Annexionsappelle: Keine Konsequenzen vorgesehen
Anis Hamadeh, 29.06.2020
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die aktuellen internationalen Appelle Israel von seiner Expansionspolitik abbringen? 50 %? 7? Diese Politik besteht ununterbrochen seit der Umsetzung von Plan Dalet im Dezember 1947, als zionistische Soldaten große Teile der einheimischen Bevölkerung in Palästina systematisch und brutal enteignet und vertrieben haben. Als der Staat Israel ein halbes Jahr später auf dem gewaltsam eroberten Gebiet ausgerufen wurde, waren mehrere hundert palästinensische Dörfer und Städte zerstört. Dies alles geschah keineswegs im Geheimen. Selbst über Massaker an der Zivilbevölkerung wie das in Deir Yassin haben alle Zeitungen berichtet. Die Vereinten Nationen hatten nach diesen schwerwiegenden Völkerrechtsbrüchen verbindliche Resolutionen erlassen. Kalter Kaffee? Leider nicht.
Wie entwickelt sich eine Gesellschaft, die früh gelernt hat, dass ihr Staat und sie – z.B. die Siedler – keinerlei Konsequenzen für Verbrechen an Menschen aus anderen Gruppen fürchten müssen? Im Fall Israel ist eine Antwort auf diese Frage die bekannte Postkarte, auf der vier Landkarten mit Jahreszahlen das kontinuierlich schrumpfende Palästina zeigen. Eine weitere Antwort ist Gaza. In Gaza zeigt sich das Maß an Gewalt, das die Menschheit bereit ist zuzulassen, während sie extreme und dauerhafte Sanktionen gegen eine Bevölkerung mitansieht wie die Aufhebung des Rechts auf sauberes Trinkwasser, auf Mobilität und auf Lebensperspektive.
Diese Leute, ob es nun Politiker sind, NGOs, Aktivisten oder Prominente, die an Israel appellieren und es auf die Rechtslage aufmerksam machen, wissen, dass ihr Bemühen folgenlos bleiben wird und wählen – bewusst oder unbewusst – Formulierungen, die ihnen zumindest nicht selbst schaden. Auch der Platzhirsch aus der Menschenrechtsgruppe von nebenan. Selbst die palästinensische „Botschafterin“ in Berlin. Man wäre ja dumm, oder? Alle haben gesehen, was passiert, wenn man Sanktionen gegen Israel fordert wie die BDS-Gruppe es tut (Boycott, Divestment and Sanctions). Eine vertrackte Situation. Immerhin fühlt man sich ein bisschen besser, wenn man eine Online-Petition unterschrieben hat, auch wenn das rational betrachtet eine absurde Handlung ist.
Keine Sanktionen bedeutet: keine Konsequenzen. Der Bankräuber kommt ins Gefängnis, das ist eine Sanktion. Der Falschparker bekommt ein Knöllchen, das ist eine Sanktion. Man kann das ganze Rechtswesen als eine Systematisierung von Sanktionen auffassen, denn was ist ein Gesetz?
Es gibt kaum ein Land, dessen Gesellschaft und Staat sich so vehement dagegenstellen, Israel ins weltweite Rechtssystem einzubeziehen, wie meins, Deutschland. Wir haben eine Staatsräson, die eingeschaltet wird, sobald öffentlich Zweifel an unserer Nibelungentreue aufkommen. Wofür braucht Deutschland eine Staatsräson, wenn nicht, um ein Unrecht zu propagieren? Denn das kann man mit den Mitteln eines Rechtsstaats per definitionem nicht, alles andere schon.
Ein paralleler Erste-Hilfe-Kasten wird hier gebraucht, mit Utensilien wie dem Allheilmittel Antisemitismusvorwurf. Da ist auch eine Salbe zur Entfernung von schmerzhaften rechtlichen und historischen Kontexten. Die Packungsbeilage verrät, wie man den Fokus lediglich auf das richtet, was verschiedene Gruppen denken, fühlen, wünschen usw. Dann Kontaktschuld-Zäpfchen, Rechte-Ecke-Tropfen, Logik-Hemmer, Anti-Argumentiva und weitere Halluzinogene, die vergessen machen, dass es Oslo gab, dass es nur eine Armee im Land gibt, nicht zwei, dass Israel sich weigert, seine Grenzen zu definieren, und dass Menschen zweiter und dritter Klasse von Anfang an Teil des Staates und der Gesellschaft gewesen sind, also der israelischen „Existenz“, die das „Recht“ hat, sich „zu verteidigen“.
