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DIE ABENTEUER DES THEO FIEBERBRAIN
Anis Hamadeh, Juli 1999

- Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo -

Theo Fieberbrain ist ein Mann, der ausgezogen ist, seinen Traum zu finden. Alles begann damit, dass er bemerkte, dass mit der Welt etwas nicht stimmte. Auf seiner Suche begegnen ihm märchenhafte Gestalten wie der Dschinn Lara, die ihn durch einige Abenteuer begleitet, die Spiegelfrau und der sagenhafte Calamus aus dem Kairo des vierzehnten Jahrhunderts. Theo kommt von einer fantastischen Situation in die nächste. Er hat Waffen und Werkzeuge wie seine magische Brille, durch die er in Golem City einen Turm entdeckt, auf den die Ledermenschen ziehen. In Amanda Regenvogel scheint Theo seinen Traum dann entdeckt zu haben, doch sieht er bald, dass auch sie nur ein Zeichen ist, dass gedeutet werden will. In anderen Episoden gelangt Theo in den Rock'n'Roll-Himmel und zu Yoda, dem Yediritter an seinen Teich. Auf die Brücke zwischen den Spiegeln zieht es ihn, in eine Sternwarte in Kalifornien und in die Wüste zum Regenmacher. Durch surreale Fantasiewelten ziehend und vielen Enttäuschungen ausgesetzt, bleibt Theo Fieberbrain voller Zuversicht, dass alles wieder gut werden würde. Irgendwann.

Bislang gibt es neun Folgen der Abenteuer des Theo Fieberbrain. Jede Geschichte ist zwei Seiten bzw. zehn Minuten lang. Heinke Vollers hat einige Illustrationen dazu gemacht, sie sind auf dieser Seite zu finden. Hier sind die ersten drei Theo-Episoden zu lesen:

1. THEO FIEBERBRAIN IN GOLEM CITY
2. THEO FIEBERBRAIN UND DER DSCHINN
3. THEO FIEBERBRAIN UND DIE GROSSE LIEBE
4. THEO FIEBERBRAIN IM ROCK-AND-ROLL-HIMMEL
5. THEO FIEBERBRAIN STRAHLT
6. HOFFNUNG FÜR THEO FIEBERBRAIN
7. EIN FLUCH LASTET AUF THEO
8. AMANDA REGENVOGEL
9. THEO FIEBERBRAIN IN DER WÜSTE

THEO FIEBERBRAIN IN GOLEM CITY
Anis 02.07.99 (#1)


Zeichnung von Heinke Vollers. Zur Vergrößerung hier klicken.

Theo Fieberbrain hatte sich schon lange gefragt, was mit dieser Welt eigentlich nicht in Ordnung war, als er an einem Samstag auf dem Flohmarkt von einem Chinesen angesprochen wurde. Der sagte ihm, er sähe aus wie einer, der sich Gedanken darüber mache, was eigentlich mit der Welt nicht in Ordnung sei, wegen dieser ständigen Zwischenfälle. Theo drehte sich zu dem Alten hin und sah in seiner Hand ein silbernes Brillenetui mit bunten Mustern darauf. Bei einer Schale Tee erfuhr er, dass der Inhalt dieses Etuis ein besonderer war. „Deine Augen“, sagte der Chinese, „sind die eines Kindes. Du wirst durch diese Brille sehen. Ich bin wirklich froh, dich gefunden zu haben.“ Nun war Theo Fieberbrain ein Mensch, den so leicht nichts aus der Ruhe bringen konnte. „Wird sie mir helfen, meinen Traum wiederzufinden?“, fragte er. Der Alte betrachtete für eine Weile die Brille und dann Theo und sagte: „Sie ist ein Werkzeug. Was du damit machst, ist allein deine Sache.“

Theo nahm die Brille und machte sich auf in die Stadt, um seinen Traum wiederzufinden. Als er sie aufsetzte, verwandelte sich vor seinen Augen die Schrift auf dem Ortsschild, und er las: Golem City. Die Stadt war in ein gelbrotes nebliges Licht getaucht. Es war angenehm und machte jede Bewegung leicht. Entspannt erreichte er die Hauptstraße und die ersten Menschen. Sie schienen wie sonst auch, bis auf einen Unterschied: Überall aus ihren Körpern wuchsen Messer. Waren es wirklich Messer? Theo kam näher, um diese Frage zu klären. Ja, es waren welche, und nun sah er auch, dass all die Leute, die da an ihm vorübergingen, überall Schnittwunden hatten, einige mit Blut verkrustet, andere noch frisch und in der Luft trocknend.

