3. Demütigung führt zu Entfremdung Anis Hamadeh, Juni 2005 „Hast du uns etwas zu sagen?“ Seine Stimme war ruhig, kontrolliert, bestimmt. Joana runzelte die Augenbrauen. Was ging hier vor? „Was meinst du?“, fragte sie verwirrt. Sie sah Muhammad an, dann Heinz, suchend. „Du kannst es jetzt sagen oder wir bitten Tony und Basim dazu.“ Noch immer wusste Joana nicht, worum es überhaupt ging. Hastig lief sie die letzten Stunden in ihrer Erinnerung zurück. Sie war zur Firma gefahren, hatte vorher mal wieder stundenlang den Autoschlüssel gesucht. Übermüdet war sie auch, denn die vergangenen Wochen waren dramatisch. Auch dies war nicht ungewöhnlich für Joana, schon seit dem letzten Sommer ging es drunter und drüber.
Zuerst hatte sie in einem Büro für ein mittleres Unternehmen in Westdeutschland gearbeitet, nachdem in ihrer Heimat Leipzig so viel schief gegangen war. Durch Bekanntschaften traf sie jemanden, der sie einstellte. Sie war immer noch kräftig, immer noch sexy und wollte arbeiten. Es stellte sich allerdings heraus, dass die Firma in Westdeutschland ihr kein Geld zahlte, bis sie nach drei Monaten buchstäblich mittellos auf der Straße stand. Dort fand sie Muhammad in elender Verfassung und erbarmte sich ihrer. Er nahm sie mit nach Haus, wo seine Frau ihr erst einmal eine warme Mahlzeit brachte. Joana aß, ruhte sich aus und erzählte dann und erzählte, während Muhammad und seine Frau Brigitte aufmerksam und mitfühlend zuhörten. Joana ging es danach besser. Sie brauchte jemanden, zu dem sie Vertrauen fassen konnte, nach all diesen Enttäuschungen. Früher hatte sie ein Haus gehabt, einen Mann und Kinder. Aus dem Traum wurde nichts, die Kinder, heute erwachsen, blieben im Osten und Joana traf diesen Mann aus dem Westen und versuchte einen neuen Start, wollte vieles vergessen und noch einiges erreichen.
Zum ersten Mal seit längerem fühlte sie sich wieder wohl, hier bei dem Ehepaar. Acht Monate war das jetzt her. Für die beiden im Haus war es eine nette Abwechslung und sie mochten die etwas flippige, offene, herzliche Art von Joana. Da genügend freie Zimmer vorhanden waren, ließen sie sie sich erst einmal erholen. Ein solcher Mensch sollte eine Chance bekommen, da waren sich Brigitte und Muhammad einig. Nach einiger Zeit überließ er ihr dann die Dachwohnung, die er im Ort besaß. Joana musste irgendwo bleiben und nahm dankbar an, wenn die Wohnung auch schon seit Monaten leer gestanden hatte und zunächst nicht sehr einladend war. Muhammad füllte ihr den Kühlschrank und half ihr aus. Eines Tages hatte er sogar ein Bett und einen Schlafzimmerschrank für sie gekauft. Joana hatte nicht danach gefragt, sie wollte es eigentlich auch nicht, denn sie hatte noch Möbel im Osten und traf solche Entscheidungen auch gern selbst. Das ärgerte Muhammad zwar etwas, aber er sagte nichts. Er sagte auch nichts, als Joana sich manchmal tagelang nicht meldete und auch nicht zu Besuch kommen wollte, obwohl er sie gern gesehen hätte.
Joana liebte es, Auto zu fahren. Es gab Wochenenden, an denen sie kurzerhand zu ihrer Tochter fuhr oder an andere entfernte Orte. Sie musste manchmal einfach raus, fliehen vielleicht, verarbeiten vielleicht. Den Punkt suchen, an dem das Leben feststeckte. Ihre Hände brauchten Bewegung, sie musste doch arbeiten. Sich beschäftigen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gearbeitet, in Büros und im Außendienst. Einmal hat sie sogar auf kurzfristige Anfrage eine ganze Nacht lang in der Bar von Tony ausgeholfen, obwohl sie so etwas vorher noch nie gemacht hatte. 30 Euro hatte sie dafür bekommen. Das war, als sie bereits in der Firma war. Sie wollte natürlich nicht umsonst wohnen, auch wenn Muhammad darauf bestanden hat. Also fuhr sie in Muhammads Firma und machte sich dort nützlich. Sie wollte sowieso arbeiten, sollte sie da mit einem schlechten Gewissen in der Wohnung hocken? Mit Tony, Basim und Heinz kam sie gut zurecht und Arbeit war genug da.