Wenn die entsprechenden Journalisten, Politiker und Aktivisten wenigstens so ehrlich wären zuzugeben, dass hier in schwerwiegender Weise Recht gebrochen wird, um einem bestimmten Staat zu gefallen, aber nein, die schreiben sich auch noch einen hohen moralischen Anspruch zu, einen Anspruch, der, wenn man ihn sich einmal ansieht, Palästinenser entmenschlicht. Oh, aber uns geht es um etwas ganz anderes, werden sie versichern, als würde irgendjemanden interessieren, um was es denen geht. Wenn die Palästinenser keine Rechte wie Menschen haben, dann sind sie also nicht als Menschen anerkannt und unsere humanistischen Ideale sind eine Lüge, so einfach ist das.
Wer das Andenken an die Verbrechen und das Leid in der Nazizeit missbraucht und damit kriminelle Handlungen unterstützt, ist nicht okay und soll entsprechend behandelt werden.
Viele Menschenrechtsaktivisten sind über die Jahrzehnte wegen des A-Vorwurfs aus dem Diskurs geflogen, keiner ist je zurückgekommen. Das wirkt so einschüchternd, dass man sich lieber die Frage verkneift, warum Israel eigentlich ein so hohes Level an Gewalt aufweist. Was geht in dem Soldaten vor, der einem zuvor angeschossenen Mann auf der Straße medizinische Versorgung verweigert, bis der 90 Minuten später verblutet ist? Was empfindet der Soldat, der einer Krankenschwester bei ihrer Arbeit in den Rücken schießt, bis sie tot ist? Was ist dieser Siedler für ein Mensch, der schwer bewaffnet auf ein palästinensisches Feld geht und Olivenbäume abhackt? Was denkt die Politikerin, die sagt, dass palästinensische Mütter Schlangen gebären? Was ist das für eine Mode, Demonstranten die Augen auszuschießen? Warum ermorden Israelis so viele Kinder?
Wir in Deutschland haben seit Jahrzehnten andere, sich immer im Kreis drehende Debatten. Zum Beispiel, ob Islam und Demokratie miteinander vereinbar sind oder warum die Terroristen unsere Freiheit hassen. Ein weiterer Dauerbrenner fragt, ab wann Antizionismus Antisemitismus ist, so als ob die beiden zusammen auf einer Skala lägen. Ich glaube, es gibt kein anderes Land, das so sorgfältig die verschiedenen Arten und Unterarten von Antisemitismus analysiert, kategorisiert und evaluiert hat wie meins. Eine Art Hexenhammer für Intellektuelle. Da gibt es sekundären, latenten, Israel-bezogenen, modernen und muslimischen Antisemitismus mit Spielarten und Chiffren. Er ist an bestimmten Argumentationsweisen und Merkmalen zu erkennen, deren Unterbindung den Diskurs dann so zurechtstutzt, dass Israels Rechtsbrüche unter den Tisch fallen.
Es handelt sich dabei um den berühmten Schlussstrich: Alle sind in ihrer Schublade angekommen und wir üben uns – unabhängig von ausstehenden Reparationen und vom Tagesgeschehen – nur noch in unveränderlichen rituellen Bekenntnissen, also so etwas wie Gebeten. Die deutsche und europäische Schuld hängen wir so hoch, dass keiner mehr drankommt, während die jüdischen Israelis mit den Opfern des Genozids überidentifiziert werden – unter Ausschluss der vielen antizionistischen Juden, denn die zählen wiederum nicht. Es ist kompliziert, verzwickt, aber zumindest bewegt sich nichts mehr und man muss also nicht mehr nachdenken.
Die Frage, wie weit Israel denn gehen kann, ohne dass sich dieser Zustand der absoluten Straflosigkeit ändert, stellt sich für einige Beobachter nicht mehr, seit Gaza vor den Augen der Weltöffentlichkeit mit Giftgas angegriffen wurde und weit mehr als tausend eingesperrte Menschen exekutiert worden sind. In einem Facebook-Post vom 12.09.2019 habe ich zusammengefasst, was ich als Deutscher über das Thema denke:
„Das Israel-Trauma: Das Lernen über die Nazizeit hat mein Leben verändert, als ich 15 war. Trotzdem dauerte es weitere 17 Jahre, bis ich meinen eigenen deutschen Großvater kritisieren konnte, der ganz offensichtlich nie aufgehört hatte, Nazi zu sein. Natürlich hat die Familie gebührend und einstimmig auf meine 'verletzenden' Äußerungen reagiert.
