- Einleitung -
Krieg und Gewalt, so sagen einige Politiker, dürfen nur die allerletzten Mittel der Konfliktlösung sein, wenn alle anderen Möglichkeiten fehlgeschlagen sind. Diese Meinung ist nach zwei Seiten hin umstritten: Überhaupt darf Krieg kein Mittel der Politik sein, sagen die Tauben. Überhaupt könnten Krieg und Gewalt viel öfter eingesetzt werden, denken die Falken. In einer Sache allerdings sind sie nicht weit voneinander entfernt, denn beide sprechen wenig über alternative Ideen zu Konfliktlösungen. Wie soll man denn ohne Gewalt Frieden machen, wenn andere Leute Gewalt als ihr Argument benutzen? Welches ist denn das bessere Argument? Und gehören nicht Gewalt und Krieg zu den menschlichen Konstanten?
Vor diesem Hintergrund soll es in diesem Essay über das Wesen des Friedens gehen. Was ist Frieden eigentlich? Nach der deutschen Etymologie (Duden) ist er verwandt mit Freiheit und auch Freude. Die indogermanische Wurzel „Priti-h“ bedeutet „Freude, Befriedigung“. Die Verwandtschaft zu „frei“ liegt in der Wurzel „Prai-“, auch indogermanisch, für „schützen, schonen, gern haben, lieben“. Im Recht bedeutet es die ungebrochene Rechtsordnung als Grundlage des Gemeinschaftswesens. „Waffenstillstand“ ist auch eine Bedeutung von „Frieden“. Das Wort „zufrieden“ aus dem 17. Jh wird im Duden erklärt als „nicht beunruhigt“. Das englische „peace“, aus dem lateinischen „pax“ hat mit Übereinkunft und auch mit Ungestörtheit zu tun und Unbehelligtsein. Also mit der Abwesenheit von etwas anderem. Es wird als ein Zustand erklärt, eher als eine Handlung, eine Eigenschaft oder ein Gefühl. Im Arabischen – und analog wohl im Hebräischen (Salaam / Shalom) – gibt es eine Wurzel „sa-li-ma“, die die Unversehrtheit und Heilheit einer Person oder Sache bezeichnet.
Aus der Fülle dieser Bedeutungsmöglichkeiten ist es meist die Abwesenheit von Krieg und Gewalt, an die wir spontan denken,
auch die Abwesenheit von Hunger. Es besteht ein enges semantisches Verhältnis zwischen den Gegenteilen „Krieg“ und „Frieden“ in wahrscheinlich allen Sprachen. Die Definition von Frieden als Nicht-Krieg scheint fassbarer und glaubhafter als andere sprachliche Ableitungen. Denn was Krieg ist, weiß jeder. Das sind Tote und Verletzte, Hoffnungslosigkeit, Bomben und Flugzeuge, zerstörte Häuser, Schreie, zerstörte Städte, Trauer, Panzer, Generäle, Medien und Mediensperren, und so weiter. Man kann es sich vorstellen. Kann sich ein Bild davon machen. Es ist kein schönes Bild, aber es ist ein Bild.
Es gibt klare Konstellationen und klare Handlungswege. Fast alles, was im Krieg geschieht, geschieht aus einem Zwang heraus. Es herrscht dort so viel äußerer Zwang, dass man immer etwas zu tun und zu fühlen hat. Da ist das eigene Überleben, Schmerz und Trauer, oft auch Schuld. Krieg und Gewalt haben einen sehr hohen Situations- und Erlebnisgehalt.
Frieden als Abwesenheit einer Sache dagegen hat keinen sehr hohen Situations- und Erlebnisgehalt. Wenn z.B. eine Situation daraus besteht, dass eine unauffällige Person auf einem Stuhl sitzt und fernsieht, ist der Tatbestand der Abwesenheit von Krieg und Gewalt gegeben, und man könnte es also Frieden nennen. Niemand würde allerdings auf die Idee kommen, denn was ist schon Besonderes daran, wenn eine unauffällige Person fernsieht? Das soll Frieden sein? Oder was ist Frieden?
