen waren zwischen dem 10. und 15. Jahrhundert vor Sklavenhandel und islamischer Missionierung in die schwer zugängliche Felslandschaft von Bandiagara, südlich von Timbuktu, geflohen. Sie vermischten sich mit der alten Zivilisation der dort bereits ansässigen Telem und brachten eine der faszinierendsten Kulturen Afrikas hervor. Die abgeschiedene Lage hat sie weitgehend vor äußeren Einflüssen abgeschirmt und ihren reichen Mythenschatz und ausgeprägten Glaubensvorstellungen bewahrt. Bis heute leben hier die Dogon – die "Kinder der Sonne", wie sie sich selbst nennen – in mehreren Hundert Dörfern, die teils wie Schwalbennester an dem spektakulären Sandsteinplateau hängen. Seit 1989 ist ihr Gebiet Teil des UNESCO-Weltkultur- und Weltnaturerbes. Mehr als 270 Skulpturen, Masken und Alltagsgegenstände geben jetzt in der, vom Pariser Musée du Quai Branly konzipierten, Ausstellung Dogon – Weltkulturerbe aus Afrika in der Bundeskunsthalle Bonn einen Überblick.

Der Star der Ausstellung ist eine große Djennenké Figur aus Holz aus dem 10. Jahrhundert, ein majestätischer Hermaphrodit mit erhobenem Arm. Die hochgereckten Arme vieler Dogon-Skulpturen erbitten vom Himmel Regen und den Schutz der Ahnen. Zwitterwesen und Zwillingspaare spielen in der Mythologie der Dogon eine wichtige Rolle, weswegen viele Skulpturen zweigeschlechtlich sind. Eine These sagt, dass sie Variationen von Nommo sind, dem ersten von Gott Amma geschaffenen Wesen, das sich selbst in vier Zwillingspaare verwandelte, woraus die acht direkten Vorfahren der Menschen entstanden. Die Acht wird zur magischen Zahl. Die Schöpfungsgeschichte kennt acht Weltalter, ein Dogon hat acht Zwiebelbeete und das Palaverhaus des Ältestenrats, das extra so nieder gehalten ist, damit es nicht zu Rangeleien kommen kann, muss auf acht Pfeilern stehen. Beschneidung wird bei den Dogon als notwendig angesehen, da in ihrem Denken Männer und Frauen als Hermaphroditen geboren werden, wobei die Klitoris als männlich und die Vorhaut als weiblich betrachtet werden, weswegen Mädchen und Jungen beschnitten werden müssen, um ihr individuelles Geschlecht zu erhalten. "Die perfekte Existenz ist, wenn Mann und Frau wieder eins werden", heißt ein Sinnspruch der Dogon.

Maske und Tanz
Gott Amma war männlich, die Erde war weiblich. Als Amma mit einem Ameisenhügel Sex haben wollte, kam ein Termitenhügel dazwischen, Amma beschnitt ihn und machte weiter, aber die Harmonie der Welt war gestört. So wurde der bleiche Fuchs geboren, ein Geschöpf kosmischer Unordnung. Die Kanaga-Maske, die bekannteste der Dogon, erinnert an ihn, wie er verdurstet auf dem Rücken liegend seinen Schöpfer um Vergebung anfleht. Amma setzte sein Verhältnis mit der Erde fort, woraus Nommo entstand. Durch die Masken werden die Dogon zurück an den Ursprung geführt, sie sind ein Zeichen des Anfangs jenseits der Zeit. Vielen Masken ist ein Tanz zugeordnet, dessen Schritte unveränderlich festgelegt sind. Im Tanz wird die Schöpfung der Welt und ihrer Prinzipien erlebt.

Die wichtigste Zeremonie der Dogon ist das ›Sigi‹-Fest. Es symbolisiert den Tod des ersten Ahnen und findet nur alle 60 Jahre statt. Das letzte begann 1967 und endete 1973, das nächste beginnt 2027. Alle Männer tragen Masken und tanzen in langen Prozessionen über einige Monate oder Jahre von einem Dorf zum nächsten. Die mehrere Meter lange Sirige- oder Etagen-Maske besteht aus 80 Abschnitten, die die einzelnen Etagen des Hauses des Klangründers symbolisieren, die ihrerseits für die 80 Urahnen der Menschheit stehen.

Als der französische Ethnologe Marcel Griaule auf seinen Forschungsreisen von 1931-1956 die Dogon studierte, war er elektrisiert. Er ließ sich von Ogotemmêli, einem beinahe blinden, alten Weisen der Dogon, die Geheimnisse ihrer Kosmologie erzählen, veröffentlichte die Berichte in seinem Bestseller Dieu d`eau (1948, dt Titel: Schwarze Genesis) und löste einen wahren Dogon-Boom aus.

Die komplexe Mythologie der Dogon zeigte eine präzise Kenntnis kosmologischer Fakten – was zu wilden Spekulationen führte. Wie konnten ihre Legenden von den vier Monden des Jupiter und den Ringen des Saturn erzählen, wo sie kein Teleskop besaßen? Woher kam ihr Wissen, dass der hellste Stern am Himmel, Sirius ("sigi tolo"), zwei unsichtbare Begleiter hat und der Umlaufzyklus 60 Jahre beträgt – wofür Astronomen die besten Instrumente benötigten? War das Sirius-Geheimnis der Dogon durch den Kontakt mit Außerirdischen zu erklären? Oder hatten sie mit einer astronomischen Expedition, die im Dogon-Land die Sonnenfinsternis von 1893 studierte, Kontakt? Jean Rouch, vom Surrealismus inspirierter ethnographischer Filmemacher, dokumentierte die letzte Sigi Zeremonie über Jahre. Er vermutete, dass Sirius bis 50 v. Chr. mit bloßem Auge als Doppelstern sichtbar war und dass die Dogon das Phänomen über viele Generationen überliefert haben.

Reisende und Forscher brachten damals einen großen Teil des kulturellen Erbes der Dogon in europäische Museen. Afrikanische Kunst beeinflusste mit ihren reduzierten geometrischen Formen französische Kubisten wie deutsche Expressionisten und erneuerte die westliche Kunst. Wie aber fühlen sich diese Ritualobjekte, die hier, ihrer eigentlichen Bestimmung und vitalen Energie beraubt, in ihren aseptischen Glasvitrinen so unnahbar verloren wirken?

Mit zwölf Themenboxen versucht die Ausstellung, auch solchen Fragen über einen zeitgemäßen Umgang mit afrikanischer Kunst nachzugehen. Einerseits sind die Dogon stolz, wenn ihre Kultur im Ausland gezeigt wird, andrerseits sagen sie: "Es sind mehr von diesen Objekten in Frankreich und Europa, als bei uns. Können sie nicht wieder zurückkommen? Die Europäer sollten das in unserer Heimat besichtigen und hier herkommen." So könnte man, auf dem Weg dorthin, aus Malick Sidibés inzwischen legendärem Fotostudio zumindest ein Portrait von sich selbst mitnehmen.


Lumumba, komm zurück!
Entwicklungshilfe, nein danke: In München tagte der dritte Panafrikanismus-Kongreß
Von Sabine Matthes
In: junge Welt, 04.11.2011 / Feuilleton / Seite 13


Ehrengast in München: Guy Lumumba, der 80 Tage nach der Ermordung seines Vaters Patrice geboren wurde. Foto: Sabine Matthes

Auf dem Rednerpult des Goethe-Forums in München stand die rot-schwarz-grüne Flagge des Panafrikanismus. Rot für die Farbe des Blutes, das Menschen für ihre Freiheit vergießen, grün für die Vegetation Afrikas und schwarz für seine Bewohner. Entworfen hat sie Marcus Garvey, der 1914 das Hauptquartier der damals größten panafrikanischen Vereinigung von Kingston, Jamaika, nach Harlem, New York City, verlegte. An Garveys Flagge, oder an die äthiopische, lehnen sich die Flaggen vieler afrikanischer Staaten an.

Der Panafrikanismus ist als Protestbewegung bereits im 17. Jahrhundert in der afrikanischen Diaspora in den USA und der Karibik entstanden – erwachsen aus den Erfahrungen von Sklaverei, Kolonialismus, Rassismus und Diskriminierung. Am vergangenen Wochenende tagte in München der dritte Panafrikanismus-Kongreß unter dem Motto "Die Herausforderungen Afrikas".

Mit dem Furor eines Malcolm X prangerte die aus Niger stammende Aissa Halidou, Doktorandin der Universität Bremen, das "imperialistische System der Unterentwicklung" des Westens an, das via UNO und Weltbank den Verschuldungszyklus vertiefe und gegen das schlechte Gewissen "Entwicklungshilfe" zahle. Ihre Empfehlung: Raus aus den internationalen wirtschaftlichen Institutionen und: "Entwicklungshilfe: nein danke. Zunächst müssen Reparationen her!"

Auch Uche Akpulu, der in Niger als Umweltberater tätig war und als Mitbegründer des Arbeitskreises Panafrikanismus München den Kongreß mitveranstaltet hat, kritisiert die europäischen Agrarsubventionen, die den afrikanischen Binnenmarkt niederkonkurrieren. Aus Armut würden die Menschen in die Großstädte getrieben, oder zu "Wirtschafts-" und "Umweltflüchtlingen", obwohl Afrika am wenigsten zum Klimawandel beigetragen hat. "Flüchtlingsschutz in Europa ist eigentlich Flüchtlingsabwehr geworden", sagt Akpulu, der auch Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrats ist. Einige Referenten haben für den Kongreß kein Visum nach Deutschland erhalten.

"Afrika hat die Form eines Revolvers, dessen Abzug im Kongo liegt", hatte Frantz Fanon in "Die Verdammten dieser Erde" geschrieben. Im Kongo wurde vor 50 Jahren der Hoffnungsträger und erste Ministerpräsident des Landes, Patrice Lumumba, ermordet. Der Münchner Kongreß war ihm gewidmet. Keiner seiner Mörder wurde je angeklagt, obwohl die ehemaligen Mitarbeiter des belgischen Geheimdienstes und der CIA in Thomas Giefers Dokumentarfilm "Mord im Kolonialstil" (2000) mit erstaunlicher Offenheit und Zynismus über ihre Beteiligung sprachen. Heute ist Kongo das Weltzentrum von Armut und Vergewaltigungen geworden, machte Philippe Yangala, Doktorand der Ethnologie in Frankfurt, klar. Als ihm vor Verzweiflung beinahe die Stimme versagte, fing er zu singen an, der ganze Saal erhob sich und stimmte ein: "Lumumba tu mon pere, tu est mort ... Lumumba kommen Sie bitte zurück."

Und dann betrat tatsächlich Lumumbas Sohn Guy, der 80 Tage nach der Ermordung seines Vaters geboren wurde, als Ehrengast das Podium. Mit seinem älteren Bruder hat er in Brüssel einen Strafprozeß gegen die Belgier eingeleitet. Er erzählte davon, wie ihn seine Mutter vor dem Diktator Mobutu versteckte und wie er mit 20 Jahren nach Europa floh und dort aus Büchern erfuhr, wie sein Vater gelebt und gekämpft hatte. Wie er 2004 nach 24 Jahren Exil zurückkehrte, um als Präsidentschaftskandidat die Ideen seines Vaters umzusetzen, wie er in die Schulen ging und sie auf Flyern erklären wollte, wie er dafür festgenommen wurde und ins Gefängnis kam. Mit 6000 Euro hat er seine Freilassung bezahlt, wurde erneut verhaftet und unter Hausarrest gestellt, bis der Botschafter Frankreichs erwirken konnte, daß er den Kongo wieder verlassen durfte. Vielleicht ist Panafrikanismus in Deutschland besser möglich als im Kongo?


Freiheit oder Tod
Die Fotografin Leah Gordon entdeckt im Karneval von Haiti Voodoo, Politik und Revolution
Von SABINE MATTHES
In: junge Welt, 21.10.2011 / Feuilleton / Seite 13


Die "Lanse Kòd" verkörpern sowohl Sklaverei als auch Befreiung.
Foto: soul jaz publishing /london

Am 23.August 1791 opferte der Voodoopriester Dutty Boukman auf einer der vielen Zuckerplantagen Haitis ein schwarzes Schwein für die afrikanischen Ahnen. Mit dem Blut schrieb er die Worte "Freiheit oder Tod", die später die Fahne Haitis zieren sollten. Die Zeremonie dieser Sklaven in dem abgelegenen Ort Bwa Kayman (Alligator Wald) gilt als Initialzündung der haitischen Revolution. Sie begannen ihre Herren zu töten, setzten die Plantagen in Brand und gründeten im Januar 1804 die erste schwarze Republik der Welt – die einzige Nation, deren Unabhängigkeit aus einem Sklavenaufstand hervorgegangen war.

Der Rebellenführer und ehemalige Sklave Jean-Jacques Dessalines riß in einem dramatischen Akt das Weiß aus der blau, weiß, roten Trikolore der französischen Kolonialisten, erklärte, er reiße den weißen Mann aus dem Land, und die roten und blauen Teile wurden zur haitischen Fahne zusammengeflickt. So beschreibt es Leah Gordon im Vorwort ihres faszinierenden Fotobands "Kanaval – Vodou, politics and revolution on the streets of Haiti".

Kampfmittel Voodoo
Da die Religion das einzige war, was die entwurzelten Sklaven aus Afrika mitnehmen konnten, wurde sie bedeutungsvoll mit Erinnerung, Geschichte und Verlust aufgeladen – Voodoo wurde haitische Kultur, Widerstand und Kampfmittel. Auch der Diktator François "Papa Doc" Duvalier bediente sich in den 1960er Jahren dieses Kults zum eigenen Machterhalt. Er infiltrierte das inoffizielle Netzwerk der Voodootempel mit Spionen, verpaßte seiner brutalen Privatmiliz, den Tontons Macoutes, den blauen Stoff und das Halstuch von Papa Zaka, dem Voodoogeist der Bauern, und trat selbst häufig in Frack und Zylinder auf, wie eine Erscheinung des mächtigen Voodoogeistes der Toten, Baron Samedi.

In Haiti herrscht eine tranceartige Beziehung zur Vergangenheit vor, auch wenn viele Menschen nicht an Voodoo glauben. Bis zum verheerenden Erdbeben im Januar 2010 wurde Haitis Geschichte beim Karneval in Jacmel, einem Küstenort im Süden, versinnbildlicht. Die Geister aus dem Voodoopantheon und die sich stets wandelnden Archetypen haitischer Politik und Gesellschaft erzählten ihre Geschichten in räudigen, wilden Kostümen – eine unheimliche Horde wütender Freaks und Aristokraten der Unterwelt, die ihre bizarre Erotik und poetischen Zauber im Tageslicht der Altstadt zum Strahlen brachten. Nachdem das Erdbeben auch Jacmel zerstört hatte, wurde der Karneval abgesagt. Umso gespenstischer wirken heute die Schwarzweißfotos von Leah Gordon, die sie zwischen 1995 und 2009 vom "Kanaval" in Jacmel gemacht hat. Wie ethnographische Zeugnisse einer sagenhaften Welt, eines verlorenen Paradieses, das der Mardi Gras (Faschingsdienstag) jedes Jahr zur Hauptstadt des Surrealismus erblühen ließ.

Metapher Karneval
Wenn Karneval allgemein die Umkehr der hierarchischen Ordnung bedeutet, wo Sklaven zu Herrschern und Priester zu Despoten werden, dann ist er die perfekte Metapher für Haitis wechselvolle Geschichte, einem der ärmsten Länder der Welt mit einer seit dem ersten Militärputsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten und Befreiungstheologen Jean-Bertrand Aristide 1991 zunehmend erodierenden Staatlichkeit. Noch vor dem großen Erdbeben mit der anschließenden Choleraepidemie startete die Fotografin und Filmemacherin Leah Gordon die "Ghetto Biennale" in Port-au-­Prince. Für ihren Bildband versammelte sie die persönlichen Geschichten hinter den Masken des Karnevals. Diese Oral Histories und die kulturanalytischen Essays liefern die anthropologische Erklärung zu den Kostümen. Ein Darsteller sagt, er spiele immer einen Indianer, weil er für die von den Spaniern ermordeten Taino-Indianer eine so große Liebe empfinde, als wären es seine eigenen Ahnen. Mit drastischeren Mitteln wirbt "Papa Sida", Father AIDS, beim Mardi Gras für Safer Sex: Einmal trugen sie einen echten AIDS-Toten im Sarg mit sich. "Makak", der Affe, äfft die Zuschauer nach, und die "Papa Banan" fegen als riesige Bananenblätter-Staubwedel über die Straßen, mit ihrem seltsamen kleinen Lied "Wir haben keine Streichhölzer, zünd uns an".

Der Voodoogeist des Waldes verkauft Heilpflanzen an die Voodoopriester, während die Gruppe der "Pastoren" ihre Hymnen anstimmt und der rote Luzifer von zwei kleinen Engeln getötet wird. Ein maskuliner Transvestit im silbernen Paillettenkleid lauert wie ein einsamer Panther auf seine Opfer, gesichtslos, mit Henkersmaske und Panamahut. "Madame Lasiren" indes muß sich für Mardi Gras unter Frauenkleidern verstecken, da sie als einer der vielen Wassergeister einen Fischkörper hat. Die grotesken Militär­uniformen der "Chaloskas", mit riesigen Lippen und Büffelzähnen, sind inspiriert von Jacmels brutalem Polizeichef Charles Oscar, an dem die Bevölkerung 1912 ebenso grausam Rache nahm, ihn in Stücke riß und verbrannte. Der "Chaloska"-Darsteller sagt, er habe diesen Charakter 1962 für den Karneval wiederbelebt – im Zuge von "Papa Doc" Duvaliers erstem massiven Wahlbetrug. Dazu erfand er die beiden Begleiter Master Richard, der mit seinem fetten Bauch die Korruption verkörpert, und Doctor Calypso, der als buckliger Alter die Gefangenen vor ihrer Hinrichtung untersucht. Die "Chaloskas" ziehen durch die ganze Stadt, bedrohen die Leute und sollen zukünftigen Oscars eine Warnung sein.

Höllencowboys
Am schaurigsten aber sind die "Lanse Kòd" – kreolisch für Lassowerfer. Sie trainieren ihre Hypermännlichkeit in Schrottplatz-Gyms, lassen ihre Haut mit einer Paste aus Zuckerrohrsirup und Holzkohle zum Leuchten bringen und tragen schwarze Henkerskapuzen mit Augenlöchern und Stierhörnern. Dieser lassowerfende Mob von Höllencowboys verkörpert sowohl die Sklaverei als auch die Befreiung. Sie schleichen sich an ihre Opfer heran, fesseln und schlagen sie, halb Tier, halb Mensch, wie der mythische Lanse Kòd Djab. Dieser fängt seine Opfer bei Nacht vorzugsweise an Straßenkreuzungen ein, mit einem Lasso aus der Nabelschnur und den Gedärmen eines Babys, und verwandelt sie in Tiere.

Mit ihrem exhibitionistischen Gebaren ähneln die Lanse Kòd den Voodoogeistern der "Gede", die, wie es heißt, oft Sonnenbrillen mit nur einem Glas tragen, weil auch der Penis nur ein Auge habe. Am Nachmittag findet der martialische Spuk sein Ende am Meer. Die Lanse Kòd springen mit Purzelbäumen ins Wasser, waschen ihre düstere Maske ab und glitzern im gleißenden Sonnenlicht mit den Wellen um die Wette. Auf den letzten Fotos am Strand öffnet sich der Horizont, und das Buch entläßt uns aus diesem furiosen Alptraum, als wäre es doch nur ein Film von Fellini gewesen.

Leah Gordon: Kanaval – Vodou, politics and revolution on the streets of Haiti. Soul Jazz Publishing, London 2010, 160 Seiten, 26,80 Euro


Aristokraten der Finsternis
Leah Gordons Fotoband entdeckt im Karneval von Haiti Voodoo, Politik und Revolution
Von SABINE MATTHES
In: Titel-Kulturmagazin, 08.09.2011 [Link erloschen]

Am 23. August 1791 opferte der Voodoo Priester Boukman auf einer der vielen Zuckerplantagen Haitis ein schwarzes Schwein für die afrikanischen Ahnen. In das Blut schrieb er die Worte "Freiheit oder Tod", die später die Fahne Haitis zieren sollten. Die Zeremonie dieser Sklaven in dem abgelegenen Ort Bwa Kayman (Alligator Wald) gilt als Initialzündung der haitischen Revolution. Sie begannen ihre Herren zu töten, setzten die Plantagen in Brand und gründeten im Januar 1804 die erste schwarze Republik der Welt – die einzige Nation, deren Unabhängigkeit aus einem Sklavenaufstand hervorgegangen war. Der Rebellenführer und ehemalige Sklave Jean-Jacques Dessalines riss in einem dramatischen Akt das weiße Stück aus der blau, weiß, roten Trikolore der französischen Kolonialisten und erklärte, er reiße den weißen Mann aus dem Land – die roten und blauen Teile wurden zur haitischen Fahne zusammengeflickt. So beschreibt es Leah Gordon im Vorwort ihres faszinierenden Fotobands Kanaval – Vodou, politics and revolution on the streets of Haiti.

Voodoo als haitische Kultur

Da Religion das Einzige war, was die entwurzelten Sklaven aus Afrika mitnehmen konnten, wurde sie bedeutungsvoll mit Erinnerung, Geschichte und Verlust aufgeladen – Voodoo wurde haitische Kultur, Widerstand und Kampfmittel. Auch der Diktator Papa Doc Duvalier bediente sich in den 1960er Jahren dieser Kraft zum eigenen Machterhalt. Er infiltrierte das inoffizielle Netzwerk der Voodoo-Tempel mit Spionen, verpasste seiner brutalen Privatmiliz, den Tontons Macoutes, den blauen Stoff und das Halstuch von Papa Zaka, dem Voodoogeist der Bauern, und trat selbst häufig in Frack und Zylinder auf, wie eine Erscheinung des mächtigen Voodoogeistes der Toten, Baron Samedi.

Alle haben in Haiti eine tranceartige Beziehung zur Vergangenheit, auch wenn sie nicht an Voodoo glauben. Beim Karneval in Jacmel, einem künstlerischen Küstenort im Süden, wurde Haitis Geschichte alljährlich lebendig. Die Geister aus dem Voodoopantheon und die sich stets wandelnden Archetypen haitischer Politik und Gesellschaft erzählten ihre Geschichten in räudigen, wilden Kostümen – eine unheimliche Horde tollwütiger Freaks und Aristokraten der Unterwelt, die ihre bizarre Erotik und poetischen Zauber im Tageslicht der Altstadt zum Strahlen brachten. Nachdem das verheerende Erdbeben im Januar 2010 auch Jacmel zerstörte, wurde der Karneval abgesagt. Umso gespenstischer wirken jetzt die Schwarz-Weiß-Fotos von Leah Gordon, die sie zwischen 1995-2009 vom "Kanaval" in Jacmel gemacht hat. Wie ethnografische Zeugnisse einer sagenhaften mythischen Welt, eines verlorenen schmutzigen Paradieses, das der Mardi Gras jedes Jahr zur Hauptstadt des Surrealismus erblühen ließ. Das Magische und Tragische von Haiti, das Übermütige und Verletzliche, werden in den Bildern zu einer trotzigen Demonstration von Unbezwingbarkeit.

Der Voodoogeist des Waldes verkauft Heilpflanzen

Wenn Karneval allgemein die Umkehr der hierarchischen Ordnung bedeutet, wo Sklaven zu Herrschern und Priester zu Despoten werden, dann ist er die perfekte Metapher für Haitis wechselvolle Geschichte. Leah Gordon taucht in diesen bildgewaltigen Kosmos nicht nur als Fotografin und Filmemacherin ein, sie startete auch die Ghetto Biennale in Port-au-Prince und sammelte für den Bildband die persönlichen Geschichten hinter den Masken ihrer Protagonisten. Diese oral histories und die kulturanalytischen Essays liefern die anthropologische Erklärung zu den Kostümen. Ein Darsteller sagt, er spiele immer einen Indianer, weil er für die von den Spaniern ermordeten Tainoindianer eine so große Liebe empfinde, als wären es seine eigenen Ahnen. Mit drastischeren Mitteln wirbt "Papa Sida", Father AIDS, beim Mardi Gras für sein Safer-Sex-Anliegen: Einmal trugen sie einen echten Aidstoten im Sarg mit sich.

"Makak" der Affe äfft die Zuschauer nach und die "Papa Banan" fegen als riesige Bananenblätter-Staubwedel über die Straßen, mit ihrem seltsamen kleinen Lied "Wir haben keine Streichhölzer, zünd uns an". Der Voodoogeist des Waldes verkauft Heilpflanzen an die Voodoo Priester, während die Gruppe der "Pastoren" ihre Hymnen anstimmt und der rote Luzifer von zwei kleinen Engeln getötet wird.

Ein maskuliner Transvestit im silbernen Paillettenkleid lauert wie ein einsamer Panther auf seine Opfer, gesichtslos, mit Henkersmaske und Panamahut.

"Madame Lasiren" indes muss sich für Mardi Gras unter Frauenkleidern verstecken, da sie als einer der vielen Wassergeister einen Fischkörper hat. Die grotesken Militäruniformen der "Chaloskas", mit riesigen Lippen und Büffelzähnen, basieren auf Jacmels brutalem Polizeichef Charles Oscar, an dem die Bevölkerung 1912 ebenso grausam Rache nahm – sie riss ihn in Stücke und verbrannte ihn.

Der "Chaloska"-Darsteller sagt, er habe diesen Charakter 1962 für den Karneval wiederbelebt – im Zuge von Papa Doc Duvaliers erstem massiven Wahlbetrug. Dazu erfand er die beiden Begleiter Master Richard, der mit seinem fetten Bauch die Korruption verkörpert, und Doctor Calypso, der als buckliger Alter die Gefangenen vor ihrer Hinrichtung untersucht. Die "Chaloskas" ziehen durch die ganze Stadt, bedrohen die Leute und sollen zukünftigen Oscars eine Warnung sein.

Auch der Penis hat nur ein Auge

Am schaurigsten aber sind die "Lanse Kòd" – kreolisch für Lassowerfer. Sie trainieren ihre Hypermännlichkeit in Schrottplatz-Gyms, lassen ihre Haut mit einer Paste aus Zuckerrohrsirup und Holzkohle zum Leuchten bringen und tragen schwarze Henkerskapuzen mit Augenlöchern und Stierhörnern. Dieser lassowerfende Mob von Höllencowboys verkörpert die Sklaverei und Befreiung. Sie schleichen sich an ihre Opfer heran, fesseln und schlagen sie, halb Tier halb Mensch, wie der mythische Lanse Kòd Djab. Dieser fängt seine Opfer bei Nacht vorzugsweise an Straßenkreuzungen ein, mit einem Lasso aus der Nabelschnur und den Gedärmen eines Babys, und verwandelt sie in Tiere. So solle man beim Kauf eines Tieres auf dem Markt stets darauf achten, dass es keine Goldzähne oder Tränen in den Augen habe, weil es sich sonst um ein menschliches Opfer von Lanse Kòd Djab handeln würde. Mit ihrem unzüchtigen, exhibitionistischen Gebaren ähneln die Lanse Kòd auch den Voodoogeistern der "Gede", die, wie es heißt, oft Sonnenbrillen mit nur einem Glas tragen, weil auch der Penis nur ein Auge habe.

Am Nachmittag findet der martialische Spuk sein Ende am Meer. Die Lanse Kòd springen mit Purzelbäumen ins Wasser, waschen ihre düstere Maske ab und glitzern im gleißenden Sonnenlicht mit den Wellen um die Wette. Auf den letzten Fotos am Strand öffnet sich der Horizont und das Buch entlässt uns aus diesem furiosen Alptraum, als wäre es doch nur ein Film von Fellini gewesen.

| Sabine Matthes

Titelangaben:
Leah Gordon: Kanaval – Vodou, politics and revolution on the streets of Haiti
London: Soul Jazz Publishing 2010. 160 Seiten. 26,80 Euro


Leserbrief zu:
"Dritter Weg nach Palästina. Wie die Europäer versuchen, den Friedensprozess im Nahen Osten endlich wieder in Gang zu bringen."

SZ vom 23./24.7.2011, Seite 9

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Für die Palästinenser könnte der Antrag auf staatliche Anerkennung bei der UNO-Vollversammlung im September ein PR-Erfolg werden, mehr wohl kaum. Denn nicht nur Israel und die USA sind dagegen, auch das realitätsnahe palästinensische Volk auf den Strassen von Ramallah weiss, dass ein bißchen Staat ebenso wenig wert ist, wie ein bißchen schwanger. Diana Butto wird zitiert, die das fruchtlose Geschacher der alten Männer mit den alten Strategien ebenso satt hat wie viele andere und stattdessen mit dem richtungsweisenden Stichwort "Südafrika" für einen Kurswechsel plädiert.

Die Grüne Linie von 1967 als "Grenze" zwischen Israel und einem palästinensischen "Staat" anzuerkennen, käme der Heiligsprechung eines Provisoriums gleich. Moshe Dayan hatte sie mit dem grünen Stift in den Verhandlungen mit den Jordaniern lediglich als israelische Wunschlinie in die Karte eingezeichnet und in dem 1949 auf Rhodos unterzeichneten Waffenstillstandsabkommen stellten beide Seiten unmissverständlich klar, dass sie keinesfalls eine endgültige Grenze sei. Als Israel diese Waffenstillstandslinie 1967 überquerte und das Westjordanland besiedelte, wurde sie ohnehin obsolet. Auch in der UNO-Resolution 242, die seitdem zum Grundpfeiler aller folgenden Friedensbemühungen wurde, ist der englische Wortlaut von israelischer Seite bewußt so gewählt, dass Israel sich nicht aus allen besetzten Gebieten würde zurückziehen müssen. De facto bleiben den Palästinensern vom ursprünglichen historischen Palästina für ihren "Staat" in spe also lediglich etwa 13% zerstückelte Gebiete – der selbe Prozentsatz den die ehemalige südafrikanische Homeland-Politik den Schwarzen zubilligte. F.W. de Klerk, der letzte weiße Präsident Südafrikas, der 1994 die Macht an Nelson Mandela übergab, meinte dazu: "Was Apartheid ursprünglich erreichen wollte ist, was jeder heute als die Lösung für Israel und Palästina hält, nämlich – trennen, separate Nationalstaaten auf der Grundlage von Ethnie, verschiedenen Kulturen, unterschiedlichen Sprachen." Die heutige Zwei-Staaten-Roadmap zwischen Israel und den Palästinensern beruhe "auf exakt den selben Prinzipien" wie die Schaffung unabhängiger Homelands für jede Gruppe in Apartheid-Südafrika. Dort sollte damals der Status Quo der weißen Dominanz als schwarze Unabhängigkeit getarnt werden. Mandela verweigerte deswegen der Transkei und den anderen Bantustans die Anerkennung und kämpfte stattdessen für gleiche Rechte in einem gemeinsamen Land. Die in der SZ euphemistisch als "Vatikan-Option" bezeichnete mögliche Variante eines palästinensischen Staates ist tatsächlich eher eine "Transkei-Option".

Im Sinne Mandelas müßten die Europäer also die Anerkennung Palästinas verweigern – womit sie auch dem israelischen Wunsch entsprächen. Gleichzeitig aber sollten sie, in ihrer besonderen Verantwortung als Verursacher des Konflikts, das Erfolgsmodel einer "Südafrika-Option", eines gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Staates, vor der UNO zur Abstimmung bringen und damit neue Impulse für einen zukunftsfähigen Friedensprozess setzen.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


PDF 5.7.2011: Einladung FDP Bezirksverband Oberbayern Bezirksfachausschuss Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik, München / Antrag: Einen gemeinsamen Staat Israel/Palästina anerkennen


(Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Anrennen gegen die Besatzung",
SZ vom 16.5.2011, Seite 7

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,
Am 10.Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", deren Artikel 13 (2) lautet: "Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich sein eigenes, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren." Einen Tag später wurde das Rückkehrrecht für Hunderttausende, im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 vertriebene, palästinensische Flüchtlinge speziell nocheinmal durch die UNO-Resolution 194 bekräftigt. Anstatt diese Resolution umzusetzen, verabschiedete die israelische Regierung 1950 zwei Gesetze, das "Law of Return" und das "Absentee Property Law", die allein die jüdische "Rückkehr" aus aller Welt legitimierten, während sie die "abwesenden" Palästinenser enteigneten.

Zahllose Versuche einer friedlichen Rückkehr, unter anderem 1988 mit dem "Ship of Return", das an das "Exodus"-Schiff der jüdischen Flüchtlinge erinnern sollte, wurden seitdem von israelischer Seite vereitelt. Als Arun Gandhi, der Enkel von Mahatma Gandhi, 2004 die besetzten Gebiete besuchte, regte er eine erneute Diskussion über gewaltlosen Widerstand an. In einer Rede rief er zu einem Marsch von 50.000 palästinensischen Flüchtlingen auf, die en masse aus ihrem jordanischen Exil zurückgehen sollten und damit die Israelis zur Entscheidung zwingen, ihnen entweder nachzugeben oder sie kaltblütig niederzuschießen. Zu Tausenden setzten am diesjährigen Nakba-Gedenktag palästinensische Flüchtlinge aus dem Libanon und Syrien Gandhis friedliche Protestvision in die Tat um, wobei Israel die Option der Gewalt wählte und etliche Demonstranten getötet und verletzt wurden. Im Gegensatz zu den libyschen Rebellen waren sie unbewaffnet. Sie verdienen unsere Unterstützung mindestens ebenso wie die anderen arabischen Freiheitsbewegungen.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


(Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Stadtrat buht Bahn aus",
SZ vom 19.5.2011, Seite R 2, Münchner Teil

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,
"Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt" erkannte Joseph Beuys 1979. Der Hauptbahnhof, als letzter verbliebener urbaner Sehnsuchtsort, wo sich, wie sonst nur im Kino, die Geschichten von Fremden, Liebenden und Abenteurern kreuzen in der Schalterhalle, einer Kathedrale des Lichts, und wo man am Ende der Gleise picknicken möchte mit der untergehenden Sonne am Horizont und den einrauschenden Zügen, die wie Wellen am Meeresstrand einen Hauch von Weltverbundenheit, Ferne und Freiheit vermitteln. Alles vorbei? Die magische Essenz dessen, was einen Bahnhof, neben aller Funktionalität, ausmacht, ist dem Hauptbahnhof-Neubau-Entwurf von Auer + Weber völlig abhanden gekommen. Wollen die Münchner tatsächlich anstelle ihres Hauptbahnhofs ein solch aseptisch gläsernes Shopping-Mall-Flughafenterminal-Monster mit gut verstecktem Gleisanschluß?

