Sprachgeschichte Dantes Deutsch
Anis Hamadeh, 04.05.2021, Zabaanistan # 4
„Come bue che 'l naso lecchi“. Was, wer leckt sich da die Nase? Ein Ochse? Wirklich, das heißt so? Ja. Wörtlich: Wie (ein) Ochse, der (sich) die Nase leckt (Inferno 17:75). Man würde es nicht denken, aber Dantes Komödie ist gespickt mit deutschen Wörtern; es sind viel mehr als französische oder provenzalische. Tatsächlich war der linguistische Austausch über die Alpen hinweg in den tausend Jahren von Roms Absturz bis zu Dantes Göttlicher Komödie, also bis 1320, ziemlich rege. Und wie nutzte nun der romanische Dante, Vater des Italienischen, Emanzipator seiner florentinischen Umgangssprache und großer Wortschöpfer, die germanische Sprache der „Tedeschi lurchi“ (Inferno 17:21), der gefräßigen Deutschen?
Um dieser Frage nachzugehen, wollen wir im Dante-Jahr 2021 bei Ludwig Gottfried Blanc anklopfen, einem Romanistikprofessor aus Halle und Autor eines 562-seitigen „Vocabolario Dantesco“ von 1852. Darin erklärt er alphabetisch jedes Wort aus der Komödie und auch dessen Ursprung, sofern er ihm bekannt war. Deshalb können wir uns allein mithilfe dieser Quelle Dantes Deutsch systematisch nähern. Hier ist die Beute: alle Wörter der Komödie, ungefähr 200, die unmittelbar, mittelbar oder möglicherweise aus dem Deutschen stammen! (Nach der Liste geht dieser Text weiter.)
Eigennnamen: Adice (Etsch); Albia (Elbe); Bruggia: Brügge (Brücke); Danubio (Donau); ghibellini: Gibellinen (von Gieblingen oder Waiblingen, einem Schloss der Hohenstauffer in Schwaben); Gottifredi (Gottfried); Gualterotti (Walter); Guelfo (Welfe); Gu(i)glielmo (Wilhelm); Guido (Veit); Matelda (Mathilde); Omberto (Hunibert, Humbertus); Ridolfo (Rudolf); Soave (Schwaben); tedesco (teutsch -> deutsch); Ubaldo (Hubald); Ugo, Uguccione (Hugo)
Tiere: anitra: Ente (lat. anas + dt. Ant, Aente); becco (Bock); bevero (Biber); biscia: Schlange (vielleicht von beißen); falcone (Falke, auch vulgärlat. falco); grifagno: erwachsener Greifvogel (greifen); sparviere (Sperber)
Körperteile und -Aktionen: anca: Hüfte (ahd. hanka); berza (Ferse); branca: Klaue (Pranke); ciuffetto: Haaransatz (Schopf); coppa: Hinterkopf (vielleicht von Kopf); fíanco: Flanke (ahd. hlancha = Schenkel); guanca (Wange); leccare (lecken); muso: Schnauze (ahd. mud, engl. mouth); naso, nasetto/nasuto (Nase, großnasig, vielleicht lat. naso); pancia (Wanst, vielleicht lat. pantex); piota: Fuß (Pfote); san(n)a: Hauer (Zahn); schiena: Rückgrat (Schiene); sputare (spützen = spucken); strozza: Gurgel (wahrscheinlich deutschen Ursprungs); trullare: furzen (vielleicht von ugs. strullen); zanca: Fuß (Zacke, Zinke); zanna (Zahn)
Natur und Essen: biada: Getreide (vielleicht von Blatt); bosco: Wald (Busch); bragia: Glut (vielleicht von Brand); brolo: Garten (Brühl = Wald); foresta (Forst); giardino (Garten); muffa: Schimmel (Muff, muffen); perla (Perle); piluccare (pflücken); pozza (Pfütze); roba: Futter (Raub = Beute); scaglia: Schuppe (Schale); spelta (Spelz); scheggia/o(ne): Span (lat. schidia oder eher Scheit); suppa (Suppe); stormire, stormo (stürmen, Sturm)
Geometrie und Geografie: balzo: Balkon (Balken); banda: Seite (Band); canto: Seite (Kante); chiappa: Klippen (Klappe); falda: Flocke (vielleicht von Falte); lacca: Tiefe (Lache oder lat. lacus); landa: Ebene (Land); lista, listarsi: Linie, Linie bilden (Leiste); marca, Marchese: Gegend, Markgraf (Mark); palla: Kugel (Ball); randa (Rand); riga: Linie, Reihe (Riege); schiuma (Schaum); smalto (Schmelz); spanna (Spanne); strada (lat. stratum oder Straße); striscia (Strich)