- Frieden ist, wenn du Frieden hast -
Frieden ist, wenn du Frieden hast. Mit diesem Motto soll eine erste Annäherung an die Eigen-Identität von Frieden versucht werden. Sie geht von der Person aus, die die Frage stellt, und nicht von einer zweifelhaften Objektivität. Dies ist die beste Kurz-Antwort, zu der ich gekommen bin. Eine der Hauptursachen – wenn nicht überhaupt die einzige Ursache – für Kriege und Gewalt, ist mangelnde Zufriedenheit. Man kann also auch die Gewalt als (typische Folge der) Abwesenheit von Zufriedenheit verstehen und die Essenz in dem positiven Begriff suchen, anstatt in dem vielleicht nur vermeintlich erlebnisreicheren negativen Begriff.
Frieden ist Zufriedenheit... Wenn die Menschen nicht unterdrückt werden und sie sich entfalten können, dann haben sie keinen Grund zur Aggression, und die Gewalt bleibt aus. Für Zufriedenheit haben wir keine Messgeräte, wie wir sie für die Gewalt haben. Wie malt man Zufriedenheit? Wie äußert sich Zufriedenheit? Individuell verschieden. Und doch ist es hier, wo der Frieden beginnt. Mit dem Gefühl der Zufriedenheit und der resultierenden Aggressionslosigkeit. Beziehungsweise mit solchen Lebensumständen, die eine Transformation der Aggressionen in gewaltlose Handlungen ermöglichen, denn Aggressionen – sei es auf der personalen Ebene, der familiären oder der politischen – wird es immer geben. So wird es auch immer Kriege geben, die Frage jedoch ist, wie man sie führen wird, denn Krieg ist nichts anderes als ein gewalttätiger Konflikt, der in einen gewaltlosen Konflikt überführt werden kann, wenn der Konflikt in seiner Essenz erkannt ist. Krieg ist auch nur eine Frage der Definition, und muss nichts Gewalttätiges sein. Die These und Antithese von Krieg und Frieden kann also eine neue Qualität bekommen. Die Entwicklung des Schachspiels im Mittelalter, das ja den Krieg spielerisch auslebt, zeigt, welche Kraft und Autorität im gewaltlosen Krieg steckt. Man denke auch an die Schachweltmeisterschaft 1972 in Rejkjavik, als der Sieg des Amerikaners Bobby Fischer über den Russen Boris Spasski ein wichtiger Faktor im „Kalten Krieg“ wurde.
Demnach geht es beim Frieden im philosophischen Kern um die Schaffung und Erhaltung von allgemeiner Zufriedenheit, und die fängt beim Einzelnen, ja beim Ich an. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die eigene Zufriedenheit auch eine gesellschaftliche Komponente hat: Wenn um mich herum Zwang und Elend herrschen, kann ich nicht wirklich zufrieden sein und das Leben genießen. Aber wenn ich hinsichtlich der Probleme in meiner Umgebung und in der Welt hilflos bin, wie soll ich dann meinen Frieden definieren? In den meisten Gesellschaften, früher wie heute, hat diese Frage zu einer Isolation des Individuums geführt, zu einer Abstraktion und Abtrennung der äußeren Welt. Im zwanzigsten Jahrhundert mag ein Abstumpfen gegenüber Gewalt durch Film und Fernsehen dazu beigetragen haben, dass gewisse Hemmschwellen durch die Vorgabe von Gewaltsituationen und Gewalt-Vorbildern gesunken sind, und dass das Gewissen als Kontroll-Instanz unserer Handlungen oftmals auch abgestumpft ist, sodass mancher in einer Situation seinen Frieden finden kann, in der ein anderer sich sorgt.
Die Frage an die Mächtigen der Welt, ob sie bei ihren Taten keine Gewissensprobleme haben (z.B. im Song „Masters of War“ von Bob Dylan), klingt heute für viele verbraucht und sinnlos, aber sie ist es keineswegs. Eine Gesellschaft der Zufriedenen, die den Frieden für sich in Anspruch nehmen möchte, wird sich über solche politischen Konsequenzen bewusst sein und eine verantwortliche, wahrhaftige Zufriedenheit anstreben.