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: "Schonungslos gegen Schwarzfahrer",
SZ vom 18.5.2011, Seite R 4, Münchner Teil

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,
In München sollen umweltfreundliche Schwarzfahrer härter bestraft werden – während bundesweit energieverschwendende Neukäufer von Elektroautos steuerlich gefördert werden sollen. Müsste echte Umweltpolitik nicht umgekehrt aussehen: kostenloser öffentlicher Nahverkehr, der sich aus erhöhten Abgaben für Autofahrer finanziert? Zumindest könnte die MVG unfreiwillige Schwarzfahrer verhindern, indem sie ihre Tarife so einfach gestaltet, wie es sogar Megastädte wie New York schaffen. Und: sie könnte all ihre verwaisten U-Bahn-Schalter mit Menschen besetzen, damit nicht ein Tourist, der in der Aidenbachstrasse einsteigt, sieben Stationen zum nächsten MVG-Mitarbeiter am Sendlinger Tor schwarzfahren muss, um erklärt zu bekommen, welches Tickett er für die zwei Stationen zum Tierpark benötigt hätte.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Garten der Dämonen (Rezension, JPG)
von Sabine Matthes. Aus: Cinearte 238, 21.04.2011, S. 16-17. Siehe auch www.artechock.de/film/text/artikel/2011/04_14_filmplakate_ghana.html und http://www.jungewelt.de/2011/05-03/009.php



Blumen des Bösen
"Deadly and Brutal. Filmplakate aus Ghana" in der Münchner Pinakothek der Moderne

Sabine Matthes, junge Welt vom 03.05.2011 / Feuilleton / Seite 13

Es war einmal ein Geschäftsmann in Lagos, Nigeria, der eine Lieferung leerer Videokassetten nicht los wurde. Er dachte, wenn etwas darauf wäre, ließen sie sich besser verkaufen und drehte selbst einen Videofilm. So wurde Kenneth Nnebues "Living in Bondage" 1992 zum ersten "Nollywood" Film verkaufte sagenhafte 500000 Kopien und startete die Erfolgsgeschichte von Nigerias boomender Filmindustrie- nach Indiens "Bollywood" und vor "Hollywood" die zweitgrößte der Welt. Ohne ausländisches Investment und staatliche Hilfe entwickelte sich aus der Graswurzelbewegung eine unabhängige Filmproduktion von Home Videos, die nach der Ölindustrie Nigerias zweitgrößter Arbeitsmarkt wurde. Wenn unter der Bedingung produziert wird, für ganze 10000 Dollar in nur sieben Tagen einen Film abzudrehen, ist die Qualität weniger wichtig als der Spaß und die Chance auf schnelles Geld und Glamour. Im Gegensatz zu den wenigen afrikanischen Autorenfilmern, wie dem verstorbenen Senegalesen Ousmane Sembene, deren Filme hauptsächlich auf westlichen Festivals laufen, sind Nollywood Filme für afrikanische Massen, die von einem Dollar am Tag leben, und für die Diaspora.

"Living in Bondage" wurde so populär, weil er den Nigerianern eine sensationalistische Geschichte ihrer eigenen modernen urbanen Realität vorspielte: Andy, der Protagonist, möchte es in Lagos zu etwas bringen, verschreibt sich einem Kult, der die rituelle Opferung seiner Frau verlangt und dafür Reichtum verspricht, er macht seine Millionen, wird aber vom Geist seiner toten Frau heimgesucht und findet schließlich sein Seelenheil in der Kirche. Solche Themen, wie die Jagd nach Geld und Status, übernatürliche Kräfte, der Horror ritueller Morde, der Fall in die Lasterhaftigkeit und christliche Erlösung, kommen angesichts real existierender großer finanzieller Ungleichheit, Korruption und Frustration in der nigerianischen Gesellschaft und anderen afrikanischen Ländern gut an. Sogenannte Hallelujah-Filme werden häufig von Kirchen selbst produziert, um größere Gemeinden anzuziehen. Anfangs gab es eine Reihe obszöner Filme mit Frauen mit Riesenbrüsten, ein zwergenwüchsiges Duo treibt in Komödien sein blutiges Unwesen. Am beliebtesten aber waren von Beginn an die bizarren "Voodoo Horror"- oder "Juju"-Videos. Denn trotz des starken christlichen und islamischen Einflusses ist der Glaube an die okkulten Kräfte von Geistern immer präsent und liefert oft die bessere Erklärung für schicksalhafte Ereignisse.

Während die größte afrikanische Filmproduktion aus Nigeria kommt, gibt es die Tradition handgemalter Kinoplakate nur in Ghana. Die Visualisierung des Okkulten wirkt im Film wie Science-Fiction: Böse Geister feuern Killer-Laserstrahlen aus grünen Augen, Messer schwirren magisch durch die Luft. Auf den Filmplakaten spukt es surreal grotesk, als hätte sich die afrikanische Wassergöttin "Mami Wata", die personifizierte Erotik des Bösen, mit Fischschwanz, langem Haar, umgeben von Nixen, Schlangen, Blut oder abgeschlagenen Körperteilen, in die mittelalterlichen Höllendarstellungen von Hieronymus Bosch verirrt. Der alte Kampf zwischen Gut und Böse, Gott und Satan, Versuchung, Bestrafung und Erlösung, wird hier auf einem modernen afrikanischen Schlachtfeld ausgetragen, mit Liebe, Intrige, Verrat, Prostitution, Betrug, Mord und Kannibalismus. Ein weiblicher Dämon, mit türkis diamantenfunkelndem Schlangen-Penis-Echsen-Diadem auf runzeliger Stirn, bezüngelt mit schwarz-spitzer Zunge einen bluttriefenden Totenkopf-Lolly. "Heads will roll" verspricht ein anderes Plakat. Je schriller die Ankündigung, desto mehr Publikum – sagen sich die Plakatkünstler, die die Filme oft gar nicht gesehen haben, aber mit ihrer eigenen Phantasie ausschmücken. 70 solcher Plakate aus der Sammlung Wolfgang Stäbler sind jetzt in der Ausstellung "Deadly and Brutal. Filmplakate aus Ghana" in der Neuen Sammlung der Pinakothek der Moderne in München zu sehen.

Handgemalte Reklameschilder für Friseure, Heiler und anderes gibt es in ganz Westafrika, aber diese auf die Rückseite alter Mehlsäcke gemalten Kinoplakate nur in Ghana. Neben afrikanischen Produktionen bewerben sie Hollywood-Blockbuster oder asiatische Actionfilme. Als 1980 die ersten Videorecorder nach Ghana gelangten, entstanden in den städtischen Zentren von Accra und Kumasi kleine Straßenkinos, sogenannte Video Clubs, mit einem Fernseher, Videorecorder, Stühlen oder Bänken. Seine Blütezeit hatte der Markt für Filmplakate zwischen 1985 und 1996, als über 40 Videotheken Videos und Plakate verliehen. Später konnten sich mehr und mehr Städter eigene Farbfernseher leisten, und das Geschäft verlagerte sich in ländlichere Gebiete. Nachdem die Poster in den städtischen Video Clubs genutzt wurden, gehen sie mit "mobilen Kinos", bestehend aus einem Auto, Generator, Videorecorder und Fernseher, auf Reisen über das Land. Als erstes reisendes Kino hatte Alexander Medwedkin in den 1930er Jahren den "Kino-Zug" erfunden, mit dem er durch die Sowjetunion fuhr. In Ghana wählten die Videotheken von Accra und Kumasi seit Anfang der 1980er Jahre einen ähnlichen Weg. So wohnt diesen Filmplakaten, neben der Phantasie der Künstler und Regisseure, immer auch das Geheimnis ihres eigenen Road Movies inne.

"Deadly and Brutal. Filmplakate aus Ghana", bis 26.6., Die Neue Sammlung- The International Design Museum Munich, Pinakothek der Moderne, München


(Veröffentlichter) Leserbrief zu: Außenansicht "Ein Frieden, zwei Staaten"
von Yoram Ben Zeev, SZ vom 4.4.2011, Seite 2

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,
Für wie uninformiert hält der israelische Botschafter Yoram Ben Zeev die Leser, wenn er in seiner Außenansicht erklärt, Israel strecke "weiterhin die Hand zum Frieden aus, und die Mehrheit der Israelis ist für die Zwei-Staaten-Lösung"? Rechte wie linke israelische Regierungen haben doch durch die Ansiedelung von 500.000 jüdischen Siedlern in der Westbank und Ost Jerusalem eben diese Lösung selbst unmöglich gemacht. Israel erkennt weder seine Grenzen des UNO-Teilungsplans von 1947 an, noch die Waffenstillstandslinie von 1949. Ein palästinensischer "Staat" aber müßte ein zusammenhängendes Staatsgebiet haben und die Kontrolle über Luftraum, Wasser, Grenzen und eine eigene Armee – alles andere ist die Homeland-Politik des ehemaligen Apartheid-Südafrika.

Ben Zeev hat Recht, wenn er schreibt, daß die israelische Regierung, "wie in jedem demokratischen Land", die Pflicht hat, "seine Bürger vor Angriffen zu schützen". Nur sind die Mehrheit der Palästinenser im Gazastreifen Flüchtlinge aus Israel und damit gemäß Völkerrecht und UNO-Resolutionen eigentlich israelische Staatsbürger. Der Gaza-Krieg 2008/2009 richtete sich also nicht gegen ein "feindliches Land", sondern gegen die eigene 1948 vertriebene, enteignete und ausgebürgerte arabische Bevölkerung, die seit über 60 Jahren für ihre Rechte kämpft. Obwohl damals die Opferzahl palästinensischer Zivilisten und Rebellen größer war, als heute in Libyen, und die Angriffe eindeutig ethnisch motiviert, dachte man weder an eine Flugverbotszone noch an Regime Change.

Als Vertreter eines nach "Frieden" strebenden, "demokratischen" Landes, könnte sich Ben Zeev tatsächlich vorstellen, als israelischer Botschafter nicht nur seine jüdischen Bürger, sondern auch Millionen heimkehrende palästinensische Flüchtlinge zu vertreten, von denen womöglich ein palästinensischer Mandela sein Präsident werden würde? Dann wären seine Worte glaubhaft. Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Safari durch den Moloch
"Afropolis. Stadt, Medien, Kunst" zeigt den radikalsten urbanen Zustand:
Kairo, Lagos, Nairobi, Kinshasa, Johannesburg.

Von Sabine Matthes
artechock.de 03.03.2011,
http://www.artechock.de/film/text/artikel/2011/03_03_safari_moloch.html
Titel Kulturmagazin 12.03.11

Matatu sind Gerüchteküchen. Zu tausenden jagen diese Minibusse durch die Straßen Nairobis, immer frisch aufgemotzt nach den neuesten Trends in Design, Musik und Technik. Ihr Name ist von "30 Cent" abgeleitet, dem früheren Fahrpreis von Nairobi zu seinen Vororten. Nicht nur Banden wie die Taliban, die illegal die Routen kontrollieren und "Schutzgeld" erpressen, sind um diese Sammeltaxis herum entstanden, sondern auch eine legendäre Matatu-Kultur und -Textgattung. Unter anderem wegen der Konkurrenz dieser hippen, privat betriebenen, Matatu hat Kenia seit den 1990er Jahren kein öffentliches Nahverkehrssystem mehr. Wenn man in Sam Hopkins` Toninstallation "Roomah" einsteigt, taucht man in die urbane Mythologie ein, die um die Matatu entsteht. Hopkins koordiniert auch "Slum-TV", ein 2006 gegründetes Kollektiv von Videoaktivisten in Nairobi, die Geschichten aus Mathare und anderen Slums dokumentieren und sie als Material für ein Archiv informeller Siedlungen sammeln. Ihre Videoinstallation "Upgradasion" zeigt die komplexen Machtverhältnisse und Ökonomien eines Slum-Entwicklungsprojekts, inszeniert im Stil zwischen Soap und Comic. Tatsächlich scheiterte das "Mathare 4 A Slum Upgrading Project", das einem Elendsviertel mit über 500.000 Einwohnern zu Gute kommen sollte, absurderweise am Widerstand praktisch aller Betroffenen, von den Immobilienbesitzern bis zu den Armen.

Diese Verflechtung von künstlerischer Reflexion und wissenschaftlicher Dokumentation macht die Ausstellung (und den Katalog) "Afropolis. Stadt, Medien, Kunst" so spannend und lehrreich. Dem Phänomen der schrumpfenden Städte in Deutschland antwortet sie mit einem Reichtum urbaner Strategien und, in den letzten zwei Jahrzehnten sich dynamisch entwickelnden, Kunstszenen in den wachsenden afrikanischen Metropolen Kairo, Lagos, Nairobi, Kinshasa und Johannesburg. Wie funktionieren diese pulsierenden Megaorganismen, ohne ein alles zusammenhaltendes Herz? Was bewegt und bewegen ihre Bewohner? In einem Schlüsseltext der Afrika-Stadtforschung beschreibt der Soziologe AbdouMaliq Simone das, was er als das "Konzept Menschen als Infrastruktur" fasst. Wenn es keine tragfähige Infrastruktur und strengen Gesetze im westlichen Sinne gibt, dann bieten sich für die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Einwohner extrem mobile und provisorische Möglichkeiten, um sich den stetig wandelnden Umständen und Widerständen direkt anzupassen. Durch ihre unmittelbare Beteiligung an improvisierten, flüchtigen Arten sozialen Verhaltens erleben sie im urbanen Afrika neue Formen der Solidarität. Die Innenstadt von Johannesburg, im Zustand ständiger Bereitschaft und permanenter Rastlosigkeit, sieht Simone als "eine Art Zwitter: teils amerikanisch, teils afrikanisch", wobei es vor allem die "amerikanischen" Merkmale seien, eine funktionierende physische Infrastruktur, soziale Anonymität und ein immenser Konsum, die Johannesburg für viele urbane Afrikaner so anziehend machten. Das Gedicht "Itchy City" des südafrikanischen Autors und Spoken-Word-Performers Kgafela oa Magogodi ist eine bildgewaltige Ode an den Wahnsinn des Molochs Johannesburg: "... and fire in the city of cold blood flows cheaply like pavement tomatoes the streets are red rivers dead bodies and gold-platted teeth five-star smile in the face of a corpse ...". Ein fernes Echo von Allen Ginsbergs amerikanischem Großstadt-Albtraum "Howl".

Lagos, mit seinen geschätzten 15 Millionen Einwohnern und der Prognose, 2020 die drittgrößte Stadt der Welt zu sein, galt als Sinnbild der Vergeblichkeit urbaner Planung. Als Ikone des Schreckens und Projektionsfläche westlicher Zukunftsängste. Und damit als ideales Laboratorium für den holländischen Architekten und Stadttheoretiker Rem Koolhaas, der mit seinem Lagos-Projekt Ein- und Ausblicke auf die Welt von morgen gewinnen wollte. In Koolhaas` Analyse enthüllte das vermeintliche Chaos eine verborgene Ordnung, organisiert und zusammengehalten nicht von einem durch Korruption, Gewalt und Misswirtschaft paralysierten Staat, sondern von dessen Individuen mit ihrer Kreativität, Improvisation und Handlungsmacht. Koolhaas` "Lobrede auf die Selbstorganisation der Gesellschaft" wurde als euphemistisch und unpolitisch kritisiert. Trotzdem gibt es dafür eindeutige Erfolgsbeispiele. So haben sich somalische Flüchtlinge in Eastleigh, Nairobi, aus Not und wirtschaftlichem Interesse, als perfekte Raumplaner der Praxis erwiesen, lange bevor die verkrustete Stadtverwaltung dazu kam. Als illegale Stadtbewohner bauten sie dieses einzigartige Viertel als eine Art extraterritoriale Hauptstadt, als Außenposten und Versorgungsbasis der Flüchtlingslager, und als eines der wichtigsten Handelszentren für ganz Ostafrika auf. Zwischen den extravagantesten Shopping Malls, samt Reisebüros und Klinik, leben heute etwa 100.000 Menschen in diesem "Klein-Mogadischu".

Der "radikalste urbane Zustand" scheint, wo auch sonst, im Kongo zu herrschen. Sowohl das belgische Kolonialregime als auch Mobutus Schreckensherrschaft schweben wie ein Spuk über Kinshasa und haben die doppelt traumatisierte Stadt zum Absturz gebracht. Am Beginn einer bizarren Chronik des Wahnwitzes stehen belgische Missionare, die unter anderem mit Cowboy-Filmen die jungen Kongolesen zu disziplinieren versuchten. Dies aber beflügelte die Jugendgewalt, nach dem Vorbild von Buffalo Bill formierten sich Banden, die Bills, deren Männlichkeitskult die Jugend Kinshasas bis heute prägt. Mobutus Machtergreifung 1965 war das Ende der Bill-Bewegung, viele ehemalige Bills rekrutierte er für Schlüsselpositionen in Militär und Regierung, andere Bills gaben ihr Bandendasein unter dem Einfluss von Pater Buffalos Erlösungspredigten auf, der Jesus als den "Grand Bill" schlechthin gepriesen hatte. Heute leben die Lebenden auf dem Friedhof Kintambo neben den Toten, und die Jugendlichen, die sich selbst als "Kinder der Unordnung" bezeichnen, setzen auf dem Friedhof und im Rest der Stadt ihre eigenen Gesetze, die "Herrschaft" der Unordnung durch. Bei Beerdigungen bemächtigen sie sich der Verstorbenen, spielerisch, gewaltsam und exaltiert, tanzend, mit obszönen Gesten, sexuellen Liedern oder entblößten Genitalien, als könnten sie damit der Ohnmacht in die Fresse schlagen und sich in ihrem verwilderten Staat über die Allgegenwart des Todes erheben. Man kann den Friedhof von Kintambo als "Metapher für den zombifizierten Zustand einer Stadt und eines Landes" (Filip De Boeck) sehen. Dem müssen die Künstler in Kinshasa die verwegensten aller Utopien entgegenträumen. Bienvenue Nanga erschafft außerirdische Dörfer aus Materialien der Straße, mit dem 2006 gegründeten Kollektiv "Mowoso" aus Künstlern und Wissenschaftlern konstruierte er eine afrofuturistische Maschine aus Videos, Robotern und Raumschiffen, deren Koordinaten Kinshasa mit der Wunschwelt Paris verbinden. Sollte Die Touristenstadt von Pume Bylex einmal Realität werden, dann wäre man bestens aufgehoben in dem roten Hotel, mit Anti-Kamikaze-Sicherheits-System.

"Afropolis. Stadt, Medien, Kunst", bis 13.3.2011 Rautenstrauch-Joest-Museum Kulturen der Welt, Köln, danach Iwalewa-Haus der Universität Bayreuth


Lilienrevolte gegen den Tod. Mark Morrisroes intime Memoiren der elften Stunde im Fotomuseum Winterthur. Von Sabine Matthes
artechock.de 03.02.2011,
http://www.artechock.de/film/text/artikel/2011/02_03_morrisroe.html

Als junger Stricher bekam Mark Morrisroe (1959-1989) von einem Freier eine Kugel in den Rücken. Sie blieb dicht an der Wirbelsäule stecken, hätte ihn um ein Haar an den Rollstuhl gefesselt und verursachte ein bleibendes Hinken. Die morbide erotische Spannung einer solch prekären Balance zwischen Hingabe und Verletzlichkeit, Risiko, Schmerz und Leidenschaft, Intensität, Vergänglichkeit, Krankheit und Tod scheint Morrisroes ganzes Werk zu durchschimmern. In glamouröser Eleganz und billigem Fummel changiert es zwischen exhibitionistischem Übermut und melancholischer Unnahbarkeit. Sowohl in seinen variierenden Selbstinszenierungen, mit denen er sich immer neu erfinden und seinen eigenen Mythos kreiieren wollte, als auch in den Rollenspielen seiner Fotos und Filme. Getreu Oscar Wildes Motto "Seines eigenen Lebens Zuschauer zu werden bedeutet, (...) den Leiden des Lebens zu entrinnen." stürzte sich Morrisroe mit der selben Lust am Spiel und der Verwandlung in den Darkroom homoerotischen Begehrens, wie in die Dunkelkammer seiner fotografischen Umsetzungen. Sein visuelles Tagebuch ist intimes Melodram und Zeitzeugnis einer schwulen Bostoner und New Yorker Subkultur, die, seit Beginn der Aids-Epidemie Mitte der 1980er Jahre, in der elften Stunde ihrer Krankheit mit einem Tanz auf dem Vulkan gegen das Verlöschen ankämpfte. Zwischen dem frühen Polaroid Akt "Sweet 16: Little Me as a Child Prostitute" und seinen letzten Selbstportraits, auf einer Matratze schutzlos und nackt dem gleißenden Sonnenlicht und dem nahenden Tod ausgesetzt, gibt es ein faszinierendes Werk zu entdecken.

Nan Goldin, Künstlerfreundin aus Bostoner Tagen, in deren Schatten Morrisroe bislang stand, erinnert sich: "Mark war ein Aussenseiter in jeder Hinsicht – sexuell, gesellschaftlich und künstlerisch ...". So ist die romantisierende Ästhetik seiner Sandwich-Prints dem Piktorialismus eines Alfred Stieglitz näher, als der Anti-Sentimentalität der 1980er Jahre. Morrisroe kopierte dafür seine Farbnegative auf Schwarz-Weiss-Film, belichtete beide Negative übereinander und erzielte damit eine gedämpfte, samtene Farbigkeit, satte, dunkle Partien und ein grobes Korn. Der verführerische Manierismus dieser Akte, Portraits, Stilleben und Stadtlandschaften wird durch die expressive Improvisation zarter Retuschestriche und ungestümer Beschriftungs-Graffitis am weißen Bildrand kontrastiert. Halluzinatorisch wirken diese Bilder, wie geisterhafte Erscheinungen einer spiritistischen Sitzung. Bildgewordener Duft verblühender Lilien. Schnappschüsse eines Schwebezustands, unentschlossen zwischen An- und Abwesenheit, Traum und Wirklichkeit, Leben und Tod: Stephen träumt von Jeanne; ein knorriges Stück Treibholz schwebt im Sand von Coney Island, wie die Fata Morgana eines geborstenen Segelschiffs über der Glut einer endlosen Wüste; am Himmel, der so fließend und verschwommen wirkt, wie das Innere eines Körpers ohne Organe, zieht die Silhouette eine Pelikans vorüber.

"Damit die Geister erscheinen, die Ektoplasmen ausströmen, die UFOs landen können, muss es dunkel sein. Erst wenn das Licht weg ist, sind die unangemeldeten Besucher frei, in der Luft herumzufliegen wie verschüttete Milch." (Mark Alice Durant) Der auf dem Bett liegende Rückenakt mit dem verrenkten Arm, "In the Home of a London Rubber Fetishist" (1982), ist in Sepia, Purpur und Gold getränkt und könnte einem Polizeiarchiv perverser Verbrechen des 19.Jahrhunderts entstammen. Die Misshandlungen finden ihre Fortsetzung in betont unsauberen Abzügen voller zufälliger Kratzer und Stäubchen. Nach seiner HIV-Diagnose und den immer häufiger werdenden Krankenhausaufenthalten, wo er sich jeweils im Badezimmer eine Dunkelkammer einrichtete, widmete sich Morrisroe seinen Fotogrammen, für die er weder Kamera noch Modell benötigte. Als Negativ dienten ihm mehrere übereinander kopierte Bildmotive, Alltagsgegenstände, Röntgenbilder des eigenen Körpers, alte Pornohefte, Comicstrips und Werbeanzeigen, die zu psychedelisch fiebrig bunten Abstraktionen verschmelzen. Es sind pulsierende Wärmebilder von Körpern zwischen orgiastischer Sexualität und Verlöschen.

Mark Morrisroe ist auch Teil einer erweiterten Familie von schwulen Künstlern, von Kenneth Anger in den 1940er und 1950er Jahren, über Andy Warhol, Jack Smith und John Waters in den 1960er und 1970er Jahren, bis zu Leigh Bowery in den 1980er Jahren. Morrisroe meinte, dass er zum Filmemachen angeregt wurde durch Waters` Pink Flamingos (1972), in dessen berühmt-berüchtigter Schlusszene Divine als "obszönste Person der Welt" genüsslich grinsend einen Hundehaufen verzehrt. Als seine Wahl für den Time's Mann des Jahres schlug Waters den Arzt vor, "who actually saw Ronald Reagan`s asshole." Kein Wunder, daß Waters selbst von William Burroughs zum "pope of trash" gekrönt wurde. Auch Morrisroes drei erhaltene Super-8-Filme sind ein Bekenntnis zum Niederen. In seinen kürzlich erschienenen "Role Models" schreibt John Waters: "Ich sehnte mich nach einem schlechten Einfluß und, Junge, Tennessee (Williams) war ein schlechter Einfluß im besten Sinne des Wortes: fröhlich, beunruhigend, sexuell verwirrend und gefährlich komisch ... in seinem Werk waren sexuelle Ambivalenz und Verwirrung immer als attraktiv und aufregend dargestellt." Morrisroe verehrte Tennessee Williams ebenso. Sein zweiter Film Hello from Bertha (1983), ein Trash-Drag-Drama, beruht auf Williams`gleichnamigen Einakter von 1946 über eine sterbende, verarmte Prostituierte in einem billigen Bordell. Und wieder wird das Bett für Morrisroe zur Bühne, wenn er sich spärlich bekleidet in dunkler Perücke und weissem Bustier als Bertha in seinem Elend wälzt. Sein Freund Stephen Tashjian, mit dem er bereits als schrilles Drag Duo "The Clam Twins" performte, und der allgemein bekannt als Tabboo! in Underground-Drag-Treffs wie dem Pyramid Club im New Yorker East Village auftrat, mimt Goldie, die Wirtin des Hauses. Eine junge Prostituierte namens Lena wird, als spanische Zigeunerin gekleidet, von Jonathan (Jack) Pierson gespielt, Morrisroes erster grosser Liebe, der, wie Tashjian, auch auf vielen seiner Fotos zu sehen ist. Die düstere Intimität wird in dem grausameren Nymph-O-Maniac (1984) zur aggresiven Postpunkversion eines Horror-Porn-Homemovies. Den dekadenten Eskapaden einer überglamourösen Pia Howard bereiten zwei Masken tragende Schlägertypen ein gewalttätiges Ende und übergeben sich.

Für sein, trotz der kurzen Schaffenszeit, erstaunliches Output fotografischer und filmischer Experimente setzte Morrisroe testamentarisch Pat Hearn als Erbin und Nachlassverwalterin ein. Sie gehörte zum Kreis der Bostoner Gruppe um Nan Goldin, David Armstrong, Philip-Lorca diCorcia, Shellburne Thurber, Mark Morrisroe, Gail Thacker, Stephen Tashjian und Jack Pierson, deren tabubrechende Darstellung von Intimität den Vorbildern von Diane Arbus und Larry Clark zu folgen scheint. Pat Hearn war auch als Galeristin in New York Morrisroes wichtige Förderin und enge Vertraute in künstlerischen Belangen. Hearn, Nan Goldin, Morrisroe und andere wurden Teil einer vibrierenden New Yorker East-Village-Gemeinde. Bald aber wurde Aids zu einer tödlichen Tatsache und Beerdigungen so alltäglich wie Vernissagen. Schwule Aktivisten protestierten mit ACT UP und Silence=Death gegen die Stigmatisierung, Drag Queens duellierten sich mit Voguing ins Delirium, die Skyline von Manhattan erlosch zum Aids Awareness Day für 15 Minuten, und Nan Goldin kuratierte 1989 die legendäre Ausstellung "Witnesses: Against Our Vanishing" im Andenken an ihre an Aids erkrankten oder gestorbenen Freunde – unter anderen mit Bildern von Morrisroe. Nach dem Tod von Pat Hearn und ihrem Mann wurde Morrisroes vielseitiges Werk 2004 von der Sammlung Ringier erworben und seit 2006 im Fotomuseum Winterthur deponiert, wo es als erste grosse Übersichtsschau bis 13.2.2011 ausgestellt ist und in einer umfangreichen Monografie zusammengefasst wurde.

Bis 13.Februar 2011 Fotomuseum Winterthur, Schweiz, danach Artists Space, New York und Villa Stuck, München


Melancholie des Exhibitionismus. Intime Eskapaden: Der US-amerikanische Fotokünstler Mark Morrisroe in Winterthur. Ausstellungsrezension von Sabine Matthes
junge Welt vom 02.02.2011 / Feuilleton / Seite 12, http://www.jungewelt.de/2011/02-02/016.php


Wärmebilder des Körpers: "La Môme Piaf" von Mark Morrisroe

Als junger Stricher bekam Mark Morrisroe (1959-1989) von einem Freier eine Kugel in den Rücken geschossen. Sie blieb dicht an der Wirbelsäule stecken, hätte ihn um ein Haar an den Rollstuhl gefesselt und verursachte ein bleibendes Hinken. Die morbide erotische Spannung einer solch prekären Balance zwischen Hingabe und Verletzlichkeit scheint Morrisroes ganzes Werk zu durchschimmern. In glamouröser Eleganz und billigem Fummel changiert es zwischen exhibitionistischem Übermut und melancholischer Unnahbarkeit. Sowohl in seinen variierenden Selbstinszenierungen, mit denen er sich immer neu erfinden und seinen eigenen Mythos kreiieren wollte, als auch in den Rollenspielen seiner Fotos und Filme. Getreu Oscar Wildes Motto "Seines eigenen Lebens Zuschauer zu werden, bedeutet, (...) den Leiden des Lebens zu entrinnen", stürzte sich Morrisroe mit derselben Lust am Spiel und der Verwandlung in den Darkroom homoerotischen Begehrens wie in die Dunkelkammer seiner fotografischen Umsetzungen.

Sein visuelles Tagebuch ist intimes Melodram und Zeitzeugnis einer schwulen Subkultur in Boston und New York, die, seit Beginn der AIDS-Epidemie Mitte der 1980er Jahre, gegen das Verlöschen ankämpfte. Zwischen dem frühen Polaroid Akt "Sweet 16: Little Me as a Child Prostitute" und seinen letzten Selbstporträts, auf einer Matratze schutzlos und nackt dem gleißenden Sonnenlicht und dem nahenden Tod ausgesetzt, gibt es ein faszinierendes Werk zu entdecken, das gegenwärtig im Fotomuseum Winterthur und 2012 in München ausgestellt wird.

Nan Goldin, Künstlerfreundin aus Bostoner Tagen, in deren Schatten Morrisroe bislang stand, erinnert sich: "Mark war ein Außenseiter in jeder Hinsicht- sexuell, gesellschaftlich und künstlerisch". So ist die romantisierende Ästhetik seiner Sandwich-Prints dem Piktorialismus eines Alfred Stieglitz näher als der Antisentimentalität der 1980er Jahre. Morrisroe kopierte dafür seine Farbnegative auf Schwarz-Weiß-Film, belichtete beide Negative übereinander und erzielte damit eine gedämpfte, samtene Farbigkeit, satte, dunkle Partien und ein grobes Korn. Der verführerische Manierismus dieser Akte, Porträts, Stilleben und Stadtlandschaften wird durch die expressive Improvisation zarter Retuschestriche und ungestümer Beschriftungsgraffitis am weißen Bildrand kontrastiert. Halluzinatorisch wirken diese Bilder, wie geisterhafte Erscheinungen einer spiritistischen Sitzung. Schnappschüsse eines Schwebezustands, unentschlossen zwischen An- und Abwesenheit, Traum und Wirklichkeit, Leben und Tod: Stephen träumt von Jeanne; ein knorriges Stück Treibholz schwebt im Sand von Coney Island, wie die Fata Morgana eines geborstenen Segelschiffs über der Glut einer endlosen Wüste. Am Himmel, der so fließend und verschwommen wie das Innere eines Körpers ohne Organe wirkt, zieht die Silhouette eines Pelikans vorüber.

Der auf dem Bett liegende Rückenakt mit dem verrenkten Arm, "In the Home of a London Rubber Fetishist" (1982), ist in Sepia, Purpur und Gold getränkt und könnte einem Polizeiarchiv perverser Verbrechen des 19.Jahrhunderts entstammen. Die Mißhandlungen finden ihre Fortsetzung in betont unsauberen Abzügen voller zufälliger Kratzer und Stäubchen. Nach seiner HIV-Diagnose und den immer häufiger werdenden Krankenhausaufenthalten, wo er sich jeweils im Badezimmer eine Dunkelkammer einrichtete, widmete sich Morrisroe seinen Fotogrammen, für die er weder Kamera noch Modell benötigte. Als Negativ dienten ihm mehrere übereinander kopierte Bildmotive, Alltagsgegenstände, Röntgenbilder des eigenen Körpers, alte Pornohefte, Comicstrips und Werbeanzeigen, die zu psychedelisch fiebrig-bunten Abstraktionen verschmelzen. Es sind pulsierende Wärmebilder von Körpern zwischen orgiastischer Sexualität und Verlöschen.

