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Ist Gott ungerecht?
Gerald Koll las im Luna aus seinem entstehenden Roman


Kiel am 24.09.03

Um Jakob geht es ihm, immer wieder um Jakob. Nicht nur der Held Karwendel aus Gerald Kolls derzeit entstehendem Roman „Windhauch, Windhauch“ trägt diesen Vornamen, doch der zuerst. Einem modernen Odysseus ähnlich reist Jakob Karwendel durch Raum und Zeit, gefangen sowohl in der Enge seiner Heimat, der Fördestadt Kiel, als auch zwischen zwei radikal unterschiedlichen Frauen, von denen das Publikum in der recht gut besuchten Luna-Bar Marie kennen lernt, eine Zigeunerin und Nachfahrin von Anna Preetzen, der letzten „Hexe“, die 1676 in Kiel verbrannt wurde.

Vier Episoden des Buches las Koll im ersten Teil seines Literaturabends vor, getrennt durch kurze musikalische Entspannungssequenzen. Der rastlose Jakob Karwendel, wie er im Traum Hunderte Kilometer aus der Stadt flieht, um sich nackt und mit aufgescheuerten Sohlen in einer Höhle wiederzufinden. Der Arbeiter Jakob Karwendel, wie er im Couvertierkeller eines Verwaltungsbüros mit dem Bündeln von Briefen beschäftigt ist. Dann, wie er Filme rezensiert, die er kaum gesehen hat, weil er im Kino gern schläft. Ein Betrüger zuweilen, fasziniert von der gesellschaftlichen Akzeptanz seines Betrugs. Einer, der sich einst groß sah, sich dann zurückzog in die Unscheinbarkeit und daraufhin merkte, dass er auch dort nicht recht hingehörte. Ein Suchender. Und ein Auserwählter zugleich. Ein Jakob.

Es sind tiefe und aufrichtige Fragen, die sich hinter der routinierten und kraftvollen Sprache des Schriftstellers, Filmemachers und Journalisten Gerald Koll fast verstecken, als wolle er sie lieber doch nicht stellen. Aber er stellt sie auch im zweiten Teil des Abends, der mit einem kurzen Film beginnt, in dem Stan Laurel und Oliver Hardy auf der Leinwand erscheinen, begleitet von eingespielten Zitaten aus dem 5. Buch Mose, dem Deuteronomium. Mit bubenhafter Zaghaftigkeit macht Koll hier darauf aufmerksam, dass die Fluchandrohungen in dieser Bibelstelle die Segenspendungen um ein Vielfaches übertreffen. Ist Gott ein Flucher?

Und wie ist es nun mit Jakob? Steht das Glück dem Betrüger zu, der dem erstgeborenen Bruder Esau den Segen des Vaters Isaak stahl? Ist das Recht immer mit dem Stärkeren, dem Sieger, und ist das der Gott, dem der Mensch gehorchen soll? Koll kann sich dem nur mit einer Mischung aus Ironie, Sarkasmus und literarischer Bewältigung nähern. Zum Teil ist es auch Abscheu, ein Hadern mit Gott. Ist Gott ungerecht? Wie eine Basslinie zieht sich diese Frage durch die meisten Texte des Abends. So auch in den Jakobsbriefen, Dreizeilern, von denen Gerald Koll einige zum Besten gab, zum Beispiel: „Jakob brät nicht, Jakob rät. / Jakob bringt nicht, Jakob ringt. / Jakob raucht nicht, Jakob braucht.“ Einige dieser Jakobsbriefe und auch Teile des Romans finden sich auf der Homepage des „Forums der 13“, einem literarischen Gemeinschaftsprojekt (www.forum-der-13.de).

Es gab noch weitere Kurztexte bei dieser Lesung, über Thomas Mann, Alexander Kluge und eine Frau am Tresen, die Cola Bourbon trank, doch schien es fast, als müsse der Schriftsteller durch die zur Schau gestellte Profanität solcher Stücke belegen, dass er als zeitgemäßer Säkularist und abgebrühter Moderner zum Publikum sprach, nicht etwa als Moralist. Ob ihm das gelungen ist, ist schwer einzuschätzen, jedenfalls erahnt Koll in seiner Literatur Themen, die die Zukunft bringen mag. Themen, die selbst über den westlichen Kulturkreis hinausgehen, weil die Frage nach dem strafenden, segnenden und fluchenden Gott in ähnlicher Weise auch in der im Umbruch befindlichen islamischen Welt an Aktualität gewinnt. (Auch im Koran ist Jakob einer der Propheten.) Ob im Westen oder Osten, oft sind es Künstler, die mit ihrer – auch für sie selbst – immer nur teilweise verständlichen Traumarbeit in die Zukunft weisen. Der Roman „Windhauch, Windhauch“, der auf mehreren Ebenen zu lesen ist und der auch die Geschichte und Gegenwart Kiels betrifft, soll bis zum Ende des Jahres vollständig geschrieben sein, kündigte Gerald Koll an.

(25.09.03, Anis Hamadeh)

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