„Im Lager fehlt Ware.“ Muhammads Stimme war ruhig, kontrolliert, bestimmt. Basim und Tony waren inzwischen ins Büro gekommen und saßen um Joana herum, um ihr mitzuteilen, dass sie der Ansicht waren, dass Joana regelmäßig Ware aus dem Lager gestohlen hat. Seit einigen Wochen würden sie die Stückzahlen bestimmter Produkte beobachten und sie seien nach dem Ausschlussprinzip zu dem Ergebnis gekommen, dass nur Joana in Frage komme.
Joana saß da wie in einem Traum oder einem Film. Sie fiel aus allen Wolken. „Wir haben Ware in deiner Tasche gefunden“, fuhr Muhammad fort. „Aber die ist doch aufgeschrieben als Eigenbedarf. Brigitte hat es mir gegeben und Samir“, erwiderte sie schnell, während es sie zunehmend irritierte, dass ihre Tasche geöffnet worden war. Muhammad und Heinz standen auf und gingen mit ihr zur Abschreibliste, die Samir kürzlich neben dem Fotokopierer eingerichtet hatte. Tatsächlich, die Ware war dort mit dem heutigen Datum aufgeschrieben. „Wieso bekomme ich als Chef das nicht mit, warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?“ Muhammad war noch immer wütend. Er war enttäuscht darüber, dass er ausgerechnet von Joana bestohlen wurde, der er so viel Gutes getan hatte.
„Du hast dir doch von Basim Geld geliehen“, fuhren die vier Männer fort, als sie wieder im Büro saßen. Joana bestritt das. Basim hatte ihr kürzlich etwas Geld zugesteckt, das stimmte wohl. Es wäre schon in Ordnung so, sie solle nicht darüber reden. Da hatte sie es genommen. Auch Muhammad hatte ihr hin und wieder etwas gegeben, für Sprit und nur so. Sie hatte es angenommen, warum denn nicht? Sie arbeitete auch, machte Kaffee, oft war auch am Wochenende etwas zu tun.
Samir betrat das Büro, nach etwas suchend. „Wenn ich Geld brauche, dann würde ich euch doch fragen“, sagte Joana und Samir sah sie gedankenverloren an. Er hatte gefunden, was er suchte und ging pfeifend wieder ins Lager, wo er gerade an den Regalen schraubte. In den letzten Wochen hatte er viel geschafft, endlich war Platz im Lager und man stolperte nicht mehr alle fünf Meter über etwas. Man fand jetzt auch Dinge wieder. Samir fragte sich, wie Basim und Tony hier in den vergangenen drei Jahren überhaupt hatten arbeiten können. Er selbst war erst seit ein paar Monaten hier. Nachdem er sich nach fünf Jahren des Streits mit seinen Eltern wieder vertragen hatte und außerdem dringend einen Job brauchte, fragte er, ob er vielleicht in der Firma gebraucht würde. Man könnte ja die Energien zur Abwechslung mal verbinden, statt sie gegeneinander zu gebrauchen. Abu Samir, wie Samirs Vater Muhammad auch genannt wurde, war begeistert und stimmte sofort zu. Auch Brigitte fand, dass es eine gute Idee sei. So traf Samir auch Joana.
Die beiden hatten sich von Beginn an gut verstanden. Es war nicht viel los in der Stadt und Joana half Samir beim Umzug. Sie kauften Teppiche und strichen die Wände. Am Liebsten wäre Joana gleich mit eingezogen, es gefiel ihr gut in Samirs neuer Wohnung. Er spielte Gitarre und war irgendwie anders als die Leute aus der Umgebung. Für einen Moment vergaß sie ihre Sorgen und freute sich ebenso wie Samir darüber, dass sie zusammen arbeiten konnten und einander als Freunde hatten. „Dream-Team“, meinte Heinz anerkennend. Joana und Samir hatten schon bei der Renovierung der Wohnung gemerkt, dass sie beide gern aktiv und produktiv waren und sich gegenseitig Kraft gaben.
In letzter Zeit hatte sich das Verhältnis leicht abgekühlt. Samir beschäftigte, dass Joana diese Aussetzer hatte. Einmal vergaß sie ihre Jeansjacke mit Brieftasche beim Frisör und kam dann in eine Polizeikontrolle. Typisch! Oder sie fuhr Hals über Kopf zu ihrer Tochter, weil die Probleme hatte, und kam völlig entnervt und geschlaucht zurück. Handy liegen lassen. Autobatterie. Überhaupt Autogeschichten. Dann lief das Klo mehrmals über, sie hatte etwas Falsches hineingetan. Ebenso der Herd, der ihr neulich einen Kurzschluss verursacht hatte. Es war irgendwie der Wurm drin. Und Samir kam nicht mehr an sie heran. Noch am Wochenende hatte er seinen Eltern gesagt, dass er Joana nicht erreiche und sich im Moment etwas über sie ärgere, da sie nicht reagiere. Joana hatte Samirs Mutter Brigitte vor ihrer überstürzten Abreise in den Osten ein Aquarell gemalt, das war noch feucht, als Samir es zusammen mit dem Kuchen übergab, wie Joana es gewünscht hatte. Er hatte Joana ein Buch gekauft, „Die Prophezeihungen von Celestine“, weil er ihr helfen wollte und dieses Buch viele Antworten hatte. Er las ihr daraus vor und sie wusste es auch zu schätzen, doch schafften sie es nur bis zur Seite 40. Im Moment hatte sie Besuch von einem Bekannten auf der Durchreise und damit wieder keine Zeit.