Mark Morrisroe ist auch Teil einer erweiterten Familie von schwulen Künstlern, von Kenneth Anger in den 1940er und 1950er Jahren, über Andy Warhol, Jack Smith und John Waters in den 1960er und 1970er Jahren, bis zu Leigh Bowery in den 1980er Jahren. Morrisroe meinte, daß er zum Filmemachen von John Waters "Pink Flamingos" (1972) angeregt wurde, in dessen berühmt-berüchtigter Schlußzene Divine als "obszönste Person der Welt" genüßlich grinsend einen Hundehaufen verzehrt. Auch Morrisroes drei erhaltene Super-8-Filme sind ein Bekenntnis zum Niederen. Er verehrte Tennessee Williams ebenso wie Waters, der in seinen kürzlich erschienenen "Role Models" schreibt: "Ich sehnte mich nach einem schlechten Einfluß und, Junge, Tennessee war ein schlechter Einfluß im besten Sinne des Wortes: fröhlich, beunruhigend, sexuell verwirrend und gefährlich komisch ... in seinem Werk waren sexuelle Ambivalenz und Verwirrung immer als attraktiv und aufregend dargestellt."

Morrisroes zweiter Film "Hello from Bertha" (1983), ein Trash-Drag-Drama, beruht auf Williams' gleichnamigem Einakter von 1946 über eine sterbende, verarmte Prostituierte in einem billigen Bordell. Und wieder wird das Bett für Morrisroe zur Bühne, wenn er sich spärlich bekleidet in dunkler Perücke und weißem Bustier als Bertha in seinem Elend wälzt. Für sein, trotz der kurzen Schaffenszeit, erstaunlich großes Output fotografischer Experimente setzte Morrisroe testamentarisch Pat Hearn als Erbin ein. Sie gehörte zum Kreis der Bostoner Gruppe um Nan Goldin, David Armstrong, Philip-Lorca diCorcia, Shellburne Thurber, Mark Morrisroe, Gail Thacker, Stephen Tashjian und Jack Pierson, die eine tabubrechende Darstellung von Intimität eint. Pat Hearn war auch als Galeristin in New York Morrisroes wichtige Förderin und enge Vertraute in künstlerischen Belangen. Hearn, Nan Goldin, Morrisroe und andere wurden Teil einer vibrierenden New Yorker East-Village-Gemeinde. Bald aber wurde AIDS zu einer tödlichen Tatsache und Beerdigungen so alltäglich wie Vernissagen. Schwule Aktivisten protestierten mit "ACT UP" und "Silence=Death" gegen die Stigmatisierung, die Skyline von Manhattan erlosch zum AIDS Awareness Day für 15 Minuten, und Nan Goldin kuratierte 1989 die legendäre Ausstellung "Witnesses: Against Our Vanishing" im Andenken an ihre an AIDS erkrankten oder gestorbenen Freunde – unter anderen mit Bildern von Morrisroe. Nach dem Tod von Pat Hearn wurde Morrisroes vielseitiges Werk 2004 von der Sammlung Ringier erworben und seit 2006 im Fotomuseum Winterthur deponiert, wo es als erste große Übersichtsschau bis Mitte des Monats ausgestellt ist und in einer umfangreichen Monographie zusammengefaßt wurde.

Bis 13.2.2011, Fotomuseum Winterthur, Schweiz, danach Artists Space, New York, und Villa Stuck, München


(Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Ist Frieden möglich?",
Sonntagsblatt vom 30.1.2011, Seite 5

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Der Artikel "Ist Frieden möglich" über die von al-Dschasira veröffentlichten geheimen Verhandlungsdokumente zwischen der palästinensischen Autonomiebehörde und Israel suggeriert, daß "die Autonomiebehörde" und "die Palästinenser" dasselbe seien. Tatsächlich vertritt aber die Autonomiebehörde nur eine Minderheit der Palästinenser und hat vor allem kein Recht, über die Flüchtlingsfrage zu verhandeln. Das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge ist, wie das der bosnischen, kurdischen, afghanischen und anderer Flüchtlinge, ein individuelles Recht und nicht kollektiv verhandelbar, weder von der Autonomiebehörde, noch von Israel. Außerdem haben die hauptsächlich Betroffenen in den Flüchtlingslagern im Libanon, Syrien und Jordanien, und die im übrigen Ausland, die Autonomiebehörde nicht als ihre Vertreter gewählt. Von 8 Millionen Palästinensern sind 5 Millionen Flüchtlinge, weswegen ihre Rechte im Zentrum eines gerechten Friedens stehen sollten und sie direkt an Verhandlungen beteiligt werden müssen.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München

2010
(Veröffentlichter) Leserbrief in: Deutsches Pfarrer Blatt, Heft 9/2010, Seite 500
zu: "Das "Kairos-Dokument" der Christen in Palästina" von Stefan Meißner, DPfBl 7/2010, 386ff

Keine Demokratie im amerikanischen Sinne

Leider ist der von Meißner geschriebene "Versuch einer differenzierten Würdigung" des "Kairos-Dokuments" der Christen in Palästina eine allzu wenig "differenzierte" Würdigung. Meißner tut so, als hätte das Problem für die Palästinenser erst mit der israelischen Besatzung von 1967 angefangen. Er unterschlägt vollkommmen das für die Palästinenser ursächliche Unrecht der Nakba von 1948, als im Zuge der israelischen Staatsgründung 80% aller im israelischen Staatsgebiet lebenden Palästinenser vertrieben, enteignet und entrechtet wurden. Damals (längst vor dem Einfluss der "Nationalreligiösen"!) wurden unter der linken Regierung von David Ben Gurion Gesetze erlassen, die sehr wohl rassistisch sind, weil sie gemäß einer "bloodline" ihre Staatsbürger als zugehörig oder nicht-zugehörig definieren. Denn Israel verstand sich von Beginn an – im Widerspruch zur UNO, die den jüdischen Staat natürlich inklusive seiner bereits dort lebenden palästinensischen Bevölkerung vorsah – im Sinne des politischen Zionismus als "mehrheitlich" jüdischer Staat, weswegen es die Palästinenser, die immerhin beinahe 50% ausgemacht hätten, irgendwie los werden musste, mit Gewalt und per Gesetz – was natürlich nicht mit legalen, demokratischen Mitteln geht.

Das israelische "Law of Return" erlaubt jedem Juden der Welt nach Israel einzuwandern. Die UNO hatte mit der Resolution 194 den vertriebenen Palästinensern dasselbe Recht gegeben, wie allen durch ethnische Säuberung Vertriebenen, nämlich an ihre Heimatorte in Israel zurückzukehren, was Israel ihnen bis heute verweigert, weil es sonst kein mehrheitlich jüdischer Staat mehr wäre. Und weil es all die Enteignungen palästinensischen Landes in Israel womöglich rückgängig machen müsste. Denn es wird nicht nur heute in der Westbank enteignet, sondern seit 1948! Seit 1967 hat Israel sich vom Mittelmeer zum Jordan ausgedehnt, es besteht seitdem de facto nur ein Staat zwischen Mittelmeer und Jordan, nämlich Israel, mit unterschiedlichen Rechten für Juden und Nicht-Juden. Z.B dürfen Juden aus Israel oder Europa in die Westbank ziehen, Palästinenser aus der Westbank oder Europa aber nicht nach Israel, auch nicht in die Häuser, auf das Land von dem sie 1948 vertrieben worden sind. Die Apartheid, die in Südafrika zwar wesentlich sichtbarer war, existiert in Israel aber in den wesentlichen Punkten: Landbesitz – die Einheimischen werden in Flüchtlingslager jenseits der Grenzen dauerhaft vertrieben oder in die homelands in der Westbank und im Gazastreifen weggesperrt.

Israel ist eine Demokratie für Juden, aber nicht eine Demokratie im amerikanischen Sinne, für all seine Bürger. Das hätte Meißner schon erwähnen müssen! Man muss dazu nur die israelische Haaretz lesen!

Sabine Matthes
München


Endstation Sehnsucht. Picknick in Beirut und anderswo: "Weltenwandler. Die Kunst der Outsider" in der Schirn in Frankfurt/Main.
Von Sabine Matthes. junge Welt 18.12.2010 / Feuilleton / Seite 13 http://www.jungewelt.de/2010/12-18/014.php

"Der Verlust seiner Schwester war für ihn zentral" – Henry Darger, ohne Titel, 1950-60

Häftlinge oder Matrosen beseelen ihre Weltabgeschiedenheit mit Fotos. Was aber passiert, wenn Krankheit oder Schicksal einen endgültig so weit aus der Umlaufbahn menschlicher Gemeinschaft und Konventionen geschleudert haben, daß es keinen Weg zurück mehr gibt? Der britische Kunstkritiker Roger Cardinal, der 1972 den Begriff "Outsider Art" in seinem gleichnamigen Buch prägte, entwirft dafür das Bild vom Schiffbruch der sozialen Persönlichkeit auf einer einsamen Insel, die nur noch aus dem Königreich des eigenen Ich besteht. Fern kultureller Konditionierungen und sozialer Konformismen, aber mitten in der Gesellschaft entstehen auf dieser Insel gewaltige, enzyklopädisch detailgenaue Parallel-Welten, nicht als Kunst, sondern als ein Ort, um sein Leben darin zu verbringen. Outsider Art ist keine Kunst- oder Stilrichtung. "Es gibt ebensowenig eine Kunst der Verrückten wie es eine Kunst der Magenleidenden oder Knieverletzten gibt", sagte Jean Dubuffet, der Mitte der 1940er Jahre den Begriff Art brut für diese rohe, nicht "in Kultur durchgekochte", Kunst fand.

Und doch verbindet auch die 14 Outsiderkünstler, die in der Frankfurter Schirn Kunsthalle exemplarisch ausgestellt werden, etwas. Von den Klassikern der Art brut wie dem Psychiatriepatienten Adolf Wölfli, den typischen Entdeckungsgeschichten wie Henry Darger, der Pop-Diva Friedrich Schröder-Sonnenstern, der in Berlin die "Factory der Outsider Art" unterhielt, oder August Walla, dem Gesamtkünstler ohne Grenzen. Als Erfinder, Handwerker und Schamanen zerlegen sie die Welt in ihre Bestandteile und fügen sie neu zusammen, zu einer strukturierten Kosmologie, die die Realität ihrer inneren Welt untermauert.

Die meisten Outsider hilft dieses alternative Universum über die Realität ihrer bedrückenden Lebensumstände hinweg. Henry Darger (1892-1973) war drei Jahre alt, als seine Mutter starb, kurz nach der Geburt seiner Schwester, die daraufhin zur Adoption gegeben wurde. Er kam in ein katholisches Kinderheim, wurde im Todesjahr des Vaters aufgrund psychischer Auffälligkeiten mit der Diagnose, sein "Herz ist nicht am rechten Fleck", in eine Heilanstalt gebracht, aus der er fünf Jahre später flüchtete. Er arbeitete als Tellerwäscher, Latrinenputzer und Verbandaufwickler in Krankenhäusern und lebte völlig zurückgezogen am Rande der Armut in einem winzigen Apartment im Norden Chicagos. Da sein Leben zu enttäuschend war, um in dieser elendigen Realität viel Zeit zu verbringen, entschied er sich, eine andere zu erfinden, sie mit Charakteren zu bevölkern, die sich lose an denen orientierten, die er aus seinem Leben oder aus Büchern kannte, und dann selbst in diese Welt einzutreten.

Der 15145-Seiten-Roman

Etwa 1910 begann er mit der Konstruktion seines Opus magnum, dem 15145 maschinegeschriebene Seiten umfassenden Roman "The Story of the Vivian Girls, in What Is Known as the Realms of the Unreal, of the Glandeco-Angelinnian War Storm, Caused by the Child Slave Rebellion", den er später mit knapp 300 panoramischen Aquarellen illustrierte. Nicht, um damit "Kunst" oder "Literatur" oder Geld zu machen, sondern um sein Leben zu retten. So konnte er all das werden, wovon er träumte: Schriftsteller, Krieger, Rebell und "Beschützer von Kindern". Mit seinem einzigen Freund hatte er eine Gesellschaft zum Schutz von Kindern gegründet: "Gemini", deren einzige Mitglieder sie waren und die im Roman Zulauf bekommt von einer ganzen Gruppe geheimer Mitglieder. In der Gesellschaft seiner imaginären Spielkameraden kämpft er unter anderem als Captain Henry Darger an der Seite seiner hermaphroditischen, engelsgleichen und todesmutigen Heldinnen, den sieben Vivian Girls, in einem Krieg apokalyptischen Ausmaßes, zwischen deren edlem und katholischem Land Angelinia und einem Reich des Bösen und der Kindersklaverei, genannt Glandelinia. Millionen von Kindern und Erwachsenen fallen sadistischer Brutalität, Folter, Kämpfen und übernatürlich heftigen Naturkatastrophen zum Opfer. Nackte Mädchen mit Penissen und Gewehren rennen in idyllischer Landschaft zwischen extravaganten Pflanzen, Schmetterlingen und Explosionen um ihr Leben – als wären William Blake und der Zauberer von Oz zum Picknick in Beirut. Aus anthropomorphen Kumuluswolken bricht die Hölle von Tornados hervor. Darger war fasziniert vom Wetter und hatte am Ostersonntag 1913 einen Tornado erlebt, der eine ganze Stadt zerstörte; er schrieb Wetter-Tagebücher und die Geschichte eines Monster-Tornados namens "Sweetie Pie".

Der Verlust seiner Schwester war für Darger zentral, er trug nicht nur zur Entstehung dieses monumentalen, im Verborgenen entstandenen Werks bei, das erst kurz vor seinem Tod durch seinen Vermieter, den Fotografen Nathan Lerner, entdeckt wurde. Er führte auch zu seinem lebenslangen, aber unerfüllten, Wunsch, ein Kind zu adoptieren, und er sammelte Berichte von verschwundenen, gekidnappten oder ermordeten Kindern, die er in seinen Roman übertrug. Bei den Illustrationen verwendete er einen ähnlichen Prozeß der Aneignung, indem er seine Figuren aus Comics und kommerziellen Illustrationen abpauste – lange vor Andy Warhol und Roy Lichtenstein. So wurde jedes einzelne seiner Kinder aus dem ursprünglichen Zusammenhang quasi in seine Welt adoptiert. Man könnte sich Henry Darger mit einem anderen Seelenverwandten vorstellen: Wie er mit Michael Jackson auf der Neverland-Ranch zum Childhood-Song Karussel fährt.

Den Strom saugen

Auch Emery Blagdon (1907-1986) bannte seine Dämonen in völliger Abgeschiedenheit. Auf einem Hügel in Nebraska, der den Elementen der Erde und des Himmels ausgesetzt ist, baute er über 30 Jahre lang aus seinem Schuppen eine "Healing Machine", deren 600 Skulpturen und 100 Gemälde vor Krankheiten, insbesondere Krebs, schützen sollten. Mehrere Schichten komplizierter spindliger Drahtgehänge fließen wie Kaskaden von Beschwörungsformeln von den Wänden, Lüster aus metallischen Abfällen, von spinnwebartiger Zartheit und mit der Präzision elektrischer Schaltkreise, sollen das Licht einfangen und reflektieren, um die medizinische Essenz des Universums, den Strom, aufzunehmen und als elektromagnetische Energie aufzubereiten. Transformatoren aus Eisstäbchen, Lichterketten in Kaffeedosen am Boden und abstrakt bemalte Holzplatten, mit dem Gesicht nach unten, um die elektrische Energie aus der Erde zu saugen, dienen als Batterie dieser gewaltigen, mystischen Talisman-Maschine. Blagdon, dessen Eltern und drei seiner Geschwister an Krebs gestorben waren, wollte die Elemente der Erde nutzen und manipulieren, um mit den Schwingungen ihrer heilenden Energie Krankheiten aus den Menschen seiner Umgebung zu ziehen. Ihm konnte es jedoch nicht helfen, er starb trotzdem an Krebs. Der örtliche Apotheker Dan Dryden, bei dem Blagdon die Substanzen für seine Maschine gekauft hatte, ersteigerte seinen Nachlaß und erhielt ihn der Nachwelt.

Vielleicht liegt es an dem größeren Respekt vor der Volkskunst oder generell gegenüber Außenseitern, der individualistischeren Natur oder der geringeren bürokratischen Kontrolle, der Weite des Horizonts oder Denkern wie Henry David Thoreau, daß die Dichte an Outsider-Künstlern in den USA größer ist als anderswo. Gern hätte man auch etwas von den hier unbekannteren gesehen, Eugene von Bruenchenheins delikate Hühnerknochentürme oder Howard Finster's "Paradise Garden".

Kommunistendoppelknabe

Dem österreichischen Künstler-Patienten August Walla (1936-2001), der unter der Obhut des Psychiaters Leo Navratil im Haus der Künstler in Maria Gugging bei Wien wirkte, widmet die Ausstellung eine atmosphärische Rekonstruktion seines Zimmers, eine surreal-poppige Kapelle seines ureigenen Pandämoniums. Walla, der das Hitlerregime und die Russen kennengelernt hatte, behauptete, als "Nazimädchen" geboren und durch eine in Rußland erfundene Operation in einen "Kommunistendoppelknaben" umgewandelt worden zu sein. Die dargestellten Phantasiegötter seiner polytheistischen Privatreligion sollen "die Menschen in Schutz nehmen vor jedem Unglück, jeder Verzweiflung und Traurigkeit" (Walla). Auch er hatte Heimweh nach der Ferne – entweder zurück in die Kindheit oder in eine ferne Welt zu Menschen, die eine fremde Sprache sprechen. Seine Sammlung fremdsprachiger Lexika hütete er wie einen geheimen Schatz, ihre Wörter werden in seinen Bildern zu mythischen Wegweisern seiner privaten Kosmologie. Ihn könnte man sich vorstellen, wie er in Kinshasa mit Cheri Samba, einem kongolesischen Kollegen, über dessen Darstellung der afrikanischen Wassergöttin "Mami Wata" diskutiert – auf Suaheli.

Bis 9. Januar 2011, Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main


(Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Seehofers Plan für die Ausländer",
SZ vom 25.10.2010, Seite R 14, Bayern

Sehr geehrte Redaktion Forum Bayern,

Der CSU-Chef Horst Seehofer bekräftigt seine Parole, Deutschland brauche keine "zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen" mit einem Sieben-Punkte-Plan, der den Parteivorstand auf seine Linie einschwören soll. Man möchte Seehofer und Konsorten zum Studienaufenthalt nach New York schicken, damit sie lernen, wie kultureller, menschlicher und wirtschaftlicher Reichtum gerade aus größtmöglicher Diversität und Internationalität entsteht – nicht "trotz", sondern "wegen" einem "Ausländeranteil" von 100 Prozent!

Flüchtlinge, wie es auch viele Juden aus Deutschland waren, werden dort nicht jahrelang in Lagern interniert, entmündigt und wieder abgeschoben. Sie werden nicht staatlich sanktioniert und subventioniert, fühlen sich nicht ausgeschlosssen als Fremde, sondern als gleichberechtigte Repräsentanten von Vielfalt. Chinatown ist kein Ghetto von "Integrationsverweigerern", auch dort wird der amerikanische Traum vom Streben nach Glück gelebt. Könnte Deutschland sein völkisch definiertes Nationalstaatskonzept aufgeben zugunsten eines solch pluralistischen amerikanischen, dann würden sich viele "Integrationsprobleme" von selber lösen. Wer sich hier der Integration verweigert, sind nicht die Zuwanderer, sondern wir mit unserem unzeitgemässen Nationsbegriff. Als "Integationsverweigerer" müsste Seehofer also sich selbst "konsequenter sanktionieren".

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


(Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Ein allzu durchsichtiges Angebot",
SZ vom 13.10.2010, Seite 8

Sehr geehrte Redaktion Forum,

Zur Beurteilung des Israel/Palästina Konflikts bilden UNO-Resolutionen und Völkerrecht die Grundlage, wie Verkehrsregeln bei einem Verkehrsunfall. Leider bezieht sich Peter Münch in seinem Artikel über das Konzept vom "jüdischen Staat" nicht darauf, sondern auf die wesentlich davon abweichende israelische Interpretation als "mehrheitlich" jüdischer Staat.

Als Israel am 11.5.1949 mit der UNO-Resolution 273 als UNO-Mitgliedsstaat aufgenommen wurde, geschah dies unter der Annahme, Israel würde die vorangegangenen UNO-Resolutionen 181, zur Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat, und UNO-Resolution 194, zum Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, erfüllen. Die UNO definierte den "jüdischen Staat" in den Grenzen von 1947 und, da Bevölkerungstransfer und ethnische Säuberung dem Völkerrecht widersprechen, natürlich inklusive der vielen Hunderttausend bereits dort ansässigen Palästinenser. Demnach war Israel weniger als mehrheitlich jüdischer, sondern vielmehr als binational jüdisch-arabischer Staat konzipiert, wo jüdische Einwanderer gemeinsam mit etwa gleich vielen palästinensischen Einheimischen zusammenleben sollten. Diese UNO-Definition Israels als "jüdischer Staat" haben die Palästinenser längst anerkannt, sie bedeutet nicht die Aufgabe des Rückkehrrechts. Nur Israel weigert sich, seit 60 Jahren, sich selbst dementsprechend anzuerkennen.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Pulsierende Kunst- und Wunderkammern. "Zelluloid. Film ohne Kamera" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle
Sabine Matthes, artechock 19.08.2010,
www.artechock.de/film/text/artikel/2010/08_19_zelluloid.html

Mit der grandiosen Überblicksausstellung "Zelluloid. Film ohne Kamera" bietet die Schirn Kunsthalle Frankfurt noch bis zum 29. August 2010 ein seltenes und wahrhaft rauschartiges Vergnügen. Ein halluzinatorischer Trip, mit der Lichtgeschwindigkeit des Traums, der Sterne und des Planktons, durch einen Parcours filmischer Kunst- und Wunderkammern, im pulsierenden Beat explodierender Formen, Farben und Klänge. 28 Filme, mit einer Länge von 30 Sekunden bis 12 Minuten, das sind etwa 160 000 Einzelbilder, von den Anfängen des "direct film" oder kameralosen Films in den 1930er Jahren bis heute, geben Einblick in die Alchimistenküche von 21 internationalen Künstlern und Filmemachern wie Len Lye, Norman McLaren, Harry Smith, Hy Hirsh, Stan Brakhage, Tony Conrad, Aldo Tambellini, José Antonio Sistiaga, Jennifer Reeves, Bärbel Neubauer, Jennifer West oder "Schmelzdahin". Anstatt die Aussenwelt mit der Kamera einzufangen, wird bei dieser Form des Experimentalfilms der Filmstreifen selbst, das Zelluloid, zur Leinwand. Er wird handwerklich bearbeitet mit Tusche, Farbe, Stempeln und Schablonen, mit Kratzen, Ritzen, Kochen, Nähen oder Verbrennen, durch physikalische, chemische, bakteriologische Einwirkung verfremdet, collagiert, als "found footage" überarbeitet oder wie ein Fotogramm direkt belichtet. Diesen Filmen ist die DNS des Lebens eingehaucht, im Licht des Projektors beginnt ihr Puls zu schlagen. Sie sind neugierige Weltenbummler, mit wenig Geld und viel Zeit im Gepäck, übermütig, zauberhaft, grausam, geheimnisvoll und verletzlich – wie wir.

Der Film Black Is (1965) des Amerikaners Aldo Tambellini suggeriert ihm zufolge "Samen schwarz, Samen schwarz, Sperma schwarz, Sperma schwarz" und wird vom pochenden Ton eines menschlichen Herzens begleitet. Ein Schlachtfeld organischer Formen unterm Mikroskop, aufgepeitscht von tachistischen Pinselhieben. Tambellini hat als Jugendlicher in Italien knapp den Bombenhorror des 2.Weltkriegs überlebt und in den 60er Jahren im New Yorker East Village ein Avantgarde- und Underground-Kino in einer ehemaligen Kirche eröffnet, wo unter anderem Filme von Brakhage, Bruce Conner und seine eigenen liefen. Mit Otto Piene gründete er 1967 das Black Gate Theatre, ein "Electromedia"-Kino für experimentelle Medien, Performance und Installationen. Bei live-Aufführungen wurden seine Filme und bemalten Dias auch auf die Körper auftretender Künstler oder aufblasbare Leinwände projiziert, sie entmaterialisierten den Raum und lösten eine sinnliche Desorientierung beim Betrachter aus. Black Is war der erste in seiner Serie von sieben experimentellen "Black Films", die von 1965-1968 als eine Sinneserforschung des Mediums entstanden und von völliger Abstraktion über footage vom Mord an Bobby Kennedy und dem Vietnam Krieg zu schwarzen Teenagern in Coney Island reichen. Seine Obsession für Schwarz erklärt Tambellini so: "Schwarz ist der Zustand des Blindseins und erhöhter Aufmerksamkeit. Schwarz ist das Einssein mit der Geburt. Schwarz ist eins mit der Ganzheit, die Einheit allen Seins. Schwarz ist die Ausdehnung des Bewusstseins in alle Richtungen."

Während für Tambellini die billige Herstellungstechnik des "direct film" auch eine Art Gegenbewegung zu Hollywood darstellte, war sie bei dem neuseeländischen Künstler Len Lye aus purer Not geboren: er konnte sich keine Kamera leisten. Zum Glück. So entdeckte Lye 1934/35, dass er Filme direkt auf das Zelluloid zeichnen konnte und sein, als Teil einer Reihe von Auftragsarbeiten für die Britische Post produzierter, Film A Colour Box (1935) wurde zum Gründungswerk des "handpainted film". Erstaunlich zeitlos, wie alle "direct films", hat er sich seinen draufgängerischen Charme bewahrt und tanzt mit unvermindertem Schwung ein abstraktes Ballett farbiger Formen zum Rhythmus einer kubanischen Band. Lye stand dem Surrealismus nahe und war geprägt von seinen frühen Studien der Kunst der Maori, der Tanzrituale Polynesiens und der australischen Aborigines. Er liebte gerade das Rohe, die Imperfektion und die rastlose Energie der handgemalten Figuren als perfekte Entsprechung zur Vitalität des Jazz. Als er 1944 von London nach New York zog, trug er zu einem Aufschwung experimentellen Filmschaffens in den USA bei, lernte die Künstler des Abstarkten Expressionismus kennen, deren Arbeiten er sich verwandt fühlte, und zeigte seine Filme auf ihren Parties. Als Pionier von filmischen Animationstechniken und kinetischen Skulpturen wollte Lye eine neue Kunst mit "reinen Figuren der Bewegung" entwickeln, dem sein Film Free Radicals (1958/1979) am nächsten kommt. Um sich auf die wichtigsten Elemente, Licht und Bewegung, zu konzentrieren, gab er die Farbe auf und entwickelte neue Symbole von "Energie", die er mit unterschiedlichsten Instrumenten wie alten indianischen Pfeilspitzen und modernen Zahnarztgeräten auf den schwarzen Film kratzte. So sieht man weisse Linien wie übergeschnappte Herzrhythmuskurven oszillieren, als würden geometrische afrikanische Stoffmuster vom Trommelwirbel des Bagirmi Stammes zum ekstatischen Tanz in der 3.Dimension aufgefordert. Für Len Lye waren Animationsfilmer "freie Radikale" mit einem perfekten Medium für Experimente.

Auch der Schotte Norman McLaren, die zweite wichtige Figur, die zur Etablierung des kameralosen Films wesentlich beitrug, hatte für die angesehene experimentelle Filmabteilung der Britischen Post in London gearbeitet. Er war von Len Lyes A Colour Box tief beeindruckt und mit ihm befreundet. McLaren wurde Filmemacher, weil er nicht Tänzer oder Choreograf werden konnte und sah in Lyes Film eine auf Zelluloid gemalte "Choreografie". Er experimentierte auch mit der Erzeugung von Tönen durch das Zeichnen auf die optische Tonspur und erstellte eine Kartei grafischer Klänge. Der Film Dots (1940) wirkt wie ein harmloser Kinderspass, ein Ping Pong blauer Punkte und Amöben zwischen Leinwand und Betrachter. Er birgt aber das Geheimnis der Sogwirkung von Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey in sich, eine Technik, die McLaren bereits in den 30er Jahren entwickelt hatte.

Die hypnotische Erfahrung des Versinkens in einem vibrierenden Kosmos fluoreszierender Lichtstaubwolken macht man auch in dem Film Impresiones en la alta atmósfera (1988/89) des baskischen Malers José Antonio Sistiaga. Er hatte Ende der 50er Jahre in Paris einen Animationsfilm von Norman McLaren gesehen, ein prägendes Erlebnis. Sistiagas Film beweist, dass es allein durch Malerei möglich ist, ausgehend von einem Kreis als Symbol für die Erde mit Aureole, durch das gesamte Universum zu reisen. 10.080 minutiös mit farbiger Tinte gezeichnete Einzelbilder im 70-mm-Format fügen sich in der filmischen Projektion zu einem glühenden Tableau rasenden Stillstands. Am Ende geht das Dröhnen des Weltalls in einen Schrei über, ein Schrei, mit dem baskische Schäfer das Wiehern eines Pferdes imitieren. Damit implodiert die kosmische Leuchtkraft und Ordnung und katapultiert uns abrupt in die nackte Realität zurück. Dies ist Sistiagas zweiter gemalter Film, sein erster, fast 20 Jahre früher, hat Spielfilmlänge und kann auch als Gemälde mit über einem Kilometer Länge angesehen werden.

Das Echo von Sistiagas kosmischem Urschrei ist verstummt in den farbenprächtigen Omeganebeln des amerikanischen Filmemachers Stan Brakhage. Mit seinen über 400 experimentellen Filmen gilt Brakhage als poetisch philosophischer Meister eines abstrakt expressionistischen Kinos. Sieben Jahre Arbeit stecken in dem neun-minütigen Stummfilm The Dante Quartet (1987), der ursprünglich in kathedralenartigen Dimensionen gedacht war. Brakhages lebenslange Faszination für Dantes "Göttliche Komödie" mischt sich hier mit der persönlichen Erfahrung einer Lebenskrise. Durch die Hölle und daraus empor zu einer Art göttlichem Zustand, der mit einem Rilke Zitat als "existence is song" beschrieben wird. In der dunklen Nacht der Seele kämpfen fiebrig schöne Farben um Momente der Erleuchtung. Brakhage scheint den Filmstreifen mit dem Furor eines Jackson Pollock und dem Destillat aus Strahlkraft und Wahnsinn von Coppolas Apocalypse Now bearbeitet zu haben. Wie häufig in seinen Filmen zoomen die Bilder gleichzeitig in ein subjektives inneres und äusseres Universum. Ursprünglich begann Brakhage auf Film zu malen, um Bilder zu finden, wie sie sich auf der inneren Leinwand des geschlossenen Auges abspielen, "because there was no way I could get the camera inside my head". Durch die ständige Metamorphose ihrer Formen sensibilisieren sie uns für eine Fülle subjektiver Interpretationen und lassen gleichzeitig eine Beckett-artige Leere und Vergeblichkeit erahnen. Später wollte Brakhage Filme machen, "that are, in the ordinary sense of the word, about nothing". Filme, an die man sich nicht erinnert, weil sie in einer Sphäre jenseits des Verbalen existieren und vollkommen dem Unbewussten übergeben werden. Filme, die inspirieren ohne zu manipulieren, bei denen durch die Erfahrung des Nichts die inneren Sinne geschärft werden und das Bedürfnis weiterzuleben – so, wie Brakhage es selbst angesichts der Marc Rothko Bilder in der Rothko Chapel erlebt hatte.

Wie John Cage durch die Stille zu intensiverem Hören auffordert, so erweitert Stan Brakhage unseren Erfahrungsraum der Imagination. In Mothlight (1963), einem Klassiker des Experimentalfilms, tanzt ein zitterndes Ballett reanimierter Mottenflügel zur unhörbaren Melodie einer Bachfuge. Die lichtdurchflutete Collage osziliert in ihrer kraftvollen Intensität und fragilen Schönheit zwischen Leben und Tod.

Brakhage machte die meissten seiner Filme ohne Ton, um nicht von ihrem visuellen Rhythmus abzulenken. Trotzdem sah er sie als reine "Musik für die Augen" in einer Tradition der visuellen Musik. Viele Arbeiten des abstrakten Films, vom absoluten Film der 1920er Jahre bis zu den psychedelischen Filmen der 1960er und 1970er Jahre, zeichnen sich durch die synästhetische Wirkung von musikalischen Elementen und bewegten Bildern aus, eine Vorstellung wie sie Wassily Kandinsky vertrat. Geprägt von dessen Theorien und Werk war auch der amerikanische Musik-Ethnologe, Anthropologe, Sammler, Künstler, Okkultist und Exzentriker Harry Smith, einer der schillerndsten Protagonisten des Experimentalfilms. Seine Eltern waren Theosophen, die ihn mit pantheistischen Ideen vertraut machten, seine Mutter unterrichtete im Lummi Indianer Reservat, deren Gesänge und Rituale Smith aufzeichnete. In San Francisco gehörte er zu den Avantgarde Filmemachern der Bay Area, zog nach New York, gab eine "Anthology of American Folk Music" heraus, war mit Jazz Pionieren wie Charlie Parker befreundet und den Beat Poeten um Allen Ginsberg, lebte bei Native Americans und starb mit knapp 70 Jahren singend in den Armen einer Freundin im legendären Chelsea Hotel. Seine extravagant abstrakten Animationsfilme sind kleine mystisch-surreale Zaubermaschinen, sie sind das "alchemistische Schmelzgut" (William Moritz) seiner schwindelerregenden Vielfalt an Interessen. Smith konnte, um seinem Zuhörer die zugrundeliegende Verbindung und Wechselbeziehung allen Seins zu erklären, in einer Kette freier Assoziationen, in ausführlichster Länge und Tiefe, vom Makro- zum Mikrokosmos gelangen, von Bioelektromagnetik, Elektrophysiologie zum geomagnetischen Feld und der Psyche, Musikologie und Molekularphysik, Parapsychologie und Tarot, bis zur Sammlung seiner 30.000 ukrainischen Ostereier und seminolischen Textilien. "Early Abstractions No.3 (Interwoven)" (1947-1949) gleicht einer gebatikten Animation pulsierender Kandinsky Formen zur Musik der Beatles. Durch ihren hypnotischen Effekt, die Korrespondenz von mystisch inspirierter Malerei, Musik und Bewegung, und durch Smiths eigene Drogenerfahrung, sind seine Filme Vorboten und Ausdruck einer körperlichen, sinnenübergreifenden psychedelischen Erfahrungswelt der 60er Jahre. "Handgemalte Animation unanständiger Formen – der Verlauf der erdgeschichtlichen Entwicklung reduziert auf Orgasmuslänge" – wie Smith selbst es beschrieb. Noch wichtiger als die akribische, teils jahrelange Bearbeitung der Filme, war ihre Performance. Mit dem live-Auftritt von Bands, stroboskopischen Effekten, magischen Laternen, Mehrfachprojektionen seiner kabbalistisch inspirierten Bilder um die Filme herum, explodierten sie zum Leben. Laut Kenneth Anger war Harry Smith "der grösste lebende Magier".