Werkzeuge: arnese: Gerät (Harnisch); arredo: Gerät, Geschirr (Herde); banco (Bank); bara (Bahre); benda (Binde); bolgia: Quersack (lat. bulga und ahd. Bulge); bozzacchione: Tasche (ahd. butz); corredare: ausstatten (vielleicht von Gerät); doga (Daube); ghirlanda, inghirlandare: Blumenkranz, umgürten (gürten); giga (Geige); giubbetto: Galgen (frz. gibet, wahrscheinlich von Wippe); liuto (Laute); manto (Mantel, vielleicht lat. mantellum); raffio: Haken (vielleicht von raffen); risma (Ries, ursprünglich ein arabisches Papiermaß); rocca (Rocken); rosta: Fächer (Rost); scranna: Bank (Schranne); soga: Riemen (vielleicht von ziehen); spola (Spule); spranga: Klammer (Spange); squilla, squillo: Glocke, Gesänge (Schelle); stecco: Stachel (stechen); stramba: Strick (vielleicht von stramm, straff); stregghia (Striegel); tasca (Tasche)
Adjektive: ardito: kühn (hart); biacca: Bleiweiß (bleich); bianco, imbiancare: weiß, erhellen (blank); bruno, imbrunare: braun, braun werden (ahd. brûn); fino (fein); folto: dicht (vielleicht von voll); franco: beherzt (frank); fresco, rinfrescare (frisch, auffrischen); guari (gar = sehr); mai: je (lat. magis oder -mals); grigio: grau (ahd. grîs = greis); laido: schändlich (leid, leidig); lurco: gefräßig (vielleicht von Lorch); matto: dumm (lat. mattus oder matt); mozzo: verstümmelt (lat. mutilus oder mutzen = putzen, z.B. aufmotzen); piatto (platt); ricco (reich); schietto: glatt (schlicht); snello (schnell); storpiato: verstümmelt (vielleicht von struppig)
Charakter und Fühlen: ambascia: Erschöpfung (ahd. ambaht = Dienst); ardire: wagen (hart und engl. heart); baldanza/baldezza: Kühnheit (ahd. bald, bold); gramo (Gram); guarire: heilen (ahd. warjan, werjan -> wahren); musare: untätig sein (Muße oder lat. musinari); onta, ontoso: Schande, schimpflich (Hohn); pizzicore: Jucken (picken); sbigottire: erschrecken (von bei Gott!, daher frz./engl. bigot); schifo: Abscheu (scheu); schivo: Widerwillen empfinden (scheu); senno: Geist (Sinn); tastare (tasten)
Sehen: guardare, guardia: ansehen, Wache (wahren, warten); guatare: starren (wachen); riguardare, riguardo: ansehen, Blick (wahren); sbarrare: Augen aufreißen (Barre)
Wohnen: albergare: wohnen (herbergen); albergo (Herberge); astallarsi: wohnen (Stall); imborgarsi: sich mit Städten bedecken (Burg); stallo: Wohnung (Stall)
(Sich) bewegen: abbandonare: verlassen (Bann); andare: gehen (vielleicht von wandeln); appiattarsi: sich ducken (platt); arrostarsi: sich zufächeln (Rost); attuffare: eintauchen (taufen, tauchen); guizzare, guizzo: zappeln, Zappelei (vielleicht von wischen); tirare: ziehen (ahd. zeran -> zerren); trottare: traben (Tritt, treten); scalappiare: aus dem Netz gehen (Klappe); valco: Schritt (lat. varicare oder wallen)
Machen: aggrappare: packen (ahd. chrapfo = Haken); aggueffarsi: hinzukommen (weifen = haspeln); aizzare: anhetzen (vielleicht deutsch); graffiare/grattare (kratzen); gridare, grido: schreien, Schrei (vielleicht von kreischen oder lat. quiritare); guisa: Art und Weise (ahd. wisa -> Weise); picchiare: schlagen (picken); risparmiare (sparen); schiacciare: zerschlagen (vielleicht von klatschen); spicciare: hervorquillen (vielleicht von spritzen); sprazzo: Spritzen (spratzen = spritzen); spronare, sprone (spornen, Sporn); stampa: Abdruck (stampfen)
Verbessern: affinare: läutern (fein); forbire: reinigen (ahd. vurban = reinigen); fregiare: schmücken (vielleicht von Fries); rintoppare, rintoppo: flicken, Hindernis (vielleicht von stopfen); ristoppare: kalfatern (stopfen oder lat. stuppa); schermo, schermare (Schirm, schirmen)