Samir schraubte das letzte Regalblech fest und sammelte die Werkzeuge zusammen. Es hatte etwas Befreiendes für ihn, Ordnung zu schaffen. Auf dem Weg zum Waschbecken begegnete ihm eine völlig verheulte Joana im Flur, die nach draußen wollte. Sie erkannte Samir durch die Tränen und drehte sich zu ihm hin. „Sie sagen, dass ich geklaut habe.“ Dann heulte sie wieder. Es war nicht das erste Mal, dass Samir mit solchen dramatischen Äußerungen von Joana zu tun hatte, aber was hatte sie da gesagt? Er fragte noch einmal nach und sprach mit ihr. Sie hielt es jedoch nicht lange aus, entschuldigte sich und lief davon. In Samirs Kopf drehte sich alles. Wie betäubt ging er ins Zimmer des Vaters und sah ihn an. „Na“, sagte Muhammad wissend, „was hat Joana dir erzählt?“
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„Es handelt sich um ein besonderes Verhältnis. Sie hat ja auch den Schlüssel von deinen Eltern und dein Vater hat auch oft ihren Kühlschrank gefüllt.“ Heinz versuchte Samir zu besänftigen. „Wir haben daraus gelernt. So etwas wird nicht wieder passieren.“ Er wünschte sich sehr, mit Samir zu arbeiten, denn Samir arbeitete sauber, systematisch und schnell. Man konnte mit ihm auch über religiöse Fragen sprechen. Das Verhältnis war gut und immer offen gewesen, was wiederum Samir sehr sympathisch fand. „Heinz, wenn er in ihrer Abwesenheit in ihre Wohnung geht und nach gestohlener Ware sucht, ohne sie zu fragen oder zu informieren, dann ist das Einbruch. Ebenso das Öffnen ihrer Handtasche.“ Samir war ungehalten. Er hatte erfahren, dass sein Vater unmittelbar vor dem gestrigen Verhör in Joanas Wohnung gewesen war. Joana sagte, dass Muhammad sich von ihr mittags in der Firma verabschiedet hatte mit den Worten, er gehe zum Steuerberater. Muhammad erklärte später, er sei dann noch zur Bank gegangen und da sei ihm spontan eingefallen, dass er noch den Sicherungskasten in Joanas Wohnung wegen des Herds überprüfen musste. Das lag auf dem Weg. Er habe vergessen gehabt, sie vorher anzurufen.
Samir schämte sich für seinen Vater. Wenn im Lager gestohlen wurde, dann musste man das doch zusammen besprechen. Da hatten sich die vier Männer ohne sein Wissen und ohne Joanas Wissen wochenlang Gedanken gemacht und es für sich behalten. Und plötzlich explodierte die Sache so. Inzwischen hatte Muhammad gemerkt, dass sein Verdacht nicht zu beweisen war. Er entschuldigte sich bei diesem zweiten Gespräch auch bei Joana. Die ging dann auch nicht gleich wieder fort, sondern arbeitete zunächst weiter, was Samir anerkennend zur Kenntnis nahm. Nach einigen Stunden aber kam sie auf Samir zu und meinte, dass sie doch erst mal gehen müsse und das alles verarbeiten. Samir sprach weiter mit Heinz: „Für mich sieht es so aus, als hättet ihr gerade einen Schuldigen gebraucht und euch den Schwächsten gesucht. Der Klassiker.“ Heinz widersprach. Er zählte auf, was Joana alles falsch gemacht hat und dass sie nah am Wasser gebaut sei. „Das stimmt wohl, aber was hat das mit der Beschuldigung zu tun? Und mit dem Einbruch?“ Samir schüttelte den Kopf.