Auch der Fotograf und Filmemacher Hy Hirsh, der ebenfalls aus der Underground Film Bewegung der Jazz-Beat Szene San Franciscos kam und mit Harry Smith kooperiert hatte, fasste seine Filmvorführungen als Happenings auf. Die fröhlich aufgeregte Energie von Zirkus und Jahrmarkt, die vielen der "direct films" eigen ist, strahlt sein Film Scratch Pad (1960) am schönsten aus. Er reisst uns mit wie eine visuelle Achterbahnfahrt durch den Farbrausch eines nächtlichen Lunaparks. Ein kaleidoskopisches Dreamland, Explosionen pulsierender, leuchtender Linien und Punkte, Graffitis die alle möglichen artistischen und clownesken Kunststückchen aufführen, sich zu Leitern und Überlandleitungen formieren und mit einem uniformierten Äffchen Leierkasten spielen.

Der strahlende kalifornische Optimismus dieses Feuerwerks verwandelt sich bei Stadt in Flammen (1984) des deutschen Künstlerkollektivs Schmelzdahin zu einem morbide flimmernden Farbenspiel, zum zerstörerischen Lodern von Feuer. Der französische Film Ville en flamme wurde dafür einen Sommer lang im Garten unter Laub begraben. Natürlicher Zerfall, Bakterien und die Hitze der Projektorlampe zerfrassen Emulsion und Gesichter, sie zucken im Rhythmus einer sich auf den Brustkorb hämmernden Faust, die im letzten Bild verstummt. In Bärbel Neubauers Fotogrammfilm Feuerhaus (1998) wird man mit einem von ihr komponierten Techno Beat wie ein Hase mit Nachtsichtgerät durchs nächtliche Unterholz gejagt, illuminiert von balzenden Glühwürmchen. Die Technik dazu hatte Man Ray, ein weiterer wichtiger Pionier des kameralosen Films, bereits in seinem ersten Filmexperiment Le Retour à la Raison (1923) mit den Mitteln des Rayogramms erprobt. Er würzte den Filmstreifen mit Salz und Pfeffer, Stecknadeln und Reißnägeln, und belichtete ihn direkt, was in der Projektion zu einem stakkatoartigen dadaistisch-surrealistischen Formentanz führt.

In der filmischen Suppenküche der jungen Amerikanerin Jennifer West geht es noch wilder zu. Ihre kameralosen Arbeiten begannen damit, dass sie Teilstücke eines Films, den sie über zehn Jahre im Kühlschrank hatte, ihren Freunden gab, damit sie den Film in einem Gebräu ihrer Wahl "marinierten". Die Titel ihrer tonlosen Filme, wie Marinated Film – the roll of 16 mm I had in the fridge for over ten years (16 mm film negative marinated for several months in: Absinthe & XTC, Pepsi & Poprocks, Jim Shaw`s Urine, Red Wine, Coffee & Detox Tea, Aphrodisiacs) (2005), erklären den performativen Akt der Herstellung und erzeugen einen starken synästhetischen Effekt. Wir sehen, schmecken und riechen die Geschichte der Filme. Ihren Jam Licking Sledgehammered Film (2008) beschreibt sie als "wie ein durch Lecken entstandener Sonnenuntergang." In der Fluxus Manier von Ben Pattersons "Lick Piece" lecken Menschen, mit freiem Oberkörper oder BH, gemeinsam Marmelade vom Filmstreifen. In ihrer ersten öffentlichen Performance Skate the Sky (2009) fuhr eine Gruppe von Skateboardern über die Filmstreifen auf der Rampe der Turbinenhalle der Tate Modern.

Durch die Pflichten der Kindererziehung ans Haus gebunden, hatte Tony Conrad, einer der wichtigsten Konzeptuell geprägten Künstler der amerikanischen Filmavantgarde, bereits Anfang der 70er Jahre die Kochkunst mit dem Filmprozess verbunden. In Curried 7302 (1973) werden durch das Mitkochen und Erhitzen des Zelluloids Kaskaden abstrakter Farbspiele freigesetzt. In dem Performance Film 7360 Sukiyaki (1973) werden die Menschen selbst zum "Pro-jektor" und werfen die in Tamari gekochten Film-, Fleisch- und Gemüsefetzen, in rohes Ei getunkt, direkt auf die Filmleinwand, als klebrig schimmerndes, tropfendes Bild. Auch die Dauer des Lebens wollte 1:1 abgebildet werden. Seine Yellow Movies (1972-1976) sind ein lebender Abdruck von Licht und Zeit, wo billige weiße Farbe sich auf einer Leinwand allmählich gelblich verfärbt – die langsamsten Filme der Welt, ohne Film, Kamera und Projektor. Tony Conrad war Anfang der 60er Jahre nach New York gekommen und gehörte mit La Monte Young und dem Theatre of Eternal Music zu den Mitbegründern der Minimal Music. Das bewußtseinsverändernde Potential ausgedehnter Zeitdauer, wie zuerst in John Cages "4´33´´" oder der Minimal Music, wurde auch von Theater und Film übernommen. Für Conrad ist es Ausdruck einer anti-autoritären, anti-bürgerlichen Gegenbewegung, wie Drogen, Meditation, Fluxus, Orientalismus und die Hippie Bewegung.

Im Gegensatz zu den Yellow Movies war Tony Conrads erster und bekanntester Film The Flicker (1965-66) wie ein Zeitraffer, ein Konzentrat aller jemals gemachten Filme, und zeigt: Kino ist "Trancetechnik" (Ute Holl). Für Conrad ist er eine Art perfekter Science Fiction, der einen nicht nur auf einen anderen Planeten transportiert, sondern in ein völlig abstrakt strukturiertes Parallel-Universum. Er zeigt 47 unterschiedliche Flimmermuster aus stroboskopartig pulsierenden schwarzen und weißen Filmbildern, angefangen bei einer hohen Frequenz von 24 Blitzen pro Sekunde bis zu niedrigeren Frequenzen zwischen 18 und 4 Blitzen pro Sekunde. Durch den Rhythmus kann der Betrachter eine kalkulierte Skala halluzinatorischer Farbeffekte erfahren. Conrad beschreibt, wie er anfangs Angst hatte, daß er damit den Leuten das Gehirn aus dem Kopf jagen würde und deswegen einen prominenten Psychoanalytiker konsultierte, einen ehemaligen Schüler von Freud, der im Ersten Weltkrieg selbst Kriegstraumata von Soldaten erfolgreich mit Flimmern behandelt hatte. Conrad wurde an die amerikanische Epilepsie Gesellschaft weiter verwiesen und sprach mit einem Arzt, der klinische Erfahrung hatte mit durch Flimmern herbeigeführten Anfällen, und der einigen Zulauf von Menschen bekam, die sich absichtlich Epilepsie wünschten, da sie sie als eine eher romantische Störung ansahen.

Vielleicht sind all diese Unberechenbarkeiten der Grund dafür, dass wir diesen Film leider nicht in der Ausstellung sehen. Oder, weil die ganze Ausstellung selbst wie ein einziger wilder Flicker wirkt. Von solch bizarrer Schönheit werden die Bilder sein, die von unserer Erde auf der Netzhaut von Insekten erhalten bleiben.

Bis 29. August, Schirn, Frankfurt/Main
Siehe auch http://www.jungewelt.de/2010/08-20/049.php


Leserbrief zu: Amos Oz:
"Tödliche Spirale – Solange Israel Gewalt mit Stärke verwechselt, wird der Konflikt andauern. Die Hamas ist so nicht zu besiegen."
FAZ vom 4.Juni 2010, Seite 33

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

In seinem Beitrag "Tödliche Spirale" plädiert der israelische Schriftsteller Amos Oz dafür, die "verzweifelte, fanatische Idee" der Hamas mit einer besseren "Idee, die attraktiver und akzeptabel ist" zu "besiegen", nämlich der Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates in Westbank, Gazastreifen und Ost-Jerusalem. Warum aber sollte die Idee von Homelands und Segregation in Israel/Palästina attraktiv sein, wo sie schon im früheren Apartheid-Südafrika nicht akzeptabel war? Oz behauptet auch, daß die israelische Politik erst seit 1967 gewalttätig wurde, wie der jetzige blutige Militäreinsatz gegen die Hilfsflotte für den Gazastreifen zeige, während führende Politiker der Gründergeneration noch die Grenzen der Gewalt eingehalten hätten. Dabei vergessen israelische Linke wie Oz und David Grossman allzu gerne, daß weniger die Rechten und Religiösen für den Status quo des Unfriedens verantwortlich sind, sondern besonders die linke Regierung unter David Ben Gurion ja bereits 1948 die Mehrheit der Palästinenser vertrieben, enteignet, entrechtet oder unter Militärregierung gestellt hatte. Damit waren die Weichen gestellt, Palästinenser nicht zu gleichberechtigten Mitbürgern zu machen, sondern zu äußeren Feinden.

Wenn diese "verzweifelte, fanatische Idee" des politischen Zionismus seitdem keinen Frieden brachte, könnte sie vielleicht durch eine bessere, gerechtere Idee, die eines anderen, kulturellen Zionismus "besiegt" werden. Deren Vertreter, wie Martin Buber, Judah Magnes und Hannah Arendt, waren aus Angst vor einem jüdischen Sparta gegen einen jüdischen Staat und stattdessen für einen gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Staat. Eine südafrikanische Lösung, die gerade heute angesichts der 500.000 israelischen Siedler in Westbank und Ost-Jerusalem immer aktueller wird.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


(Veröffentlichter) Leserbrief zu:
"Samsons Stärke war seine Schwäche", David Grossman erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2010
SZ vom 11.6.2010, Seite 13
und
"Literatur ist das Gegenteil von Krieg", Grossman im Salzburger Literaturhaus, SZ vom 12./13.6.2010, Seite 19

Sehr geehrte Redaktion Forum,

Der israelische Schriftsteller David Grossman erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2010, weil er sich "aktiv für die Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern einsetzt". Was aber bedeutet "Aussöhnung" für ihn, wenn Palästinenser in seinen literarischen und politischen Visionen nur in homöopathischer Dosierung vorkommen, wenn die Flüchtlinge von 1948 nicht mehr an ihre Heimatorte in Israel zurück dürfen, wenn das Israel, in dem Grossman leben will, eine starke Armee braucht, weil es Palästinenser lieber als äußere Feinde denn als gleichberechtigte Mitbürger hat? "Aussöhnung" scheint für Grossman nur unter der Bedingung der Ausgrenzung, der Abwesenheit der Palästinenser möglich, denn, wie er sagt, erst durch eine Grenze zu ihnen "werden wir erstmals das Gefühl haben, wirklich zu Hause zu sein." Klingt das nicht eher wie ein verspätetes Echo der weissen Siedler aus längst vergangenen Apartheidszeiten in Südafrika?

Mit diesem Denken repräsentiert Grossman keineswegs eine marginale "friedensbewegte" Außenseiterposition, sondern vielmehr den Kern des politischen Zionismus, wie er seit 1948 israelische Staatsraison ist. Obwohl israelische Linke wie Grossman und Amos Oz gerne die Rechten und Religiösen für den Unfrieden verantwortlich machen, waren es gerade die linken Regierungen unter dem israelischen Gründervater David Ben Gurion, die mit Gewalt und per Gesetzen das Land von seiner palästinensischen Bevölkerung säuberten und damit den heutigen Status quo prägten.

Wer um echte Aussöhnung bemüht ist, findet seine Vorbilder besser unter den Vertretern eines anderen, kulturellen Zionismus im Sinne von Martin Buber, Judah Magnes und Hannah Arendt, die aus Angst vor einem jüdischen Sparta gegen einen jüdischen Staat waren, und stattdessen für einen gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Staat. Eine südafrikanische Lösung, die gerade heute angesichts der 500.000 israelischen Siedler in Westbank und Ost Jerusalem immer wahrscheinlicher wird. Grossmans Beharren auf Segregation und einer Zwei-Staaten-Lösung hört sich da weniger "friedensbewegt" an, sondern eher nach verzweifeltem Anachronismus.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


(Veröffentlichter) Leserbrief zu: Bayernteil: "Weiß-blau, grau"
SZ vom 7.5.2010, Seite 51

Sehr geehrte Redaktion Bayern,

Bei einer bundesweiten Studie war unter anderen besonders den Bayern ein gehöriges Maß an Chauvinismus und Xenophobie attestiert worden. Dies scheint der Hauptgrund zu sein, weswegen Politiker ihren Wählern nicht die dringend notwendige Antwort auf das demographische Problem der Überalterung "zumuten" wollen: Zuwanderung, Zuwanderung, Zuwanderung. Legalisierung der Menschen ohne Papiere, erleichterte Arbeitsbedingungen für Flüchtlinge, Immigranten und ausländische Studenten, eine greencard-lottery nach amerikanischem Vorbild mit Aufstiegschancen auch für Ungelernte. Denn nicht nur Senioren würden sich über lächelnde Inderinnen beim Einkaufstüten-Einpacken und -Heimtragen oder am Fahrkartenschalter sicher mehr freuen, als über den vermeindlichen "Fortschritt" einer führerlosen U-Bahn in Nürnberg.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München

2009
(Veröffentlichter) Leserbrief zu: "Historiker Pappe beklagt Redeverbot",
SZ vom 18.11.2009, Seite 37

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Wenn der israelische Historiker Ilan Pappe über die Vertreibung, Enteignung und Entrechtung der Palästinenser spricht,so tut er dies auch als Friedensaktivist, der seine Heimat liebt und deswegen für eine harmonischere, gleichberechtigte und gemeinsame jüdisch-palästinensische Zukunft plädiert. Dass die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) solch ein Anliegen als "antiisraelische Propagandaveranstaltung" diskreditiert ist absurd. Dass die Stadt München dieser Einschätzung blind Folge leistet und Ilan Pappe Redeverbot in ihrem bereits zugesagten städtischen Raum erteilt, ist dumm und provinziell und verstärkt den Eindruck, dass es eine "einflussreiche Israel-Lobby" gibt. Womit die DIG ein Eigentor geschossen hat. Ilan Pappe zeigte sich in einem offenen Brief an Oberbürgermeister Christian Ude nicht nur geschockt über die Missachtung seiner persönlichen Redefreiheit, wie sie ihm sonst überall in Europa gewährt wird, sondern auch über den gegenwärtigen Zustand der Demokratie in Deutschland. Rupert Neudeck schrieb eine Protestnote an Ude, die von knapp 200 Mitunterzeichnern unterstützt wurde. Der blamable Fall wurde international bekannt.

Wie jede Lobby-Gruppe hat die DIG natürlich das Recht, ihr Anliegen zu propagieren. Aber sollte sie nicht ein Israel repräsentieren, wie es durch die Aufnahme als UNO-Mitgliedsstaat am 11.Mai 1949 durch UNO-Resolution 273 definiert wurde, nämlich unter Annahme der massgeblichen UNO-Resolutionen 181 (Teilung in den Grenzen von 1947) und 194 (Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge)? Oder sollte sie, wenn sie schon ihren Sitz in Berlin in der Martin-Buber-Strasse hat, nicht vielmehr dessen Geist vertreten? Wie Ilan Pappe war Buber moralischen jüdisch-humanistischen Werten verpflichtet, gegen deren Verrat durch inhumane Akte der israelischen Regierung gegenüber den Arabern er sich wehrte. Der Horror des Massakers von Deir Yassin im April 1948 trieb Martin Buber um, dass er sich auch zehn Jahre später noch in einer Rede "selbst schuldig fühlte" wegen dieses "Verbrechens von Juden gegen den Geist." In einer Debatte mit David Ben-Gurion sprach er 1949 von den arabischen Flüchtlingen als einer moralischen Frage für Israel und widersprach 1961 Ben-Gurions rigoroser Ablehnung einer Rückkehr der Flüchtlinge mit einem offenen Brief im Namen der Ichud Gesellschaft, in dem er das Recht auf freie Wohnort-Wahl der Flüchtlinge gemäss entsprechender UNO-Beschlüsse und der Erklärung der Menschenrechte betonte. In seinem Protest gegen die Legalisierung von massenhaften Enteignungen arabischen Landes innerhalb Israels schrieb Buber 1953: "Wir verstehen nicht, warum laut Presseberichten kaum ein einziges jüdisches Knesset Mitglied seine Stimme erhoben hat gegen ein Gesetz, das Verordnungen und Handlungen den Stempel der Legalität geben soll, die er als schwerwiegendes Unrecht ansehen würde, wenn sie gegen ihn selbst gerichtet wären oder gegen jüdisches Eigentum." Ilan Pappe erhebt seine Stimme heute, wie Martin Buber es damals getan hat. Ob auch Buber dafür heute Redeverbot erhalten würde?

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: "Endlich was Großes erleben"
Chrismon Nr.11/2009

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,
liest man Ihren Artikel über die Deutsch-Russin Lena, die von Sibirien nach Deutschland zog, und den erklärenden Schaukasten zum Thema "Deutsche Volkszugehörige", erschrickt man, wie sehr das deutsche Selbstverständnis, im Gegensatz zur USA, immer noch durch eine antiquierte, aus düstersten Zeiten übernommene, Blut- und Boden-Ideologie geprägt ist. Warum werden einerseits Flüchtlinge mit dem Argument "Das Boot ist voll" abgewehrt, andererseits können 2,5 Millionen "Deutschstämmige" aus der ehemaligen Sowjetunion, Polen oder Rumänien einreisen? Wieso finanziert und fördert die Bundesregierung deutsche Medien und Ausbildung von deutschen Minderheiten im östlichen Europa, die sich dort anscheinend seit Generationen einer Integration verweigern, während sie von hiesigen Migranten totale Anpassung verlangt? "Staatlich sanktionierten Rassismus" diagnostiziert der deutsch-jordanische Autor und Theaterregieseur Hartmut El Kurdi für solches Verhalten: "Ein Staatsangehörigkeitsrecht wie das deutsche, das sich immer noch nicht vom jus sanguinis, dem "Recht des Blutes", verabschiedet hat, ist mit nichts anderem zu erklären als mit Rassismus: Deutsch ist, wer deutschen Blutes ist. Jenseits davon gibt es nur Ausnahmeregelungen und Gnadenbeweise."

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu Johannes Ludewig: "Weniger Bürokratie"
SZ vom 10./11.10.2009, Seite 24

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Sehr zu Recht wirbt Johannes Ludewig für den Bürokratieabbau in Deutschland als "ein echtes Konjunkturprogramm zum Nulltarif". Nicht nur deutsche Unternehmen könnten dadurch "jährlich etwa 50 Milliarden Euro" einsparen, sondern jedes Individuum wäre auch freier, Zeit und Phantasie sinnvoller zu nutzen. Allerdings ist zu befürchten, dass bei einem Volk wie dem deutschen, das sich in der Komplexität "patentgefalteter" Falk-Stadtpläne zu Hause fühlt, der Hang zu Bürokratie und Obrigkeitshörigkeit womöglich eher genetisch verankert ist, als staatlich verordnet, und damit wesentlich schwerer auszumerzen. Vorbildlich bürokratie-resistente Länder wie die USA oder England sind von ihrem Selbstverständnis bereits anarchistischer und exzentrischer, wodurch Aussenseiter, Migranten oder Erfinder bessere Chancen zur Selbstverwirklichung haben, was ebenfalls zum volkswirtschaftlichen Nutzen für alle ist.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


(Veröffentlichter) Leserbrief zu: Heribert Prantl "Der Held von Solln"
SZ vom 19./20.9.2009, Seite 4

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Wenn die umstehenden Zeugen Dominik Brunner am S-Bahnhof München-Solln gemeinsam ebenso beherzt geholfen hätten, wie er selbst allein sich schützend vor die Kinder gestellt hat, dann wäre er wohl noch am Leben. Schuld am häufigen Nichteinschreiten auch in ungefährlicheren Situationen trägt auch das staatlich geförderte Prinzip der Entmündigung, mit dem gerade die deutsche Verordnungswut vorsätzlich Kreativität und Eigenverantwortung der Bürger so weit kastriert, bis dann eben auch in Notfällen der natürliche Helferinstinkt höchstens noch zum Polizeinotruf taugt. Diese mutwillig anerzogene soziale Kälte und Gleichgültigkeit ist erschreckend und wiegt die Tatsache auf, dass München "zu den sichersten Grosstädten Europas" gehört. Bei meinen Aufenthalten in New York wurde ich zwar überfallen, konnte mir aber der Hilfe anderer sicher sein, weil die Menschen selbst dort das Engagement füreinander ergreifen, was ihnen hier der Staat abnimmt. Diese selbstverständliche "kindness of strangers" scheint als eine Form der Nächstenliebe aber die Voraussetzung für Gemeinsinn und Zivilcourage zu sein, die hier leider allzu oft fehlt.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu der Außenansicht von Abdallah Frangi: "Der Bluff des Benjamin Netanjahu"
SZ vom 20./21.6.2009, Seite 2

Sehr geehrte Redaktion Forum,

In seiner Außenansicht "Der Bluff des Benjamin Netanjahu" warnt Abdallah Frangi, nicht auf Netanjahu`s plötzliches Bekenntnis zu einer Zweistaatenlösung reinzufallen. Mit der rhetorischen Mogelpackung "Zweistaatenlösung" will aber nicht nur Netanjahu "bluffen", um die israelische Variante jener Apartheid- und Homeland-Politik besser verkaufen zu können, die die Weltgemeinschaft im ehemaligen Südafrika boykottiert hatte, sondern alle anderen israelischen Führer vor ihm ebenso. Anstatt Netanjahu`s anfänglich offene Absage an die "Zweistaatenlösung" als Provokation zu verurteilen, hätte die palästinensische Führung diese erfrischende Ehrlichkeit konstruktiv als Chance für einen dringend erforderlichen Strategiewechsel nutzen können: den nationalen Befreiungskampf als gescheitert erklären und neu definieren als einen Kampf für gleiche Rechte in einem gemeinsamen Staat – so, wie ihn die Schwarzen in den USA und Südafrika erfolgreich geführt haben.

Frangi, selbst aus einer Flüchtlingsfamilie, gehört dem Zentralkomitee der Fatah an und leitet deren außenpolitische Abteilung in Ramallah. Obwohl er in seinem Artikel die israelische Prämisse eines mehrheitlich "jüdischen Staates" scheinbar kritisiert, unterwirft er sich dieser, da er der Mehrheit der palästinensischen Flüchtlinge ihr Rückkehrrecht abspricht. Damit geht er hinter die Forderungen der UNO zurück, was schlimmer ist als "Bluff", nämlich "Verrat" an der eigenen Sache. Durch UNO-Resolution 273 war Israel am 11.Mai 1949 als UNO-Mitgliedstaat aufgenommen worden, unter der Annahme, UNO-Resolution 181 (den Teilungsplan mit den Grenzen von 1947 – nicht 1967!) und UNO-Resolution 194 (das Rückkehrrecht der Flüchtlinge) umzusetzen – was bis heute nicht geschehen ist. Um ein Signal der Hoffnung auszusenden fehlt es also nicht nur an einem israelischen de Klerk, sondern leider auch an einem palästinensischen Mandela.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Veröffentlichter Leserbrief zu: Susanne Petersen: "Zaungäste mit wachsamem Blick – Israel, Palästina und der große Zaun:
Aus dem Alltag eines Friedensaktivisten",

Sonntagsblatt Nr.11, 2009 Seite 4

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Susanne Petersens interessanter Zeugenbericht von Friedensaktivisten des "Ökumenischen Begleitprogramms in Palästina und Israel" über die Demütigungen und Rechtlosigkeit, denen die Palästinenser im Westjordanland ausgesetzt sind, bestätigt das Urteil von Erzbischof Desmond Tutu: "Meine Besuche im Heiligen Land erinnern mich so sehr an Südafrika: Die Apartheid ist zurückgekehrt – samt Mauer und Bantustans." Deswegen haben der Afrikanische Nationalkongreß (ANC), der Südafrikanische Rat der Kirchen und etliche andere südafrikanische Organisationen und Intellektuelle zum 60.Jahrestag der Staatsgründung Israels in einem Aufruf erklärt:

"Wir haben gegen die Apartheid gekämpft; wir sehen keinen Grund, sie heute in Israel zu feiern! ... Wenn wir an das Sharpeville-Massaker von 1960 denken, denken wir auch an das Deir Yassin-Massaker von 1948. Wenn wir an Südafrikas Bantustan Politik denken, denken wir an die Bantustanisierung Palästinas durch die Israelis. Wenn wir an unsere Helden denken, die auf Robben Island und anderswo dahinsiechten, denken wir an die 11.000 palästinensischen politischen Häftlinge in israelischen Gefängnissen. Wenn wir an das viele Land denken, das dem südafrikanischen Volk geraubt wurde, denken wir daran, daß der Raub palästinensischen Landes mit dem Bau illegaler israelischer Siedlungen und der Apartheid-Mauer weitergeht. Wenn wir an den Group Areas Act und andere Apartheidgesetze denken, denken wir daran, daß 93 Prozent des Landes in Israel ausschließlich jüdischer Nutzung vorbehalten ist. Wenn wir an die systematische Enteignung von Schwarzen in Südafrika denken, denken wir daran, daß Israel mit ethnischer und rassischer Enteignung das Leben für die Palästinenser unerträglich macht. Wenn wir daran denken, wie die Truppen der Südafrikanischen Armee (SADF) unser Volk in den Townships verfolgten, denken wir an die Angriffe mit Panzern, Kampfflugzeugen und Kampfhubschraubern, denen die Palästinenser in den besetzten Gebieten täglich ausgeliefert sind ... Wir, die gegen Apartheid gekämpft und uns geschworen haben, sie nie wieder zuzulassen, können Israel nicht erlauben, weiterhin Apartheid, Kolonialismus und Besatzung gegen die einheimische Bevölkerung Palästinas zu verüben."

Warum also verpflichtet das Ökumenische Begleitprogramm seine Freiwilligen "strikt zur Unparteilichkeit", wenn sie doch zu einer "Lösung" des Konflikts beitragen wollen? Allein mit "Zuschauen und Zuhören" wäre den Schwarzen in Apartheid-Südafrika wenig geholfen gewesen – es brauchte politischen Druck durch Boykotte und Sanktionen.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: Bischof Dr. Wolfgang Huber.
"Naher Osten – Palästinenser und Israelis brauchen Führer mit dem Mut zum Frieden. Und viele Dolmetscher der Versöhnung",

Chrismon 03.2009, Seite 10

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Eindrücklich beschreibt Bischof Dr.Wolfgang Huber den wunderbaren Klang des Friedenswillens, der sich durch das gemeinsame Spiel von israelischen, palästinensischen und anderen arabischen Musikern des "West-Eastern Divan Orchestra" ausdrückt. Ich habe diesselbe Euphorie des grenzenüberspringenden Miteinander erleben dürfen bei drei Konferenzen in Lausanne, Madrid und London, die sich politisch mit dem Thema eines gemeinsamen Staates Israel/Palästina befassten. Konstruktiv wurden dort von jüdischen und palästinensischen Intellektuellen, auch anhand positiver Vorbilder wie Südafrika oder Nordirland, Schritte zu dieser Lösung erörtert. Ganz im Sinne von Edward Said, der nicht nur für ein gemeinsames Orchester, sondern immer auch für einen gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Staat plädiert hatte – ebenso wie Martin Buber oder Hannah Arendt.

Knapp eine halbe Million jüdischer Siedler in der Westbank und Ost-Jerusalem, und über vier Millionen palästinensische Flüchtlinge mit einem Rückkehrrecht nach Israel machen eine Trennung unmöglich. Ausserdem, wer im ehemaligen Apartheid-Südafrika gegen eine Politik der Rassentrennung und Bantustans war, sollte in Israel/Palästina ebenso dagegen sein. Deswegen wundert mich, warum Bischof Dr.Huber die Schönheit und friedliche Harmonie des "gemeinsamen Klangraums" dann doch in zwei ethnisch-religiös getrennte "Orchester", beziehungsweise "Staaten", auseinanderreissen möchte – vor allem, wenn man auf den Landkarten sieht, dass Israel den Palästinensern keinen Platz für einen zusammenhängenden Staat, sondern de facto nur für ein paar Bantustans lässt?

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: Thorsten Schmitz: "Stillstand in Israel"
SZ vom 20.2.2009, Seite 4

Sehr geehrte Redaktion Forum,

In seinem Kommentar "Stillstand in Israel" prognostiziert Thorsten Schmitz einen Stillstand des Nahost-Friedensprozesses und macht dafür den "Rechtsruck" bei den Wahlen in Israel verantwortlich. Damit bestärkt er den hartnäckig sich haltenden Mythos, dass die "friedens-freundlichen" linken Regierungen regelmäßig an der Verwirklichung ihrer vermeintlich großzügigen Avancen gehindert würden, einzig durch die Schuld der "friedens-feindlichen" rechten und religiösen Regierungen – oder der Palästinenser. Dabei wird vergessen, dass zum Beispiel das Transfer-Konzept des heute als "extremistisch" kritisierten Koalitionspartners Avigdor Lieberman keine Erfindung der Rechten ist, sondern vielmehr unter der linken Regierung des israelischen Gründervaters David Ben Gurion praktiziert worden ist. Es waren linke Regierungen, die den Status quo geprägt haben, unter denen die Mehrheit der Palästinenser bereits vertrieben, enteignet und entrechtet war, unter Militärregierung gestellt oder besetzt wurde, bevor überhaupt die rechten zur Macht kamen. Dass sie trotz dieser Verbrechen eine Reputation als "Friedensmacher" haben, kann nur an ihrer blendenden Rhetorik liegen, die die unverblümte Ehrlichkeit der Rechten bedrohlicher erscheinen lässt.

So gesehen kommt Netanjahus klare Absage an die Zwei-Staaten-Lösung eher einer befreienden Entzauberung des in der Sackgasse steckenden Friedensprozesses gleich und könnte neue Wege eröffnen. In seinem Artikel "Can Mitchell turn Jerusalem into Belfast?" beschreibt der palästinensisch-amerikanische Autor Ali Abunimah wie das 1998 zustande gekommene Friedensabkommen von Belfast als wichtiger Präzedenzfall für Israel/Palästina dienen könnte. Eine gemeinsame Regierung der ehemaligen hardliner und Feinde, der nationalistischen Sinn-Fein-Partei und der protestantischen Democratic Unionist Party, schien damals so undenkbar, wie heute eine gemeinsame Regierung von Hamas und Likud. Dieses gleichberechtigte demokratische Regierungssystem beendete die formale protestantische Vorherrschaft und den jahrzehntelangen blutigen Konflikt in Nordirland. Damals war George Mitchell der von Bill Clinton beauftragte, erfolgreiche, Friedensmakler. Wenn Mitchell, jetzt als Barack Obamas Nahost-Beauftragter, die in Nordirland gelernten Lektionen anwenden dürfte, könnte es einen Weg aus der Sackgasse geben.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München

2008
(Gedruckter) Leserbrief zu: Tomas Avenarius: "Annapolis ist tot.
Der künftige US-Präsident muss ein neues Konzept vorlegen, um den Nahost-Konflikt zu lösen"
SZ vom 11.11.2008, Seite 4

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Zu Recht schreibt Tomas Avenarius, dass der künftige US-Präsident Barack Obama einen neuen Ansatz zur Lösung des Nahost-Konflikts finden muss, anstatt Annapolis fortzuführen. Alle israelischen Regierungen haben seit 1967 durch ihre fortgesetzte Besiedelung der Westbank und Ost-Jerusalems mit inzwischen knapp 500.000 jüdischen Siedlern demonstriert, dass sie Anspruch erheben auf ein Groß-Israel zwischen Mittelmeer und Jordan, wo den Palästinensern auf den verbliebenen 12% Rest-Palästina statt eines zusammenhängenden "Staates" nur etwa vier voneinander getrennte Homelands zugedacht wären. Mehr und mehr Palästinenser betrachten daher ihren nationalen Unabhängigkeitskampf als gescheitert und erhoffen sich stattdessen von der Alternative einer palästinensischen anti-Apartheid Bewegung für gleiche Rechte in einem gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Staat mehr internationale Unterstützung und Erfolg. Da Barack Obama seinen eigenen Wahlsieg auch der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA verdankt, könnte ihm ein solcher Paradigmenwechsel wesentlich näher liegen, als das Festhalten an einem antiquierten (israelischen) Nationalstaatskonzept, das seine Bürger je nach ethnisch-religiöser Zugehörigkeit ein- bzw. ausschliesst. Mit der Ein-Staat-Lösung wäre die Vorraussetzung für eine maximale win-win Situation für beide Seiten geschaffen: Juden können ihren Anspruch auf "Rückkehr" in die als historische Heimat empfundenen Gebiete Judäa und Samaria ebenso verwirklichen, wie palästinensische Flüchtlinge ihr Recht auf Rückkehr zu ihren Orten in Israel, von denen sie 1948 vertrieben wurden. Die Kartographen sind sich schon lange einig, denn beide Seiten weigern sich hartnäckig, durch die Markierung einer Staatsgrenze die endgültige Teilung von Israel/Palästina offiziell zu verifizieren.

