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GASTESSAY (25)
Die tunesische Sackgasse
Gespräch mit Ahmed Manaï, 31. Januar 2007

Übersetzung von Monica Hostettler
Französisches Original
(Mit freundlicher Genehmigung von A. Manaï und Elkalam.com)

Ahmed Manaï1, ein Oppositioneller des Ben Ali-Regimes, wurde, wie tausende andere Tunesier, seiner Auffassungen wegen gefoltert. Sein Buch, Le Supplice Tunesien 2, welches im Jahre 1995 mit einem Vorwort von Gilles Perrault erschienen ist, beschreibt uns diese schmerzhafte Erfahrung. Auch heute noch ist er nach wie vor politisch engagiert, konnte aber den notwendigen Abstand für eine realistische Analyse der tunesischen Situation gewinnen. Er beschreibt uns heute seine Reflexion der Vergangenheit, der Gegenwart und legt uns eine mögliche zukünftige Entwicklung Tunesiens dar.

Elkalam: Könnte man hoffen, dass zwölf Jahren nach dem Erscheinen Ihres Buches " Le Supplice tunesien" das Regime von Ben Ali sich in die Richtung der Demokratie und mehr individueller Freiheiten entwickeln wird?

Ahmed Manaï: Dieses Buch war nur eine bescheidene, im Übrigen unvollständige, Zeugenaussage, da es sich nicht mit den politischen Verantwortlichen der tunesischen Tragödie befasst hat, im Besonderen denen der Nahdha-Bewegung. Denn man sollte nicht vergessen, dass Ben Ali und seine Regierungsform das Produkt unserer Geschichte, unserer Gesellschaft, unserer Intellektuellen und politischen Eliten sind, sowie des dominierenden internationalen Systems.

Entwickelt sich das Regime also in eine Richtung zu mehr Demokratie und individuellen Freiheiten? Nein, sicherlich nicht und die jüngsten Ereignisse bestätigen dies!

Das bedeutet aber nicht, dass es keine Veränderungen gab. Ein politischer Exilanten neigt zu glauben, dass das Land , welches er gezwungenermaßen verließ, unveränderlich und auf unbegrenzte Zeit in derselben Situation verbleibt ...und auf ihn wartet! Aber Gesellschaften haben ihre eigene Dynamik, sie verändern sich und entwickeln sich weiter, unabhängig von Individuen, politischen Parteien, Eliten und selbst unabhängig von Machthabern!

Es gibt eine Weiterentwicklung, aber es ist noch lange keine transparente Politik oder ausgereifte Staatsstrategie zu erkennen.

Man muss sich an die tunesische Situation Anfang der neunziger Jahre erinnern. Es herrschte brutale Repression, es gab eine ganze Reihe von Prozessen, nicht weniger als 10.000 politische Gefangene und dutzende Foltertote: Terror war allgegenwärtig ...

Die Gefangenen wurden, nachdem sie ihre Freiheitsstrafe verbüßt hatten, freigelassen und einige hundert wurden begnadigt. Es gibt nur noch etwa 60 Gefangene der Nahdha-Bewegung, man muss etwa 300 Jugendliche noch dazuzählen, die als Folge der Regierungsinitiative "ein Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus" in den letzten drei Jahren inhaftiert wurden.

Die politischen Führer und die Menschenrechtler marxistischer oder liberaler Prägungen, denen in den neunziger Jahren die Reisepässe entzogen worden waren, haben heute das Recht auf Reisefreiheit und viele Exilanten der Nahdha-Bewegung, sowie deren Ehefrauen und Kinder, kehren regelmäßig seit Anfang 2000 nach Tunesien zurück.

Zahlreiche Menschenrechtsverbände, die nicht anerkannt werden, veröffentlichen regelmäßig Kolumnen, Ankündigungen und Proteste.

Die Medien werden noch immer vom Machthaber monopolisiert, aber es gibt auf dieser Ebene Errungenschaften, die den Opponenten sehr leicht zugänglich sind, wie das Internet und die arabischen Satellitenprogramme, die von den Tunesiern am häufigsten benutzt werden. Informationen sind schnell im Umlauf, die Leute diskutieren, kritisieren und äußern sich über die Umstände von denen sie die Nase voll haben. Viele Tabus existieren heute nicht mehr!