Es folgte eine Phase der Abwesenheit von der Firma sowohl von Joana als auch von Samir. Samir hatte immer noch keinen richtigen Arbeitsvertrag, weil durch einen Übersetzungsfehler in einem Vertrag im Februar eine größere Geldmenge gebunden wurde, die dem kleinen Betrieb zu schaffen machte und auf ihm drückte. Joana erschien nicht mehr in der Firma, weil sie die Demütigungen der letzten Tage erst langsam verstand und Muhammad nicht mehr vertrauen konnte, trotz seiner knappen Entschuldigung. Sie fühlte sich auch noch immer verdächtigt und Samir konnte das nicht entkräften, denn er hatte selbst in der Firma gehört, dass es immer noch offene Punkte geben solle. Sie sei vor einigen Wochen mit Ware von Tony gesehen worden, die sie angeblich für die Website fotografieren wollte und hätte sich dabei auffällig verhalten. Als Tony im Februar die Firma zum Essen eingeladen hatte, hatte er Joana und Samir nicht eingeladen. Tony sprach nicht viel und sah einem nicht in die Augen, wenn er einem die Hand gab.
Samirs Energieniveau sank rapide. In den ersten beiden Nächten konnte er kaum Schlaf finden. Sein Trauma war wieder aufgebrochen. Abu Samir hatte mit Joana genau dasselbe gemacht, was er früher mit ihm gemacht hatte. Nur ohne körperliche Gewalt. Er hatte es also wieder getan, bestätigt. Er tat es also immer noch. Samir schämte sich fürchterlich für seinen Vater.
Jahrelang hatte er versucht, ihm zu erklären, dass Demütigungen zu Entfremdung führen. Und dass man Menschen nicht kaufen kann. Nun beging Muhammad vor seinen Augen einen Einbruch, ein Mobbing und eine Lüge, ohne verstehen zu wollen, dass er das nicht durfte. Seine Mitarbeiter schwiegen und rationalisierten, dass sich Joana sowieso dauernd in einer Opferrolle sah und dass sie im Grunde alle ausnutze. Vielleicht hatte sie Samir verhext. Es waren vier Männer, mit denen man Pferde stehlen konnte, oder musste. Auch Brigitte sagte Samir zu dem Thema nur: „Na, hat sich Joana wieder eingekriegt?“ Muhammad klagte schon seit Monaten darüber, dass er keine Miete bekomme. Dass Joana in der Firma arbeite sei ja schön und gut, aber es sei ein anderer Topf. Bei seinem letzten Gespräch mit ihm sagte Samir, dass er ihm die Geschichte mit dem Sicherungskasten nicht abnehmen könne. „Tja“, meinte Muhammad nur und zuckte mit den Schultern, „ich habe mich entschuldigt, was soll ich denn noch machen?“ Darauf Samir: „Aber ich kann dir nicht mehr vertrauen.“ Wieder ein Schulterzucken.
Das Problem für Samir war nicht nur der Einbruch, das Mobbing und die Lüge, vielmehr konnte Samir seinem Vater nun auch andere Dinge nicht mehr glauben, Dinge, die er in der Vergangenheit gesagt hatte. Dass er sich an die Gewalt, die er seinem Sohn angetan hat, nicht mehr erinnern konnte.
In den folgenden Wochen kristallisierte sich heraus, dass Joana unter diesen Umständen nicht mehr in die Firma kommen konnte und dass auch Samir für zwei Wochen Abstand brauchte. In die Firma ging er nur noch einmal und sah kurz seinen Vater. Sie führten ein sehr ruhiges, kurzes Gespräch, in dessen Verlauf Samir fragte: „Warum geraten wir immer wieder so aneinander?“ Muhammad zuckte mit den Schultern. „Ich habe wirklich Grenzen, über die ich nicht kann“, fuhr Samir fort, „ich kann nicht alles mitmachen.“ Heinz vertrat inzwischen den Standpunkt, dass Joana nicht mehr zurückkommen solle. Dass die Sache vorbei sei. Es sei nie im Gespräch gewesen, dass Joana hier fest arbeiten solle. Dies hatte Samir von seinem Vater allerdings anders gehört. Heinz wollte auch seine Tochter in den Betrieb bringen, stellte das aber nicht in einen kausalen Zusammenhang.
Während der Fall für Muhammad, Heinz, Basim und Tony abgeschlossen war, blieben Joana und Samir jeweils zu Haus, wobei sich der Druck auf die beiden erhöhte, da sie für die Zukunft sorgen mussten und nun von der Geldquelle abgeschnitten waren, für die sie gearbeitet hatten. Bevor Samir die Stadt wegen eines Termins verließ, schrieb er Muhammad und Heinz eine Email, in der er fragte, warum das Resultat der Aktion für Joana so war, als wäre sie schuldig, obwohl sie doch nicht geklaut hat, wie festgestellt werden konnte. Muhammad hatte Joana inzwischen brieflich mitgeteilt, dass sie ab sofort eine Miete von 350 Euro zu zahlen habe und dass ihre Behauptungen falsch seien. In seiner Mail schrieb Samir, dass sein Gewissen ihm verbiete, solche Dinge mitzutragen, und dass die Situation erst dann als geklärt gelten könne, wenn Joana in diesem Fall ihre Seelenruhe habe, gerade noch als einzige Frau unter Männern. Wenn es nicht anders ginge, dann müsse Samir die Geschichte eben aufschreiben, um zu verdeutlichen, was hier passiert ist. Bei solch schweren Regelverstößen mit Folgen könne man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.