An welchen Lösungskonzepten für ähnliche Konflikte könnte Barack Obama sich orientieren? Im Gegensatz zu den palästinensischen Flüchtlingen hat die internationale Gemeinschaft bei den bosnischen Flüchtlingen politischen Willen und Entschlossenheit gezeigt, deren Rückkehr zu ermöglichen, und Bosnien-Herzegowina als einen Vielvölkerstaat wieder aufzubauen. Auch im ehemaligen Apartheid-Südafrika unterstützte die Weltgemeinschaft nicht die Politik der Rassentrennung und der schwarzen Homelands, sondern verhalf den Idealen der 1956 entworfenen Freiheits-Charta eines demokratischen Südafrika das allen gehören sollte, unabhängig von Rasse und Hautfarbe, letztendlich zum Sieg. F.W. de Klerk hatte sich dem ANC geöffnet. In Nordirland gab letztes Jahr Ian Paisley, der als Hardliner bekannte damalige Vorsitzende der protestantischen Democratic Unionist Party, seine Zustimmung zu einer Koalition mit den ehemaligen Todfeinden von der katholischen Sinn-Fein-Partei und bildete zusammen mit dem früheren IRA-Kämpfer Martin McGuinness eine Regierung. Protestanten wie Katholiken unterstützen dieses Friedensexperiment als alternativlos. Wäre ein zukünftiges Regierungsarrangement von Likud und Hamas also denkbar? Zur Lösung des Zypern -Konflikts, der seit 34 Jahren in ein griechisches Südzypern und ein türkisches Nordzypern geteilten Mittelmeerinsel, legte UN-Generalsekretär Kofi Annan 2004 einen Wiedervereinigungsplan vor, für einen föderalen Staat mit zwei Bundesländern. Auf den Verhandlungsgrundsatz einer föderalen Regierung im vereinigten Zypern einigten sich dieses Jahr auch der Präsident der Zypern-Türken, Mehmet Ali Talat, und der Präsident der Zypern-Griechen, Dimitris Christofias.

Dagegen hat der UNO-Teilungsplan in Israel/Palästina und seinen Nachbarstaaten seit 60 Jahren Kriege provoziert; weder konnte er Juden genügend Sicherheit bringen, noch Palästinensern zu ihrem Recht verhelfen. Höchste Zeit also, argumentierte Ghada Karmi kürzlich im britischen Guardian, dass sich die UNO der Verantwortung stelle, ihre Fehlentscheidung korrigiere und eine neue, gerechtere und haltbarere UNO-Resolution zur Abstimmung bringe – über einen gemeinsamen demokratischen, säkularen Staat zwischen Mittelmeer und Jordan. Der Entwurf einer solchen Wiedervereinigungsresolution wurde bereits in den letzten Monaten erarbeitet und könne von einem UNO-Mitgliedstaat eingebracht werden. Keiner wäre für diesen "Wechsel" besser prädestiniert, als Barack Obama.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: "Agitator des letzten Kampfes. Haarspalterei um Aussage des iranischen Präsidenten"
SZ vom 27.3.2008, Seite 13

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Die angebliche Äußerung des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, Israel müsse von der Landkarte getilgt werden, wurde heftigst kritisiert. Ob Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Gratulationsbesuch zum 60.Jahrestag der israelischen Staatsgründung ebenso vehement kritisierte, daß dadurch seit 1948 Palästina von der Landkarte getilgt worden ist – wobei 80 Prozent der Palästinenser vertrieben und über 400 ihrer Dörfer zerstört wurden, um deren Rückkehr zu verhindern? Daß Ahmadinedschad die göttliche Gerechtigkeit um Hilfe bittet, wo doch die weltliche den Palästinensern bis jetzt so wenig zu ihrem Recht verholfen hat, ist eine nachvollziehbare Reaktion auf unsere Versäumnisse. Seine Vorhersage, daß Unrechtsregime, wie das israelische, Geschichte werden müssten, hat sich auch in Südafrika erfüllt. Das Ende der Apartheid bedeutete nicht das Ende Südafrikas. Ebensowenig bedeutet das Ende des politischen Zionismus die "Zerstörung" Israels. Es geht nicht nur darum, wie "eine israelische Regierung aussehen sollte, die nicht besatzerisch ist", wie Mariella Ourghi in ihrem Artikel schreibt, sondern sowohl den Palästinensern unter Besatzung, als auch denjenigen in Israel und den Flüchtlingen ihre durch Völkerrecht und UNO-Resolutionen anerkannten Rechte gibt.

Durch die UNO-Resolution 273 wurde Israel am 11.Mai 1949 als UNO-Mitgliedsstaat aufgenommen, unter der Bedingung, Israel akzeptiere die vorangegangenen UNO-Resolutionen 181 zur Teilung Palästinas und 194 zum Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge – was bis heute nicht geschehen ist. Stattdessen eroberte Israel 1967 den Rest Palästinas, kreierte ein neues Flüchtlingsproblem und verweigert den 1948er Flüchtlingen ihre Rückkehr mit dem rassistischen Argument, dies würde einer "Zerstörung" Israels gleichkommen. Obwohl also die UNO das "Existenzrecht" Israels inklusive der palästinensischen Flüchtlinge versteht, hat Israel bei allen Verhandlungen erfolgreich deren Rückkehrrecht und sukzessive alle anderen UNO-Resolutionen als Grundlage eines gerechten Friedens ausgeschlossen.

Neben den nationalistischen israelischen Agitationen und den islamistischen von Ahmadinedschad sollten lieber versöhnliche Stimmen Gehör finden, wie die jüdisch-israelische Organisation Zochrot. Mit ihren visionären Aktionen verbinden sie das Ethische, Ästhetische und Politische, integrieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, indem sie Touren zu den zerstörten palästinensischen Dörfern von 1948 veranstalten, Hinweistafeln anbringen oder lebensgroße Portraits der Flüchtlinge dort aufstellen, um das Bewusstsein für eine zukünftige gemeinsame und gleichberechtigte jüdisch-palästinensische Heimat zu schaffen.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief an den Bayern Teil, zu: "Beckstein ruft zu Kampf gegen Rassismus auf",
SZ vom 22.-24.3.2008, Seite 47

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe Bayern Teil,

Aus Anlass der Errichtung des Konzentrationslagers Dachau vor 75 Jahren hat Ministerpräsident Günther Beckstein kürzlich zum Einsatz gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass aufgerufen. Dass dies in Bayern besonders notwendig scheint, hatte 2006 bereits eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergeben, wobei sich 42,4 Prozent der befragten Bayern fremdenfeindlich äußerten, was nur noch in Brandenburg mit 49,7 Prozent übertroffen wurde. Gerade die bayerische CSU-Politik hätte also die Aufgabe diesem latenten Rassismus entgegenzuwirken, anstatt ihn zu institutionalisieren. Trotzdem verordnet sie eine rigidere Ausländerpolitik als andere Bundesländer, die zum Beispiel Asylbewerber jahrelang zu entwürdigender Inaktivität und gesellschaftlicher Isolation in Heime zwingt, um bewusst deren Integration zu verhindern.

Becksteins löbliche Forderungen bleiben hohle Worte, solange ein hier geborener Sohn eines muslimischen Afrikaners in Deutschland nicht diesselben Chancen hat, wie ein Barack Obama in USA. Um das amerikanische Prinzip gleichberechtigter Multiethnizität auch hier zu verwirklichen, müssten wir, grundsätzlich, unser Staatsangehörigkeitsrecht ändern, von einem "ius sanguinis" (Recht des Blutes, gemäß dem Abstammungsprinzip) zu einem, wie in USA praktizierten, "ius soli" (Recht des Bodens, gemäß dem Territorialprinzip). Nicht nur unsere rassistische Vergangenheit, auch unsere zukünftige demographische Entwicklung verpflichtet uns zu solchem Umdenken.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: "Steuermoral – ein globales Problem. Rebellen in Florida",
SZ vom 20.2.2008, Seite 24

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Nikolaus Piper beschreibt die "schillernde Bewegung" der heutigen amerikanischen "Tax Denier", der Steuerverweigerer die grundsätzlich gar nichts an den Staat zahlen wollen, und zu denen auch der erfolgreiche afroamerikanische Schauspieler Wesley Snipes gehört. Die uramerikanische (auch indianische) Haltung einer "regulierten Anarchie", Freiheit und Verantwortung des Einzelnen über den Staat zu stellen, verkörperte bereits der große Philosoph Henry David Thoreau (1817-1862), Amerikas wohl berühmtester Steuerrebell. In seinem Aufsatz "Ziviler Ungehorsam" begründete Thoreau 1849, warum er einer Regierung, die durch den damaligen mexikanischen Krieg und die Sklaverei Unrecht begeht, aus Gewissensgründen die Steuerzahlung verweigert – was ihn kurzzeitig ins Gefängnis brachte: "der Dollar ist unschuldig, – aber es ist mir wichtig, die Auswirkungen meiner Untertanenpflicht zu erkennen." Er argumentierte, wenn Tausende ihre Steuern nicht zahlen würden, wäre dies weniger gewalttätig, als wenn sie durch ihre Steuern den Staat zum Blutvergießen befähigen würden. Thoreau hatte mehr Vertrauen in das Gewissen und die Tatkraft des Einzelnen, als in die Mehrheitsentscheidungen des Staates. Als Steigerungsform der Demokratie galt ihm deswegen diejenige Regierung als die beste, die am wenigsten regiert, am allerbesten gar nicht regiert. Steuerverweigerung war für ihn kein asoziales Verhalten, sondern ganz im Gegenteil, ein individueller moralischer Akt bewusster friedlicher Rebellion gegen Diskriminierung und Krieg. Thoreaus bürgerrechtliche Ideale – "Not in my name" – bleiben hochaktuell, nicht nur in Amerika.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: "Unbekannter verprügelt Studenten in der U-Bahn ... Stadtrat debattiert über mehr Sicherheit"
SZ vom 15.1.2008, Seite 38

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe Münchner Teil,

Nach einigen brutalen Überfällen in der Münchner U-Bahn debattiert der Stadtrat über mehr Sicherheit. Er sollte mit der MVG nach London fahren, und sich deren U-Bahn in punkto Service und Sicherheit zum Vorbild nehmen. In jeder, auch der entlegendsten, Station die ich kürzlich benutzt habe, gab es ein oder mehrere von Menschen besetzte Tickettschalter und meißt mehrere in leuchtgelben Westen erkennbare Helfer, die einem zum Beispiel in Notting Hill Gate einen farbigen vier-seitigen Umgebungsplan inklusive Taxi- und Transport-Servicenummern in die Hand geben, wo alle angrenzenden Strassen und Busstationen, Kinos, Schulen oder Konsulate gelistet sind, und die einen zum richtigen Ausgang weisen und beinahe noch zum Ziel begleiten. Häufig sind diese freundlichen Helfer Einwanderer. Aber nicht nur in den Untergrund werden die Einwanderer Englands verbannt, sie können beruflich auch wesentlich leichter aufsteigen, als hierzulande. Anstatt "Abschiebung" könnte also, im Gegenteil, mehr Einwanderung und eine offenere Gesellschaft die gefährliche, gespenstische Leere vieler hießiger U-Bahnhöfe lebendiger machen und ein Mehr an Sicherheit und Service bedeuten.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: "Das zweite Leben des Yehuda Shaul"
chrismon, 01.2008, Seite 31

Sehr geehrte Leserbriefredaktion,

Seine eigene Erfahrung als ehemaliger israelischer Besatzungssoldat in Hebron hat Yehuda Shaul, laut Ihrem Artikel, zu der Erkenntnis gebracht: "Apartheid. Israel betreibt eine Politik der Rassentrennung". Dies bekommen nicht nur die seit 1967 besetzten Palästinenser im Westjordanland und Ostjerusalem zu spüren, sondern auch die seit 1948 aus Israel vertriebenen Palästinenser. So hat zwar jeder Jude gemäß des isarelischen "Law of Return" (nach 2000 Jahren) ein "Rückkehrrecht" nach Israel, den vier Millionen palästinensischen Flüchtlingen aber verweigert Israel ihr international durch Völkerrecht und UNO-Resolution 194 anerkanntes "Right of Return" (nach 60 Jahren). Nur durch diese ethnische Säuberung konnte ein mehrheitlich arabisches Palästina in ein mehrheitlich jüdisches Israel verwandelt werden. Apartheid (und Transfer) ist also nicht nur eine Folge der Besatzung von 1967, sondern eine "Notwendigkeit" um die Ideologie des politischen Zionismus umzusetzen. Weil sie dieses Unrecht gegenüber der einheimischen arabischen Bevölkerung vorraussahen, waren die Vertreter eines anderen, kulturellen Zionismus, wie Martin Buber, Hannah Arendt und Yudah Magnes bereits vor der israelischen Staatsgründung gegen die Errichtung eines rein jüdischen, und stattdessen für einen gemeinsamen jüdisch-arabischen Staat. Wie in Südafrika ließe sich die israelische Apartheid heute dadurch beeenden, dass zwischen Mittelmeer und Jordan gleiche Rechte für alle jüdischen und palästinensischen Einwohner, Siedler und Flüchtlinge gelten.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München

2007
(Am 06.12. gedruckter) Leserbrief zu: "Israel verspricht Palästinenserstaat bis 2008"
SZ vom 28.11.2007, Seite 1

"Niemand spricht mehr von Moral. Gerechtigkeit ist ebenso ein archaisches Konzept, ein Tabu das bewusst aus allen Verhandlungen getilgt worden ist." kommentierte Gideon Levy in der israelischen Tageszeitung "Haaretz" die Nahost-Konferenz in Annapolis.

Der inflationäre Gebrauch des Wortes "Frieden" soll darüber hinwegtäuschen, daß die Grundlagen für einen gerechten Frieden: Völkerrecht und UNO-Resolutionen, von Israel längst nicht mehr akzeptiert werden. Dabei war Israel am 11.Mai 1949 mit der UN-Generalversammlungs Resolution 273 als UNO-Mitgliedsstaat aufgenommen worden, nachdem es sich bereit erklärt hatte, andere UN-Resolutionen zu erfüllen, einschließlich der UN-Resolution 181 zur Teilung Palästinas in einen jüdischen (56%) und einen arabischen (43%) Staat mit Jerusalem als internationaler Zone, und der UN-Resolution 194 zum Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge zu ihren Heimatorten in Israel, von denen sie 1948 vertrieben worden sind. Damit sollte ein historisches Unrecht, Nakba ("Katastrophe") genannt, wieder gutgemacht werden, denn die israelische Staatsgründung in Palästina war für die Palästinenser einer ethnischen Säuberung gleichgekommen, von insgesammt etwa 900.000 palästinensischen Arabern verloren damals 750.000 durch Flucht und Vetreibung ihre Heimat, über 400 ihrer Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Anstatt dieses Unrecht, das für die Palästinenser bis heute den Kern des Konflikts darstellt, gemäß entsprechender UN-Resolutionen zu lösen, wurde das Land der Flüchtlinge durch das israelische "Absentee Property Law" von 1950 enteignet, und stellt so den Löwenanteil des israelischen Staatslandes dar, das jüdischen Einwanderern zur Verfügung steht, nicht aber den exilierten palästinensischen Eigentümern. 1967 eroberte Israel den Rest Palästinas und kreierte nochmals 300.000 Flüchtlinge. Seit diesem neuen Unrecht der Besatzung wird das Rückkehrrecht der Flüchtlinge, das in anderen Konflikten wie Bosnien, Ruanda oder Sudan als Vorraussetzung für Frieden gilt, marginalisiert und delegitimiert.

Was also meint Israels Premier Ehud Olmert, wenn er jetzt, in Annapolis, von "schmerzhaften Kompromissen" und "historischer Aussöhnung" spricht? Ein Kriegsverbrechertribunal nach jugoslavischem Vorbild? Eine Wahrheits- und Versöhnungskommission nach südafrikanischem Vorbild? Wie stellt er sich die "zwei Staaten für zwei Völker" vor, wo doch, nach Fertigstellung des geplanten Grenzwalls und der israelischen Annexion des Jordan-Tals, des Großraums Jerusalem, sowie größerer Siedlungsblöcke, den Palästinensern nur etwa 12% des ehemaligen Mandatsgebiets Palästina bleiben, in vier voneinander getrennten Kantonen, deren Grenzen, Wasser und Luftraum von Israel kontrolliert werden? Das ist die Homeland-Politik der südafrikanischen Apartheid Regierungen, aber keine "Zwei-Staaten-Lösung". De facto machen die 450.000 israelischen Siedler in der Westbank und Ostjerusalem die Alternative einer "Ein-Staat-Lösung" bereits zu einer "Ein-Staat-Realität". Seit 40 Jahren herrscht zwischen Mittelmeer und Jordan ein Staat, Israel, mit unterschiedlichen Rechten für Juden und Palästinenser.

"Falls der Tag kommt, wenn die Zwei-Staaten-Lösung scheitert, und wir einem Südafrika ähnlichem Kampf für gleiche Wahlrechte gegenüberstehen (auch für die Palästinenser in den Gebieten), dann, sobald dies geschieht, ist der Staat Israel erledigt," sagte Olmert nach der Annapolis-Konferenz in "Haaretz". "Die jüdischen Organisationen, die unsere Machtbasis in Amerika waren, werden die Ersten sein, die gegen uns sind," fuhr er fort, "weil sie sagen werden, daß sie nicht einen Staat unterstützen können, der nicht für Demokratie und gleiches Wahlrecht für all seine Einwohner sorgt." Olmert wies bereits vor vier Jahren in einem "Haaretz"-Interview auf die "Gefahren" einer solchen Südafrika-Analogie hin: "Mehr und mehr Palästinenser sind uninteressiert an einer verhandelten Zwei-Staaten-Lösung, weil sie die Essenz des Konflikts von einem algerischen Paradigma zu einem südafrikanischen ändern wollen. Von einem Kampf gegen "Besatzung", wie sie es nennen, zu einem Kampf für one-man-one-vote. Dies ist, natürlich, ein viel klarerer Kampf, ein sehr viel populärerer Kampf – und im Grunde ein sehr viel wirksamerer." Um dies zu verhindern, sollen die Palästinenser mit dem Annapolis-"Friedens-Prozess" wieder einmal mit der Fata Morgana eines eigenen Staates geködert werden.

Mehr und mehr Publikationen schlagen die Ein-Staat-Lösung als einzig gerechten und realistischen Weg aus der gegenwärtigen Sackgasse vor. Michael Tarazi, damaliger Rechtsberater der PLO, betonte in seinem New York Times Artikel von 2004, "Zwei Völker, ein Staat", daß die Ein-Staat-Lösung weder den jüdischen Charakter des Heiligen Landes zerstören, noch die jüdischen historischen und religiösen Bindungen leugnen würde, sondern vielmehr seinen gleichberechtigten christilichen und muslimischen Charakter betont. Meron Benvenisti, Jerusalems ehemaliger stellvertretender Bürgermeister, fordert eine offene Debatte über binationale Möglichkeiten, da sie mehr zu einer Versöhnung beitragen könnte, als das Festhalten an ethno-nationalistischer Trennung. Darin drücken sich Zweifel an dem Ziel des politischen Zionismus, eines mehrheitlich jüdischen Staates, aus, und eine mögliche Renaissance der binationalen Ideale des kulturellen Zionismus, wie sie von Martin Buber, Hannah Arendt oder Judah Magnes bereits vor der israelischen Staatsgründung vertreten wurden.

Sabine Matthes


Leserbrief an den Münchner Teil zu: "Unfallopfer stirbt im Krankenhaus", SZ vom 27.11.2007, Seite 41

Sehr geehrte Redaktion Münchner Teil,

Während man in New York oder Beirut erfahrungsgemäß getrost auch bei Rot die Strasse überqueren kann, weil man sich dort des wohlwollenden Abbremsens verantwortungsvoller Autofahrer gewiss sein kann, ist man als Fussgänger in Deutschland gnadenlos der verkehrs-darwinistischen Maxime eines "PS-Rechts des Stärkeren" ausgeliefert, zu dessen Kollateralopfern zwangsläufig besonders Kinder und Senioren zählen. Eine 87-jährige Münchnerin wurde kürzlich beim Überqueren der Strasse von einer 20-jährigen Studentin zu Tode gefahren, die mit ihrem Auto rückwärts fuhr. Paradoxerweise bot daraufhin die Polizei am Unfallort der potentiellen Opfergruppe eine "Aufklärungsaktion für Senioren" an, nicht aber der potentiellen Tätergruppe.

Was sollen die Opfer lernen? Dass in einem überreglementierten Land wie Deutschland Autofahren nun mal als letztes legales Refugium anarchischer Rücksichtslosigkeit gilt, wo selbst betrunkene Todesfahrer, die Fahrerflucht begehen, mit Bewährungsstrafen geschützt werden? Dass die 163.603 Verkehrsunfälle mit Getöteten und Verletzten in Deutschland im ersten Halbjahr 2007 mehr oder weniger "Kavaliersdelikte" darstellen, die nicht unter die Rubrik Terror und innere Sicherheit fallen? Dass sich Senioren deswegen gefälligst besser freiwillig aus dem Strassenkampf heraushalten sollten, oder, falls dies unvermeidbar sei, sich mit neonfarbenem Sirenen-Sturzhelm, wattiertem Schutzanzug und einer leuchtenden Armee von Glühwürmchen bewaffnen müssen?

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


(Am 9./10.6.2007 gedruckter) Leserbrief zu: "Hamas-Politiker festgenommen", SZ vom 25.5.2007, Seite 9

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Israel hat in der besetzten Westbank mehr als 30 führende Politiker der demokratisch gewählten Hamas-Regierung "festgenommen" (besziehungsweise verschleppt oder gekidnappt), darunter den Bildungsminister Nasser al-Schaer, mehrere Abgeordnete, sowie die Bürgermeister von Nablus, Kalkilia und einigen Kleinstädten. Als Rechtfertigung diente Israel der mehr als einwöchige Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen. Wie würde die Weltöffentlichkeit reagieren, wenn umgekehrt die Palästinenser führende israelische Politiker "festnehmen", weil diese , kontinuierlich seit 1948, palästinensische Dörfer und Gebiete zerstören, enteignen, deren Bewohner vertreiben und entrechten, und das "Existenzrecht Palästinas" nicht anerkennen?

Kürzlich hatte Israel auch schwerste Anschuldigungen wegen "Landesverrats" gegen Dr.Azmi Bishara gerichtet, der als christlicher Palästinenser, Philosoph und prominentester politischer Führer der palästinensischen Araber in Israel als Abgeordneter der von ihm 1995 gegründeten Nationalen Demokratischen Versammlungs Partei Balad im israelischen Parlament saß. Bishara selbst hat die Vorwürfe zurückgewiesen und erklärte unter anderem in seinem in der Los Angeles Times erschienenen Artikel "Why Israel is after me", daß dadurch nicht nur er, sondern alle Palästinenser in Israel eingeschüchtert werden sollen, die eine demokratische Reform Israels anstreben, mit voller Gleichberechtigung von Juden und Arabern. Bishara und Balad verkörpern eine zunehmend wachsende palästinensische Bürgerrechtsbewegung innerhalb Israels, die Israel von einem "jüdischen Staat" in einen "demokratischen Staat für alle seine Bürger" verwandeln will. Azmi Bishara wird als "Landesverräter" gebrandmarkt, da er eine "strategische Gefahr" symbolisiert, weil seine demokratischen Forderungen nach echter Gleichberechtigung von Juden und Nichtjuden in Israel das Ende des politischen Zionismus bedeuten würde, so, wie die Gleichberechtigung von Weißen und Nichtweißen in Südafrika das Ende der Apartheid bedeutete.

In Apartheid-Südafrika war 1956 die Freiheits-Charta zum programmatischen Bekenntnis des ANC geworden, welche ein demokratisches Südafrika entwarf, das allen gehören solle, Schwarzen und Weißen. Wie die palästinensischen Demokratieforderungen provozierte die Freiheits-Charta besonders auch, weil dadurch ein grundsätzlicher Wandel der politischen Struktur und wirtschaftlichen Besitzverhältnisse (vor allem Land) erreicht werden konnte. So reagierte das Apartheidssystem mit Verhaftungswellen, Mandela wurde "Hochverrat" vorgeworfen, und der ANC wurde gerade zu der Zeit paralysiert, als die Regierung daranging, ihr rassenpolitisches Fernziel, die Schaffung der afrikanischen Bantustans, umzusetzen. Ob die israelische Verhaftungswelle demselben Ziel dienen soll, der Schaffung von drei, vier oder fünf entmündigten palästinensischen Bantustans auf 12% Rest-Palästina?

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: Amos Oz: "Israels große Aufgabe – Es gibt keinen Aufschub mehr: Wir müssen das Flüchtlingsproblem lösen" FAZ vom 11.05.2007, Seite 39

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

In zwei Punkten hat Amos Oz Recht, dass nämlich die Nakba, die Flüchtlingskatastrophe, "die allergrößte Wunde im Fleisch der palästinensischen Nation ist, und dass Israelis keinen Frieden haben werden, "solange das Elend der Flüchtlinge andauert". Der israelische "Unabhängigkeitskrieg" von 1948 kam für die Palästinenser einer ethnischen Säuberung gleich: 750.000 (80 Prozent) verloren durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat, über 400 ihrer Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht und das "Absentee Property Law" von 1950 enteignete sie, um eine Rückkehr zu erschweren. Nur so konnte ein mehrheitlich arabisches Land zu einem mehrheitlich jüdischen Staat werden, und damit die Ziele des politischen Zionismus von Theodor Herzl erfüllt werden.

Trotzdem räumt Amos Oz nur eine israelische Teilschuld ein. Unrecht hat er auch mit der Behauptung, dass die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in ihre einstige Heimat "auf das Ende Israels" hinauslaufen würde. Denn eine Deportation der Araber war, entsprechend dem Völkerrecht und der UNO, keineswegs vorgesehen. Im Gegenteil: Israel wurde im Mai 1949 Mitglied der Vereinten Nationen (Resolution 273) unter der Vorraussetzung, den UNO-Teilungsplan von 1947 (Resolution 181) und das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge (Resolution 194) zu respektieren. Dies ist nicht geschehen. Eine Rückkehr der Flüchtlinge widerspräche zwar den demographischen Wünschen des politischen Zionismus, sie entspräche aber den demokratischen Ansprüchen Israels. Als echte Demokratie muss Israel die Rechtsansprüche beider Völker, Juden wie Palästinenser, Anwesende und Flüchtlinge, gleichermaßen erfüllen, und sowohl das jüdische "Law of Return" (1950), als auch das palästinensische "Right of Return" (1948) umsetzen.

Die Vertreter eines anderen – kulturellen, humanistischen – Zionismus, wie Martin Buber, Judah Magnes und Hannah Arendt, waren von vorneherein für einen gemeinsamen jüdisch-arabischen Staat, da eine Trennung eine Vertreibung provozieren würde. Für Judah Magnes, amerikanischer Reform Rabbiner und erster Präsident der Hebrew University, wiedersprach sogar die Vertreibung der Palästinenser dem zionistischen Bestreben, jüdisches Leben und Kultur in einem Geist brüderlicher Solidarität zu rekonstruieren. Eine Haltung, die Amos Oz heute sicher als extremistisch oder verräterisch erscheint.

Amos Oz`Lösungsvorschlag scheint mehr ideologisch motiviert, als praxisorientiert: wie sollten Millionen palästinensische Flüchtlinge, die nicht nach Israel zurück dürfen, Platz und Arbeit finden "im künftigen palästinensischen Staat", der, nach Fertigstellung des israelischen Grenzwalls, doch nur aus vier, fünf eingezäunten Bantustans, auf 12 Prozent Rest-Palästina, bestehen wird? Wesentlich logischer sind die Argumente des palästinensischen Autors Salman Abu-Sitta für eine Rückkehr der Flüchtlinge nach Israel: 78 Prozent aller israelischen Juden leben in nur 14 Prozent des Landes (hauptsächlich um Tel Aviv, Haifa und Jerusalem), der riesige Rest ist von ländlicher Bevölkerung besiedelt (etwa 200.000), die in Kibbuzim und privaten Farmen die israelische Landwirtschaft betreibt. Diese 200.000 Israeli nutzen und kontrollieren größtenteils das Land der Flüchtlinge, die oft nur wenige Kilometer entfernt in engen Flüchtlingslagern leben. Die 850.000 registrierten Flüchtlinge in Gaza leben zusammengedrängt bei einer Dichte von 4.200 Personen pro Quadratkilometer, jenseits des Stacheldrahts sehen sie ihr Land in Israel, beinahe leer, mit einer Dichte von fünf Personen pro Quadratkilometer.

In Deutschland wird das Rückkehrrecht von Flüchtlingen häufig durch Abschiebung zur Rückkehrpflicht. Wie würde Israel reagieren, wenn Libanon, Syrien und Jordanien seine palästinensischen Flüchtlinge ebenso rigide zurück nach Israel abschieben würde?

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


(Gedruckter) Leserbrief zu: Heribert Prantl "Das Verschwinden der Flüchtlinge", SZ vom 11.1.2007, Seite 4

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Absolut zu Recht kritisiert Heribert Prantl in seinem Artikel "Das Verschwinden der Flüchtlinge", daß "die deutsche Rigidität Vorbild geworden" ist für die Asylpolitik der Europäischen Union. Dabei käme doch gerade Deutschland, das im letzten Jahrhundert selbst die größten Flüchtlingsströme verursacht hat, eine besondere historische Verantwortung zu, Einwanderungsland, das heißt Exil oder Heimat für Flüchtlinge und Emigranten, zu werden. Damals wurden die Schiffe jüdischer Flüchtlinge, wie die "St.Louis" 1939, durch Einreise- und Asylverweigerungen zu ähnlichen Geisterschiffen, wie die Boote heutiger Flüchtlinge. Während Bertolt Brecht sich als Vertriebener, als Verbannter sah, der ein nur temporäreres Exil suchte, wurde für viele jüdische Flüchtlinge das amerikanische Exil zur neuen Heimat. Einmal aufgenommen mussten sie dann nicht mehr darum bangen, nach Kriegsende, nach fünf, zehn oder zwanzig Jahren wieder zurück in ihre deutsche Heimat abgeschoben zu werden – so, wie dies heute afghanischen, kurdischen oder afrikanischen Flüchtlingen in Deutschland widerfährt. Denn im Gegensatz zum leider immernoch völkisch beherrschten Denken der Deutschen, empfinden Amerikaner Zuwanderung nicht als Zumutung, sondern als menschliche, kulturelle und wirtschaftliche Bereicherung. Wegen der hießigen wachsenden demographischen Katastrophe ist sie außerdem nicht nur aus humanitär altruistischen Gründen, sondern auch aus wirtschaftlich egoistischen dringend notwendig.

Auch die von Bismarck einberufene Berliner "Kongokonferenz" 1884/85, die ganz Afrika für europäische Kolonialreichsbildungen freigab, und unsere eigene Kolonialgeschichte, sollte uns zu mehr wechselseitiger Offenheit verpflichten. So appelliert Prinz Solomon Mbroh aus Ghana an seine deutschen Mitbürger: "Früher habt Ihr uns besucht, unsere Länder missioniert, kolonisiert und geplündert. Jetzt wollen wir Euch besuchen, aber Ihr verschließt die Türen Europas. Laßt uns doch gegenseitig besuchen!"

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München

2006
"Das Flüchtlingsproblem ist zentral im Nahost-Konflikt"
Gespräch mit Nihad Boqai, Peter Hansen, Michael Fischbach und Ilan Pappe.
Über die seit 58 Jahren anhaltende Vertreibung von Millionen Palästinensern, das Recht auf Rückkehr und Entschädigung sowie "israelische Kollateralopfer"
junge Welt vom 13.05.2006, Wochenendbeilage / Seite 1 (Beilage)

Zu unseren Gesprächspartnern: Nihad Boqai arbeitet bei der Flüchtlingshilfsorganisation Badil (Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights, Bethlehem – www.badil.org); Peter Hansen war von 1996 bis 2005 Hochkommissar beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge UNRWA (United Na­tions Relief and Works Agency- Internet: www.unrwa.org); Michael Fischbach ist Geschichtsprofessor am Randolph-Macon College in Virginia, USA; Ilan Pappe lehrt Geschichte an der Universität von Haifa

Israels "Neue Historiker" wie Ilan Pappe sprechen im Zusammenhang mit der "Nakba" von "ethnischer Säuberung". Denn von insgesamt etwa 900000 damals auf dem Gebiet des zukünftigen Staates Israel lebenden Palästinensern verloren 750000 durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat. Über 400 ihrer Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Gesetze enteigneten die "abwesenden" Palästinenser und machen sie, bis heute, zur weltweit größten Flüchtlingspopulation. Ihr verweigert Israel ihr, gemäß Völkerrecht und UNO-Resolution 194 bestätigtes, Rückkehrrecht. Vor 1948 besaßen oder kontrollierten Palästinenser über 90 Prozent des Landes im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina. Heute besitzen oder kontrollieren sie nicht mehr als zehn Prozent, und über die Hälfte von ihnen sind Flüchtlinge. Weil Israel ihnen die Rückkehr und/oder Kompensation verweigert, mußte die UNRWA für ihre Versorgung zwischen 1950 und 2005 etwa neun Milliarden US-Dollar aufbringen. Die humanitäre Not heute ist die Folge der kontinuierlichen Vertreibung, Enteignung und Entrechtung seit 58 Jahren.