Deshalb wundert es mich nicht, wenn unsere Gesellschaft nicht wahrhaben will, wie Israel mit seinem offenen Trauma die Nazipolitik in wesentlichen Punkten nachahmt, z.B. die Rassenideologie und die diskriminierenden Rassengesetze, den Blut- und Boden-Nationalismus, den Militarismus, die Vorstellung einer Auserwähltheit und mythischen Vergangenheit, die riesige Propagandamaschine, Unilateralismus, Siedler-Kolonialismus mit Lebensraum im Osten (Westbank), Mord, systematische Enteignung und Vertreibung, Ghetto-Bildung, willkürliche Inhaftierungen und endlose Einschüchterungen, Sippenhaft, Sadismus, den Endsieg im Sinn keinerlei Friedensplan benötigen und einen genozidalen Angriffskrieg als Selbstverteidigung umdeuten.
Selbst wenn hohe israelische Militärs diese offensichtliche und gemäß Alice Millers allgemein anerkannten Vererbungslehre von Trauma und Gewalt naheliegende Verbindung gelegentlich freimütig bestätigen, hat das keine Folgen, auch nicht, wenn man über die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Nazis und Zionisten in den 1940-ern hört. Doch diese Verbindung zu leugnen und sogar unter die eine oder andere Strafe zu stellen, etwa um sich seiner eigenen Machtposition zu vergewissern, ist ein Verbrechen an sich. Wir glauben, das 'Nie wieder!' nicht einlösen zu müssen, da wir ein 'Mit nichts zu vergleichen!' in der Tasche haben.
Am Schlimmsten sind die, die sagen, der Vergleich sei unnötig und kontraproduktiv, da sie das ursächliche Trauma unter den Teppich kehren, ohne dessen Analyse es niemals einen Fortschritt geben kann. Unsere Gesellschaft sieht nur das Verletzende bzw. 'Antisemitische' und will nicht merken, wie der Antisemitismusvorwurf meistenteils in rassistischer und propagandistischer Weise, wenn nicht Absicht, gebraucht wird.
Ich habe im Fall meines Großvaters nicht mitgemacht und ich mache im Fall von Israel nicht mit. Logisch.“
|
Annexation Appeals: No Consequences Intended
Anis Hamadeh, June 29, 2020
How probable is a success of the current international appeals in arguing Israel out of its expansionist policy? 50 %? 7? This policy exists uninterruptedly since the implementation of Plan Dalet in December 1947 when Zionist soldiers systematically and brutally dispossessed and expelled big parts of the native population of Palestine. When, half a year later, the State of Israel was announced on the violently conquered area, several hundred Palestinian villages and cities had been destroyed. These were by no means clandestine dealings. Even massacres against civilians like the one in Deir Yassin were no covert actions, all papers reported on them. After these grave breaches of international law, the United Nations had issued binding resolutions. An old bonnet? Unfortunately not.
How does a society develop that has learned from early on that there are no consequences whatsoever to be feared regarding crimes committed against people from other groups by its state and by society itself, e.g. the settlers? In the case of Israel, one answer to this question is the known postcard on which four maps show the historical development of the continuous shrinking of Palestine. Another answer is Gaza. In Gaza, the measure of violence becomes apparent which humanity is ready to tolerate while witnessing extreme and lasting sanctions against a population, like the revocation of the right to clean drinking water, to mobility and to life perspective.
Those people, be they politicians, NGO's, activists or celebrities, who appeal to Israel and call its attention to the legal situation know that their endeavor will be useless and choose – consciously or unconsciously – a wording that at least won't harm them themselves. Even the top dog from the human rights group next door. Yes, even the Palestinian "amba(rra)ssador" in Berlin. It would be a stupid idea, wouldn't it? Everybody saw what happens when you demand sanctions against Israel, like the BDS group (Boycott, Divestment and Sanctions). Quite an imbroglio. So some people resort to signing an online petition in order to feel a little better, even though, rationally viewed, this is an absurd act.
No sanctions means: no consequences. A bank robber goes to prison, that is a sanction. A parking offender gets a ticket, that is a sanction. Judiciary itself can be understood as the organization of sanctions, for what is a law?
There is hardly any country whose society and state act so vehemently against the idea of including Israel in international jurisdiction, like mine, Germany. We have a reason of state which is switched on as soon as doubts about our Nibelung loyalty appear in public. For what does Germany need a reason of state if not for the promotion of an injustice? For this can, by definition, not be achieved by the rule of law while everything else can.
A parallel first-aid kit is needed here, with utensils like the cure-all anti-Semitism reproach. There also is an unguent for the removal of painful legal and historical contexts. The package insert will tell you how to keep the focus straight on what different groups think, feel, wish etc. Then guilt-by-association suppositories, rightist coloring drops, logic inhibitors, anticonfessants and other hallucinogens that make people forget that there was Oslo; that there is only one army in the country, not two; that Israel refuses to define its borders; and that second and third class people have been part of state and society right from the start, i.e. part of the Israeli "existence" which has the "right" to "defend itself".