Als Samir in die Stadt zurückkam, rief er Joana an, um die Lage zu peilen. Sie hatte Beruhigungsmittel genommen und konnte nicht zu ihm fahren. Einige Tage zuvor hatte sie einen Unfall verschuldet, als sie aus der Einfahrt ein Auto rammte. Sie war kurz im Krankenhaus mit einem Schock gewesen, völlig mit den Nerven runter. „Warum tut er das?“, heulte sie in den Hörer und meinte damit nicht den Unfall, sondern den Vorfall. Sie hatte inzwischen das Wohnungsschloss ausgewechselt. Samir erklärte ihr, dass er seinen Vater schon lange kenne und wisse, dass er sich schon immer Schwächere gesucht hat und dass er selbst diese Rolle jahrzehntelang habe spielen müssen. Dass er deshalb viel Schmerz erlebt und ihn verlassen hatte. Joana hörte zu und ihre Tränen flossen nicht mehr. „Bedenke auch bitte“, sagte Samir, „dass es hier nicht nur um dich geht. Er spricht hier auch mit mir, bloß dass er mit mir so eine Nummer nicht mehr durchziehen kann. Nun erwartet er mein Einverständnis, dass er sich nach Belieben jemand anderen suchen darf für sein Drama. Deshalb müssen wir jetzt zusammenhalten. Du kannst natürlich bei mir einziehen, solange es dauert. Vermutlich werde ich die Stadt wieder verlassen müssen, vielleicht kannst du meine Wohnung dann übernehmen.“ Samir redete lange mit Joana. Er machte sich Vorwürfe, sie fast eine Woche allein gelassen zu haben. Ihre psychische Verfassung war ganz schlecht. Heinz habe sie wegen eines Gesprächs angerufen, als sie im Krankenhaus war. Als sie sagte, dass sie am Montag in die Firma kommen wolle, wenn Samir auch dabei ist, um noch einmal über alles zu sprechen, lehnte Heinz ab. Auf Samirs Ankündigung, die Geschichte aufzuschreiben, falls das zur Klärung der Situation nötig sei, reagierte Heinz entsetzt. „Ich habe leider das Gefühl, dass Deine Emotionen nicht zulassen, den Sachverhalt objektiv zu beurteilen.“ Wenn er ihnen Bedingungen stelle, sei das Erpressung. Samir solle nicht zur Firma kommen, bevor das geklärt sei, sondern vorher mit den beiden sprechen.
Auf dieses Gespräch konnte er wohl verzichten, es war klar, was los war. Sie schoben es auf seine Emotionen, genau wie bei Joana. Sein Bestehen auf einer gerechten Auflösung der Situation wurde Erpressung genannt. Er sollte sich hier zur Gruppe bekennen, seine Loyalität beweisen. Er sollte lernen, was im Leben wichtig war. War ihm eine blonde Heulsuse aus dem Osten vielleicht wichtiger als eine berufliche Zukunft? Wichtiger als sein eigener Vater? Wichtiger als die finanzielle Grundsicherung? Er dachte an den Koranvers, in dem steht, dass man die Eltern immer ehren muss. Auf diesen Vers hatte sein Vater hingewiesen, als der Sohn ihm klarmachen wollte, dass die beiden sich wegen seiner Gewalt entfremdet hatten. Es hatte sich also nichts geändert. Samir würde diese Geschichte schreiben und sich dann akut nach einer neuen Erwerbsquelle umsehen müssen.
Und Joana? Sie brauchte nur ein bisschen Heimat, dann würde sie schnell wieder auf dem Damm sein. Erst mal musste sie aus der Wohnung raus und einen Job finden. Die beiden würden ins Ungewisse gehen müssen und sich gegenseitig helfen. „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“ Samir lachte ins Telefon. „Übrigens ist so ähnlich der Irakkrieg entstanden.“ „Wirklich?“, fragte Joana. – „Oh ja, nicht nur der.“
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3. Humiliation Leads to Alienation Anis Hamadeh, Juni 2005 "Is there anything you want to tell us?" His voice was calm, controlled, dominant. Joana's eyebrows shriveled. What was going on here? "What do you mean?" she asked in confusion. She looked at Muhammad, then at Heinz, searching. "You can say it now or we can ask Tony and Basim in to join us." Joana still did not know what the matter was. Hastily she recalled the events of the past few hours. She drove to the company, before it had taken her ages again to find the car key. Tired and exhausted she was, too, for the last weeks had been dramatic. Another thing not uncommon for Joana, her world had in a way been upside down since last summer.