- Kunst als Erzeuger von Frieden -
Vor einiger Zeit besuchte ich eine orientalische Veranstaltung mit Musik und Tanz. Der Hauptsaal war mit Matratzen und Teppichen ausgelegt, auf dem die zahlreichen Gäste um die Tanzfläche herum saßen. Am Kopfende war eine schmale Bühne, auf der die Musiker saßen und spielten. Eine Tänzerin ging auf die Fläche und tanzte ein Solo im Melaya-Stil. Der ganze Raum war ausgefüllt mit dieser Situation. Ein Zauber lag in der Luft. Die Rhythmen der ägyptischen Trommeln versetzten die Tänzerin in eine leichte Trance, die sich in verminderter Form auf die Zuschauer übertrug, sodass die Beats doppelt auf das Publikum wirkten, direkt und indirekt. Es war ein gemeinsames Erleben, in dem viel Kraft steckte. Als der Tanz zuende war und der Regen des Applauses die Situation feiernd beendet hatte, wusste ich, dass diese Tänzerin etwas gemacht hatte. Sie hatte Frieden gemacht. Das war Frieden. Und es hatte einen sehr hohen Situations- und Erlebnisgehalt.
Ein Kollege fragte mich, was Kunst eigentlich mit Frieden zu tun hätte. Er gab die Frage eines Songwriters weiter, der darüber nachdachte, inwiefern er mit seinen Songs überhaupt etwas für den Frieden tun könne. Die archaische Rolle des Künstlers in der Gesellschaft lässt sich vielleicht anhand einer Gegenüberstellung von Elvis und Hitler veranschaulichen. Während Hitler die Massen durch autoritäres Verhalten und insbesondere durch die lächerliche Theorie von der „Herrenrasse“ zur Gewalt verführte, verführte Elvis sie durch musikalisch-friedliches Verhalten und die Magie seines liebenden Herzens. Beide hatten eine große Autorität in ihrer Zeit, und nach Dylan hatte der Nachfolger John Lennon auch die politische Chance dieser Friedenskunst erkannt und gelebt. Es gibt keinen Zweifel daran, dass etwa die Beatles Frieden durch Eigen-Identität und Kunst gestiftet haben. Von diesen Erfahrungen kann jeder Künstler profitieren, insbesondere in unserem Internet-Zeitalter, in dem fast mühe- und kostenlos jeder sein eigenes weltweites Medium haben kann.
Die Verantwortung der Kunst heute liegt auch im Überwinden der vorherrschenden gesellschaftlichen Entfremdung und Abstumpfung. Die Sinne sollen wieder angesprochen werden, das ist eine wichtige Aufgabe für Friedenskunst. Damit die Menschen sensibler werden für das Leid anderer. Damit sich unser Bewusstsein weitet und wir auch unser Gewissen wiedererlangen. Dass wir die Lebensnähe bekommen, die wir sonst halb-bewusst in der Gewalt suchen. Projektionsflächen soll die Kunst bieten, um damit Feindbilder zu ersetzen. Und Kunst, diese durch sich selbst legitimierte Urkraft, ist auch einer der wesentlichen Orte, an denen sich Autoritäten bilden, die sich – ebenso wie auch die Philosophie und auch der Sport – ihre Unabhängigkeit glaubhaft bewahrt haben.
Dies sage ich in einer Zeit von hoher und nicht absehbarer Kriegsgefahr. Der notwendige Diskurs kann nicht von den Militärs, den Politikern, den Unternehmern und den Journalisten allein geführt werden. Sie alle stecken in Abhängigkeiten und sind mehr oder weniger unfrei und schnelllebig. Früher haben die Religionen einen Großteil dieser Autorität innegehabt, doch dann hat jemand gedacht, Galileo, Darwin oder Freud hätten die Schriften überflüssig gemacht. Später wurde auch noch Nietzsche so verstanden, dass man dachte, „Gott ist tot“ bedeutet, es gäbe keinen Gott. Im Zarathustra-Buch jedoch geht es eher darum, dass man Gott nicht braucht, um Gott zu gefallen. Seine Existenz ist hier gar nicht die Frage, der Mensch ist es, nach dem gefragt wird.
Der Philosoph Schleiermacher brachte in einem früheren Jahrhundert den Begriff „Kunstreligion“ auf und verwies damit auf die Verwandtschaft künstlerischer und religiöser Wesensmerkmale, die beide „spirituell“ genannt und die beide als friedlich erkannt werden können. In beiden jedoch lauern auch Gefahren: Es hat dunkle Popstars gegeben wie den Verbrecher Charles Manson, die einen gewalttätigen Kult verbreitet haben, ähnlich wie zeitgenössische rassistische Bands und deren CDs es tun. Es hat ebenfalls die Allmacht der Kirche mit all ihren bekannten Gewalt-Exzessen gegeben, bevor es die Demokratie und die Menschenrechte gab. Die Idee des engagierten Künstlers, im Grunde so, wie Sartre sie in seinem „Was ist Literatur?“ beschrieben hat, scheint aktuell wie schon lange nicht mehr.