Er sah jemanden, den er kannte und grüßte ihn mit einem Winken: „Fred! Du warst doch bei mir, im strengen Winter, damals!“ Und Fred kam auf ihn zu und sprach mit ihm. Dabei stieß manchmal ganz plötzlich eine der Klingen aus seinem Körper hervor, wie die Zunge eines Chamäleons, und Theo wich nach hinten aus, im Reflex. Er nahm die Brille ab und sah den Sonnenschein, die Menschen auf der Straße, keine Messer, keine Wunden. Fred stand da, lächelte, und beide wunderten sich sehr. „Was ist denn mit dir los?“, fragte Fred, und Theo setzte schnell die Gläser wieder auf, um einem neuerlichen Degenstoß zu entgehen. „Ich habe eine neue Brille“, sagte Theo und ging weiter.

Wo immer er Menschen im Gespräch sah, bemerkte Theo Fieberbrain, wie die Klingen ausstachen. Aus den Bäuchen und den Beinen, aus den Köpfen sogar. Als er näher herantrat, erkannte er, dass die Haut der Menschen dunkel und ledrig war, wie der Panzer eines Ur-Tieres. Von weitem schienen sie viel heller und freundlicher. Sie verzogen keine Miene, wenn sie getroffen wurden. Oft flitzten die Messer abwechselnd hin und her, bei einem Kaffee mit Gebäck. Während die meisten Leute weder etwas davon zu wissen schienen, dass sie ständig getroffen wurden, noch davon, dass sie selbst über diese seltsamen Instrumente verfügten, gab es andere, die im Halbdunkel eines Hauseingangs heimlich ihre Waffen pflegten und mit der Zunge säuberten, bis sie zu blitzen und blinken begannen. Die Messer dieser Leute waren länger, und ihre Gesichter waren nicht so ledrig, wie die der anderen. Attraktiv waren sie wohl, und doch lag ein unheimlicher Zug um ihre Mundwinkel.

Und noch etwas erregte Theos Aufmerksamkeit: Wenn sich die Menschen berührten, dann hellten sich die Gesichter gleich auf, dann heilten die Verletzungen an den Stellen, wo sie berührt wurden. Er sah eine fröhliche schöne Frau, die ihrem Mann heftige Wunden beibrachte, immer an derselben Stelle. Sie nahm ihn hinterher in den Arm und küsste die Stelle, bis sie wieder verheilt war. Und er sah einen erfolgreichen gutaussehenden Mann, der seine Frau ganz böse traf, immer wieder, oh Gott! und seine Kinder. Auf seinen Eisen stand geschrieben, dass nur er es durfte. Und auf ihren kleinen Klingen stand geschrieben, dass sie es ihm ewig danken würden.

Schnell ging Theo weiter. Er folgte dem Zug der Ledermenschen, die sehr viele waren. Alle wollten sie allein gehen, vielleicht ahnten sie, was sie taten. Und ließen einander nun in Ruhe. Wohin gingen sie? Theo reihte sich ein und ging mit ihnen. Vielleicht konnte er hier etwas über seinen Traum erfahren. Dann würde er endlich schlafen können. In einem Schaufenster sah er sein Spiegelbild. Er sah, dass seine Haut anders war. Pfirsichhaut. Theo lachte. Das war er nicht. Und dann diese Brille! Das war er nicht. Er kannte seine Narben. Und er bemerkte noch etwas: Aus seinem Körper kam eine Art von Laserstrahlen. Ganz weiß, ganz heiß. Er erschrak, und ihm fiel das Gesicht des Chinesen wieder ein und seine Worte.