At first, she had worked in an office for a medium sized company in western Germany after that things in her home town of Leipzig had gone all wrong. Through contacts she met somebody who employed her. She was still strong, still sexy and she wanted to work. It turned out, though, that the company in western Germany did not pay her any money until after three months she literally stood on the street without any means. There Muhammad found her in her miserable condition and had mercy with her. He took her home with him and his wife offered her a warm meal. Joana ate, relaxed, and then she told her story and talked and talked while Muhammad and his wife Brigitte listened with attention and compassion. Joana felt better afterwards. She needed somebody to trust after all these disappointments. In former times she had had a house, a husband and children. The dream did not come true. The kids, grown-ups today, remained in the east and Joana met this man from the west and tried a new start. There was a lot she wanted to forget about and a lot she still wanted to achieve.
For the first time in a long while she felt easy again, here with this couple. This was eight months ago by now. It had been a nice change for the two people in the house and they liked the open-minded and cordial character of Joana's. As there were enough free rooms in the house they let her recover at their place for a couple of days. Such a human being should get a chance, Brigitte and Muhammad agreed. After a while he let her dwell in the attic apartment that he owned in the village. Joana needed a place to stay and accepted greatfully, even if the apartment had not been inhabited for some months and at first glance did not appear to be too inviting. Muhammad filled the fridge for her and supported her. One day he even bought a bed and a bedroom cupboard for her. Joana had not asked for it, she actually did not even want it, because she still had her furniture in the east and besides she used to make such decisions herself. Muhammad was a little upset about that, but he did not say anything. He also did not say anything when Joana was absent sometimes for days and when she did not like to come over for a visit, although he desired to see her.
Joana loved to drive her car. There were weekends when she just drove away, to her daughter or to other remote places. Sometimes she just had to get out, maybe to flee, maybe to cope with life. To search for the point where life was stuck. Her hands needed motion, she wanted to work. To be occupied with something. She had worked her whole life through, in offices and outdoors. Once she had even worked for a whole night in Tony's bar, on short-term demand, although she had had no experience in this kind of job. 30 euros is what she got for that. That was when she was already in the company. For of course she did not want to dwell in the apartment for nothing, even though Muhammad had insisted. So she went to Muhammad's company and made herself useful there. She wanted to work anyway, so should she be squatting in the apartment with a bad conscience? She got along well with Tony, Basim and Heinz and there was enough work to do.
"There is ware missing in the store." Muhammad's voice was calm, controlled, dominant. Basim and Tony had meanwhile entered the office and sat around Joana to inform her about their opinion that Joana had regularly stolen ware from the store. Since a couple of weeks they had observed the quantities of certain products and by exclusion principle had come to the conclusion that only Joana could be the one who stole these things.
Joana was sitting there like in a dream or a film. She was completely confused. "We found ware in your bag", Muhammad continued. "But this ware is written off as a home requirement. Brigitte gave it to me and Samir", she replied quickly while it increasingly puzzled her that her bag had been opened. Muhammad and Heinz stood up and took her to the list with the things that were written off. Samir had recently introduced this list and placed it next to the copy machine. Indeed, the ware was mentioned there with the date of today. "Why do I as the boss not know this, why didn't you tell me?" Muhammad was still angry. He was disappointed that Joana of all people had stolen things from him while he had been so good to her.
"You did borrow money from Basim, didn't you?" the four men continued when they were all back in the office. Joana denied that. Basim did give her some money recently, that was true. It would be alright like that, she was told, and don't even mention it. There she took it. Muhammad, too, had given her some money sometimes, for fuel and just like that. She had taken it, and why not? She worked, made coffee, and often there was work on the weekends.
Samir entered the office, looking for something. "But when I need money I would ask you", said Joana and Samir looked at her in thoughts. He had found what he was looking for and returned whistling to the store where he was just fixing some shelves. In the last weeks he had accomplished a lot, at last there was space in the store and people did not have to stumble about things every five meters anymore. Also, things could systematically be found now. Samir asked himself how Basim and Tony had managed to work here in the past three years, at all. He himself had only been here for some months. He had reconciliated with his parents after five years of quarrel and he also urgently needed a job, so he asked whether he was needed in the company. Maybe it was possible to combine the energies for a change instead of using them to fight each other. Abu Samir, as Samir's father Muhammad was also called, was enthusiastic about the thought and instantly agreed. Brigitte also found that this was a good idea. This was how Samir met Joana.