Kunst ist oft auch eine Verarbeitung von Gewalt und wirkt damit heilend auf den Künstler und das Publikum. Auch die Offenheit, die Fantasie und die Freiheit geben Orientierungs-Muster vor, Friedensmuster. Wege zur Zufriedenheit. Werte, die vom Materialismus unabhängig und für jeden erreichbar sind. Kunst transzendiert Konflikte und kann durchaus auch einige lösen und dazu beitragen, dass sie gelöst werden. Kunst zeigt Leben, wie es ist, als Bewusstseinserweiterung und Erlebnis, und sie zeigt die Möglichkeiten des Lebens, indem sie die Wünsche der Gesellschaft träumt. So jedenfalls – kann es sein. Eine Verführung zum Frieden.
- Make Love Not War -
Frieden und Krieg sind beide ansteckend. Während Krieg und Gewalt sich auf ihre offizielle Notwendigkeit berufen und damit ihren Erfolg haben und sich verbreiten, sind es beim Frieden die Wunscherfüllung und die Freiheit des Ausdrucks, die Schönheit und das Streben nach Vollkommenheit, die eine Anziehungskraft ausüben und die gesellschaftliche Stimmung beeinflussen. Aber es ist nicht einfach, Liebe und Frieden zu ertragen. Wenn jemand zum ersten Mal Liebe erfährt, mag sich die Frage stellen, warum er oder sie vorher in einer solch lieblosen Welt hat leben müssen. Sie erfahren vielleicht, dass viele der Zwänge, unter denen sie gelebt haben, eine Lüge gewesen sind, unnötige Beschwernisse und unnötiger Verzicht und Schmerz. Interessanterweise fürchten sich daher die Menschen vor Liebe mehr als vor Gewalt. Sie ertragen eher Gewalt als Liebe und ziehen sie der Liebe vor. Sie glauben das nicht? Hier sind ein paar Beispiele:
Das Kollektivbewustsein unserer Gesellschaften wird wesentlich vom Fernsehen strukturiert. Vergleichen wir die Anzahl der Gewaltszenen bzw. -filmen mit der Anzahl von Liebesfilmen, so wird deutlich, dass wir Gewalt bei Weitem bevorzugen. Beim Betrachten dieser Filme fällt auf, dass der Held oder die Heldin so gut wie immer durch Gewalt zu ihrem Ziel kommen. Unsere Helden sind also Gewalttäter. Wählen wir zwischen zwei Filmen: Im ersten schießt der Hollywood-Star Bruce Willis jemandem mit einem High-Tech-Gerät den Arm ab, im zweiten vergnügt sich der Erotik-Star Dahlia Grey mit Freunden in ästhetischer Weise auf einem großem Sofa. Werden nun gemischte Gruppen mit diesen beiden Filmen konfrontiert, ist absehbar, dass die Wahl auf den Gewaltfilm fallen wird und nicht auf den Liebesfilm. Und je größer die Gruppe sein wird, desto eher wird der Liebesfilm abgelehnt werden. Unsere in der hochzivilisierten Welt unterdrückte (unzufriedene) Sexualität ist uns so peinlich, dass wir sie auch im Bild und im Film meist durch Gewalt substituieren.
Ein ähnliches Phänomen kommt bereits bei den Gebrüdern Grimm vor. Vor 190 Jahren, im Jahr 1812, erschien die erste Auflage von Grimms Märchen. Obwohl die Brüder aus Kassel in ihrem Vorwort schreiben, dass sie die Geschichten nicht verändert, sondern nur gesammelt und geschliffen haben, kann man in den späteren Auflagen erkennen, wie bestimmte Teile der Märchen umgeschrieben wurden. Im „Zeitzeichen“ des Deutschlandfunks hieß es dazu, dass die in armen Verhältnissen lebenden Grimms diese Veränderungen vorgenommen hatten, weil sich das Buch dann besser verkaufte. Dabei gab es zwei Tendenzen: Auf der einen Seite wurden Gewaltszenen ausgemalt und hinzugefügt (Rumpelstilzchen, Hänsel und Gretel u.a.), auf der anderen Seite wurden erotische Szenen entfernt oder verharmlost (z.B. Rapunzel). Massenkompatibilität also zu Gunsten von Gewalt. Es scheint auch Parallelen in der Publikationsgeschichte von „1001 Nacht“ zu geben, also kein westliches Phänomen zu sein.
