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Neue Blätter
Die Neuen Blätter behandeln in journalistisch-philosophischer Art Themen der Zeit.

01. Wachstum und Freiheit (09.01.03)
02. Über nationale Identitäten (09.01.03)
03. Über die offene Gesellschaft (10.01.03)
04. E-Musik und U-Musik (12.01.03)
05. Gewaltloser egalitärer Liberalismus (12.01.03)
06. Der mündige Bürger (14.01.03)
07. Über Geheimnisse (15.01.03)
08. Fraktale Politik (15.01.03)
09. Der Wert des Neuen (17.01.03)
10. Über Politikverdrossenheit (17.01.03)
11. Die Verrätertheorie (18.01.03)
12. Die Impulsmetapher (18.01.03)
13. Das Schulbuch-Projekt (24.01.03)
14. Die Rückkehr der Moralisten (23.03.03)
15. Die Rückkehr der Gewaltfrage (28.03.03)
16. Über politische Emanzipation (05.04.03)
17. Über liberalen Islam (23.04.03)
18. Über die Streitkultur (28.04.03)
19. Über Kultur (30.05.03)
20. „Warum bleiben wir zurück, während sie vorankommen?“
Araber und Muslime im neuen Jahrhundert
(24.08.03)
The New Pages deal with topical issues in a journalistic philosophical way.

01. Growth and Freedom (Jan. 9, 2003)
02. On National Identities (Jan. 9, 2003)
03. On the Open Society (Jan. 10, 2003)
04. E-Musik und U-Musik (in German)
05. Nonviolent Egalitarian Liberalism (Jan. 12, 03)
06. The Responsible Citizen (Jan. 14, 03)
07. On Secrets (Jan. 15, 03)
08. Fractal Politics (Jan. 15, 03)
09. The Value of the New (Jan. 17, 03)
10. On the Sulkiness About Politics (Jan. 17, 03)
11. The Traitor Theory (Jan. 18, 03)
12. The Impulse Metaphor (Jan. 18, 03)
13. The Textbook Project (Jan. 24, 03)
14. The Return of the Moralists (March 23, 03)
15. The Return of the Violence Issue (March 28)
16. On Political Emancipation (April 05, 03)
17. On Liberal Islam (April 23, 03)
18. On Streitkultur (April 28, 03)
19. On Culture (May 30, 03)
20. "Why do we lag behind while they move forward?"
Arabs and Muslims in the new century
(August 24, 03)
1. Wachstum und Freiheit
Anis Hamadeh, 09.01.2003

Der Begriff „Wachstum“ begegnet uns auf Schritt und Tritt. In fast jeder Nachrichtensendung gibt es Wachstumsprognosen und alle bangen um das Wirtschaftswachstum. Wachstum ist nicht nur einer der Eckpfeiler unserer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, sondern es verbirgt sich dahinter auch eine der wichtigsten Metaphern, die unser tägliches Denken strukturieren. Schauen wir uns diese Vorstellung vom Wachstum etwas genauer an:

Die Kollektivmetapher des Wachstums ist aus der Wirtschaft in den gesellschaftlichen Diskurs gekommen, beginnend vielleicht vor 150 Jahren mit der Industrialisierung. Würde die Presse sagen: „Ach, lasst doch diese Wirtschaftsleute mit ihrem Wachstum, wir reden lieber von etwas anderem“, dann hätten wir solche Ängste nicht bzw. nicht so stark. Aber hat die Wirtschaft und hat die Börse denn Unrecht mit ihren Wachstumsängsten? Jein. Lassen wir an dieser Stelle die moralische Seite der Macht und des Hungers in der Welt außen vor und bleiben wir bei dem Begriff. „Wachstum“ wird hauptsächlich mit Positivem assoziiert, nicht nur in der Welt der Wirtschaft, auch bei Lernprozessen und auch im Glauben, bei Bindungen und in der Kreativität. Es scheint nicht übertrieben, darauf hinzuweisen, dass unsere Wachstumsängste psychologisch gesehen all diese Gebiete mitmeinen und zum Teil in die Wirtschaftsdaten hineinprojizieren: Oh Gott, wir wachsen nicht mehr! Oder auch schlicht: 0,2%.