The two had liked each other from the beginning. It was quite boring in the village and Joana helped Samir when he moved to settle in the area. They bought carpets and painted the walls. Joana would have liked to move here, too, it was nice in Samir's new apartment. He played the guitar and was somehow different from the people in her surroundings. For a moment she forgot about her sorrows and was, like Samir, happy that they could work together and that they had each other as a friend. "Dream team" Heinz had said in appreciation. While doing up the apartment together Joana and Samir realized that they both liked to be active and productive and that they gave each other strength.
Recently, their relationship had cooled down a little. Samir was worried about Joana having those skip-overs. Once she left her jeans jacket with the wallet at the hairdresser's and subsequently got into a police check. Typical! Or she drove head over heels to her daughter, who had problems, and then returned completely enervated and exhausted. Forgetting the mobile phone. Car batteries. Car stories in general. Then the loo overflew several times, she had put something wrong into it. The stove made problems, too, the other day it had caused a short-circuit. There was something wrong on a general level. And Samir lost touch. Only last weekend he had told his parents that he could not reach Joana anymore and that he was a bit upset about it, as she did not react. Before her hasty departure to the east Joana had painted a picture with watercolors for Samir's mother Brigitte, it was still wet when Samir had delivered it together with the pie, like Joana had wished. He had bought Joana a book, "The Celestine Prophecies", because he wanted to help her and this book provided many answers. He read it out for her and she appreciated that, still they had only managed to reach page 40. At the moment she had a transit visitor and thus again no time.
Samir screwed the final tin shelf on and collected the tools. It had a liberating effect on him when he established order. On his way to the sink he met a completely tear-stained Joana in the hall, on her way out. She recognized Samir through the tears and turned to him. "They say I have stolen." Then she cried again. It was not the first time that Samir was confronted with such dramatic utterances by Joana, but what was that she was saying there? He asked her to confirm what she said and talked to her. Yet she was not able to stay, apologized and ran away. Samir was confused. Benumbed he entered his father's room and looked at him. "So", Muhammad said knowingly, "what did Joana tell you?"
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"This is a special relationship. She does also have the key to your parents' house and your father did also often fill the fridge for her." Heinz tried to calm Samir down. "We have learned our lesson. Such a thing will not happen again." He really wished to continue working with Samir for Samir worked in a clean, systematic and fast way. One could even talk with him about religious issues. The relationship had been good and always open which in turn was something highly appreciated by Samir. "Heinz, when he enters her apartment in her absence, looking for stolen goods, without asking her permission and even without information, then this is called a burglary. The same is true for the opening of her bag." Samir was angry. He had learnt that his father had been in Joana's apartment immediately before the trial yesterday. Joana told him that Muhammad had said goodbye to her at noon in the company telling her he was going to see the tax counselor. Later, Muhammad asserted that he went to the bank afterwards and there it spontaneously came to his mind that he still had to check the fuse box in Joana's apartment because of the stove. It was on his way, he said. He had forgotten to phone her before he went in.
Samir was ashamed of his father. If there was an incidence of theft in the store then this was something that they had to discuss together. But these four men had pondered and worried for weeks and they had not informed him and Joana, but had kept their suspicions to themselves. And suddenly the thing exploded like that. Meanwhile Muhammad had noticed that his suspicion could not be proven. In this second talk he apologized to Joana. She, in turn, did not leave straight away, but resumed her work. Samir acknowledged this with respect. But some hours later she came up to Samir and said that she would have to go home now and digest all the things that happened. Samir continued the discussion with Heinz: "It seems to me as if you happened to need someone to take the blame and that you chose the weakest person of the group. The classic." Heinz denied that. He listed the things Joana had done wrong in her life and that she was quick with tears. "This might be so, but what does this have to do with the allegations? And with the burglary?" Samir shook his head.
It followed a phase of absence from the company for both Joana and Samir. Samir still did not have a real working contract. There was a bigger amount of money on ice due to a translation mistake in a contract in February. This worry was pressing on the small company. Joana did not appear in the company anymore, because she had only gradually understood the humiliations of the last days and was unable to trust Muhammad anymore, despite his short apology. She still felt under suspicion and Samir could not rebut this, for he himself had heard in the company that there still would be open issues. Some weeks ago Tony saw her with ware which she allegedly was about to photograph for the website. He said she had behaved in a suspicious way. When Tony had invited the company to dinner in February he had not invited Joana and Samir. Tony did not talk much and he did not look into your eyes when he shook hands with you.
Samir's energy level sank rapidly. In the first two nights he could hardly find any sleep. His trauma had reopened. Abu Samir had done the very same thing with Joana that he had done with himself in former times. Only without physical violence. So he did it again, confirmed it. Samir was terribly ashamed of his father.
