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GASTESSAY (10)
Offener Brief an den Außenminister wegen Palästina
von Ellen Rohlfs (09.04.03)
Abstract / Zusammenfassung

Leer, den 9.4. 03 (Gedenktag des Massakers von Deir Yassin 1948)

Sehr geehrter Herr Außenminister!

Sie kommen gerade von einer Reise aus Nahost zurück, wo Sie noch einmal Ihre Solidarität gegenüber dem Staat Israel in einer schweren Zeit kund taten. Sie waren, wie üblich, auch in der Gedenkstätte Yad Vashem - das erwartet man von Ihnen. Und ich finde das ganz in Ordnung. Ich hoffe, Sie haben bei Ihrem Abstecher nach Palästina - um der Symmetrie willen - auch die Nakbeh-Gedenkstätte auf dem Ölberg in Ost-Jerusalem besucht - ach, Verzeihung, die gibt es ja erst virtuell. Stattdessen haben Sie sicher einen großen Scheck dagelassen, damit nach 55 Jahren mit dem Bau dieser Gedenkstätte endlich begonnen werden kann, so dass deutsche Staatsgäste des nun hoffentlich - mit der neuen "Roadmap" - bald entstehenden Staates Palästinas auch dorthin geführt werden können - die Nakbeh hat nämlich viel mit der deutschen Geschichte zu tun. Das sollte einem - sollte man es vorher noch nicht gewusst haben - nach einem Besuch dann dort deutlich geworden sein. Es könnten dort dann Kränze für die Opfer der Massaker von Deir Yassin ( genau heute vor 55 Jahren! ), Tantura , Ramle, Jaffa, Kafr Kassem, Khan Yunis, Kibiya, Sabra und Shatila, Kana, Jenin, die 3500 Opfer beider Intifadas ...hingelegt werden. Auch diese Opfer dürfen nicht vergessen werden.

Ich möchte mich bei Ihnen im Namen meiner palästinensischen Freunde bedanken, denn sicher haben Sie in Ihrer Funktion als Außenminister auch über verschiedene Arten von Terrorismusbekämpfung gesprochen und haben dabei gewiss auch die Menschenrechte angesprochen. Sie haben dabei sicher um die Freilassung der palästinensischen Parlamentarier Marwan Barghouti und Husam Khader gebeten, sich auch um die Freilassung von 3 - 500 Kindern und Jugendlichen (13 -17 Jahre) bemüht, die in israelischen Gefangenenlagern in unwürdiger Weise und ohne Gerichtsverhandlung - festgehalten werden, nur weil sie Palästinenser sind. Diese Gefängnisse werden so zu Brutstätten des Terrors. In Schulen, Ausbildungsstätten und Universitäten wären die Jugendlichen ganz gewiß vernünftiger und hoffentlich sicherer aufgehoben. Die Brutstätte des Terrors würde austrocknen. Und sicher haben Sie auch um die Freilassung der kranken Gefangenen unter den mehr als 12 000 Administrativhäftlingen gebeten. Unter ihnen ist eine schwer krebskranke Mutter mehrerer Kinder und der querschnittsgelähmte, schwerkranke Anan Nabih Labadeh (30), dem man in der Ramleher Gefängniszelle auch noch den Rollstuhl weggenommen hat, der keinerlei medizinische Versorgung erhält, dem keinerlei Hygiene möglich ist, der also schlimmer als ein Tier gehalten wird. Ich hoffe, Sie haben diesen in großer Not befindlichen Menschen helfen können. Ob Sie gehört haben, dass es allein im März mehr als 100 tote und 700 verletzte Palästinenser gegeben hat und eine junge Frau aus den USA der ISM Gruppe, die absichtlich von einem israelischen Bulldozer 2mal überfahren wurde und starb; ein junger Mann aus den USA (ISM) ist in Jenin ins Gesicht geschossen worden. Diese jungen Leute üben in unglaublich mutiger, stellvertretender, verantwortlicher Weise Solidarität mit dem unsagbar gepeinigten, in lebensgefährlich engem Würgegriff befindlichen palästinensischen Volk und - sind unerwünschte Zeugen des Staatsterrors bzw. Genozids - da die Staatengemeinschaft, die EU und die UNO versagen. Wöchentlich erhalte ich erschreckende Berichte von ISM über israelische Gewalt.

Vielleicht haben Sie gehört, dass kürzlich wieder Wohnhäuser (16) am Rande Jerusalems zerstört wurden und in diesen Tagen weitere vier - haben Sie diese nun obdachlosen Menschen besucht und ihnen Hilfe zugesagt, vielleicht dass sie als Asylanten in Deutschland aufgenommen werden? Sie würden damit allerdings der israelischen Regierung in die Hände spielen - denn die Menschen wollen viel lieber in ihrer Heimat bleiben - schaffen wir ihnen also ein neues Dach über dem Kopf!