Auch die Basisfrage des Journalismus, was eine „Nachricht“ ausmacht, kann ehrlicherweise nur so beantwortet werden, dass die Nachricht dazu neigt, Gewalt, Zwang und Unglück zu thematisieren oder auch nur zu benennen. Damit bekommen die Bilder des Krieges und der Gewalt eine überproportionale Präsenz in unserem Bewusstsein, die unsere Normalität bestimmt. Friedensarbeit ist in diesem Zusammenhang die Verbreitung von Bildern des Friedens und der Kreativität. Vorurteilen gegenüber einer angeblichen Schmutzigkeit der Liebe, insbesondere in ihrer körperlichen Form, ist dabei entschieden entgegenzutreten und zu entkräften. Der Schmutz an der Liebe ist die Gewalt und die Vorteilsnahme, mit der manche Menschen sie vermischen.
- Der Weg der Gewaltlosigkeit ist der Weg in die Öffentlichkeit -
Der Glaube an die Überlegenheit der Gewalt steckt tief. Er hat mit Schutzbedürfnissen zu tun, dem Verteidigen der Fleischtöpfe und einem Gefühl der Ohnmacht. Er basiert auf der Verräter-Theorie, die besagt, dass ein einziges Schwarzes Schaf genügt, um eine gewaltlose Politik zunichte zu machen. Die Verräter-Theorie greift aber an zwei Stellen zu kurz: Sie betrachtet das „Schwarze Schaf“ von Außen und mit Misstrauen, bringt sich also um die Möglichkeit, die „Zufriedenheitsstruktur“ des Gewalttäters zu analysieren und darauf einzuwirken, um so die Gewalt zu stoppen. Außerdem vernachlässigt sie die alternative Gewaltbekämpfung, die der Öffentlichkeit. Es gibt nämlich nichts, wovor Unrecht mehr Angst hat als vor der Öffentlichkeit. Im Krieg ist immer ein Geheimnis, im Frieden liegt immer auch die Abwesenheit von Geheimnissen. Und es gibt ein weiteres triftiges Argument, das den Glauben an die Unbesiegbarkeit der Gewalt relativiert, denn schließlich ist es ein Glaube, und der kann durch einen anderen Glauben übertroffen werden. Das Lebenswerk von Gandhi und anderen Friedensleuten zeigt das deutlich. Frieden liegt immer auch nah an den Personen, die diesen Frieden verkörpern.
Um zu zeigen, dass Öffentlichkeit stärker ist als Gewalt, sei erneut – diesmal in positivem Zusammenhang – auf die Presse verwiesen. Der investigative Journalismus ist das beste Beispiel von außerstaatlicher friedlicher Gewaltbekämpfung. Die so genannte öffentliche Meinung ist eine starke Kraft, die durch Überwindung des herrschenden Isolationismus zur stärksten Waffe für den Frieden werden kann. Dem liegt einzig das Bewusstsein zu Grunde, dass jetzt kein Frieden herrscht. Meine Frage „Was ist Frieden?“ zielt letztlich auf die Bewusstmachung der Tatsache, dass Frieden etwas ist, was wir erst schaffen müssen. Etwas, das wir uns in jeder konkreten Situation selbst neu erträumen müssen.
Leichter ist es in der Welt- und der Staats-Politik. Wenn dort Frieden in erster Linie als Nonkilling und in zweiter Linie als Gewaltlosigkeit unter Berücksichtigung struktureller und kultureller Gewalt verstanden wird, reicht das aus, um die Welt zu einem schönen Ort zu machen. So ist der Frieden zur Hälfte die Abwesenheit von Zwängen und den Bildern von Zwängen und zur Hälfte der leere Raum einer offenen Situation, der individuell und kreativ gefüllt werden muss, um seine Bedeutung zu bekommen, ähnlich wie es sich mit der Freiheit verhält, deren eine Hälfte passiv ist (frei von) und deren andere aktiv ist (frei zu).
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