If the respective journalists, politicians and activists at least were so honest as to admit that they break the law in a serious way in order to please a particular state, but no, they even ascribe a high moral claim to themselves, a claim that, if you look at it, dehumanizes Palestinians. Oh, but we have something else in mind, they will assert, as if anybody cared about what they have in mind. When the Palestinians don't have rights like humans then they are not acknowledged as human beings and our humanistic ideals are a lie, it is as straightforward as that.
Those who abuse the memory of the Nazi crimes and the subsequent suffering in support of criminal acts are not OK and to be treated accordingly. Over the past decades, many human rights advocates have been excluded from the discourse by means of the "A" reproach; none of them ever returned. This is so intimidating that people rather abstain from the question of why there is such a high level of violence in Israel. What goes through the mind of a soldier when he keeps medical aid away from a shot man on the street until he has bleeded out ninety minutes later? What does the soldier feel who shoots a nurse, while she is at work, in the back until she is dead? What kind of guy is the settler who goes heavily armed to a Palestinian field and hacks down olive trees? What does the politician think who says that Palestinian mothers give birth to snakes? What kind of fashion is that to shoot out the eyes of protesters? Why do Israelis murder so many children?
We in Germany have had other, circular debates for decades. For example: are Islam and democracy compatible, or: why do the terrorists hate our freedom? Another eternal hot topic asks from which point on anti-Zionism is to be regarded as anti-Semitism, as if those two were on one scale together. I think there is no other country that has so meticulously analyzed, categorized and evaluated all the different forms and subgroups of anti-Semitism, like mine. A kind of Witch Hammer (Malleus Maleficarum) for intellectuals. There we find secondary, latent, Israel-related, modern and Muslim anti-Semitism, with varieties and ciphers. It can be detected in certain ways of argumentation and characteristics the prevention of which then trims the discourse in such a way that Israel's lawbreakings go by the board.
This is the notorious final stroke: everybody is pigeonholed according to the given standard, and we school ourselves in nothing more than unchanging ritual avowels, independent of owing reparations and of current events, like prayers. We hang the German and the European guilt so high that nobody can reach it anymore while the Jewish Israelis are being overidentified with the victims of the genocide – excluding the many anti-Zionist Jews, for they, in turn, do not count. It is complicated. An imbroglio. At least nothing moves, hence we do not have to think anymore.
The question of how far Israel can go without a change in this condition of absolute impunity, does not pose itself anymore to some of the observers since the chemical weapon attack on Gaza and the execution of far more than a thousand locked-up people before the eyes of the world public. In a Facebook post from Sep. 12, 2019, I have summarized my thoughts as a German on the subject:
"The Israel Trauma: Learning about the Nazi period aged 15 has changed my life. And yet it took further 17 years until I was able to criticize my own German grandfather who apparantly never had stopped being a Nazi. The family, of course, unanimously reacted on my 'offensive' remarks in an appropriate way.
This is why it does not come as much of a surprise to me that our society refuses to recognize how the State of Israel with its open trauma is emulating major aspects of the Nazi policy, e.g. the race ideology and discriminatory race laws, blood-and-soil nationalism, militarism, the notion of chosenness and a mythical past, the huge propaganda machine, unilateralism, settler-colonialism with living-space in the East (Westbank), murder, systematic dispossession and expulsion, establishment of ghettos, random detentions and endless intimidations, kinship liability, sadism, needing no peace plan whatsoever having the final victory in mind and leading a genocidal war of aggression redefined as self-defense.
Even when high-ranking Israeli officers at times frankly confirm this obvious link which also suggests itself according to Alice Miller's generally accepted genetics of trauma and violence, there will be no repercussions, and neither does anything change when we hear about the fruitful cooperation between Nazis and Zionists in the 1940s. But to deny this connection and even to punish it in one way or another, e.g. in order to reaffirm one's own position of power, is a crime in its own right. We are imagining to not be obliged to fulfil the 'Never again!' as we have a 'Not to be compared with anything!' in our pocket.
Worst are those who say the comparison is unnecessary and counter-productive, as they sweep the trauma under the carpet, while without an analysis of the trauma there can never be any progress. Our society only sees the offensive and hurtful part, the 'anti-Semitic', and does not want to realize how the reproach of anti-Semitism is mostly used in a racist and propagandist way, if not intention.
In the case of my grandfather I did not participate, and in the case of Israel I won't participate either. A matter of logic."
|