For years he had tried to explain to him that humiliations lead to alienation. And that one cannot just buy people with money. Now Muhammad openly committed a burglary, a mobbing and a lie without wanting to understand that he was not allowed to do that. His co-workers remained silent and rationalized that Joana always put herself in the role of the victim, anyway, and that in the end she was using everybody for her own advantage. Maybe she had put some witchcraft on Samir. They were four men with whom you could steal horses, like in the German saying Abu Samir sometimes quoted. Brigitte, too, in this issue had only this to say to Samir: "Well, did Joana cool down again?" For some months Muhammad had complained about not receiving a rent for the apartment. It would be fine and well that she worked in the company, but this would be a different pot. In the last conversation with him Samir said that he could simply not believe the story with the fuse box. "Well", Muhammad replied and shrugged his shoulders, "I did apologize, what else is there that I could do?" And Samir: "But I cannot trust you anymore." Again a shrug.
The problem for Samir was not only the burglary, the mobbing and the lie, rather it became impossible for him now to believe his father several other things, things he had said in the past. Like the forgetting of violence he exerted on his son.
In the following weeks it became clear that Joana was unable to come to the company anymore under these circumstances and that Samir, too, needed a two-weeks break. He only went to the company one more time and saw his father for a short time. They had a very calm, short talk in the course of which Samir asked: "Why is it that we always have such arguments?" Muhammad shrugged his shoulders. "I really have limits", Samir continued, "I cannot participate in everything." Meanwhile, Heinz was of the opinion that Joana should not return. That it was over. There would never have been an agreement for Joana to get a steady job. This, however, was not what Samir had heard from his father. Heinz also wanted to bring his daughter in the company, but denied a causal context.
While the case was closed for Muhammad, Heinz, Basim and Tony, Joana and Samir stayed at their respective homes, feeling an increasing pressure as they both had to care for the future and were cut off the monetary source for which they had been working. Before Samir left the city for an appointment he wrote an email to Muhammad and Heinz asking them why the result of the whole affair for Joana was the same as if she was guilty, although she did not steal as it turned out. Meanwhile, Muhammad had informed Joana in a letter that from now on she had to pay a rent of 350 euros and that her allegations were wrong. In his mail Samir wrote that his conscience makes it impossible for him to accept what happened and that the situation could only be regarded as settled when Joana had her piece in this matter, especially as the only woman among men. If there was no other way Samir would have to write down the whole story to make clear what happened here. In such cases where the rules were violated in such a severe way and with late effects one could not just turn to the routine as if nothing ever happened.
When Samir came back to town he called Joana to make up his mind about the situation. She had taken suppressants and could not drive. A couple of days earlier she had caused an accident when she ran into a car while driving out the entranceway. For a short while she had been in the hospital with a shock, her nerves were bad. "Why is he doing this?" she cried into the phone and referred to the incident, not the accident. In the meantime she had exchanged the lock of the apartment. Samir explained to her that he knew his father for a long time and knew that he had always picked weaker people to victimize them and. He himself had to play this role for decades. That this had been the reason for much pain and the reason why Samir had left him before. Joana listened and her tears ceased to flow. "Please also consider", said Samir, "that this behavior is not only because of you. He is also talking to me here, only that he cannot play this game with me anymore. Now he expects my approval for his free choice of another victim for his drama. Therefore we have to stick together now. You can certainly move to my place as long as this situation lasts. I will probably have to leave the city again, maybe you can take over my apartment then." They had a long conversation. He felt responsible for leaving her alone for almost a week. Her psychic state was really bad. She said Heinz had phoned her for a conversation when she was in the hospital. When she said that she wanted to come to the company on Monday, in Samir's presence, to talk it all over, Heinz declined. On Samir's announcement to write the story down should this be necessary to clarify the situation Heinz reacted horrified: "Regrettably, I have the impression that your emotions do not allow you to take an objective look at the facts." If he was posing conditions on them then this would be blackmail. Samir should not enter the company before this point is clarified, but talk to the two before.
He could well do without this talk, it was obvious what was going on. They blamed it on his emotions, just like with Joana. His insisting on a just solution of the situation was called blackmail. They wanted him to commit to the group, to prove his loyalty. He was to learn what was important in life. Was a blonde crybaby from the east more important to him than a career? More important than his father? More important than financial security? He thought of the verse in the quran which says that you always have to honor the parents. His father had mentioned this verse when his son wanted to explain to him that the two had alienated because of his violence. So there was no change, at all. Samir would write this story and then would have to find himself a new job quickly.
And Joana? She only needed a bit of a home, then she would recover and be able to go on. First of all she had to leave the apartment and find herself a job. The two would have to go into the uncertain and help each other. "Something better than death we will find anywhere." Samir laughed into the phone. "By the way, the war on Iraq started in a similar way." "Really?" Joana asked. – "Oh yes, and not only this." |