Wieviel hängt an einer Zahl? „0,2%“ Was bedeutet das, wie wichtig ist das? Kann wirklich eine einzige Zahl den Zustand von 80 Millionen oder gar von Milliarden Menschen prognostizieren? Sicher kann sie. Wenn alle es glauben, dann kann sie es. Nur vor einem muss man Angst haben, sagte Lao Tse sinngemäß, nämlich vor der Sache, vor der alle Angst haben, welche es auch sei. Später nannte man das eine self-fulfilling prophecy. Sie gilt für Ängste und für Wünsche gleichermaßen.

Doch es steckt mehr hinter dem Wachstum als das Herbeireden eines Angstkalbes. Unserer Wirtschaft geht es tatsächlich nicht gut. Wir haben vier Millionen Arbeitslose und die Sozialsysteme knacken im Gebälk. Positives Denken allein hilft da nicht weiter. Die Deutschen warten auf den Ruck, wie auf einen langersehnten Regen, und fürchten sich dabei vor dem Ungewissen. Selbst die Regierung lebt wie festgeklemmt in einer schmalen Spur von Tag zu Tag und kommt an all den Lobbys nicht vorbei, von denen sie mal hierhin und mal dorthin geschickt wird. In diesem Prozess gerät auch die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Die Frage ist: Ab wann wird die Freiheit der Gesellschaft und des einzelnen durch unsere Auffassung vom Wachstum und den daraus resultierenden Handlungen eingeschränkt? Ganz Ähnliches gilt für die Begriffe des Wohlstands und des Wettbewerbs.

Ein System, das nur und allein durch materielles Wachstum lebensfähig ist, monopolisiert sich erst und stirbt dann, ähnlich wie ein Stern. Das weiß unsere Wirtschaft und auch die Weltwirtschaft und deshalb suchen alle nach neuen Strukturen. Solche Strukturen beginnen im Kopf. Im 21. Jahrhundert ist der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte an den Grenzen von Ressourcen angelangt. Die Zahl der Erdbewohner, die Kapazität der Märkte, Kommunikation, Transport und Konsum, Boden, Flora und Fauna, all das ist erfasst und perfektioniert. Die Wachstumsmetapher und auch der Wohlstandsbegriff brauchen neue Inhalte, weil sich die Welt und vor allem das Wissen über die Welt verändert hat. Und weil die meisten Menschen, unabhängig von ihrem Besitz, nicht glücklich sind.

Um die Bürokratie zu vereinfachen und das Land nach vorn zu bringen, bedarf es zum Beispiel eines Gemeinsinns, der von unserer Wachstumsmetapher nicht recht erfasst wird. Es besteht bei Arm und Reich ein Bedarf an Glück und auch an Orientierung, auch das fällt aus dem Raster. Selbst Kriege stehen nicht wirklich im Widerspruch zu dieser abstrakten Zahlenphilosophie. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass jemand reich ist, aber was nützt es ihm oder ihr, wenn er nicht glücklich ist, wegen der Schattenseiten dessen, was er unter Wachstum versteht und weil er sich innerlich oft eine andere Art von Wachstum wünscht und insgesamt eine andere Welt als die, in der er lebt?

Gefragt sind in der Wirtschaft heute beispielsweise alternative Metaphern wie die der Nachbarschaft, des Sports und anderer sozialer Urspungsdomänen. Auch im Sport gibt es den Wettbewerb, nicht nur im Kampf. Es geht darum, die fehlenden Ausschnitte der Realität, die sonst außerhalb der Wahrnehmung bleiben, in das Gesamtbild zu integrieren. Wie sich die Harmonisierung der wirtschaftlichen und sozialen Systeme schließlich gestalten wird, ist nicht vorhersehbar. Jedoch können wir nur dann die besten Lösungen finden, wenn wir uns über die Werte und Wünsche im Klaren sind, die unser Denken bestimmen. Sie zeigen sich an Begriffen wie „Wachstum“, „Wohlstand“ und „Wettbewerb“.