F: Der 14. Mai wird von Israelis jährlich als Freudentag ihrer Staatsgründung 1948 gefeiert. Für Palästinenser aber bedeutete die Umwandlung eines mehrheitlich arabischen Landes in einen mehrheitlich jüdischen Staat "die Katastrophe": Al Nakba. Die hält bis heute, 58 Jahre danach, an. Von insgesamt neun Millionen Palästinensern sind beinahe sechs Millionen Flüchtlinge. Welche unterschiedlichen Gruppen gibt es, und welche Rechte haben sie?

Nihad Boqai: Die fortgesetzte Vertreibung der Palästinenser seit 1948 hat verschiedene Flüchtlingswellen verursacht. Heute gibt es drei große Gruppen von palästinensischen Flüchtlingen. Zur ersten und zahlenmäßig stärksten gehören diejenigen, die während des 1948er Krieges – später "Al Nakba", die Katastrophe genannt – vertrieben worden sind. Vertrieben aus den palästinensischen Gebieten, die dann zu Israel wurden. Ihre Zahl liegt heute bei über fünf Millionen. Die meisten von ihnen erhalten immer noch internationale Unterstützung durch das UNRWA-Hilfswerk. Etwa ein Drittel von ihnen lebt immer noch in Flüchtlingslagern in der Westbank, in Gaza, Jordanien, Syrien und Libanon.

Die zweite Gruppe sind die Palästinenser, die aus der Westbank und dem Gazastreifen vertrieben wurden. Diese Gebiete wurden von Israel im Juni 1967 besetzt. Wohlgemerkt, etwa die Hälfte dieser Flüchtlinge war nach ihrer Vertreibung während der Nakba zum zweiten Mal verjagt worden. Die dritte Gruppe sind die Palästinenser, die nicht 1948 oder 1967 vertrieben wurden, sondern zwischen 1949 und 1967 sowie nach 1967. Diese Flüchtlinge kommen hauptsächlich aus den 1967 besetzten Gebieten, also der Westbank und dem Gazastreifen.

Außerdem werden bei den Binnenflüchtlingen zwei große Gruppen unterschieden. Die erste sind diejenigen innerhalb Israels, die zweite sind die internen Flüchtlinge in den 1967 besetzten palästinensischen Gebieten. Besonders erwähnt werden muß, daß sich die Vertreibungserfahrung auch in der Diaspora mehrfach wiederholte, so wie es den palästinensischen Flüchtlingen in Jordanien geschah (1970), im Libanon (1975-1990), in Kuwait (1991-1992), in Libyen (1995-1997) und im Irak (2003).

Palästinensische Flüchtlinge haben ebenso wie alle anderen weltweit Rechte: in ihre Heimatorte zurückzukehren und auf Eigentumsrückerstattung, neben ihrem Recht auf Entschädigung. Flüchtlinge, die nicht zurückkehren wollen, müssen Kompensation bekommen und wählen können, ob sie in ihrem Gastland bleiben möchten oder in ein drittes Land umsiedeln. Die Umsiedlung muß auf Freiwilligkeit basieren, es darf kein Zwang ausgeübt werden. Außerdem haben palästinensische Flüchtlinge das Recht auf internationale Hilfe und Schutz.

F: Obwohl die Flüchtlinge die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung und den Kern des Konflikts ausmachen, wurden ihre Rechte während des fehlgeschlagenen Oslo-Prozesses der Zwei-Staaten-Lösung übergangen. Werden die Flüchtlinge wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt werden?

Nihad Boqai: Das Oslo-Abkommen zeigt, daß die Marginalisierung der palästinensischen Flüchtlingsrechte die Flüchtlinge selbst nicht zur Aufgabe ihrer Rechte bringen kann. Viele meinen, es sei besser, sich nicht mit diesem Problem zu befassen. Realistisch betrachtet glaube ich jedoch nicht, daß wir eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts erreichen können, wenn wir die Rechte von drei Vierteln aller Palästinenser vernachlässigen. Die internationale Gemeinschaft hat eine moralische Pflicht, das Problem der palästinensischen Flüchtlinge zu lösen, indem sie ihnen die Rückkehr ermöglicht, wie allen Flüchtlingen weltweit, beruhend auf dem internationalen Recht und entsprechenden UN-Resolutionen. Wir werden zu keiner Lösung des Konflikts kommen, wenn wir uns nicht direkt mit den Ursachen befassen.

F: Herr Hansen, wie hoch schätzen Sie den Wert des verlorengegangenen palästinensischen Eigentums von 1948 und danach?

Peter Hansen: Er wurde, natürlich davon abhängig, wer ihn veranschlagt, zwischen einigen hundert Millionen US-Dollar bis mehrere hundert Mil­liarden US-Dollar geschätzt. Wenn man die Maßstäbe von vergleichbaren historischen Fällen anlegt, ist man viel näher an letzterem Wert als an ersterem.

F: Eine grundsätzliche Kritik von Ihnen lautet: "Für politische Probleme gibt es keine humanitären Lösungen." Ist es nicht entmutigend zu sehen, daß UNRWA alle menschlichen und finanziellen Resourcen in den vergangenen 55 Jahren nur darauf verwenden konnte, das palästinensische Flüchtlingselend zu mildern, anstatt es zu beenden?

Peter Hansen: Ich bin da nicht so desillusioniert, weil ich nie die Investitionen in die UNRWA bloß als Lösung im politischen Sinn gesehen habe. Es ist die größte und erfolgreichste internationale Investition in "Human capital" über eine lange Zeit. Und UNRWA hat dazu beigetragen, Hoffnung – hoffentlich keine falsche – unter Generationen von Flüchtlingen zu wecken und ihnen ein Gefühl zu vermitteln, daß sich die Welt, wenigstens in einem gewissen Grade, um sie sorgt.

F: Im Unterschied zu den deutschen Grünen unterstützt die US-amerikanische Green Party das Rückkehrrecht der Palästinenser und betont dessen Realisierbarkeit "bei geringer Zerrüttung für die gegenwärtigen israelischen Bevölkerungsmuster".

Michael Fischbach: Die Wahlplattform der "Green Party of the United States" besagte 2004: "Wir versichern nochmals den palästinensischen Flüchtlingen das Recht, an ihre Heimatorte in Israel zurückzukehren. Wir anerkennen die bedeutsamen Anforderungen an Gerechtigkeit und Wiedergutmachung, auf die dieses Verfahren stoßen würde, und rufen die US-Regierung dazu auf, die Lösung dieser Herausforderungen als zentrales Ziel unserer Diplomatie in der Region zu benennen." Die "Greens" sind sehr darauf bedacht, die jüdisch-israelische Angst anzuerkennen, in einer großen nichtjüdischen Bevölkerung zu leben. Wir glauben aber trotzdem, daß dies nicht die Rechte der Flüchtlinge annullieren sollte.

F: Sie sagen, daß etwa 40 Prozent der palästinensischen Flüchtlinge Eigentum besaßen, 60 Prozent nicht. Sollte es eine individuelle Eigentums­entschädigung geben, oder sollte sie Teil einer größeren Entschädigung sein zum nationalen Wohl aller? Was kann aus den jüngsten Erfahrungen in Afghanistan, Bosnien-Herzegowina oder Südafrika gelernt werden?

Michael Fischbach: Weil ich Landeigentumsrecht untersuche, habe ich meine Nachforschungen nur auf diejenigen Flüchtlinge konzentriert, die 1948 Grund und Boden verloren haben, was die Minderheit ist. Von einem humanistischen Standpunkt aus betrachtet glaube ich, daß jede Person, überall auf der Welt, die ungerechterweise ihres Eigentums beraubt wurde, entschädigt werden sollte oder ihr Land rückerstattet bekommen sollte. Was im Fall der Palästinenser bedeutet, daß auch ehemals reiche Eigentümer unter den Flüchtlingen entschädigt werden sollten. Natürlich läßt das die Frage offen, was man mit den ärmeren Flüchtlingen tun sollte, die kein Eigentum besaßen. Es gibt bereits viele Vorschläge, wie man sie entschädigen sollte, nicht für Eigentumsverluste, sondern für moralisches Leiden, Einkommensverluste etc.

F: Sie fordern, die Mizrahim, die arabischen Juden, die Sie als "Kollateralopfer" bezeichnen, miteinzubeziehen. Ihre Argumentation, Herr Fischbach: Wenn es keinen Konflikt zwischen Zionisten und Arabern in Palästina/Israel gegeben hätte, würden arabische Juden im Irak, in Ägypten, Libyen und so weiter immer noch ihr dortiges Eigentum besitzen. Gibt es irgendwelche Angebote von den arabischen Regierungen, und setzt dies Israel unter moralischen Druck?

Michael Fischbach: Vorletztes Jahr hat die libysche Regierung angeboten, ehemals libysche Juden zu entschädigen, die Eigentum verloren, als sie das Land nach 1948 verlassen haben. Nach der US-Invasion 2003 und dem Sturz von Saddam Hussein haben gewisse irakische Politiker erwähnt, Juden, die im Irak lebten, zu entschädigen. Daraus ist aber noch nichts geworden. Solche Schachzüge könnten in der Tat Israels diplomatisches Feilschen komplizieren. Israel besteht seit Jahrzehnten darauf, daß jeder etwaige Geldbetrag, den es als Entschädigung an arabische Flüchtlinge aus Palästina zahlt, reduziert werden würde um einen Betrag, der die Verluste repräsentiert, die mizrahische Juden aus der arabischen Welt erlitten haben. Es benutzt diese "Verkettung", um den Geldbetrag zu minimieren, den es auszahlen müßte. Obwohl Israel offiziell diese Verknüpfung bei der Taba-Konferenz Anfang 2001 fallengelassen hat, würden Entschädigungszahlungen von arabischen Ländern an ihre ehemaligen jüdischen Bürger trotzdem israelische Verhandlungsbemühungen komplizieren: a) sie schafften einen Präzedenzfall für Entschädigung, nachdem Jahrzehnte vergangen sind; b) sie verringerten den Geldbetrag, den Israel von den Palästinensern und/oder der weiteren arabischen Welt fordern könnte; c) arabische Entschädigung öffnete auch die Tür für Rückerstattung und Rückkehr. Libyen hat bereits angedeutet, daß es seinen ehemaligen Bürgern jüdischen Glaubens die Rückkehr erlauben würde. Stellen Sie sich die Konsequenzen davon für die Haltung der israelischen Regierung gegenüber palästinensischen Langzeit­exilanten vor, wenn arabische Staaten ihren ehemaligen jüdischen Bürgern erlauben würden zurückzukommen.

F: Herr Pappe, Sie zweifeln die Aufrichtigkeit Israels in der Frage der Reparationen für arabische Juden an. Warum?

Ilan Pappe: Das Problem ist weniger die Reparation, sondern die Behauptung, daß die arabischen Juden, die nach Israel kamen, Teil eines Bevölkerungsaustausches mit den Palästinensern waren. Es gibt keine Forderung eines Rückkehrrechts von arabischen Juden in ihre arabischen Länder, aber ein solches Rückkehrrecht nach Israel ist die grundlegende palästinensische Forderung. Auf der Ebene der Rückkehr, als der besten Wiedergutmachung, sind die beiden Fälle also völlig ohne Zusammenhang.

Gleichermaßen hat es nichts mit der Vertreibung von der Hälfte der Bevölkerung Palästinas 1948 zu tun, wenn die arabischen Juden zu Recht Reparationen von einzelnen arabischen Ländern fordern. Im Fall der arabischen Juden reden wir von kleinen Minderheiten, die in einigen Fällen gingen – so die zionistische Interpretation – weil sie nach Hause, nach Israel, zurückkehren wollten. Wenn sie sich vertrieben fühlen oder ihr Eigentum nicht bekamen, haben sie einen Anspruch auf Reparationen. Aber dies hat nichts mit der Lösung des palästinensischen Flüchtlingsproblems zu tun, das der Schlüssel zur Beilegung des gesamten Konflikts ist.

F: Wenn nichtjüdische Russen, jüdische Araber und zum Judentum konvertierte Deutsche nach Israel einwandern können, warum können die einheimischen Palästinenser nicht zurück? Was wäre, wenn sie zum Judentum konvertierten?

Ilan Pappe: Sie haben das Recht zurückzukehren, ehe all die anderen Erwähnten das Recht haben einzuwandern. Sie sollten niemals zum Judentum konvertieren, um ein selbstverständliches Menschenrecht, nach Hause zurückzukehren, beanspruchen zu können.

F: Israels Weigerung, seine Verantwortung für die Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems anzuerkennen, erinnert an die türkische Haltung gegenüber Armeniern und Kurden. Dennoch gab es, von religiösen Zionisten wie Martin Buber bis zu jüdischen Humanisten wie Ihnen, immer Juden, die das palästinensische Rückkehrrecht als wesentlich für Israels eigene Identität als jüdischer Staat- im ethischen, nicht ethnischen Sinn – und als demokratischer Staat erachteten, und als Voraussetzung eines beständigen Friedens. Wie einflußreich sind solche israelischen Initiativen wie Zochrot oder die Rückkehrrecht-Konferenz in Haifa?

Ilan Pappe: Es gab leider und gibt immer noch zu wenige Juden, die einsehen, daß die Anerkennung des Rückkehrrechts nicht nur moralisch notwendig, sondern politisch erforderlich ist. Aber wichtig ist es, Juden zu finden, die das Rückkehrrecht der Flüchtlinge nicht nur anerkennen, sondern es auch so meinen, daß sie tatsächlich zurückkommen sollten. Dann wäre Israel kein ethnisch jüdischer Staat, wenn sich als Folge die Zusammensetzung der Bevölkerung ändert. Doch das ist eine gute Sache. Der gegenwärtige Staat steht moralisch auf sehr schwankenden Fundamenten, da er um jeden Preis seine jüdische Exklusivität beibehalten möchte.

F: Als Israel in die UNO aufgenommen wurde, war eine Bedingung, die Resolution 194 zu erfüllen. Statt dessen bürgerte das Land die Mehrheit seiner Palästinenser aus und entzog ihnen ihre Bürger- und Eigentumsrechte. Wenn das mit der Rassentrennungspolitik des ehemaligen Apartheid-Südafrika vergleichbar ist, sollten dann entsprechende Boykotte und UN-Sanktionen angewandt werden?

Ilan Pappe: Es ist vergleichbar, aber ich glaube nicht, daß Druckmittel angewandt werden sollten, um Israel zu zwingen, die Flüchtlinge aufzunehmen. Ich glaube, das ist ein längerer Prozeß durch Erziehung und Veränderung von innen. Wir sollten uns mit ganzer Kraft darauf konzentrieren, Israel zum Ende der Besatzung zu zwingen.

Das Gespräch führte Sabine Matthes
Den Artikel finden Sie unter: http://www.jungewelt.de/2006/05-13/001.php
(c) Junge Welt 2006


Leserbrief zu: Thorsten Schmitz:
Profil "Avigdor Lieberman – Scharfzüngiger Rechter auf dem Weg in Israels Kabinett" und "Olmert trifft auf Widerspruch"
SZ vom 13.10.2006, Seite 4 und 9

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Der israelische Regierungschef Ehud Olmert möchte die ultra-rechte Oppositionspartei "Israel Beitenu" (Israel, unser Haus) in das Regierungsbündnis aufnehmen, worauf die linke Arbeitspartei mit ablehnendem Entsetzen reagierte, da deren Parteiprogramme angeblich "völlig verschieden und nicht zu vereinen" seien. Avigdor Lieberman, der Vorsitzende der russischen Einwanderer-Partei "Israel, unser Haus" tritt nämlich offen für den Transfer der Palästinenser nach Jordanien ein. Wegen solcher Aussagen wurde Liebermans Weltsicht kürzlich von der liberalen "Haaretz" Zeitung als "faschistisch" beschrieben.

Bei aller Empörung scheint vergessen, daß die Transfer-Ideologie keineswegs nur eine peinliche Anomalie der extremen Rechten ist, sondern von Beginn an eine zentrale Rolle im politischen Zionismus gespielt hat. Denn um ein mehrheitlich arabisches Palästina in ein mehrheitlich jüdisches Israel zu verwandeln, war bereits Theodor Herzl 1895 klar gewesen: "Wir müssen auf korrekte Weise enteignen ... Wir werden versuchen, die ärmsten Teile der Bevölkerung auf der anderen Seite der Grenze anzusiedeln und ihnen zur Beschäftigung in den Aufnahmeländern verhelfen, aber ihnen die Beschäftigung in unserem Land vorenthalten." In diesem Sinne befürworteten praktisch alle Gründerväter des israelischen Staates vor 1948 das Konzept des Transfers in mehr oder weniger "freiwilliger" Form. Unter der linken Regierung von David Ben Gurion wurde es ab der Staatsgründung 1948 gewaltsam umgesetzt und gesetzlich verankert: von den damals etwa 900.000 im zukünftigen Staat Israel lebenden Palästinensern verloren 750.000 durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat, über 400 ihrer Dörfer wurden von der israelischen Armee dem Erdboden gleichgemacht, ein "Transfer Komitee" wurde eingesetzt, um die Neuansiedlung der palästinensischen Flüchtlinge (gegen deren Willen) in den arabischen Nachbarländern zu planen und eine Rückkehr zu verhindern, und die Knesset verabschiedete zwei Gesetze, das "Law of Return" und das "Absentee Property Law", die allein die jüdische "Rückkehr" legitimierten, während sie die "abwesenden" Palästinenser enteigneten.

Obwohl Israels Aufnahme in die UNO (UNO-Resolution 273 vom 11.Mai 1949) von Israel die Umsetzung bestehender Resolutionen forderte, einschließlich der Resolution 194 zum Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, verweigerten bis heute alle rechten wie linken Regierungen, sowie die Mehrheit der Friedensbewegung, den inzwischen über vier Millionen Flüchtlingen die Rückkehr. Als Israel, wieder unter einer linken Regierung, 1967 seine Grenze zum Jordan ausdehnte, wurden weitere 300.000 Palästinenser aus Westbank und Gazastreifen vertrieben. Heute wird den dort Verbliebenen durch eine Strategie des "stillen Transfers" das Leben möglichst unmöglich gemacht.

Eine humanere und modernere Alternative zur ethnisch-nationalen Exklusivität des politischen Zionismus, samt seiner "notwendigen" Transfer-Konzepte, boten dagegen die Vetreter eines kulturellen oder spirituellen Zionismus, wie Martin Buber, Hannah Arendt oder Judah Magnes. Sie wollten ein jüdisches, geistiges Zentrum in Palästina, aber in einem gemeinsamen, binationalen jüdisch-arabischen Staat. Aus der Sicht von Magnes widersprach die Vertreibung der Palästinenser dem zionistischen Bestreben, das jüdische Leben in einem Geist brüderlicher Solidarität zu rekonstruieren und den Vertreibungszyklus zu beenden. Aber auch 1961 blieben Martin Bubers Appelle an Ben Gurion für die Rückkehr der Flüchtlinge ungehört. Warum also empört sich die Arbeitspartei heute über die Transfer-Visionen, die sie selbst jahrzehntelang "erfolgreich" praktiziert hat?

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: Judith Bernstein: "Das Schweigen Europas",
SZ vom 23.6.2006, Seite 12

Sehr geehrte Leserbrief Redaktion,

Das von Judith Bernstein zu Recht kritisierte "Schweigen Europas" zum Unrecht an den Palästinensern, wird in deutschen Medien und Politik wesentlich schamloser betrieben, als anderswo. Vergangenheitsbewältigung wird hier auf Kosten Unschuldiger betrieben, was einer fairen Analyse und gerechten Lösung des Konflikts im Wege steht. Der britische "Guardian" dagegen erläutert in ausführlichen Hintergrundreportagen die ideologische und waffentechnische Allianz zwischen Israel und dem südafrikanischen Apartheids Regime. "Apartheid war eine Erweiterung des kolonialen Projekts um Menschen ihres Landes zu berauben," wird der jüdische südafrikanische Kabinettsminister und ehemalige ANC-Guerillakämpfer Ronnie Kasrils, während eines Jerusalem Besuchs, zitiert. "Das ist genau das, was in Israel und den besetzten Gebieten geschehen ist; die Anwendung von Gewalt und Gesetzen um sich das Land anzueignen. Das ist es, was Apartheid und Israel gemeinsam haben."

Die südafrikanische Homeland-Politik hatte das Ziel, Millionen Schwarze aus dem restlichen Südafrika hinauszudefinieren und dort zu rechtlosen Ausländern zu erklären, um sich ein überwiegend weißes Südafrika zu sichern, das nicht von einer schwarzen Bevölkerungsmehrheit dominiert wird. Die israelische Homeland-Politik verkauft sich besser als Mogelpackung einer "Zwei-Staaten-Lösung", mit ähnlichem Ziel, nämlich einen mehrheitlich jüdischen Staat auf 87% des Landes zwischen Mittelmeer und Jordan zu sichern, indem die palästinensische Bevölkerungsmehrheit in Flüchtlingslager jenseits der Grenzen und in Homelands in die restlichen 13% Westbank und Gazastreifen hinausdefiniert wird.

Das weiße Südafrika und Israel sahen sich als Enklaven westlicher Demokratie und Zivilisation. "Die Unterdrückten werden als Terroristen dämonisiert, um immer mehr Verletzungen ihrer Rechte zu legitimieren. Wir haben die Absurdität, daß die Opfer beschuldigt werden für die Gewalt die gegen sie angewendet wird. Beide, Apartheid und Israel, sind beste Beispiele für Terrorstaaten, die ihre Opfer beschuldigen," sagt Kasrils. Als jüdischer Veteran der Anti-Apartheidbewegung initiierte und signierte er gemeinsam mit über 200 südafrikanischen Juden eine "Declaration of Conscience", die Israels Behandlung der Palästinenser verurteilt und eine Parallele mit der Apartheid zieht.

Judith Bernstein`s mutiges "Plädoyer im Interesse Israels" könnte sich am südafrikanischen Vorbild ein Beispiel nehmen. Am 9.Juli 2005 rief die palästinensische Zivilgesellschaft, unterstützt von über 170 palästinensischen Organisationen, zur Durchsetzung ihrer Rechte zum Boycott gegen Israel auf: "Inspiriert durch den Kampf der Südafrikaner gegen die Apartheid und die internationale Solidarität, moralische Konsequenz und Widerstand gegen Unrecht und Unterdrückung ...". Die Ein-Staaten-Lösung nicht als Utopie, sondern bereits bestehende Realität anzuerkennen, sieht der israelische Ethnologe Shraga Elam als Voraussetzung. Beide Gesellschaften müßten auf ihren Nationalismus verzichten, die palästinensische Autonomiebehörde sich auflösen, und die PLO in ihrer vor-Oslo Struktur wiederbelebt werden. Nach südafrikanischem Vorbild könnte sie eine breite und effektive Basis für Palästinenser und Juden bilden, in einem gemeinsamen Kampf gegen Rassismus und für ein gleichberechtigtes Zusammenleben.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: "Brüssel stoppt Zahlungen an Hamas-Regierung" und "Palästinenser in großer Geldnot"
beide SZ vom 8./9.April 2006, S. 1 und 8

von Sabine Matthes

Sehr geehrte Leserbrief Redaktion,

Von bitterer Symbolkraft mutet es an, daß die Titelthemen "Palästinenser in großer Geldnot" und "Brüssel stoppt Zahlungen an Hamas-Regierung" genau zum 58.Jahrestag des Massakers von Deir Yassin erschienen. Israelische Neue Historiker wie Ilan Pappe belegen, daß neben anderen Massakern der israelischen Streitkräfte besonders dasjenige am 9.April 1948 in Deir Yassin, einem Dorf neben Jerusalem, zur Flucht und Vertreibung von 80 Prozent aller im zukünftigen Staat Israel lebenden Palästinenser geführt hat. Vor der israelischen Staatsgründung 1948 besaßen oder kontrollierten die Palästinenser über 90 Prozent des Landes im ehemaligen Mandatsgebiet Palästina. Heute besitzen oder kontrollieren sie nicht mehr als 10 Prozent, und über die Hälfte der Palästinenser leben als Flüchtlinge. Die humanitäre Not ist also weder Folge einer unvorhergesehenen Naturkatastrophe oder inkompetenten palästinensischen Regierung, sondern Folge einer kontinuierlichen Vertreibung, Enteignung und Entrechtung seit 58 Jahren. Sie ist das Ergebnis einer scheinheiligen Politik der EU und USA, die zwar humanitäre Hilfe leisten ohne jedoch politischen Druck auf Israel auszuüben, Menschen- und Völkerrecht einzuhalten und bestehende UNO-Resolutionen umzusetzen. Weil Israel den palästinensischen Flüchtlingen das Rückkehrrecht und/oder Kompensation (UNO-Resolution 194) verweigert, mußte die UNRWA für deren Versorgung zwischen 1950 und 2005 etwa 9 Milliarden US Dollar investieren. Wo bei anderen Konflikten wie Sudan, Bosnien oder Ruanda die Rückkehr von Flüchtlingen als Vorraussetzung eines gerechten Friedens gilt, wird sie bei den Palästinensern paradoxerweise als "extremistisch" delegitimiert. Peter Hansen, ehemaliger Chef der UNRWA, schätzt den Wert des enteigneten palästinensischen Eigentums zwischen einigen Hundert Millionen US Dollar und mehreren Hundert Milliarden US Dollar.

Nach Fertigstellung des geplanten Grenzwalls und der israelischen Annexion des Jordan-Tals, des Großraums Jerusalem, sowie größerer Siedlungsblöcke bleiben den Palästinensern etwa 12 Prozent des ehemaligen Mandatsgebiet Palästina, in vier voneinander getrennten Kantonen, deren Grenzen, Wasser und Luftraum von Israel kontrolliert werden. Das ist die Homeland-Politik der südafrikanischen Apartheid Regierungen, aber keine "Zwei-Staaten-Lösung". Wo die EU Apartheid Südafrika boykottiert hat, wieso fordert sie von der Hamas-Regierung Apartheid Israel anzuerkennen? Wieso boykottiert die EU die palästinensische Regierung, und nicht die israelische?

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes


Gedruckter Leserbrief zu: "Nichts ist unumkehrbar in Nahost"
Sonntagsblatt Nr.4, Seite 3, 27 Jan 2006

von Sabine Matthes

In seinem Artikel diagnostiziert Wolfgang Weissgerber für die anstehenden Wahlen in Israel einen "breiten Sieg der Friedenswilligen", welche die "Friedenspolitik" von Jitzchak Rabin und Ariel Scharon fortführen. Demokratische Wahlen müßten allerdings auch die über vier Millionen palästinensischen Flüchtlinge daran teilnehmen lassen, die gemäß Völkerrecht und UNO-Resolution 181 und 194 Anrecht auf israelische Staatsbürgerschaft haben, von Israel aber vertrieben, enteignet und ausgebürgert wurden. In Scharons Abzug aus dem Gazastreifen sieht Weissgerber eine "Kehrtwende", vielmehr ist er aber, wie der Mauerbau, eine Fortsetzung der israelischen Politik der ethnischen Trennung, und eine Konsolidierung der Siedlungen in Westbank und Ost Jerusalem. Die Parteien Labor, Likud und Kadima verfolgen ein ähnlich rassistisches Konzept, das die Palästinenser als demographische Bedrohung in ihrem eigenen Land ansieht.

Jeff Halper, Koordinator des israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen, sagt: "Obgleich die Palästinenser, einschließlich derer mit israelischer Staatsbürgerschaft, die Hälfte der Bevölkerung zwischen Mittelmeer und Jordan darstellen, müssen sie sich mit 15% des Landes zufrieden geben ... Sie wären in 5-6 Kantonen auf 15% ihres Landes oder gar weniger beschränkt ohne Kontrolle ihrer Grenzen, ihres Wassers und Luftraums ..., dies läuft auf eine voll entwickelte Apartheid hinaus, eine institutionalisierte Herrschaft eines Volkes über ein anderes auf Dauer." Im Sinne Scharons, so Halper, hätte Israel damit seinen Konflikt mit den Palästinensern gewonnen: "Absicherung der israelischen Kontrolle über das ganze Land und den Notfall eines lebensfähigen palästinensischen Staates aussschließen."

Im Gegensatz zur Befriedungspolitik der offiziellen Parteien strebt das israelische "Olga Document" http://oznik.com/words/040712.html einen gerechten Frieden an, beruhend auf Wahrheit und Versöhnung, Gleichheit und Partnerschaft beider Völker in ihrer gemeinsamen Heimat.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
81477 München


Gedruckter Leserbrief zu:
"Ein beispielloser Prozess. Kann ein Jude Antisemit sein?"
SZ vom 14./15.1.2006, Seite 17

von Sabine Matthes

Der Verleger Abraham Melzer will nicht den selben Fehler begehen, wie seinerzeit die westlichen Kommunisten, die mit ihren rosaroten Brillen dem russischen Volk wenig dabei geholfen haben, auf den Weg der Perestroika zu gelangen. Seine Liebe zu Israel ist weniger blind und drückt sich in teils scharfer Kritik aus, die der Publizist Henryk M. Broder als "jüdischen Selbsthass" und "Antisemitismus" diffamiert – wogegen sich Melzer gerichtlich zur Wehr setzt. Melzers Publikationen und Appelle an unsere doppelte Verantwortung für die direkten und indirekten Opfer des Holocaust, Juden und Palästinenser, sind nicht pro oder contra dieses oder jenes Volk, sondern pro Gerechtigkeit und Freiheit, contra Ungerechtigkeit und Unterdrückung.

Damit verkörpert er eine mutige, in Deutschland noch seltene, jüdische Stimme des Gewissens, wie sie der amerikanisch-jüdische Theologe Marc Ellis in einer jüdischen Befreiungstheologie fordert, welche vor allem die universale ethische Dimension des Judentums entfaltet: generell in Solidarität mit allen Leidenden der Welt, speziell im Bemühen um eine "Befreiung" der Palästinenser. Für Ellis ist die Befreiung des jüdischen Volkes verbunden mit der Befreiung des palästinensischen Volkes. Ihm zufolge liegt "in den Gesichtern der Palästinenser die Zukunft dessen, was es bedeutet, Jude zu sein." Ellis geht so weit, besonders die linken, progressiven Juden und friedensbewegten Christen für Israels ungehinderte Expansionspolitik verantwortlich zu machen, weil sie durch ihre scheinbar großzügigen Slogans der "Teilung" ein rassistisches Konzept unterstützen, das die Palästinenser als demographische Bedrohung in ihrem eigenen Land ansieht.

Instinktiv, aus den Erfahrungen der eigenen Leidensgeschichte, hatten sich viele amerikanische Juden solidarisch an die Seite der schwarzen Bürgerrchtsbewegungen von Martin Luther King und Nelson Mandela gestellt, und damit zur Gleichberechtigung in den USA und zur Überwindung der Apartheid in Südafrika beigetragen. Seine letzten Besuche im Heiligen Land haben Erzbischof Desmond Tutu tief erschüttert: "Die Apartheid ist zurück, komplett samt "Trennungsmauer" und Bantustans. Geschichte scheint sich zu wiederholen." Seit 1948 wurde die Mehrheit der Palästinenser, ähnlich wie die Schwarzen Südafrikas, durch eine Politik der Vertreibung und Rassentrennung aus ihrer Heimat hinausdefiniert, in Flüchtlingslager transferiert oder in homelands gedrängt. So riefen letzten Sommer, inspiriert vom Erfolg der Anti-Apartheidbewegung, knapp 200 palästinensische Organisationen die Weltgemeinschaft zu entsprechenden Boykotten und Sanktionen gegen Isrel auf, um die Durchsetzung von internationalem Recht, UNO-Resolutionen und Menschenrechten zu erwirken.

Abraham Melzer ergeht es ähnlich, wie seinerzeit den weißen Kritikern der Apartheid, die für ihren "Verrat" von der Dutch Reformed Church als "anti-christlich" gebrandmarkt wurden, um weitere potentielle "Verräter" abzuschrecken und eine Bloßstellung des Systems zu verhindern. Inzwischen sind diese "Verräter" zu Helden geworden.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: "Terminals statt Theken"
SZ vom 12.1.2006, Seite 41, Münchner Teil

von Sabine Matthes

Während in den angelsächsischen Ländern Millionen neue Dienstleistungs-Arbeitsplätze entstehen, die auch ungelernten Immigranten Einstiegschancen bieten, werden diese in Deutschland abgebaut und durch Automaten ersetzt. Als "erste Bücherei Europas" stellt jetzt die Münchner Stadtbibliothek ihr gesamtes Ausleihsystem auf Automatik um: die Leser müßen ihre Bücher selbst an Terminals ein- und ausbuchen. Zumindest manch treuen Senioren Leser wird dies abschrecken.