Kurzum, es ist nicht mehr das selbe Regime wie vor fünfzehn Jahren, aber es ist auch noch keine Öffnung, man ist noch weit entfernt von der Demokratie.

Elkalam: Viele spekulieren mit einem vorzeitigen Tod des tunesischen Präsidenten und erhoffen eine Palastrevolution, was halten Sie davon ?

Ahmed Manaï: Der Tod erwartet uns alle, er kann uns jeden Moment treffen, den Präsident sowie die zahlreichen Nachfolgeanwärter. Man sagt, dass der tunesische Präsident krank wäre, aber das sagt man schon seit fünf oder sechs Jahren, es kann noch lange dauern. Es erstaunt mich sehr, dass politische Entscheidungsträger so sehr auf seinem Tod hoffen, als ob dies den Zusammensturz des Regimes bedeuten würde. Das Regierungssystem wird seinen Herrscher überleben, jedenfalls eine gewisse Zeit lang, und die Machtübergabe wird laut Verfassungsbestimmungen erfolgen; die Entscheidung für den Kandidaten der RCD3 (Regierungspartei) wird folglich aus dem Innenministerium kommen. Von Algerien wird oft gesagt, dass es in den Händen der algerischen Armee sei. Tunesien ist in den Händen seines Innenministeriums. Was ich am meisten befürchte ist, dass die heutige Opposition nicht das Recht haben wird mitzureden.

Elkalam: Wäre die aktuelle Opposition Ihres Erachtens nach reif, die Führung zu übernehmen?

Ahmed Manaï: Damit "die Opposition" die Macht übernehmen kann, muss die Macht vakant sein, was nicht der Fall ist, und die Opposition muss wirklich existieren und gut organisiert sein, um mit glaubwürdigen Führern und mit einem fähigen Programm die Tunesier in freien und transparenten Wahlen zu überzeugen. Aber auch das ist nicht der Fall. Es gibt drei mögliche Abläufe einer Machtübernahme:

Durch eine Revolution, durch einen Militärputsch oder durch Wahlen. Ich glaube nicht, dass Tunesien sich am Vorabend einer Revolution befindet, ein Staatsstreich könnte nur von jenen ausgeführt werden, die über die entsprechenden materiellen Mittel verfügen, das heißt; die Armee und dies scheint mir völlig ausgeschlossen zu sein.

Im Bezug auf Wahlen denke ich, dass wenn es eine politische Öffnung geben würde, die einen demokratischen Übergang erlauben würde, geleitet von einem liberalen Machtflügel während drei oder fünf Jahren, würde eine Opposition aller Richtungen am Ende von zwei Legislaturperioden an die Macht gelangen, das heißt in 10 Jahren. Wenn dieser Vorgang im Jahre 2007 beginnt, wird die herangereifte und erneuerte Opposition - da die derzeitigen Führer überaltert sind - die Regierung etwa im Jahre 2020 bilden. Man sollte aber keine Wunder ausschließen!

Elkalam: Wie erklären Sie, dass die verschiedenen französischen Regierungen angesichts der offensichtlichen Verletzungen der Grundrechte durch das tunesische Regime völlig blind und taub geblieben sind?

Ahmed Manaï: Diese Staaten stehen den Menschenrechtsverletzungen außerhalb ihrer Grenzen völlig gleichgültig gegenüber, besonders wenn sie keine Gemeinsamkeiten mit den Opfern haben. Aber wenn es darum geht, sie zur Schau zu stellen, zu instrumentalisieren und Schlagzeilen über sie zu verbreiten, sobald sie politische und wirtschaftliche Dossiers vorantreiben oder beschließen wollen, zögern sie nicht. Der "böse" Kadhafi darf wieder besucht werden - da er sich untergeben hat - ohne etwas an seiner Innenpolitik geändert zu haben. Um auf die französischen Verantwortlichen zurückzukommen, glaube ich, dass durch deren Position gut verstanden werden kann, was mir ein ehemaliger französischer Außenminister im Jahre 1993 verständlich gemacht hat: "Ben Ali ist der, der für Tunesien am besten ist, und wenn es darum geht, einen persönlichen Fall zu klären, erledige ich ihn innerhalb von 24 Stunden". Dieses wurde mir mehr als einmal bewiesen.