1. Growth and Freedom
Anis Hamadeh, January 09, 2003

Often in everyday life we come across the concept of "growth". In almost every news broadcast there are economic prognoses and everybody is concerned about the economic growth. Growth is not only one of the pillars of our economic and social systems, but it also constitutes one of the most essential metaphors which structure our daily thought. Let us take a closer look at this understanding of growth:

The collective metaphor of growth has come from the domain of economics into the social discourse, beginning maybe 150 years ago with the industrialization. If the press said: "Well, let these economy people and their growth be, we rather talk about something else", then we would not have such problems, at least, not to this extend. But is the economy and is the stock-market so wrong with their growth fears? Yes and no. Let us at this point leave aside the moral side of power and of the famines in the world and stay with the concept itself. "Growth" generally is associated with positive things, not only in the world of politics, but also in learning processes and in faith, in binding powers and in creativity. It does not seem exaggerated to point to the fact that our fears connected to growth from a psychological point of view co-mean all these mentioned domains and partly are projected into the economic data: oh God, we don't grow anymore! Or in short: 0,2%.

How much depends on a number? "0,2%" What does that mean, how important is that? Is it really possible that a single number can predict the circumstances of 80 million or even billions of people? Of course it can. If everybody believes it, then it can. There is only one thing we have to fear, says Lao Tse accordingly, and this is the thing that everybody fears, no matter what it is. Later this was called a self-fulfilling prophecy. It is valid the same for fears and for wishes.

Yet there is more to growth than conjuring up a calf of fear. Our economy is not well, indeed. We have four million umemployed and the social systems are about to be breaking. Positive thinking will not suffice to change these things. The Germans are waiting for the often cited jolt ("Ruck"), like for a long awaited rain, and at the same time they are afraid of the uncertain. Even the government lives from day to day like caught on a narrow track, unable to escape all the lobbies which send them to and fro. In this process the gap between the poor and the rich widens more and more, too. The question is: where is the point where the freedom of society and of the individual is limited by our understanding of growth and by the actions this causes? It is very similar with the concepts of prosperity and competition.

A system, which lives only and alone through material growth, will monopolize first, and then die, similar to a star. This is known also to our economists and to the world economists and therefore everybody is looking for new structures. Such structures begin in the heads. In the 21st century, man for the first time in history has reached the limits of natural ressources. The numbers of the terrestrial populations, the capacity of the markets, communication, transportation and consume, soil, flora and fauna, all this is registered and brought to perfection. The metaphors of growth and of prosperity need new contents, because the world, and most of all the knowledge about the world, has changed. And because most people, independently from their property, are not happy.

To simplify bureaucracy and to bring the country further it takes, for example, a public spirit, and this is not really covered by our metaphor of growth. There is a need for happiness and also for orientation in the poor and in the rich, and this also is not covered. Even wars do not really stand in contradiction to this abstract philosophy of numbers. There is nothing to object if someone is rich, but what is the use for him or her, if they are not happy, due to the shadow parts of what they understand to be growth and due to their inner wish for a different kind of growth and a different world, altogether, than the one they live in?

Required in business life today are e.g. alternative metaphors like neighborhood, sports, and other social source-domains. There is competition also in sports, not only in struggle. The point is to integrate the lacking cuts and pieces of reality which otherwise stay beyond our perception, into the whole picture. It cannot be predicted how the harmonization of the economic and social systems will manifest itself in the end. And yet we can only find the best solutions, when we are aware of the values and wishes which structure our thought. They show in concepts like "growth", "prosperity", and "competition".



2. Über nationale Identitäten
Anis Hamadeh, 09.01.2003

Viele von uns sind der Meinung, dass unser öffentliches Leben sich vereinfachen soll. Es wird gestört von einer komplizierten Bürokratie. Zum Beispiel brauchen wir Anwälte, um unser eigenes Recht zu verstehen. Der Probleme sind mehr: Trotz Multimediawelt verlieren wir die Übersicht. Trotz Intercity und Transrapid dauert es in Deutschland oft viel zu lange, bis wichtige Entscheidungen erkannt und getroffen werden. Und das ist leider nicht alles: Reformstau, Arbeitslosigkeit, Renten, Krankensystem, Börse, Kriegs- und Terrorangst, Pessimismus, PISA. All dies betrifft uns, betrifft Deutschland.