Der Gang verlief ruhig. Die Menge trottete die trübe Straße hinauf, und die Klingen blieben eingezogen. Eine gewisse Furcht schien die Menschen daran zu hindern, den leichten Weg zum Hafen zu nehmen. In Richtung der Wolken sollte es stattdessen gehen, ganz nach oben. Wenn alle Ledermenschen sich versammelten, dort oben im Olymp, und die Fleischtöpfe plünderten, wenn sie sich selbst erschaffen könnten – die Unsterblichkeit. Sie alle gingen die Stufen des runden Turms hinauf, der kein Geländer hatte, Theo Fieberbrain unter ihnen. Als er die Steine genauer ansah, aus denen der Turm gebaut war, blieb er plötzlich stehen und kehrte nach unten zurück. Immer an der Wand lang, immer an der Wand lang. Damit ihn niemand sah, wie er ging. Damit er nicht im Wege stand.

Unten lag der Hafen. Kein Schiff zu sehen. Theo legte sich an den Strand und hörte den Wellen zu. Er legte die Brille zurück ins Etui und würde sie später in seine Waffenkammer bringen. Er sah in den Himmel, bis dieser ganz aufgeräumt war, und er träumte von seinem Traum. Diesem Traum, der eines Tages an seine Tür geklopft hatte, als er unter der Dusche stand und eine Kassette von den Beatles hörte. Als er, von einem Handtuch umwickelt, triefend und grinsend die Tür öffnete und gar keiner da war. Ein Lausbubenstreich. Theo schüttelte den Kopf. I've got a feeling. „Am Schluss hat es immer mit einer Frau zu tun“, sagte ihm da plötzlich eine gutmeinende Stimme, und er sank in einen leichten Schlaf, wissend, dass er in seinem Bett aufwachen und dass alles wieder gut sein würde. Irgendwann.

THEO FIEBERBRAIN UND DER DSCHINN
Anis (#2)


Zeichnung von Heinke Vollers. Zur Vergrößerung hier klicken.

Theo Fieberbrain hatte sich schon lange gefragt, was mit der Welt eigentlich nicht stimmte, als er eines Tages im Supermarkt von einem Afrikaner angesprochen wurde, der eine schwarze Lederjacke und Rastafari-Farben verstreut an seinem Körper trug. „Du bist der Mann, der sich fragt, was mit dieser Welt eigentlich nicht stimmt“, sagte er und verwendete den Zeigefinger zur Unterstützung seiner Aussage. Dann schaute er verschwörerisch nach rechts und links und holte eine Kassette hervor. Auf der Hülle sah man gelbe Muster vor einem schwarzen Hintergrund. Wie ein Baumgeäst, durch das ein heller Schein trat. „Afrikanische Trommeln, mein Freund!“ sagte der Mann, legte die Kassette in Theos Hand und verschwand. Theo konnte sich nicht einmal bedanken, so schnell war er fort.

Theo ging nach Hause und probierte es aus. Er machte es sich auf seinem Futon bequem, nahm den Kopfhörer und lauschte den afrikanischen Trommeln. Weil ihm danach war, zündete er auch eine Kerze an. Die Rhythmen waren ganz nach seinem Geschmack. Da geschah es, dass aus der Kerze ein Geist entströmte, etwa so, wie man es aus Fantasy-Filmen kennt. Eine feingesichtige, wohlaussehende, schwarzhaarige Frau in weißem Kleid erschien vor Theo im Zimmer. Nun war Theo Fieberbrain kein Mann, der leicht aus der Fassung zu bringen wäre. Er griff zu seinen Zigaretten, nahm eine aus der Schachtel, und bevor er sie sich in den Mund steckte, fragte er den Geist: „Möchtest du vielleicht rauchen?“

Der Geist lächelte. Er schwebte in einer halb weißen, halb transparenten Wolke, deren Ränder man nicht sehen konnte. Es war an diesen Stellen, als wäre der Betrachter blind, es war das Nichts. Wie bei „Die Unendliche Geschichte“. In der Mitte aber, aufgetürmt in hellem Schein, der doch nicht anstrengend war für das Auge, sondern vielmehr angenehm, weihnachtlich fast, diese friedliche Person mit den Zügen eines kleinen ozeanischen Sonnenkindes, bis an die Decke ragend, überproportional, vornübergebeugt etwas, wie in einem Hohlspiegel, und wunderschön anzusehen. Entgegen seinen Erwartungen zeigten sich auf Theos Stirn nun einige Schweißtropfen, und sie sagte: „Ich heiße Lara und bin – ein Dschinn. Und du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“ „Na, dann ist es ja gut“, erwiderte Theo und legte eine kurze Pause ein.

