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„Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“
Wiesbadener Dichterpflänzchen präsentierten den Orient in Goethes Werken

Anis Hamadeh, 25.04.2010

Goethes Beschäftigung mit arabischen Texten begann früh, lange vor seiner Niederschrift des „West-östlichen Divan“. Schon für sein erstes Drama verwendete er Figuren und Kulissen aus Tausendundeiner Nacht. An die tiefe Verbundenheit des deutschen Dichters mit dem Orient erinnerte am Samstagabend die Wiesbadener Gruppe „Dichterpflänzchen“ im Bürgersaal in Biebrich. Zwei Stunden lang hörten die etwa fünfzig Gäste bei freiem Eintritt kurzweilige Geschichten, Gedichte, Briefe und Erläuterungen, die Einblicke in diesen nicht unwesentlichen Teil von Goethes Schaffen und Denken gewährten.
Das Programm war sorgsam und liebevoll ausgewählt: Nach dem Scheherazade-Märchen „Die Laune des Verliebten“ ging es um vorislamische Dichtung, die den Geheimrat besonders faszinierte. Sein Leben lang stand er in Kontakt zu den deutschen Orientalisten seiner Zeit und beteiligte sich – unter anderem in Zusammenarbeit mit Herder – an der Erschließung altarabischer Lyrik für ein deutsches Publikum. Der letzte Teil des Abends betraf Goethes ausführliche Auseinandersetzung mit Muhammad und dem Koran, mit dem er so gut vertraut war, dass er sich sogar an der Übersetzung einiger Abschnitte daraus beteiligte. Diese Beschäftigung mit dem Islam entsprang nicht allein literarischen Motiven, sondern auch religiösen, was der Dichter gern zugab.
Lutz Schauerhammer, der die wesentlichen Teile der Lesung konzipierte, hat sich intensiv mit der wichtigsten Quelle zum Thema „Goethe und die arabische Welt“ befasst, nämlich dem gleichnamigen Buch von Katharina Mommsen: „Schon lange interessiert mich dieser Aspekt in Goethes Leben. Mommsens Werk hat mich inspiriert und ich bin mit der Autorin in Kontakt getreten, um ihr von unserer Arbeit zu berichten.“
Um dem Orient näher zu kommen, luden die Dichterpflänzchen den irakischen Musiker Riad Kheder ein, der mit seinen Melodien und Rhythmen auf der Oud (Laute) und der arabischen Trommel das Gelesene untermalte. Der Marokkaner Mustapha Inahkamen ergänzte die Durchdringung von Orient und Okzident, indem er im Beduinenkostüm arabische Originaltexte las. Auch einige andere der achtköpfigen Gruppe – Lutz und Martha Schauerhammer, Ralf Schauerhammer, Gabriele Liebig, Ulla Cicconi und Jonas Eberlein – traten in Verkleidung auf die Bühne und durchbrachen so spielerisch die Grenze zwischen Lesung und Theater.
Ein gelungener Abend also, was sich auch am „Klingelbeutel“ manifestierte, in dem es nicht nur klimperte, sondern auch raschelte. „Goethes Orient ist neu in unserem Programm“, erklärt Gabriele Liebig, „und wir führen das Stück gern weiter auf.“ Das Begleitheft mit allen Texten ist bei den Dichterpflänzchen e.V. (www.dichterpflaenzchen.com) erhältlich.
Die Veranstaltung „Goethe und die arabische Welt“ hinterließ das Publikum auch nachdenklich, ja traurig. So sehr das Rückert-Wort „Weltpoesie ist Weltversöhnung“, das Motto der Dichterpflänzchen, an diesem Abend mit Leben gefüllt wurde, so sehr fragte man sich auf dem Nachhauseweg, was aus unserer Gesellschaft geworden ist, die allem Islamischen und Arabischen heute so skeptisch, ja oft dekadent gegenüber steht, als hätte es die Jahrhunderte der deutschen Islamwissenschaft und des kreativen Austauschs nie gegeben. Wie weit sind wir hinter die aufklärerischen Gedanken Goethes zurückgefallen, den wir doch noch immer als unseren ersten Kulturträger verstehen! Er schrieb schon damals: „Wer sich selbst und andre kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“

Foto: Die Wiesbadener Dichterpflänzchen (Anis Hamadeh 2010)

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