Zu den wesentlichen Voraussetzungen, um diesen und noch anderen Problemen zu begegnen, gehört ein Gemeinsinn. Das ist kein Geheimnis. Die von der Regierung eingesetzten, oft überparteilichen Kommissionen sind ein Beleg dafür, der Begriff „Konsensgesellschaft“ ein weiterer. Der derzeitige heftige Streit zwischen der traditionsreichen Arbeiterpartei und den Gewerkschaften ist in gewisser Weise ein Familienstreit. Auch angesichts der Verähnlichung der demokratischen Parteien scheint es, als wolle man eigentlich schon miteinander reden und gemeinsam die Dinge angehen, nur irgendwie funktioniert es nicht. Es herrscht zu viel Misstrauen mit der destruktiven Folge von Egoismus (Geiz ist geil, Firma Saturn) und Isolationismus.

Das Problem ist, dass der Appell an den Gemeinsinn der Deutschen ein wesentlicher Bestandteil der Nazi-Propaganda war. Er führte zum Zweiten Weltkrieg und zur Ermordung der Juden und anderer. Die Nazis haben eine Reihe von Werten in ihr Gegenteil verkehrt. Man denke an „Arbeit macht frei“ oder „Kraft durch Freude“. Ohne die Nazis würde niemand einen Grund haben, daran Anstoß zu nehmen. Seit 1945 steckt ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber dem Gemeinsinn in den Deutschen, das bis in die Familien hineinreicht. Es hat Namen wie Nationalismus, Patriotismus, Vaterlandsliebe und Heimatgefühl, die alle mehr oder weniger verdächtig klingen. Es sind auch Gegenbewegungen entstanden. Bücher wurden geschrieben und gelesen mit Titeln wie „Nie wieder Heimat“, und es klingt wie: „Nie wieder Hitler“. Auch die Kirchen haben seither einen schwereren Stand, denn auch sie basieren auf Gemeinsinn.

Die Not schweißt zusammen. Bei den Hochwasserkatastrophen der letzten Monate hat sich gezeigt, dass es viel Hilfsbereitschaft gibt, wenn es hart auf hart kommt. Der Krieg war ja auch so eine Situation. Warum aber muss es immer erst die Not sein, die die Leute zusammenbringt? Wenn wir keine andere Möglichkeit sehen, um den Gemeinsinn zu erfahren, als die Not, dann werden wir unbewusst Notsituationen sogar anstreben, um diesem vorhandenen gesellschaftlichen Wunsch näherzukommen. Die modische Faszination für die Titanic-Geschichte ließe sich so erklären. Was für eine fürchterliche Vorstellung! Gibt es denn keine andere Möglichkeit, droht denn sonst wirklich gleich das totalitäre Regime, selbst heute noch und bei uns?

Wir sind als Deutsche auf der einen Seite in das europäische Projekt eingebunden und gehören zur westlichen, seit 1945 U.S.-amerikanisch geprägten Kultur. Auf der anderen Seite haben wir das historisch gewachsene föderale System mit Kommunen und Gemeinden als kleinsten öffentlichen gesellschaftlichen Einheiten. Dazwischen liegt Deutschland, mit seiner gemeinsamen Sprache, Kultur und Geschichte, inklusive Bach und Goethe und inklusive Hitler.

Wenn wir den Gemeinsinn gesellschaftlich nutzen wollen, ohne dabei in die Gefahr des Totalitarismus zu geraten, ist es notwendig, diese nationale Identität, die zu leugnen ebenso sinnlos wie unnötig ist, sinnvoll zu definieren. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man sein Land liebt und ihm etwas gibt, das gehört für viele zur persönlichen Identität. Man kann dennoch z.B. Anti-Militarist sein, das ist eine Frage von Prioritäten. Letztlich geht es darum, woraus eine solche nationale Identität sich speist. Ist es daraus, dass man sich von anderen Ländern oder Völkern und zu deren Lasten abgrenzt, dann ist das abzulehnen. Ist es jedoch daraus, dass ein eigener, positiver Wert gesucht wird, demokratisch und tolerant, um damit dem Reformstau zu begegnen, und um eine Basis des Vertrauens zu erreichen, ohne dabei gegen andere gerichtet zu sein, verantwortlich und in klarem Bewusstsein der Situation anderer Nationen, Länder und Völker, die alle ihre Menschenrechte haben so wie wir, dann ist der Gemeinsinn, der aus dieser Identität entspringt, nicht nur ein konstruktiver und positiver Grundwert, sondern eine wichtige Voraussetzung für die notwendigen Veränderungen, die wir noch nicht genau kennen, die in den Nachrichten und in der Politik aber bereits zur Tatsache erklärt werden.