Wo einen in London hilfsbereite Pakistanis in gelben Leuchtwesten durch den U-Bahn Dschungel leiten, oder einem in New York von schwarzen Einpackerinnen an der Supermarktkasse ein Schöner Tag zugelächelt wird, da sind in München die Ticketschalter der U-Bahn seit Jahren verwaist (und nötigen hilflose Touristen zu Schwarz- und Irrfahren), einsame Kassiererinnen ersetzen Verkäuferinnen, und geschlossene Bahn-, Bank- und Postschalter zwingen ihre Kunden zum do-it-yourself am Automaten oder eigenen Computer. Paradoxerweise scheint trotz dieses Mangels an menschlicher Zuwendung die Angst vor Zuwanderung in Deutschland größer, als vor Automatisierung. Um unseren demographischen und wirtschaftlichen Problemen entgegenzusteuern (in USA erkennt man selbst illegale Immigranten als kaufende Wirtschaftskraft an), braucht es positive Signale für die dringend benötigte Einwanderung, sonst wird aus der Gouvernante Deutschland ein ziemlich asozialer Sozialstaat.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: "Zusammen leben oder sterben"
Sonntagsblatt Nr.40

von Sabine Matthes

(Email vom 06.10.05)

Ob die Mitglieder der evangelischen Landessynode bei ihrer Reise durch Israel/Palästina auch die Jerusalemer Organisation "Sabeel" besucht haben, deren Wurzeln in der Gemeinde der einheimischen Christen des Heiligen Landes liegen? In den USA, Kanada, England und anderen Ländern engagieren sich "Friends of Sabeel" für einen gerechten Frieden im Heiligen Land, indem sie eine genauere Wahrnehmung der Palästinenser fördern, dadurch, daß sie weltweit Christen über die Geschichte und Identität der palästinensischen Christen unterrichten und Freundschaften zwischen den westlichen Kirchen und der ursprünglichen Mutter aller Kirchen im Heiligen Land fördern. Der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu ist "Patron of Sabeel International", und er war durch die "Wahrheits- und Versöhnungskommission" maßgeblich an der Vergangenheitsbewältigung und am friedlichen Übergang von Apartheid Südafrika zur Demokratie beteiligt. Wenn Israel sich durchringen könnte, die von den israelischen Neuen Historikern aufgearbeitete Vertreibung der Palästinenser von 1948 als Ursache und Lösung des Konflikts anzuerkennen, und eine echte Demokratie zuzulassen, mit gleichen Rechten für all seine Bürger und Flüchtlinge, dann könnte eine entsprechende Kommission zur Versöhnung beitragen. Denn nicht nur die desolate Lage der Palästinenser in Gaza und Westbank erfordert die Hilfe des Westens. Die Mehrheit aller Palästinenser sind Flüchtlinge, deren Versorgung durch die UNRWA von 1950 bis heute etwa neun Milliarden US Dollar gekostet hat, einzig, weil Israel ihnen die Rückkehr verweigert.

Seine Besuche im Heiligen Land haben Desmond Tutu tief erschüttert: "Sie haben mich so sehr daran erinnert, was uns Schwarzen in Südafrika passierte. Apartheid ist zurück, komplett mit der "Trennmauer" und Bantustans. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Trotzdem, wenn der Frieden nach Südafrika kommen konnte, kann er sicher auch ins Heilige Land kommen." In Südafrika allerdings half die Weltgemeinschaft mit Sanktionen.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München

2005
"Frieden ist mehr als Befriedung".
Gespräch mit Mazin Qumsiyeh über den Israel-Palästina-Konflikt,
über Gazaabzug, Menschenrechte sowie den moralischen Imperativ der Ein-Staaten-Lösung

Interview: Sabine Matthes

junge Welt vom 13.08.2005, Wochenendbeilage

* Mazin B. Qumsiyeh, christlich palästinensisch-amerikanischer Menschenrechtsaktivist und im Vorstand der "Gesellschaft für einen demokratischen Staat in Palästina/Israel" (http://one-democratic-state. org), bietet in seinem Buch "Sharing the Land of Canaan. Human Rights and the Israeli-Palestinian Struggle" (Pluto Press 2004) eine alternative Vision. Weitere Informationen: http://qumsiyeh.org

F: Um die Ungerechtigkeit und den wunden Punkt im festgefahrenen Israel-Palästina-Konflikt zu erkennen, genügt ein Blick auf zwei Karten. Eine, die den Verlauf des israelischen Grenzwalls zeigt, der nach Fertigstellung die De-facto-Grenze des sogenannten palästinensischen Staates sein wird: vier eingemauerte palästinensische Kantone – nördliche und südliche Westbank, Jericho und Gazastreifen – auf etwa zwölf Prozent des ehemaligen Mandatsgebiets Palästina. Und eine Karte des UN-Hilfswerks UNRWA, mit den 59 palästinensischen Flüchtlingslagern, verstreut über ganz Libanon, Syrien, Jordanien, Westbank und Gazastreifen, wo über vier Millionen palästinensische Flüchtlinge gezwungenermaßen im Exil leben, seit Israel sie 1948 vertrieben hat, ihre Dörfer zerstörte, ihr Land und Eigentum konfiszierte, und ihnen seitdem die Rückkehr verweigert. Die Erwartungen, die der kommende Woche beginnende Gazarückzug weckt, wobei Israel lediglich 8000 (zwei Prozent) seiner insgesamt 400000 jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten Westbank, Ostjerusalem und Gazastreifen abzieht, scheinen angesichts dessen nicht angebracht. Sie entlarven die Unmöglichkeit einer Zwei-Staaten-Lösung und verlangen nach anderen Ideen. Warum sind das Oslo-Abkommen und die Zwei-Staaten-Lösung gescheitert?

Amnesty International sagte, der Grund dafür, daß Oslo und andere "Friedensvorschläge" scheitern, ist, daß sie Menschenrechte ignorieren. Die Organisation argumentiert, daß kein dauerhafter Frieden erreicht werden kann, ohne grundlegende Menschenrechte wie das Rückkehrrecht von Flüchtlingen. In Wirklichkeit gab es nie eine echte Zwei-Staaten-"Lösung", die mit dem politischen Zionismus vereinbar ist. Es liegt im Wesen des politischen Zionismus, Ungerechtigkeit und Rassentrennung zu verursachen. Bei seinen alten Standpunkten zu Themen wie Jerusalem miteinander zu teilen oder Flüchtlingen die Rückkehr zu erlauben, kann er keine Kompromisse eingehen.

Es gab viele "Friedensvorschläge": von Hart, Zinni, Mitchel, Tenet, in Oslo, Genf, und dann die "Road Map". Sie alle kranken an demselben ursächlichen Fehler: Unkenntnis von Menschenrechten und grundsätzlichen Lehren des internationalen Rechts. Die Tatsachen vor Ort, bestätigt durch israelische Aussagen, zeigen, daß der vorgesehene palästinensische "Staat" nach israelischen Plänen (sowohl von Labor wie Likud), den Bantustans der südafrikanischen Apartheid entsprechen wird. Israel errichtet weiterhin seine massive Trennungsbarriere um die verbliebenen palästinensischen Enklaven. Alle israelischen Siedlungen in den seit 1967 besetzten Gebieten sind nach internationalem Recht und der Vierten Genfer Konvention illegal, trotzdem leben dort 400000 Siedler, und weitere Siedlungen werden gebaut. Die "Road Map", ein Ergebnis der Oslo-Abkommen, umfaßt 2218 Worte, aber es fehlen drei Schlüsselworte: Menschenrechte, internationales Recht.

F: Gideon Levy beschrieb in der israelischen Zeitung Haaretz die bittere Ironie des Gazarückzugs: Während die Siedler von Gush Katif aus dem Gazastreifen umgesiedelt werden in die Küstenebene zwischen Jaffa und Gaza, um dann dort auf den Ruinen der zerstörten palästinensischen Dörfer zu leben, bleiben die vertriebenen Einwohner dieser Dörfer weiterhin Gefangene der Flüchtlingslager in Gaza. Vergrößert der israelische Rückzug die Chance für einen lebensfähigen "palästinensischen Staat"?

Nein. Dov Weisglass, rechte Hand von Premierminister Ariel Scharon, war sehr deutlich, als er den Zweck der Gespräche über den Gazaabzug erklärte: um das Entstehen eines souveränen palästinensischen Staates zu verhindern, um den Friedensprozeß "in Formaldehyd" zu legen, und aus Washington wichtige Unterstützung herauszuholen. Außerdem dürfen wir den Prozeß vor Ort nicht vergessen. Israel führte seine kolonialen Aktivitäten, wie Landkonfiszierung, den Bau der Apartheidmauer und den Siedlungsbau in der Westbank (einschließlich Ostjerusalem) fort. Alle spielen ein Spiel: "Laßt uns so tun, als ob". Wir tun so, als ob Israel sich aus Gaza zurückzieht – tatsächlich findet, laut israelischer Führer, nur eine Verschiebung statt. Wir tun so, als ob Flüchtlinge einfach ihre Rechte vergessen würden. Wir tun so, als ob Israel, das die Zahl der Siedler in den besetzten Gebieten verdoppelt hat, nachdem es die Oslo-Abkommen unterzeichnet hatte, "die Siedlungen in Angriff nehmen wird". Und wir tun so, als ob all dies Gerede Frieden bringen würde.

F: Welchen Vorteil haben Israelis und Palästinenser in einem gemeinsamen Staat?

Es wäre ein Gewinn für alle, wenn der Konflikt keine Opfer mehr fordert. Auf palästinensischer Seite war deren Zahl unverhältnismäßig hoch. Staatsangehörigkeit mit gleichen Rechten und Pflichten, unabhängig von der Religion, ist ein wesentlich besseres nationales Konzept. Es trägt zum Wirtschaftswachstum bei und verbessert den Lebensstandard für alle.

F: Kann ein gemeinsamer israelisch-palästinensischer Staat antijüdische und antiisraelische Haltungen auf arabischer Seite verringern, und so zum Ende des Terrors und zur Abrüstung im Nahen Osten beitragen?

Frieden muß auf Wahrheit und Gerechtigkeit, nicht bloßer "Befriedung", beruhen. Ein Schlüsselelement für Gerechtigkeit ist Gleichberechtigung, und wenn Menschen gleich behandelt werden, haben sie wenig Anlaß zur Feindseligkeit. Antijüdische – normalerweise, aber irrtümlich, als anti-"semitisch" bezeichnet -, antimuslimische und antichristliche Ressentiments mögen bei einer winzigen Minderheit bestehen bleiben. Aber solche Lösungen, die auf Gleichberechtigung basieren, sind das beste Heilmittel gegen die pathologischen Ursachen von Gewalt und Haß: die Krankheiten Habgier und Kontrolle, die der kolonialen Besatzung eigen sind. Frieden in einem gemeinsamen Staat könnte weitreichende Folgen haben, etwa für das Streben nach gleichen Bürgerrechten der islamischen Gemeinden im Westen, die mit der Notlage der palästinensischen Flüchtlinge (Muslime und Christen) sympathisieren.

F: Der libysche Staatschef Muammar el Ghaddafi ist mit seinem Buch "Isratine" (Israel+Palestine=Isratine) Fürsprecher der Ein-Staaten-Lösung. Warum ist bei den Palästinensern die Zwei-Staaten-Lösung dominant, obwohl sie früher einen einheitlichen Staat befürwortet haben?

Das palästinensische nationale Konzept vertrat von den 1930ern bis 1988 die Ein-Staaten-Lösung. Der Übergang zum Zwei-Staaten-Konzept wurde keineswegs von allen palästinensischen Führern akzeptiert. Viele Splitterparteien und Anführer treten immer noch für einen einheitlichen Staat ein. Während der Zwei-Staaten-Mythos verblaßt, werden mehr Menschen den Kampf für nationale Einheit und Gleichberechtigung wieder aufnehmen.

F: Im Widerspruch zu den UN-Resolutionen 181 und 194 definiert sich Israel selbst als "jüdischer Staat" im Sinne des politischen Zionismus: ein Staat mit jüdischer Mehrheit, in flexiblen Grenzen. Warum haben trotzdem alle israelischen Regierungen, Labor und Likud gleichermaßen, Siedlungen in den besetzten Gebieten gebaut, und dadurch seit 1967 eine de facto binationale Realität geschaffen?

Israel ist einzigartig in der Welt, indem es nicht ein Staat seiner Bürger ist, sondern sich als Staat für "jüdische Menschen überall" definiert. Der politische Zionismus hat Judäa und Samaria (die Westbank) immer als Teil des zionistischen Staates betrachtet. Das Dilemma war, was man mit den ursprünglichen Bewohnern machen sollte. Gelöst wurde es so, daß man sich allmählich ihr bestes Land und ihre Bodenschätze (Wasser!) aneignete, und sie wirtschaftlich unter Druck setzte, damit sie fortgehen. Die Siedlungen waren das Werkzeug, um dieses Ziel, ein Maximum an Land mit einem Minimum an Palästinensern, zu erreichen. Als klar wurde, daß die Mehrheit blieb, wurden andere Ideen, wie die sie in kleine Kantone einzuzwängen, entwickelt.

F: In Israel/Palästina wurde die Mehrheit der Einheimischen vertrieben, wie in Südafrika, eingeschlossen in Flüchtlingslager und Kantone oder Townships und Homelands. Der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu sagte: "Meine Besuche im Heiligen Land erinnern mich so sehr an Südafrika. Die Apartheid ist zurück, komplett samt Trennungsmauer und Bantustans. Geschichte scheint sich zu wiederholen. Trotzdem, wenn der Frieden nach Südafrika kommen konnte, kann er sicher auch ins Heilige Land kommen." Ist die Ideologie des politischen Zionismus mit der Apartheid vergleichbar?

Da gibt es Ähnlichkeiten und Unterschiede. Beide Systeme – Apartheid-Südafrika und zionistisches Israel – glaubten an eine offenbarte Vorsehung mit religiöser Segnung, um das Land wiederzuerlangen. In beiden Fällen ging es den Siedlern nicht um die Ausdehnung eines bestehenden Reichs, wie bei der Kolonisation Algeriens oder Indiens, sondern kamen aus verschiedenen Ländern. Sie wurden von größeren Mächten unterstützt, England und USA. In beiden Fällen wurden die Einheimischen unterschiedlich als nichtvorhanden betrachtet, als Quelle für Ärgernisse oder billige Arbeit. Beide entwickelten Gesetze, um eine Gruppe gegenüber anderen zu fördern, basierend auf der Hautfarbe im einen Fall, auf der Religion im anderen. Aber es gibt auch Unterschiede. Das weiße Regime in Südafrika wollte schwarze Arbeit in viel größerem Umfang. Der Zionismus versuchte, eine koloniale jüdische Arbeitskraft zu entwickeln, während er palästinensische Arbeit benutzte, und manchmal sephardische Juden im Dienst der aschkenasischen Eliten ausnutzte. In Südafrika wurden die Schwarzen in Bantustans verwiesen. In Israel/Palästina wurde die Mehrheit der Palästinenser vertrieben und/oder in Kantone mit hohen Mauern und Zäunen gedrängt, während man von einem "palästinensischen Staat" spricht.

F: Um eine jüdische demographische Mehrheit sicherzustellen, entwickelte Israel eine "ethnische Demokratie", die Palästinensern entweder gar keine Staatsangehörigkeit gibt (Flüchtlinge) oder eine Staatsangehörigkeit dritter Klasse (interne Flüchtlinge: "anwesende Abwesende") oder zweiter Klasse. Welche diskriminierenden Gesetze müßten geändert werden, um Israel/Palästina in eine pluralistische Demokratie zu verwandeln, mit gleichen Rechten für all seine Bürger und Flüchtlinge?

Israel hat keine Verfassung, sondern eine Reihe von grundlegenden Gesetzen, die von der Knesset erlassen wurden. Diese Gesetze aus der Zeit von 1949 bis 1955 schließen einige wichtige ein, die grundsätzliche Menschenrechte verletzen. Das "absentee property law" (Gesetz zum Eigentum Abwesender) garantiert den Erwerb des Eigentums von Palästinensern, die aus ihren Häusern entfernt wurden, und wandelt solches Eigentum um, zur ausschließlich jüdischen Benutzung. Mit den Gesetzen zu den Staatsangehörigkeitsrechten wird christlichen und muslimischen Palästinensern das Recht auf Staatsbürgerschaft verweigert, nachdem sie von ihren Häusern und Grundstücken vertrieben worden sind. Dieselben Gesetze erlauben automatische Staatsangehörigkeit nur für Juden, einschließlich zum Judentum Konvertierte. Eine ganze Reihe von Gesetzen und Regelungen wurde in Kraft gesetzt oder selektiv aus den osmanischen und britischen Gesetzen übernommen, um effektiv sicherzustellen, daß Land von Christen und Muslimen in jüdischen Besitz übergeht.

F: Als Genetiker stellen Sie das zionistische Konzept der "Rückkehr" in Frage. Warum?

Politische Zionisten reklamieren gerne eine gemeinsame jüdische Abstammung in Palästina, was eine "Rückkehr" von "Diaspora-Juden" rechtfertige. Wissenschaftliche Belege aus der Archäologie, Geschichte, Genetik, Kultur und vielen anderen Bereichen zeigen jedoch deutlich, daß Juden eine religiöse Gemeinschaft sind, die verschiedene Ethnien, Kulturen und Sprachen einschließt. So gibt es klare Belege dafür, daß viele gebürtige jüdische Araber verwandt sind mit anderen Arabern, die in denselben Gegenden leben, aber alle ziemlich verschieden von europäischen (Aschkenasim) und äthiopischen Juden sind. Jemenitische Juden sind jemenitischen Muslimen nahe, äthiopische Juden sind äthiopischen Christen nahe, und so weiter. Für einen Blick in diese Diskussion siehe http://ambassadors.net/ archives/issue11/opinions2.htm.

F: Was zeigt, daß Israel bereits eine Vielvölkergesellschaft ist, für die ein binationaler Staat keine Bedrohung darstellen sollte. Arabische Juden, die etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels ausmachen, könnten eine kulturelle Brücke in einem jüdisch-palästinensischen Staat sein. Sind sie auch natürliche Verbündete einer palästinensischen Bürgerrechtsbewegung?

Palästinenser sind, meiner Meinung nach, natürliche Verbündete aller Menschen, die sich nach Gleichberechtigung und Gerechtigkeit sehnen. Sephardische Juden haben durch aschkenasische Zionisten viel gelitten. Aber es ist auch wahr, daß sephardische Juden bei der Unterdrückung der Palästinenser mitmachten, und daß aschkenasische Juden sich gegen den politischen Zionismus engagierten und aussprachen – von Martin Buber zu Albert Einstein und Hannah Arendt. Verallgemeinerungen wären also schwierig.

Adresse: http://www.jungewelt.de/2005/08-13/028.php

Press Release of the Green Party of the United States: www.gp.org/press/pr_2005_08_16.shtml [link expired, 2023]


Leserbrief zu: Moshe Zimmermann "Wer ist der Nächste?"
SZ vom 4.11.2005, Seite 19

von Sabine Matthes

Sehr geehrte Leserbrief Redaktion,

Moshe Zimmermann`s Sympathie gilt eindeutig dem ermordeten Jitzhak Rabin, wohingegen er seinen "Gegenspieler", den ebenfalls ermordeten Rechavam Seevi, Führer einer rechtsradikalen Partei, als "Schandfleck der israelischen Demokratie" bezeichnet, weil er "sich vehement für den Transfer (Klartext: die Vertreibung) der Palästinenser einsetzte." Gerne schiebt die israelische Linke den Schwarzen Peter den Rechten oder Religiösen zu, um sich anscheinend dadurch quasi moralisch freizusprechen, daß den Palästinensern unter den linken Regierungen tatsächlich mehr Leid angetan wurde, als unter den rechten – von der Nakba ("Katastrophe") 1948 bis zur Besetzung und Besiedlung seit 1967. Unter David Ben Gurion wurden 1948, im Zuge der israelischen Staatsgründung, 750.000 Palästinenser (80 Prozent) vertrieben, enteignet und ausgebürgert, Hunderte ihrer Dörfer zerstört und ein Transfer Komitee eingesetzt, um die Neuansiedlung der Flüchtlinge (gegen deren Willen!) in den arabischen Nachbarländern zu planen und eine Rückkehr zu verhindern. Rabin selbst war im Juli 1948 als damaliger Oberstleutnant der Operation Dani direkt bei der Verteibung von über 60.000 Palästinensern aus Lydda und Ramle beteiligt gewesen. Trotzdem war für ihn, als späterer Premierminister, die Rückkehr der Flüchtlinge von 1948 ebenso ein Tabu, wie für alle anderen, rechten wie linken, Regierungen und die Mehrheit der Friedensbewegung. Und das, obwohl Israel nur unter der Bedingung in die UNO aufgenommen wurde, unter anderem Resolution 194, das Rückkehrrecht der Flüchtlinge, zu erfüllen.

Daß die Transfer-Ideologie im politischen Zionismus keine Anomalie der (extremen) Rechten ist, wie Moshe Zimmermann suggeriert, sondern von Beginn an eine zentrale Rolle gespielt hat, haben israelische und palästinensische Neue Historiker wie Ilan Pappe und Nur Masalha nachgewiesen. Um ein mehrheitlich arabisches Land in einen mehrheitlich jüdischen Staat zu verwandeln, war bereits Theodor Herzl 1895 klar gewesen: "Wir müssen auf korrekte Weise enteignen ... Wir werden versuchen, die ärmsten Teile der Bevölkerung auf der anderen Seite der Grenze anzusiedeln und ihnen zur Beschäftigung in den Aufnahmeländern verhelfen, aber ihnen die Beschäftigung in unserem Land vorenthalten." 1938, zehn Jahre vor der tatsächlichen Vertreibung, hatte Ben Gurion als Vorsitzender der Jewish Agency im britischen Mandatsgebiet eindeutig formuliert: "Ich bin für eine Umsiedlung mit Gewalt. Ich sehe darin nichts Unmoralisches."

Martin Buber`s Appelle an Ben Gurion blieben ungehört. Als Vertreter eines anderen – kulturelle, humanistischen – Zionismus, war er für einen gemeinsamen jüdisch-arabischen Staat und gegen eine Trennung, die eine Vertreibung provozieren würde. Auch für Judah Magnes, den ersten Präsidenten der Hebrew University, und ebenso religiös, Zionist und Binationalist wie Buber, wiedersprach die Vertreibung der Palästinenser dem zionistischen Bestreben, das jüdische Leben sowie die jüdische Kultur in einem Geist der brüderlichen Solidarität zu rekonstruieren. Sie wollten den Vertreibungszyklus beenden und sind die echten "Gegenspieler" der Transfer-Ideologie.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München


Leserbrief zu: "Europa braucht Grenzen"
Chrismon 10/2005, Seite 26

(Email vom 05.10.05)

Konrad Adam lobt einerseits den "Selbstzweifel" als europäisches Markenzeichen, andrerseits strotzt sein Artikel vor (europäischer?) selbstgerechter Überheblichkeit. Der von Adam gepriesene "erstaunliche Siegeszug, mit dem die europäische Kultur fast die gesamte Welt erobert hat" bedeutete für viele Völker Kolonialismus, Plünderung ihrer Rohstoffe und Kulturschätze, mit denen sich unsere Königshäuser, Kirchen und Museen bereicherten, und eigennützige Grenzziehungen, die bis heute Konflikte provozieren. Sich heute der "Tradition der Menschenrechte" zu rühmen, nachdem die größten Menschheitsverbrechen von deutschem und europäischem Boden ausgingen, zeugt wenig von der "Tugend des Selbstzweifels". In diesem Sinne wäre der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk, der mutig, kritisch und neugierig die eigene Geschichte hinterfragt, ein wesentlich "besserer" Europäer, als der deutsche Publizist Konrad Adam.
Sabine Matthes
München



(Gedruckter) Leserbrief zu "Streit um Moschee eskaliert"
SZ vom 6.5.2005, S. 51, Münchner Teil

Sehr geehrte Leserbrief Redaktion Münchner Teil,
Beschämende Ironie: während im münchner Norden bei der jüdischen Gedenkfeier zum 60.Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau die Warnung "Wehret den Anfängen" bekräftigt wurde, geschah bei einer Diskussionsveranstaltung der CSU zu einem geplanten Moschee Bau im münchner Süden genau das Gegenteil. Offen agressiv und mit vereinter Überzeugung von CSU und NPD wurde die Minderheit der Moschee-Befürworter mundtot gebuht. Besonders irritierend ist, daß der CSU, eifrige Hüterin bayerischer Provinzialität wo sich Pluralismus in der Vielzahl von Biergärten erschöpft, die Komplizenschaft der NPD sichtlich gelegen kam, um ihrem eigenen anti-islamischen Stimmungsbild publikumswirksam Nachdruck zu verleihen. Ob man künftig Synagogen-Befürworter ebenso hemmungslos gehässig behandeln wird?


(Gedruckter) Leserbrief zu "Israel lehnt Friedensplan aus Algier ab"
24./25.3.2005, Süddeutsche Zeitung

(Email vom 01.04.05)

From: "Sabine Matthes"
To: leserbriefe at sueddeutsche.de
Subject: "Israel lehnt Friedensplan aus Algier ab", Süddeutsche Zeitung 24./25.3.2005, Seite 9

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

beim Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Algier wurden die Äußerungen des libyschen Staatschefs Muammar el Gaddafi über die Unfähigkeit der Israelis und Palästinenser zur Lösung ihres Konflikts mit Gelächter quittiert. Dabei liegt Gaddafis eigener Friedensvorschlag (den die SZ leider nicht erwähnte) eines gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Staates, wie er ihn in seinem Weißen Buch "Isratine" (Israel+Palestine=Isratine) beschreibt, durchaus im Trend eines wachsenden Bewußtseins, daß es für eine Zwei-Staaten-Lösung zu spät ist.

Für Meron Benvenisti, ehemaliger stellvertretender Bürgermeister von Jerusalem, ergibt sich die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in Richtung binationaler Staat aus der Realität. Für ihn ist der politische Zionismus das Opfer seiner Siege geworden, weil er den Traum eines mehrheitlich jüdischen Staates durch die fortgesetzte Besiedelung seit 1967 nicht mehr verwirklichen kann.

Gaddafis Friedensplan gibt sowohl jüdischen Siedlern das Recht, in dem von ihnen als heilig betrachteten Judäa und Samaria zu leben, als auch palästinensischen Flüchtlingen innerhalb Israels frei ihren Wohnsitz zu wählen. Mit einer gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Armee wäre "Isratine" nicht länger Feindesland seiner arabischen Nachbarn, sondern könnte, laut Gaddafi, der Arabischen Liga beitreten, und zur Abrüstung aller Massenvernichtungswaffen des Nahen Osten führen.

Auch das israelische "Olga Document", das letzten Sommer von hunderten israelischen Intellektuellen wie Meron Benvenisti, Moshe Zimmermann und Moshe Zuckermann, unterzeichnet wurde, vertritt anstelle von Trennung und Teilung eine alternative Vision von jüdisch-palästinensischer Gemeinsamkeit, Gleichheit und Partnerschaft in ihrer gemeinsamen Heimat.


(Gedruckter) Leserbrief zu Titelthema "Spielball der Interessen"
von Helmut Frank, Sonntagsblatt Nr.4

(Email vom 22.01.05)

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Ob der neue palästinensische Präsident Mahmoud Abbas ein "Hoffnungsträger" im Heiligen Land werden kann, liegt nicht an einer "möglichen Anerkennung Israels" von Seiten der Palästinenser, denn diese ist längst geschehen. Viel mehr geht es um die Frage: welches Israel? Israel selbst definiert sich im Sinne des politischen Zionismus als mehrheitlich jüdischer Staat, ohne endgültige Grenzen. Die Verwirklichung dieser Vision im mehrheitlich arabischen Palästina mußte unweigerlich, in Praxis und per Gesetz, zu Vertreibung, Enteignung und Entrechtung der arabischen einheimischen Bevölkerung führen. Dies widerspricht den, an die Entstehung Israels geknüpften, UNO-Resolutionen 181, 194 und 242. Bis jetzt verweigern apartheid-ähnliche Gesetze wie das Absentee Property Law von 1950 (das seit Juli letzten Jahres auch für Ost Jerusalem gilt, wodurch Tausende in der West Bank lebende Palästinenser ihren Besitz in Ost Jerusalem verlieren werden) den inzwischen vier Millionen palästinensischen Flüchtlingen von 1948 das Recht auf ihr Land und Eigentum in Israel, und auf die israelische Staatsbürgerschaft. Ein Viertel, etwa 250.000, der innerhalb Israel verbliebenen Palästinenser werden durch besagtes Gesetz als "anwesende Abwesende" klassifiziert, die zwar als Steuerzahler und Wähler anwesend sind, aber ebenfalls das Recht auf ihr Land und Eigentum von vor 1948 verloren haben. Die Palästinenser, Arafat wie Abbas, fordern nichts weiter, als ein demokratisches Israel in festen Grenzen, das gemäß UNO-Resolutionen und Völkerrecht für all seine Bürger und Flüchtlinge die gleichen Rechte gewährt. Ein demokratisches Israel wäre allerdings nicht länger ein mehrheitlich jüdisches Israel.

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes


(Gedruckter) Leserbrief zu "Damals"
Jan. 2005, Seite 8: Dr. Michael Tilly: "Ewig und unteilbar?"

(Email vom 19.12.2004)

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

In seinem interessanten Jerusalem Artikel "Ewig und unteilbar?" schreibt der Autor Dr. Michael Tilly über die israelische Staatsgründung fälschlicherweise: "Zehntausende muslimische und christliche Palästinenser mußten die von Israel annektierten Gebiete im Westjordanland "aus strategischen Gründen" verlassen." Israelische "Neue Historiker" wie Ilan Pappe sprechen von ethnischer Säuberung, denn von insgesamt etwa 900.000 im zukünftigen Staat Israel lebenden Palästinensern verloren 750.000 durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat, über 400 ihrer Dörfer wurden von der israelischen Armee dem Erdboden gleichgemacht, Gesetze enteigneten die "abwesenden" Palästinenser und machen sie, bis heute, zu einem Volk mit über vier Millionen Flüchtlingen, denen Israel ihr, gemäß UNO-Resolution 194 bestätigtes, Rückkehrrecht verweigert. Dies geschah nicht "aus strategischen Gründen", sondern aus demographischen, weil nur durch die Vertreibung der Palästinenser aus einem mehrheitlich arabischen Land ein mehrheitlich jüdischer Staat, im Sinne des politischen Zionismus (Theodor Herzl), entstehen konnte. Schon damals hatte der amerikanische Rabbiner Judah Magnes, wie Martin Buber Vertreter eines humanistischen Zionismus, gewarnt, daß eine solchermaßen "notwendige" Vertreibung dem zionistischen Bestreben widersprechen würde, das jüdische Leben in einem Geist brüderlicher Solidarität zu rekonstruieren. So hatte Magnes 1948 dem amerikanischen Präsidenten Truman empfohlen, dem gerade gegründeten Staat Israel die Anerkennung zu verweigern. Um eine Teilung Palästinas zu verhindern, hatte sich Magnes für eine amerikanische Militärpräsenz in Jerusalem ausgesprochen. Vielleicht wären dadurch die Vorhersagen von Martin Buber und Hannah Arendt über die Entstehung eines jüdischen Sparta unerfüllt geblieben.

Mit freundlichen Grüßen,

Sabine Matthes

2004
(Gedruckter) Leserbrief zu SZ 28.10. S.2
Scharons Rückzugsplan

(Email vom 11.11.2004)

Sehr geehrte Leserbrief-Redaktion,

Zwei Koordinaten israelischen Selbstverständnisses haben sich mittlerweile als Fata Morgana erwiesen. Erstens hat Israel selbst sich durch seinen, von Thorsten Schmitz richtig analysierten, kontinuierlichen und irreversiblen Siedlungsbau von einer realen "Zwei-Staaten-Lösung" längst verabschiedet. Daran ändert auch der hypothetische Umzug aus Gaza nichts. Zweitens hat sich "jüdische Identität" als Definition für eine multinationale, säkulare Mosaikgesellschaft wie Israel als Illusion erwiesen, unabhängig davon, wo man die Grenzen zieht. Denn inzwischen stellen die arabischen Juden fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung, sie stehen den Palästinensern in Kultur und Geschichte weit näher als den europäischen Juden (weswegen sie von diesen ähnlich diskriminiert werden), und beweisen, daß sich jüdische und arabische Identität nicht ausschließen, sondern gemeinsam existieren können, so wie sie es in der arabischen Welt vor der Existenz Israels schon taten. Antisemitismus war kein arabisches Problem.

Interessant und verblüffend logisch weden dadurch die Argumente des palästinensischen Autors Salman Abu-Sitta. Für ihn sind nicht die 400.000 israelischen Siedler in Westbank, Ostjerusalem und Gaza ein Friedenshinderniss, sondern die 200.000 jüdische Landbevölkerung, die, häufig ineffektiv, in Kibbuzim und privaten Farmen, die israelische Landwirtschaft betreiben und damit das Land der vier Millionen palästinensischen Flüchtlinge nutzen und Kontrollieren, die oft nur wenige Kilometer entfernt in engen Flüchtlingslagern leben. Die 850.000 Flüchtlinge in Gaza leben zusammengedrängt bei einer Dichte von 4.200 Personen pro Quadratkilometer, jenseits des Stacheldrahts sehen sie ihr Land in Israel, von dem sie 1948 vertrieben wurden, beinahe leer, mit einer Dichte von fünf Personen pro Quadratkilometer. Damit widerlegt Abu-Sitta das Argument, die palästinensischen Flüchtlinge hätten "keinen Platz" in Israel, denn 78 Prozent aller israelischen Juden leben in nur 14 Prozent des Landes (hauptsächlich um Tel Aviv, Haifa und Jerusalem), der riesige Rest ist von ländlicher Bevölkerung besiedelt (etwa 200.000).

Für einen gerechten Frieden, aus Sicht der palästinensischen Flüchtlinge, ist die Unterscheidung zwischen "legalen" Siedlern innerhalb Israels, und "illegalen" Siedlern außerhalb, letztlich unerheblich.