„Was ist ein Dschinn?“ wollte Theo dann wissen, und er erfuhr, dass Dschinnen Geschöpfe seien wie die Menschen, nur dass die Menschen aus Erde gemacht seien und die Dschinnen aus Feuer. Deshalb lebten die beiden Geschöpfe in verschiedenen Welten. Gelegentlich komme es aber vor, dass ein Dschinn oder ein Mensch die Grenzlinie findet. Bei solchen Treffen wisse dann meist keiner der beiden, wer eigentlich den anderen gefunden hat. In seltenen Fällen komme es auch zu Symbiosen, in denen sich ein Mensch und ein Dschinn zusammenschließen. „Warum schließen sich zwei Leute zusammen?“ fragte Theo, und Lara antwortete: „Weil sie ein gemeinsames Ziel verfolgen.“ Theo fragte weiter: „Gibt es noch andere Gründe?“ Und der Dschinn antwortete:„ Ja, es gibt viele andere Gründe, aber keiner von ihnen ist erfolgreich.“ Theo schlug die Augen nieder und fragte: „Wonach suchst du, Lara?“, und sie antwortete: „Nach meinem Traum. Ich suche den Traum, den ich bei meiner Geburt geträumt habe, und den ich vergessen habe. Ich vermisse ihn, wie eine süße Melodie, zu der ich als kleiner Dschinn getanzt habe.“ Und Theo schaute wieder auf, ohne mit der Wimper zu zucken, und sagte: „Erzähl mir noch ein bisschen mehr von diesem Symbiose-Zeug!“ Er nahm die Kassette aus dem Rekorder, drehte sie um und versank erneut im afrikanischen Rhythmus.

Es war sehr früh am Morgen. Die nackten Jäger hatten ihre Pfeile gespitzt und gingen auf Affenjagd. Ihre Füße waren leise. Sie zogen durch den Wald. Ihre Augen spähten in die Bäume, denn dort schliefen die Affen. Im Schlafe waren sie leichter zu treffen. Das ganze Dorf brauchte Nahrung. Man würde die Tiere auf dem Rücken nach Hause tragen, stolz, und die Frauen würden die Leiber in die Glut legen, bis sie gar waren. Die Kinder würden mit den abgekühlten verbrannten Affen spielen. Wenn die Männer dann kämen, würden die Frauen die Tafel bereiten. Auch die Frau vom Nachbardorf. Man hatte sie aufgenommen und nicht getötet, weil einer der jungen Krieger sie zur Frau wollte. Sie hatte ein Kind zur Welt gebracht und war sehr still.

Als abends die Hüttenmenschen satt am Feuer saßen, zufrieden lachend, Geschichten erzählend, kopulierend, als die Sonne bereits untergegangen war, da trauten sich Theo und Lara aus ihrer Deckung. Von einer Anhöhe, in sicherer Entfernung, beobachteten sie die Siedlung. Theo sah sie an. Sie hatte menschliche Gestalt angenommen und war von elfenhafter Erscheinung. „Was zeigst du mir hier?“ fragte er erschauernd. „Es sind deine Leute, mein Freund“, erwiderte Lara gelassen, „und diese hier sind mir noch lieber, als die im zwanzigsten Jahrhundert. Bei denen kann man es nämlich nicht sehen.“ Gerade wollte Theo ihr von einem Geschenk berichten, das ihm ein Chinese gemacht hatte, da begann es fürchterlich zu regnen, und die beiden wären in den Fluten glatt ertrunken, hätte Lara sich nicht in die Lüfte geschwungen und den Theo mitgenommen, bis sie ruhig über dem Meer dahinglitten.