Elkalam: Die westlichen Demokratien haben es schon immer vorgezogen, eher diktatorische Regime, wie das von Tunesien und von anderen Ländern zu unterstützen, als eine demokratische Öffnung zu begünstigen, die wahrscheinlich manchen islamischen Parteien erlaubt hätte, den Durchbruch zu schaffen und sogar Wahlen zu gewinnen. Was halten Sie heute von diesen kurzsichtigen Strategien und diesem Misstrauen gegenüber islamischen Parteien seitens der Europäer und der Amerikaner? Denken Sie, wenn Sie zurückblicken, dass Rachid Ghanouchi und die Nahdha-Bewegung der Entstehung der Demokratie in Tunesien hätte behilflich sein können? Kann man von dieser Bewegung noch etwas erwarten? Was ist aus der Mehrheit der Partisanen, die im Exil leben, geworden?

Ahmed Manaï: In der "Demokratisierung" der osteuropäischen Länder waren die westlichen Demokratien sehr aktiv und effizient. Natürlich ging es besonders darum die Demontage des sowjetischen Imperiums zu beschleunigen und die Landkarte Europas und der Welt neu zugestalten. Sie sind nicht auf diese Art und Weise mit den arabischen Diktaturen verfahren, weil sie glauben, dass ihre strategischen Interessen mit den neuen Akteuren, die sie schlecht oder gar nicht kennen, gefährdet sein würden, obwohl einige Islamisten die bevorzugten Partner der Amerikaner im Kalten Krieg und besonders im Krieg von Afghanistan waren.

Vielleicht ist es eine kurzfristige Berechnung, aber die Vorstellung und das Einschätzen ihrer eigenen Interessen besitzt Priorität und ich bin der Letzte, der ihnen Vorwürfe machen würde. Ich bin über die Meinen verärgert und besonders über die Islamisten, die ihre Länder in fragile Zustände manövriert haben, sie hätten sich ein wenig gedulden sollen. Ich denke, mit meinem heute gewonnenen Abstand, dass die algerische FIS, 1991, obwohl sie von der Mehrheit der Wähler an die Macht gebracht wurde, keine Lösungen für die echten Problemen des Landes vorgeschlagen hätte. Ich unterstütze selbstverständlich nicht den Staatsstreich vom 11. Januar 1992 in Algerien, der auf die Unterbrechung des Wahlverfahrens nach dem ersten Wahlgang vom Dezember 1991 folgte.

Was Tunesien und die Nahdha-Bewegung betrifft, muss ich der Historie gerecht werden und daran erinnern, dass Tunesien im Laufe der vergangenen siebzig Jahren zwei wirkliche, politische Parteien gehabt hat: Die Parti Socialiste Destourien (PSD), die im Jahre 1934 begründet wurde und die Partei MTI/ Nahdha 1981.4

Diese Bewegung hätte mit ein wenig Geduld, einer stärkeren Basis in der Gesellschaft, durch mehr Kenntnisse der Staatsführung und internationaler Beziehungen ein ernsthafter Konkurrent der herrschenden Machthaber werden können. Die Führung wollte alles überstürzen, aber sie hat sich damit die Finger verbrannt.

Was kann man noch von dieser Bewegung erwarten?

1992 habe ich in ARABIES5 erklärt, dass diese Bewegung "zu einer Splittergruppe verkommen werde, ohne Einfluss auf die politische Realität des Landes ". Ich glaube, dass es seit einigen Jahren so ist, trotz des überströmenden Aktivismus und der ständigen Medienpräsenz ihres Führers. Ein Individuum kann im Exil überleben und sich sogar entfalten, aber nicht eine politische Partei. Ich teile meine Meinung und Analyse nur mit einigen von ihnen, da sie zweifellos der Ansicht sind, dass das Wiederaufleben der Religiosität im Land ihnen hilft, ihre populäre Basis und Wahlliste zu etablieren. Jemand, der betet, oder eine Frau, die den Hijab trägt, ist für sie ein potentieller Parteigänger. Das ist natürlich utopisch ! Sie berücksichtigen jedoch nicht, dass die Machthaber die gleichen Berechnungen vornehmen und infolge dessen reagieren.