Wie soll man nun gewaltfrei den Terrorismus zu kämpfen? Man sollte diesen Menschen neue Zukunftsperspektiven, ja, Sinn für ihr Leben geben, damit das Leben wieder wertvoller wird als der Tod - dann käme keiner von ihnen auf die Idee, eine "Bombe auf Beinen" (Uri Avnery) zu werden. Denn man muss kein Psychologe sein, um zu wissen, dass mit jeder Zerstörung eines Hauses, mit jeder Enteignung von Land, Zerstörung von Ölbäumen und Brunnen, jeder Tötung, Verletzung, Folterung, Demütigung, Ungerechtigkeit, Unfreiheit und Diskriminierung von Palästinensern immer mehr Menschen bereits von Kindheit an schwer traumatisiert werden und so die Zahl potentieller Terroristen rasant wächst, die eines Tages nicht nur Israelis und Juden in aller Welt, sondern die ganze westliche Welt in Angst und Schrecken versetzen können - nicht weil sie als menschenverachtende Terroristen geboren wurden, sondern weil die arrogante, zerstörerische israelische Besatzung sie zu schwer traumatisierten Menschen gemacht hat. Hier muss beim Kampf gegen Terror angesetzt werden - ohne Raketen, Panzer, Bulldozer und neuer 8-14 m hoher Trennungsmauer.

In dem Augenblick, in dem der Staat Israel die arabische Bevölkerung im eigenen Staat und die Palästinenser in den besetzten Gebieten mit Achtung und als Menschen völlig gleichberechtigt behandelt, ihnen also die menschliche Würde zurückgibt, Israel seine Schuld gegenüber diesem Volk anerkennt und ernsthaft darum bemüht ist, diese Schuld wieder gut zu machen, ihm die restlichen nur (!!) 22% seines Landes (ohne jüdische Siedlungen) lässt, ihm Freiheit und Sicherheit, auf die es nach dem Völkerrecht das selbe Recht hat wie Israel - gewährt - dann werden die Gewalttaten von arabischer Seite immer seltener, der Antisemitismus in der Welt weniger, das Image des Staates Israel wird sich bessern. Nur Gerechtigkeit und Frieden werden Sicherheit bringen, heißt es sehr weise bei Jesaja (32.)

In Israel gibt es Friedens- und Menschenrechtsgruppen, die sich vorbildlich um Menschlichkeit gegenüber den Palästinensern bemühen, jede Gruppe auf ihre spezielle Weise, wie ich dies selbst vielfach erlebt habe. Diese mutigen Gruppen brauchen unsere großzügige Unterstützung, nicht nur wie heute schon von einzelnen, sondern vom deutschen Staat, von der EU. Nicht Panzer, Raketen und U-Boote bringen Israel Sicherheit - sondern medizinische, pädagogische, wirtschaftliche, psychologische und finanzielle Hilfe für die Palästinenser zum Wiederaufbau all dessen, was von israelischen Panzern und Raketen zerstört wurde - aber auch Geduld, Verständnis und Toleranz. Bis zum Herbst 2000 gab es einige wunderbare Ansätze von Brückenbau zwischen beiden Völkern, die ich selbst miterlebt und in meinem Buch dokumentiert habe - drum weiß ich, dass ein Zusammenleben der beiden Völker möglich ist, wenn die Regierung will. Allerdings müsste der in den Siedlungen kultivierte Rassismus - ein häßliches aus Europa mitgebrachtes Erbe - genau so bekämpft werden wie bei uns Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.

Hier sollten Ihre Bemühungen liegen - nicht in der Unterstützung der rechtsradikalen rassistischen Regierung, die die Massenvertreibung von Palästinensern auf ihr Banner geschrieben und den Irakkrieg dazu ausnützend geplant hat - dazu die deutschen Panzer benötigt, die inzwischen in allen palästinensischen Orten nur Zerstörung, Angst, Schrecken und Traumata und - damit als legale (!) Gegenwehr, den Terror, die "Waffe des Schwachen" verursacht haben.

Vor ein paar Monaten habe ich einen maßgeblichen, bekannten jüdischen Deutschen, während ich mit großer Sorge die Situation in Nahost beobachtete, darum gebeten, in diesem Sinne mit Ihnen zu sprechen. Er möge Ihnen Mut machen, gegenüber der israelischen Regierung freundschaftliche, aber ernste und klare Worte zu reden - um des Friedens und um beider Völker Sicherheit willen. Ob er wohl mit Ihnen in diesem Sinne geredet hat? Sie betonen immer wieder, dass wir gegenüber dem Staate Israel eine spezielle historische Verpflichtung haben, die in besonderer Not auch eine besondere Freundschaft einschließt, aber echte Freundschaft lässt Freunde nicht ins Verderben rennen! Es kann dem einen Volk nur geholfen werden, wenn das Lebensrecht des andern auch gewährleistet ist.

Das sollte deutlich und mutig von unsern Politikern, auch von Ihnen, gesagt werden - auch wenn nicht jeder dem zustimmt; es geschieht aus echter historischer Verantwortung und aus Freundschaft - und nicht aus niederen Motiven, die man uns aus falsch verstandener Solidarität sehr schnell unterschieben möchte. Lassen wir uns nicht irritieren - lassen Sie sich nicht irritieren!

Hören wir den Hilferuf all derer in Israel und Palästina, die noch ein Gewissen haben und die einfach in Frieden mit einander leben wollen.

Shalom-Salam!
Ellen Rohlfs

(Autorin des Buches : Die Kinder von Bethlehem", Vertreterin der israelischen Friedensgruppe Gush Shalom in BRD); Gründungsmitglied von ICPPP: Internationales Committee for Protection of Palestinian People, Section in BRD

 
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