Auf einer sonnigen Robinson-Insel fanden sie sich wieder. Es war still geworden. Da wurde Theo Fieberbrain traurig. Er erzählte Lara davon, dass sein Leben wie ein Cartoon sei, von den Strahlen und dass viele Leute ihn für krank hielten, schon weil er aus dem Hause Fieberbrain war. Lara hörte zu und nickte geistesabwesend vor sich hin. „Ich denke“, sagte sie dann, „eine Symbiose ist in diesem speziellen Falle vernünftig. Weiße Strahlen. Verstehe. Am Stadtrand, ja ja. Ich denke, es geht.“

Die Kassette war zu Ende. Lara entschwand und Theo legte den Kopfhörer beiseite. Er rieb sich die Augen. Er hatte da einen Traum gehabt, oder nicht? Schattenspiele, Lichtspiele. Im Fernsehen lief ein Dokumentarfilm über peruanische Blasrohrjäger. Sie hielten triumphierend einen kleinen toten Affen in die Höhe und lachten. Theo schaltete den Apparat aus. Für heute hatte er genug gesehen. Er schlief ein im Wissen, dass alles wieder gut sein würde. Irgendwann.



THEO FIEBERBRAIN UND DIE GROSSE LIEBE
(#3)

Theo Fieberbrain war sich langsam im klaren darüber, was mit der Welt nicht stimmte. Er beschloss daher, sich von nun an im Untergrund zu bewegen. Anlass war, dass Mutter Fieberbrain von der Geschichte mit dem Dschinn gehört hatte und der Sache auf den Grund gehen wollte. Theo versteckte sich daher in der Kanalisation. Hier konnte ihn niemand finden. Hier war weit und breit niemand zu sehen. Außer einer Ratte, die wie John Lennon aussah. „Sagt dir der Name Alice etwas?“, fragte sie Theo.

Nun war Theo Fieberbrain nicht der Mann, der sich leicht einschüchtern ließ, und so erwiderte er lediglich: „Wenn du etwas von dem Zeug bei dir hast, das einen groß und dann wieder klein machen kann, dann gib's nur her!“ Die Ratte aber sagte: „Nein, verwandle dich hier in einen Schmetterling, und folge mir!“ Theo sah das Tierchen um die Ecke huschen und tat, wie ihm geheißen wurde. Er flog zunächst etwas unsicher und blieb oberhalb des steinernen Vorsprungs, doch schon bald schwebte er über dem Kanal in der Mitte, der Ratte hinterher, die sich tänzerisch und schnell in dem Labyrinth bewegte, gerade so, dass Theo Schmetterling ihr folgen konnte. Dabei orientierte er sich an den Fiepslauten, die die Ratte ausstieß.   Unten in der Kanalisation war sonst gar nichts. Außer dem Schmetterling, dieser einen Ratte und den Wasserwegen, die sich wie Nervenbahnen kreuzten. Vor einer Tür, auf die ein großes M geschrieben war, blieb die Ratte stehen.

Theo pochte mit seinen beiden Fühlern an diese Tür, und sie öffnete sich. Vor ihm stand ein weiter grüner Garten. Er blickte die Ratte dankend und gleichzeitig fragend an, ob sie nicht mit hereinkommen wolle. Doch da verschloss sich das Tor schon wieder, und mit einem Gruß trottete die Ratte zurück. Theo flog zu einem blühenden Kastanienbaum und mischte sich unter dessen helle Blüten, bis ihm schwindelig wurde. Er trudelte zu Boden ins Moos und verwandelte sich zurück in Theo Fieberbrain, den Mann, der ausgezogen war, um seinen Traum zu finden.

Es war Abend geworden, und der Himmel wurde kühl. Er hörte das Rascheln von Frauenfingern, die von der anderen Seite um die Rinde des Baumes strichen. Dann sah er zwei Füße im Moos vor den seinen und die andere Hand der Frau, in der eine Schale mit einem köstlich dampfenden Getränk war. „Magst du mit mir davon trinken?“, fragte sie mit süßer Stimme, „es ist herrlicher Kastanientee.“ Und Theos Blick blieb auf ihr haften, während seine rechte Hand nach dem Getränk tastete. Ohne seine Augen von den ihren zu lassen, trank er den Tee. Er war süß. Er wurde müde davon. Schon sank er zusammen. Das letzte, was er sah, waren die Lippen dieser Frau unter dem Baum. Sie waren zu einem Kussmund geformt, ihm zugewandt, und doch, so schien es ihm zunächst, für niemanden bestimmt.