Soziale Interaktion: bando (Bann); caccia: Jagd (vielleicht von Jagd; Hatz); cenno: Zeichen (vielleicht von kennen, vielleicht von lat. signum); danza, danzare (Tanz, tanzen); dirubato (beraubt); drudo: Geliebter (Traut); guadagnare: gewinnen (ahd. weidanôn = jagen oder von Gewinn); guida, guidare: Führer, führen (weiden); ingannare, inganno: betrügen, Trug (lat. gannare oder Gauner); recare: bringen (reichen, recken); rima (rim -> Reim oder griech. rhythmus); rubare (rauben); ruffiano: Kuppler (vielleicht von Rauffer); sbandito: verbannt (Bann); schernito: geprellt (vielleicht von Scherz); scherzare, scherzo (scherzen, Scherz); schiatta: Geschlecht (schlachten); schiava (Sklavin); schiera (Schar); scotto: Zeche (Schoß); tregua: Treue (< triuwa, triwa)
Krieg und Kampf: aguato: Hinterhalt (Wache); aringo: Kampfplatz (Ring); elsa: Degenheft (halten, engl. hilt); gualdana: Angreiftruppe (wahrscheinlich von Wald); guerra: Krieg (ahd. werra -> Wehr); maliscalco: Marschall (mittellat. malischalkus oder eher marescalcus = magister equorum, von Mar/Mähre und Schalk = Bediener); spaldo: Zinnen (Spalte); spia (Späher); stendale (Standarte); strale: Pfeil (Strahl); usbergo (Halsberc -> Halsberge); zuffa: Zank (wahrscheinlich von Schopf, Zopf)
Ein paar Hinweise sind angebracht: „Deutsch“ war zu Dantes Zeit – und selbst zur Zeit des spracherfahrenen und akribischen Blanc – nicht das, was es heute ist. Im Mittelalter gab es viele gleichberechtigte und regionale Variationen und keine einheitliche Schreibung und Lautung. Was Blanc als „ancien allemand“ bezeichnet und hier als ahd. (althochdeutsch) wiedergegeben ist, mag in einzelnen Fällen eher mittelhochdeutsch gewesen sein. Zu Blancs Zeit – er schrieb noch Wörter wie „thöricht“, „Ungestüm“, „Schaar“ und einige Begriffe, die ich noch nie gehört hatte, z.B. Grind, Plänkler, Parze, Wocken – steckte die systematische Wortherkunftsforschung noch in den Kinderschuhen. Jacob Grimm hatte gerade erst die germanische Lautverschiebung entdeckt und August Schleicher hatte seine Theorie über die indoeuropäische Ursprache noch nicht ausformuliert. Bestimmt gibt es also nach 170 Jahren neue Erkenntnisse, was Dantes Deutsch betrifft.
Neben den Wörtern aus der vorliegenden Liste, von denen einige ganz erstaunlich sind, fallen im Text deutsch-italienische Parallelbildungen auf, zum Beispiel „via“ im Doppelsinn von Weg/weg, wie in „va via!“ für geh weg, sowie „uom“ im Doppelsinn von Mann/man. Wo man im Deutschen sagt: Damit war es nichts, verwendete Dante ein paralleles „era niente“. Oder „contrada“ für Gegend: Beide Wörter basieren auf der Präposition gegen (contra). „Conto“ und kund sind auf faszinierende Weise ähnlich, auch „macro“ und mager, und es gibt ein „dietro pensare“, ein Nach-denken. Sehr schön ist auch die von Dante gebrauchte Grundbedeutung von „informare“, also informieren, im Sinne von Form annehmen.
Wer jetzt Lust bekommen hat, Dantes Komödie im Original zu lesen, dem und der empfehle ich meine neue wörtliche Übersetzung, die frei im Netz steht. Dort kann man auf einen Blick Vers für Vers das Italienische mit dem Deutschen vergleichen. Farbliche Markierungen und integrierte Erklärungen erleichtern die Orientierung und man findet dort auch Links zu Audios.
Literatur:
- Blanc, Ludwig Gottfried (1852): Vocabolario Dantesco ou dictionnaire critique et raisonné de la divine comédie de Dante Alighieri. Leipsic: Jean Ambroise Barth. (562 S.). Frei erhältlich über das Münchener Digitalisierungszentrum (214 MB), siehe https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10755614?page=1
- Hamadeh, Anis (2021): Wörtliche Online-Übersetzung Dantes Göttlicher Komödie mit Schlüssel für Selbstlerner unter www.anis-online.de/sprachen/dante/0.htm (mit weiteren Literaturvorschlägen) |