(Sabine Matthes)


(Gedruckter) Leserbrief zu "Ein Leben in Sackgassen"
FAS Nr. 45, Politik, S. 3 (Barry Rubin)

11.11.2004

Sehr geehrte Leserbriefredaktion,

Wie kritisch man Jassir Arafat auch betrachtet, einige Vorwürfe, die Barry Rubin in seinem Artikel "Ein Leben in Sackgassen" gegen ihn vorbringt, widersprechen historischen Fakten und delegitimieren dadurch die Rechte aller Palästinenser. Rubins ungeheuerliche Anschuldigung "Im Kern war Arafats Projekt eines des Völkermords: die Vernichtung Israels und seiner Menschen" ist ebenso absurd, als würde man den Indianern unterstellen, sie hätten "die Vernichtung Amerikas" im Sinn gehabt. Indianer, wie Palästinenser, wehrten sich gegen Kolonisierung, Vertreibung, Entrechtung und Enteignung ihres Landes. Der israelische "Unabhängigkeitskrieg" und die Staatsgründung 1948 kamen für die Palästinenser einer ethnischen Säuberung gleich, von insgesamt etwa 900.000 verloren 750.000 durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat, 400 ihrer Dörfer wurden von der israelischen Armee dem Erdboden gleichgemacht und apartheid-ähnliche Gesetze, wie das israelische "Absentee Property Law" von 1950, enteigneten die "abwesenden" Palästinenser und machten sie, bis heute, zu einem Volk von Flüchtlingen, denen Israel die Rückkehr verweigert.

Die Deutschen haben den Holocaust begangen, nicht die Palästinenser, trotzdem hat Arafat den Palästinensern im Osloer Abkommen einen historischen "Kompromiss" abverlangt, auf 78% ihres Landes zu verzichten und dort Israel anzuerkennen. Den Friedensplan in Camp David mußte Arafat aussschlagen, da er nicht auf der vollen Umsetzung der UNO-Resolutionen 194 und 242 beruhte – die in Rubins Artikel bezeichnenderweise unerwähnt bleiben. Mit der 2.Intifada zettelte nicht Arafat "einen weiteren Krieg" an, sondern sie war die Reaktion auf Scharons provokativen Tempelberg Besuch und den fortgesetzten israelischen Siedlungsbau in Gaza, Westbank und Ost Jerusalem, der die palästinensische Hoffnung auf einen eigenen Staat in 22% Rest-Palästina zunehmend begrub.

(Sabine Matthes)

Initiative für einen einzigen demokratischen Staat in Palästina/Israel
von Sabine Matthes (12.08.04)

Vom 23.-25. Juni fand in der Universität von Lausanne, Schweiz, eine internationale Konferenz "One Democratic State" statt, mit dem Ziel, die "Initiative für einen einzigen demokratischen Staat in Palästina/Israel" zu fördern. Die Konferenz wurde von dem "Collective for Peace in Palestine/Israel" organisiert, mit 36 Rednern und etwa 150 Teilnehmern aus Israel/Palästina und ausserhalb.

Unter anderem sprachen der jüdisch-orthodoxe Historiker Yakov M. Rabkin aus Kanada, Autor von "Au Nom de la Torah", eine Geschichte der jüdischen Opposition zum Zionismus, und Rabbi Jeremy Milgrom von den israelischen "Rabbis for Human Rights" über die Notwendigkeit, die Furcht zu überwinden, die jüdische Israelis davor haben, wenn sie in einem gemeinsamen Staat zu einer Minderheit werden, wenn sie anstatt zu dominieren miteinander teilen müssen, um zur moralischen Stärke des Judentums zurückzufinden. Der amerikanische Autor Daniel Lazare verglich das Konzept von einem gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Staat mit dem amerikanischen civil-rights movement: erst als Martin Luther King den Kampf um die Gleichberechtigung der African Americans als eine "demokratische Bewegung" darstellen konnte, fand er allgemeine Unterstützung. Iqbal Jassat, Vorsitzender der Media Review Network, Südafrika, verglich die ethnischen Bantustans in Südafrika mit den palästinensischen und plädierte für die "südafrikanische Lösung" als die einzig mögliche. Der israelische Anthropologe Uri Davis, Autor von "Apartheid Israel – Possibilities for the Struggle within", würdigte den wichtigen Beitrag des libyschen Führers Muammar Gaddafi zur Unterstützung des südafrikanischen Befreiungskampfes und sein "Weisses Buch", "Isratine", wonach jüdische Einwanderer und palästinensische Flüchtlinge gleichberechtigt in einem gemeinsamen demokratischen Staat, "Isratine", leben sollen. Die palästinensische Autorin Ghada Karmi, die in ihrer Autobiographie "In Search of Fatima" von ihrer Erfahrung als palästininsischer Flüchtling erzählt, der 1948 seine Heimat verloren hat und im Westen aufwächst, betonte das Rückkehrrecht der Flüchtlinge als Ausgangspunkt einer gerechten Lösung, was nur in einem gemeinsamen Staat realisiert werden kann. Dr. Rageb M. Budabus, libyscher Philosophieprofessor, erklärte, wie die Errichtung des "jüdischen Staates" durch die massive Einwanderung nicht-palästinensischer Juden und die Vertreibung der palästinensischen Araber die jüdisch-arabische Coexistenz vergiftet hat, und diese erzwungene Trennung in einem gemeinsamen säkularen demokratischen Staat gelöst werden kann. Raffaello Fellah, jüdischer Libyer und Repräsentant der "World Organisation of Jews from Arab Countries" in Rom, verglich den Mut des ehemaligen ägyptischen Präsidemten Sadat nach Jerusalem zu gehen, mit dem Mut Gaddafi`s , in seinem "Weissen Buch", "Isratine", für Coexistenz zu plädieren, die das "Viagra für Frieden" sein könnte. Als Beispiel einer Brücke zwischen Juden und Arabern plant er, ein Magazin herauszugeben mit Beiträgen von beiden Seiten. Auch die Betreiber des "All Nations Caffee Jerusalem" zeigten einen praktischen Beitrag gegenseitigen Kennenlernens und Verstehens in einer "neutralen Zone", wo durch gemeinsame Erfahrungen in der Gegenwart eine zukünftige gemeinsame Vergangenheit entstehen kann.

Nach drei Tagen Diskussion wählten die Teilnehmer ein jüdisch-palästinensisches Komitee, das folgende Schlusserklärung erarbeitete:

" ... Die Initiative für einen einzigen demokratischen Staat in Palästina/Israel zielt darauf, die politische Organisation des Landes zwischen Jordan und Mittelmehr zu ändern, indem sie sie auf die volle Souveränität und Gleichheit für alle Einwohner und ebenso für die palästinensischen Flüchtlinge seit 1948 und ihre Nachkommen gründet. Dies hat zu geschehen auf der Grundlage von "ein Mensch, eine Stimme" und in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den Standards des Völkerrechts. Es wird vorgeschlagen, entschlossene Maßnahmen zu verwirklichen, um die palästinensischen Flüchtlinge in die Lage zu versetzen, in ihr Heimatland zurückzukehren und Wiedereinsetzung in ihre Rechte und Schadensersatz zu erhalten. Alle Einwohner sollen berechtigt sein, Land und Häuser im gesamten Gebiet von Palästina/Israel zu kaufen und zu pachten.
In Anbetracht der Schwierigkeiten, die Eine-Staat-Lösung unter den gegenwärtigen Umständen zu verwirklichen, ist die Initiative bestrebt

     1) alle Bemühungen zu unterstützen, die israelische Besatzung von palästinensischen Land zu beenden,

     2) die Eine-Staat-Idee in israelischen und palästinensischen Kreisen zu fördern.

Die Konferenz erhofft von der internationalen Gemeinschaft Hilfe in diesen Bemühungen. Wir glauben, daß ein einziger demokratischer Staat das beste Mittel ist, um die vollen politischen, wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen aller Einwohner des neuen Staats zu gewährleisten. ... "
Während der Konferenz interviewte unter anderem der libysche Journalist Hassan Bergali von "Al.Arab International", London, den Initiator der Konferenz, Dr. Sami Aldeeb, Vorsitzender der "Gesellschaft für Einen Demokratischen Staat in Palästina/Israel":

Bergali: "Dr. Aldeeb, können Sie sich kurz vorstellen?"
Aldeeb: "Ich bin christlicher Palästinenser aus einem kleinen Dorf neben Jenin, lebe seit 1970 in der Schweiz und arbeite als Rechtsberater in der islamisch/arabischen Abteilung im Institut für vergleichendes Recht. Ich habe mehrere Bücher in verschiedenen Sprachen veröffentlicht, z.B. "Moslems and Human Rights", "Moslems in the West between Rights and Duties", und Artikel unter anderem über die Diskriminierung von nicht-jüdischen Gemeinschaften in Israel, vor allem Christen und Muslime. Ich bin der Initiator und Vorsitzende der "Gesellschaft für Einen Demokratischen Staat in Palästina/Israel", die inzwischen über 420 Mitglieder hat, aus 30 verschiedenen Nationen, Juden, Christen, Muslime, Buddhisten und andere, alle unterstützen die Idee eines gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Staates, mit gleichen Rechten für all seine Einwohner."

Bergali: "Colonel Muammar Gaddafi zeigt die Lösung des israelischen-palästinensischen Konflikts in seinem "Weissen Buch", wo er einen demokratischen Staat vorschlägt für Israelis und Palästinenser, mit dem Namen "Isratine". Als Vorsitzender Ihrer Gesellschaft, wie schätzen Sie diesen Vorschlag ein?"
Aldeeb: "Zuerst möchte ich darauf hinweissen, dass die Idee eines gemeinsamen Staates eine alte Idee ist. Wir wissen, dass einige jüdische Denker vor der Gründung des israelischen Staates gegen die Idee eines getrennten jüdischen Staates waren, weil sie dachten, dass dies nicht zum Frieden führen würde. Wenn wir die heutige Situation betrachten, sehen wir, dass sie Recht hatten. Auch auf der palästinensischen Seite gibt es Befürworter dieser Idee, wie Edward Said und Naeem Khader, der ehemalige Repräsentant der PLO in Belgien, und einige arabische Denker, wie Ghassan Twani, Chefredakteur der libanesischen Zeitung "Al Nahar", und Colonel Gaddafi, der in seinem "Weissen Buch" diese Vision erörtert. Wir unterstützen seine Idee und hoffen, dass die anderen arabischen Führer diesselbe Richtung einschlagen, anstatt unentschlossen zu sein oder die Zwei-Staaten-Lösung zu unterstützen, die nicht zum Frieden führt.
Die Idee von Colonel Gaddafi stimmt mit den Prinzipien unserer Gesellschaft überein: Gaddafi erklärt in seinem "Weissen Buch" dass Schriftsteller und politische Denker diese Idee lange vor ihm erörtert haben und er sagt nicht, dass es seine eigenen Ideen sind, sondern er bestätigt sie und gibt die Gründe, die diese Idee erfolgreich machen, wenn alle Beteiligten des Konflikts diese Idee akzeptieren.
Wir schätzen den libyschen Beitrag um den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen. Heute gibt es viele Intelektuelle und politische Denker, die diese Richtung verfolgen. Wir hoffen, dass die anderen arabischen Führer die saudische Initiative und die Genfer Initiative oder andere vergessen und sie direkt diesen Weg gehen, zu einem gemeinsamen demokratischen Staat, der zum Frieden führt."

Bergali: "In den letzten Jahren haben wir von dan arabischen und palästinensischen Initiativen gehört, welche israelischen gibt es?"
Aldeeb: "Tatsächlich gibt es jüdische und israelische Befürworter eines gemeinsamen Staates und es werden jeden Tag mehr. Andrerseits gibt es ein linkes Friedenslager, aber leider sind sie zionistisch und rassistisch und einer ihrer Fürsprecher ist Uri Avnery. Es stimmt, dass sie für die Palästinenser kämpfen, aber sie wollen einen zionistischen Staat neben einem palästinensischen, um die Palästinenser von ihrem eigenen Territorium auszuschliessen. Wir danken ihm und den anderen israelischen Friedensbewegungen für ihre Unterstützung der Palästinenser, aber wir wissen, dass ihr Endziel dem Prinziep des Friedens und der Gleichberechtigung widerspricht, und deswegen haben wir ein Problem mit ihnen, weil sie über politische Ideen reden, die von aussen gesehen friedensbringend sind, aber tatsächlich rassistische Ideen sind: diese Idee würde zur Herrschaft der jüdischen Seite über die andere führen, zur unnötigen Teilung des Landes und zur endgültigen Annulierung des Flüchtlingsproblems. Sie verweigern den Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat in Palästina/Israel. Deswegen unterstützen sie einen palästinensischen Staat, und sie sagen, wenn wir einen palästinensischen Staat machen, werden wir zu den palästinensischen Flüchtlingen sagen, dass sie jetzt einen Staat haben, aber tatsächlich kommen all die jüdischen Einwanderer von ausserhalb und sie wollen nicht das Recht den Palästinensern geben, in ihre Heimat zurückzukehren."

Die Konferenz war erfolgreich eine Brücke der Verständigung zu bauen, zwischen jüdischen, palästinensischen und arabischen Unterstützern der Ein-Staaten-Lösung, und die Teilnehmer beraten die nächsten Schritte.

Sabine Matthes

Weitere Information unter:
www.collective-one-state.org


Leserbrief (gedruckt) zu:
Außenansicht, "Israel erkennt die Herrschaft des Rechts an"
von Abraham Cooper und Harold Brackman, SZ 31.7./1.8. 2004, Seite 2

von Sabine Matthes

Sehr geehrte Leserbrief Redaktion,
In ihrem Gastbeitrag "Israel erkennt die Herrschaft des Rechts an" behaupten Abraham Cooper und Harold Brackman: "Die einzige Demokratie im Nahen Osten hat in den 56 Jahren ihrer Existenz tagtäglich versucht, die Grundrechte von Arabern und Juden auszubalancieren." Da Israel aber der Ideologie des politischen Zionismus folgt, die ein mehrheitlich arabisches Land in ein mehrheitlich jüdisches Land umwandeln möchte, konnte diese angebliche "Balance" nur zu Ungunsten der Araber ausfallen: seit 56 Jahren werden sie vertrieben, enteignet und entrechtet. So vergleicht der israelische Anthropologe Uri Davis die israelische Demokratie eher mit der ehemaligen südafrikanischen Apartheid. Im Gegensatz zur US amerikanischen Demokratie, argumentiert er, unterscheide Israel vier Formen von Staatsangehörigkeit, die auf rassischer Diskriminierung beruhen. So steht den inzwischen, laut UNRWA Angaben, vier Millionen palästinensischen Flüchtlingen gemäß Völkerrecht, UNO-Teilungsresolution 181 und UNO-Resolution 194 ein Recht auf israelische Staatsangehörigkeit zu, das Israel aber verweigert, weil es sonst kein mehrheitlich jüdischer Staat mehr wäre. Während das palästinensische Rückkehrrecht verweigert wird, wird das jüdische Rückkehrgesetz forciert, und erlaubte sogar 300.000 nicht-jüdischen Russen die Einwanderung nach Israel. So ist Israel für Juden ein demokratischer Staat, für Nicht-Juden, meistens Araber, aber ein jüdischer Staat, von dessen Privilegien, zum Beispiel Landbesitz, sie größtenteils ausgeschlossen bleiben.
Durch das "Absentee Property Law" von 1950 wurde nicht nur die Mehrzahl der Palästinenser, nämlich die Flüchtlinge von 1948, enteignet und staatenlos, sondern auch etwa 250.000 innerhalb Israels verbliebene Palästinenser wurden zu "anwesenden Abwesenden", die zwar wählen dürfen, aber die Rechte auf ihr Land und Eigentum verloren hatten. Würde Israel die "Herrschaft des Rechts" anerkennen, das heißt, eine echte Gleichberechtigung seiner jüdischen und arabischen Bevölkerung, einschließlich der Flüchtlinge, wäre dies ein Weg zum Frieden. Was in Südafrika zur Verwirklichung einer echten Demokratie geführt hat, könnte in Israel/Palästina, vom Mittelmeer zum Jordan, ebenso funktionieren.


Interview with Uri Davis on the Palestinian Right of Return
By Sabine Matthes, 11 March 2004

Question 1. Why do you consider the Right of Return of the 1948 Palestine refugees essential for a just and lasting peace in Israel/Palestine?

Uri Davis: "Ethnically cleansing" an indigenous people from their homeland, levelling some 500 of their rural and urban localities and razing them to the ground, reducing the people forcibly expelled to the indignity of statelessness and the cruelty of refugee existence is immoral and illegal. Refusing to repair the war criminal injuries perpetrated by such a crime against humanity and underpinning the refusal by apartheid legislation adds insult to injury and plainly stinks.

In my understanding a just and lasting peace in Israel/Palestine is possible only if anchored in the values of the Universal Declaration of Human Rights (UDHR) and the Charter of the United Nation as well as implemented in conformity with all UN resolutions relevant to the question of Palestine and the standards of international law.

Article 13 of the UDHR stipulates that "(i) Everyone has the right of freedom of movement and residence within the borders of each state; and (ii) Everyone has the right to leave any country, including his own, and return to his country."

Relevant UN General Assembly Resolutions include not only Resolution 181 (II) of November 1947, recommending the partition of the country of Palestine into two states, one "Jewish" and one "Arab", with Jerusalem as a separate international zone, corpus separatum, under UN administration, joined together in a framework of economic union, but also, and equally so, Resolution 194 (III) of December 1948 resolving that "the refugees wishing to return to their homes and live at peace with their neighbours should be permitted to do so at the earliest practicable date".

Just and lasting peace in Israel/Palestine is possible only if anchored in the values of the Universal Declaration of Human Rights (UDHR) and the Charter of the United Nation as well as implemented in conformity with all UN resolutions relevant to the question of Palestine and the standards of international law. Such parties to the Israeli-Palestinian conflict who claim to adhere to the values of the UDHR and the Charter of the UN, but refuse to comply with all UN resolutions relevant to the question of Palestine make mockery of international law.

Without the implementation of the right of the 1948 Palestine refugees to return (including their right to the titles of their immovable and movable properties inside the State of Israel) no solution proposed to the Israel-Palestinian conflict can claim to conform to the standards of international law, the Charter of the UN and the values of the UDHR.

In other words, in my view, without the implementation of the right of the 1948 Palestine refugees to return (including their right to the titles of their immovable and movable properties inside the State of Israel) no solution can claim to bring a just and lasting peace to Israel/Palestine.

Question 2. While UNHCR helps to protect and repatriate other refugees, UNRWA only has the mandate to provide humanitarian services to the registered Palestinian refugees. So who is responsible for the repatriation of those Palestinians who wish to return?

Uri Davis: Legally speaking, UN Security Council. After all, it was, inter alia, the UN Security Council in its Resolution 242 of November 1967, who recognized the necessity for a just settlement for the refugees problem, thereby providing the international community with the legal instrument required to enforce Israeli compliance with the 1948 Palestinian right of return. Expressing its continuing concern with the grave situation in the Middle East; emphasizing the inadmissibility of the acquisition of territory by war and the need to work for a just and lasting peace in which every State in the area can live in security; emphasizing further that all Member States in their acceptance of the Charter of the United Nations have undertaken a commitment to act in accordance with Article 2 of the Charter, recognized the necessity for a just solution for the refugees problem. In the said Resolution 242, the UN Security Council:

1. Affirms that the fulfillment of Charter principles requires the establishment of a just and lasting peace in the Middle East which should include the application of both the following principles:
(i) Withdrawal of Israel armed forces from territories occupied in the recent conflict;
(ii) Termination of all claims or states of belligerency and respect for and acknowledgment of the sovereignty, territorial integrity and political independence of every State in the area and their right to live in peace within secure and recognized boundaries free from threats or acts of force;
2. Affirms further the necessity (a) For guaranteeing freedom of navigation through international waterways in the area; (b) For achieving a just settlement of the refugee problem; (c) For guaranteeing the territorial inviolability and political independence of every State in the area, through measures including the establishment of demilitarized zones;
3. Requests the Secretary-General to designate a Special Representative to proceed to the Middle East to establish and maintain contacts with the States concerned in order to promote agreement and assist efforts to achieve a peaceful and accepted settlement in accordance with the provisions and principles in this resolution; 4. Requests the Secretary-General to report to the Security Council on the progress of the efforts of the Special Representative as soon as possible. (Emphasis of Clause 2(b) added)

Question 3. From 1950-2000 the international contributions to UNRWA funding totaled 6,857,330,160 US Dollars. For this amount, it seems, the destroyed Palestinian villages could have been rebuilt and the refugees repatriated. Why isn't this being done?

Uri Davis: The obstacle for this being done is the apartheid character of the State of Israel. The State of Israel is an apartheid state in the sense that since its establishment in 1948 it has institutionalized in law, through Acts of Parliament, residence and land policies based on the distinction between "Jew" and "non-Jew", first and foremost, on the distinction between "Jew" and "Arab", with the result that 93 per cent of the territory of pre-1967 Israel is reserved in law for settlement, cultivation and residence of Jews only. The strategic instruments of Israeli apartheid were legislated by the Israeli Parliament (Knesset) in the first decade following the 1948-49 war and include:
· Absentees Property Law of 1950;
· World Zionist Organization/Jewish Agency for the State of Israel (Status) Law of 1952;
· Keren Kayemeth Leisrael (Jewish National Fund) Law of 1953;
· Covenant between the Government of Israel and the Zionist Executive, also known as the Executive of the Jewish Agency for the Land of Israel, of 1954;
· Basic Law: Israel Lands, Israel Lands Law and Israel Lands Administration Law of 1960;
· Covenant between the Government of Israel and the Jewish National Fund of 1961.

When these laws are removed from the law books of the State of Israel, there will remain little obstacles to the implementation of the right of the 1948 Palestine refugees to return.

Question 4. What is the idea behind your "Exodus of Return" concept?

Uri Davis: The "Exodus of Palestinian Return" concept is not exclusively mine. The idea of an "Exodus of Palestinian Return" (a "Palestinian reverse Exodus") emerged in parallel in a number of quarters within Palestine solidarity movement, including inside Israel. The concept underpinning the idea was and remains the recognition that mass direct non-violent action by 1948 Palestine refugees is a strategy that is likely to significantly advance the implementation of the rights of the 1948 Palestine refugees to return and to the title to their immovable and movable properties inside Israel. Given the centrality of "Exodus" in political Zionist narrative and popular support for political Zionism in the West, a sustained strategy of reverse non-violent Palestinian "Exodus" is likely to bring the question of the rights of the 1948 Palestine refugees to the center of the debate on the question of Palestine; highlight and expose Israeli apartheid; empower international solidarity with the rights of the Palestinian people; and, as consequence, lead to the emergence of an international anti-apartheid campaign advocating the boycott of Israeli produce as well as cultural (sciences, humanities, sports and other) boycott, and to UN economic sanctions against the State of Israel. I have little doubt that such developments would result in motivating a legal reform inside the State of Israel and the opening of the gates of return and the choices of return to all 1948 Palestine refugees.

Question 5. How did your dream of a Palestinian "Ship of Return" become a reality?

Uri Davis: My dream was not embodied in the Palestinian "Ship of Return" and cannot be said to have become a reality because the said "Ship of Return" did not include 1948 Palestine refugees, but only Palestinian deportees, deported from the post-1967 occupied West Bank and Gaza Strip by the Israeli occupation authorities.

Question 6. Beside the possibility of a maritime exodus, are there other land-based alternatives, like a "Peaceful March Home"?

Uri Davis: In the prevailing circumstances, land-based alternatives could be rather more difficult to advance relative to the maritime reverse "Exodus", because the marchers on land are likely to have to confront not just the armed cordons of Israeli security forces, but also the armed cordons of the Arab host states where they currently reside.

Question 7. Beside you and others, Sami Aldeeb and William Crawford, advocate a Palestinian nonviolent invasion of Israel. It follows the tradition of other human rights activists and practitioners of nonviolence, Like Mahatma Gandhi and Martin Luther King. So couldn't it be a rather effective and challenging tool for the realization of Palestinian rights?

Uri Davis: I doubt that a strategy conceptualized as an "invasion of Israel" would be an "effective and challenging tool for the realization of Palestinian rights". On the other hand, a strategy conceptualized as aiming at the implementation of the fundamental rights of the a dispossessed and "ethnically cleansed" people in compliance with the values of the Universal Declaration of Human Rights (UDHR) and the Charter of the United Nation as well as implemented in conformity with all UN resolutions relevant to the question of Palestine and the standards of international law, guaranteeing respect for the fundamental rights and freedoms of all, both former colonized people and former colonizing people, could be a rather effective and challenging tool for the realization of Palestinian rights.

Question 8: What legal possibilities and pressure mechanisms are there to support the Palestinian Right of Return?

Uri Davis: The European Union (EU) is Israel's largest trading partner. Since the year 2000 the State of Israel and the EU are aligned in an Association Agreement. The said Association Agreement obligates both parties to conduct their internal and external affairs in conformity with democratic values and the standards of international law (Articles 2 & 4, inter alia). Since the State of Israel has been guilty since its establishment in 1948 of blatant and cruel violations of the values of democracy and the standards of international law, notably the war crimes and crime against humanity of "ethnically cleansing" the indigenous Palestinian Arab population from the territories that came under the control of the Israeli armed forces in the course of and in the wake of the 1948-49 war – there are solid grounds for putting forwad initially some 3-6 test cases of 1948 Palestine refugees families who would petition the European Court of Justice in Luxemburg and demand that the said Court order the European Commission to explain to the Court why the said EU-Israel Association Agreement not be suspended until such time the Government of Israel recognizes their right to the title of their movable and immovably properties inside Israel together with their right to return to the country where such of their properties are located.

When the Government of the State of Israel is faced with the choice of losing the EU as a trading partner or reforming its apartheid legislation, including the legislation denying the 1948 Palestine refugees their right to return and to the title to their properties inside Israel – like apartheid South Africa, Israel is likely to choose reform.

Question 9. In his latest book, Isratine, Muammar Al-Ghaddafi proposes his own binational state solution: Israel + Palestine = Isratine. He grants Jews and Palestinians the same legitimacy to return to their ancestral homeland, be it Judea and Samaria for the Jews or Yaffa, Haifa and other places for the Palestinians. Does this sound like a fair solution to you?

Uri Davis: I have long been a critic of the so-called "two states solution" of the Israeli-Palestinian conflict and advocate of a "one democratic state solution" for both the Arab and the Hebrew peoples of Palestine.

Question 10. Might the end of apartheid in South Africa be a role model for the future of your Israel/Palestine?

Uri Davis: Yes, indeed. In fact following the UN World Conference Against Racism (WCAR) in Durban, South Africa, August-September 2001 and inspired by democratic South Africa as a role model, an initiative was launched by a circle of veteran Arab and Hebrew human rights and Palestine solidarity activists resulting in the formation of the Movement Against Israeli Apartheid in Palestine (MAIAP). MAIAP's Founding Document reads as follows: MAIAP takes as its point of departure the values of the Universal Declaration of Human Rights and their articulation in international law and the struggle of the peoples of South Africa against apartheid and their work for democracy and reconciliation.

MAIAP aims to work toward democratic solutions in geographic Palestine-defined for the British Mandate by the Council of the League of Nations in 1922 as being between the river Jordan and the Mediterranean Sea-to ensure the implementation of equal rights for all residents and refugees of this area. MAIAP is committed to work democratically to promote the welfare and the right of self-determination for all people in the area including refugees, internally displaced persons, and residents in opposition to the bantustanization of Palestine and against Israeli apartheid.

MAIAP intends to expose the legal and other structures of Israeli apartheid within both Israel and the Occupied Territories; work toward the classification of Israel as an apartheid state in relevant international forums including the UN; work with the public to understand, resist, and defeat Israeli apartheid; educate the general, local, regional, and international public to appreciate that under the prevailing conditions, alongside an apartheid, Zionist Israel, even an independent Palestinian state will remain part of Israel and will continue to be victimized by Israeli apartheid.

Future Action: MAIAP's immediate priorities include organizing lecture tours across Palestine for prominent South African anti-apartheid activists. MAIAP will add its voice to campaigns calling for international sanctions and business divestment from Israel until the Israeli government complies with UN Security Council resolutions, most notably resolutions 242, 338, and 194. MAIAP will also lobby for the revocation of the tax-exempt status of Zionist fundraising in the West. Just as the international anti-apartheid solidarity movement made a critical contribution to the success of the struggle against the apartheid regime in South Africa, MAIAP's goal is to mirror that success against the apartheid regime in Palestine.

Dr Uri Davis was born in Jerusalem in 1943. Since the mid-1960s he has been at the forefront of defence of human rights in Israel, notably defence of Palestinian rights, and since the mid-1970s at the cutting edge of critical research on political Zionism and Israel. Uri Davis is founding member and Chairperson of AL-BEIT: Association for the Defence of Human Rights in Israel and MAIAP: Movement Against Israeli Apartheid in Palestine; Honorary Research Fellow, Institute of Arab & Islamic Studies (IAIS), University of Exeter and Institute of Middle Eastern & Islamic Studies (IMEIS), University of Durham; Member of the Middle East Editorial Group of the international journal Citizenship Studies; and Observer-Member of the Palestine National Council (PNC).


Betreff: SZ, 20.2. Seite 2, Richard Chaim Schneider

-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Sabine Matthes
Gesendet: Sonntag, 22. Februar 2004 22:56
An: leserbriefe at sueddeutsche.de
Betreff: SZ, 20.2. Seite 2, Richard Chaim Schneider
Leserbrief zu Richard Chaim Schneider: "Klischees im kollektiven Unbewussten", SZ vom 20.2., Seite 2

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

Richard Chaim Schneider gibt ein undifferenziertes Bild, wenn er "Anti-Zionismus" pauschal als einen "verbrämten Antisemitismus" bezeichnet. Er unterschlägt dadurch, daß das ursprünglich säkulare Programm des politischen Zionismus anfangs von beiden Richtungen des Judentums verachtet worden war, von den Orthodoxen als eine anti-religiöse Bewegung, vom Reform-Judentum als entgegengesetzt zum universalen ethischen Auftrag.

Auch wehrten sich Vertreter eines humanistischen Zionismus, wie Martin Buber, Judah Magnes und Hannah Arendt, gegen die rassistische Exklusivität des politischen Zionismus von Theodor Herzl, denn dessen Traum von der Gründung eines rein jüdischen Staates in einem mehrheitlich arabischen Palästina, würde unweigerlich zur Vertreibung der arabischen Bevölkerung führen. Eine solche Vertreibung aber würde, aus der Sicht von Magnes, dem zionistischen Bestreben widersprechen, das jüdische Leben sowie die jüdische Kultur und Sprache in einem Geist der brüderlichen Solidarität zu rekonstruieren. Heute kämpft beispielsweise die streng orthodoxe Neturei Karta und deren Wortführer Rabbi Yisroel Dovid Weiss vehement gegen den Zionistenstaat Israel. Indem sie sich auf die Tradition der Torah berufen, sagen sie: "Unsere Aufgabe ist es, uns von der Häresie des Zionismus loszulösen und den Sünden die er begangen hat." So widerspricht auch der Oberrabiner Moishe Arye Friedman von der Orthodoxen Jüdischen Gemeinde Österreichs der Analogie von Richard Chaim Schneider, wenn er sagt, für orthodoxe Juden seien "die wahren Antisemiten die, die mit den Zionisten zusammenarbeiten".

Nicht nur aus jüdischer, auch aus palästinensischer Sicht gibt es gute Gründe, den politischen Zionismus zu kritisieren – ohne deswegen "Antisemit" zu sein. Heute sind von insgesamt acht Millionen Palästinensern fünf Millionen Flüchtlinge, seit den Kriegen von 1948 und 1967. Israel verweigert ihnen das Rückkehrrecht in ihre Heimat, weil es sonst seinen mehrheitlich jüdischen Charakter verlieren würde. Obwohl das verheerende Verbrechen der Shoa in Europa stattfand, findet die "Wiedergutmachung" im Nahen Osten statt, seitens der Palästinenser. So können besonders die Palästinenser den politischen Zionismus nicht anders wahrnehmen, als eine nationalistische, rassistische europäische Bewegung, die am Rande von Kolonialismus und Imperialismus entstand, und dessen zufällige Opfer sie wurden.

Die "Delegitimierung des jüdischen Staates" hat also wesentlich vielfältigere Ursachen, als den von Richard Chaim Schneider allzu leichtfertig diagnostizierten linken, rechten, oder arabischen "Antisemitismus".

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes


Betreff: Richtigstellung zu Leserbrief Ludwig Arnold, SZ 8./9.4.04

----- Original Message -----
Von: Sabine Matthes
Sent: Saturday, April 10, 2004 6:13 PM
An: leserbriefe at sueddeutsche.de
Subject: Richtigstellung zu Leserbrief Ludwig Arnold, 8./9.4.04

Sehr geehrte Redaktion Leserbriefe,

der Vergleich von deutschen und palästinensischen Flüchtlingen, wie dies Ludwig Arnold in seinem Leserbrief vom 8./9.4. tut, ist absurd und irreführend. Er suggeriert, daß die Palästinenser eine ähnliche Schuld und Verantwortung für Nazi Verbrechen tragen, wie die Deutschen, und eine Vertreibung deswegen ebenso legitim ist. Die Deutschen haben den Holocaust begangen, nicht die Palästinenser, der christlich-europäische Antisemitismus hat Juden verfolgt und ermordet, nicht die Palästinenser. Obwohl der Schauplatz der verheerenden Katastrophe der Shoa in Europa war, fand die "Wiedergutmachung" vor allem im Nahen Osten statt, seitens der Palästinenser. Daß diese durch die israelische Staatsgründung zu einem Volk von Flüchtlingen wurden, ist nicht die Schuld der arabischen Staaten, sondern der Deutschen. Zu Recht vergleicht Amnesty International das Recht auf Rückkehr der Palästinenser mit demjenigen anderer Flüchtlinge aus Bosnien, Kosovo oder Ruanda. Was würde passieren, wenn arabische Staaten die palästinensischen Flüchtlinge ebenso in ihre Heimat zwangsabschieben würden, wie Deutschland dies tut?

Mit freundlichen Grüßen,
Sabine Matthes
München

 
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