Als Theo Fieberbrain aufwachte, fand er sich in der dunklen Unterwelt wieder, gerade vor der Tür mit dem M, und mit Kopfschmerzen zwischen den Ohren. Die Ratte, deren Namen er nicht kannte, war nirgends zu sehen. Stattdessen erschien ein Fährmann, mit Floß und Stock, wie ein venezianischer Gondoliere. Theo wusste, dass solche Fährmänner erstens immer etwas Übles im Schilde führten, und dass sie einen zweitens an interessante Orte bringen konnten, wenn man schlau genug war. Also sagte Theo, um keine Zeit zu verlieren: „Ich steige schon ein. Du brauchst mir gar nichts zu erzählen, um mich herumzukriegen. Bloß erwarte nicht, dass ich dich im voraus bezahle. Das gibt es bei mir nicht. Und nun sag mir, wohin die Reise geht.“ Die Augen des Fährmanns leuchteten unter der Kapuze, und nach einer Weile des Zögerns stieß er das Floß ab und ließ er den Theo hinter sich im Schneidersitz sitzen.

Gleichmäßig bewegte sich das Fahrzeug. Es bestand aus flachem Holz, auf das ein warmer bunter Teppich befestigt war. Theo hörte den Fährmann nun sprechen, und obwohl der ihm den Rücken zukehrte, klang seine Stimme so nah, als säße er seinem Gast gerade gegenüber. „Wir fahren in den Rock-and-Roll-Himmel, denn dort erfährst du etwas über deinen Traum.“ Diese Worte klangen zu gut für einen Fährmann dieses Kalibers, und so entschied sich Theo dafür, ihn zu betrügen. Bevor der Kapuzenmensch etwas Unangenehmes gegen ihn unternehmen konnte, konzentrierte sich Theo zurück auf das M, welches an der Tür geschrieben stand und verwandelte sich wieder in den Schmetterling. Da bog das Floß nach links in einen Seitenkanal und war verschwunden. So sehr sich der Schmetterling auch bemühte, das Boot wiederzufinden, es blieb aus. Kein Rock-and-Roll-Himmel für heute!

Theo war enttäuscht und rauchte eine Zigarette. Plötzlich huschte die Ratte vorbei und flüsterte: „Ich heiße übrigens Sigmund“, und Theo fiel glatt die Zigarette aus der Hand, die trudelnd in die Tiefe fiel, bis er schließlich selbst von dem Strudel ergriffen wurde, sich noch im freien Fall zurückverwandelte und auf einer Couch in Wien landete, direkt vor dem Mikrofon von Professor Freud. „Schauen Sie“, sagte Freud, „jeder Mensch hat solch einen Traum. Er hat bei Männern meistens etwas mit einer Frau zu tun. Die Sehnsucht nach dem Ursprung führt manche leidenschaftlichen Männer zurück zum Adam-und-Eva-Szenario. So erleben sie ständig die Vertreibung aus dem Paradies. Wie die Motte das Licht. Sie sind Skorpion, nicht wahr?“

Doch das ließ Theo sich nicht bieten. Er hatte gehört, dass Skorpione oft von hinten erschossen wurden. So ritt er also in den Sonnenuntergang, und es gab nur noch das weite Land, sein Pferd und ihn, Theo Fieberbrain, der seinen Traum suchte. Er dachte an die Frau mit dem Kastanientee, deren Füße im Moos so weich waren. Deren Lippen ein M zu formen schienen, das über ihre Atemluft in die Welt entströmte, zwischen dem Gestern und dem Morgen. Den Kopf unten an eine Eiche gelehnt und den Hut weit über die Stirn gezogen, lauschte er dem Knacken des ausgehenden Lagerfeuers, während er die Ms dieser wunderschönen Frau zählte, denn er wusste nun, dass er seine große Liebe gefunden hatte. Beim dreiunddreißigsten M schlief Theo dann ein, und alles war anders geworden. Und bestimmt würde auch alles wieder gut werden. Irgendwann.

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