Die Partisanen sind anders zu bewerten. Die Studenten haben erfolgreich ihr Studium beendet und viele von ihnen haben die Staatsbürgerschaft des Aufnahmelandes erworben. Sie wurden Unternehmer, Handwerker, Kaufleute und wohlhabende Geschäftsleute, die über Villen mit Schwimmbad verfügen…

Elkalam: Ahmed Manai, wie uns Ihre erschütternde Zeugenaussage im "Supplice tunisien" zeigt, sind Sie in Ihrem tiefsten Innern, ihrer Seele, durch dieses Regime und seinen unbeschreiblichen Methoden verletzt worden. Wie kann man nach so einer schmerzhaften Erfahrung wieder neu anfangen? Ist es utopisch oder illusorisch, dass eines Tages jene Persönlichkeiten, wie Ben Ali und andere, von einem Gericht verurteilt werden?

Ahmed Manaï: Meine Erfahrung war sicherlich schmerzhaft, aber sie ist nichts im Vergleich zu den tausenden echten, menschlichen Tragödien, die unsere Mitmenschen alltäglich, überall in der Welt leben, ohne meistens etwas nachweisen zu können. Neu anfangen? Ich weiß nicht, ob man dies wirklich erreicht. Meistens handelt es sich um den Anschein. Mein Glaube war mir eine große Hilfe, sowie meine Familie und das Schreiben. Für mich ist aber das Exil der größte Schmerz und ich bin dabei diesen Schmerz zu überwinden, indem ich mir sage und verspreche, dass ich, wenn ich mein Land nicht lebend wiedersehe, wenigstens in meiner Heimat begraben werden möchte.

Ein Tribunal!

Vor 6 Jahren haben ungefähr vierzig Menschenrechtler, vom Süden und vom Norden, eine NGO mit der Zielsetzung gegründet, die Straflosigkeit zu bekämpfen und die Diktatoren und andere Verantwortliche für schwerste Verbrechen durch die internationale Justiz zu verfolgen. Es war Justitia Universalis, mit seinem Büro in Den Haag, nicht sehr weit entfernt vom Internationalen Gerichthof. In zwei Wochen wird diese Organisation ihre Generalversammlung abhalten, ich werde davon profitieren und meinen Freunden vorschlagen uns aufzulösen.

Kolonialismus ist heute eine wiederkehrende Form der Repression, die arabischen Länder sind die ersten Zielgebiete und nichts rechtfertigt, dass Partisanen, genau wie die Iraker, den neuen Aggressoren die Aufgabe erleichtern, unsere sehr zerbrechlichen Staaten zu destabilisieren. Die internationale Justiz sollte langfristig angelegte Maßnahmen durchsetzen und wenn sie den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen will, sollte sie damit beginnen, jene zu verurteilen, die Länder zerstört und Völker massakriert haben!


Fußnoten:
(1) Ahmed Manaï, ehemaliger internationaler Experte und tunesischer Politiker, war bei den tunesischen Parlamentswahlen von 1989 an der Spitze einer unabhängigen Wahlliste. Er wurde 1991 von der Polizei festgenommen und gefoltert. Seitdem ist er politischer Exilant in Frankreich, Autor vom Buch " Supplice tunisien, 1995 "[2] und Direktor vom "Institut Tunisien des Relations Internationales" ITRI (Tunesisches Institut für internationale Beziehungen) http://www.tunisitri.net/index.htm (zurück)
(2) Supplice tunisien, 1995 von Ahmed Manaï / Verlag : La Découverte , Frankreich (zurück)
(3) RCD Rassemblement Constitutionnel Démocratique ( Regierungspartei) (zurück)
(4) MTI/Nahda (Islamistischer Richtung MTI - Mouvement de la Tendance Islamique und En Nahda - Partei der Wiedergeburt) (zurück)
(5) ARABIES : Monatszeitschrift (zurück)

 
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