Die Identifikation mit dem Land, in dem man lebt, ist normal und gesund, die Selbstverleugnung ungesund. Das gilt für alle Gruppen mit gemeinsamer Geschichte, Sprache und Kultur gleich. Oder wollen wir uns ausgerechnet von Hitler vorschreiben lassen, was wir Deutschland gegenüber fühlen oder nicht fühlen sollen? Das wäre doch verdreht, pervers. Landesbezogener Gemeinsinn ist die Grundlage zur Lösung landesbezogener Probleme.


2. On National Identities
Anis Hamadeh, January 09, 2003

Many of us are of the opinion that our public life should be simplified. It is disturbed by a complicated bureaucracy. We need, for examples, solicitors in order to understand our own rights. There are more problems: despite a multimedia world we are losing the overview. Despite Intercity and Transrapid it often takes much too much time in Germany until important decisions are recognized and made. And this, sadly, is not all: reform jam, unemployment, pensions, health system, stock market, fear of war and terror, pessimism, PISA. All this concerns us, concerns Germany.

To the fundamental presuppositions for dealing with these and even other problems, belongs a public spirit. This is not a secret. The often non-factious commissions, which the government install, are an indication for this, as is the concept of the "society of consensus" ("Konsensgesellschaft"). The current severe fight between the tradition-rich labors' party (i.e. the SPD) and the unions in a way is a sort of family trouble. In view of the similarization of the democratic parties, too, it seems as if people would like to talk with each other und together find the best solutions, only that for some reason it does not really work. There is too much suspicion with the destructive effect of selfishness (slogan "greediness is cool" "Geiz ist geil", company "Saturn") and isolationism.

The problem is that the call for a public spirit of the Germans had been a major factor of the Nazi propaganda. It led to World War II and the murder of the Jews and of others. There are a whole lot of values that were perverted into their opposites by the Nazis. Mottos like "Work frees (Arbeit macht frei)" or "Power through joy (Kraft durch Freude)". Without the Nazis, nobody would have a reason to take offense of such mottos. Since 1945, there is a deeply rooted distrust towards the public spirit in the Germans, reaching even the level of the families. It has names like nationalism, patriotism, "Vaterlandsliebe" (love of the fatherland) and "Heimatgefuehl" (homeland feeling), and they all sound moreorless suspicious. We also find counter-movements. Books were written and read with titles like "Nie wieder Heimat" (Never again a homeland), and it sounds like: "Never again Hitler". The churches, too, have a more difficult stand since, because they, too, base on a public spirit.

Emergency welds people together. During the flood catastrophes of the last months a lot of solidarity could be observed when the going got tough. The war was a similar kind of situation. But why does there always have to be an emergency before people get together? If it is true that we see no other possibility of experiencing the public spirit other than emergencies, then we will subconsciously even provoke emergency situations, in order to reach nearer to this existant wish of society. The fashionable fascination for the story of the Titanic could be an explanation for this. What a terrible idea! Is there really no other way, is there really the immediate menace of the totalitarian regime otherwise, even today and here?

As Germans, we are on the one hand embedded in the European project and belong to the western, and since 1945 US American influenced culture. On the other hand, we have the historically grown federal system with communities and municipalities as the smallest public social units. In between is Germany, with its language, culture, and history, including Bach and Goethe and including Hitler.

If we want to facilitate the public spirit for the sake of society without getting into the danger of totalitarialism it is necessary to meaningfully define this national identity and not to deny it, which is as useless as it is needless. There is nothing to object, if somebody loves his or her country and works for it. For many people this belongs to the personal identity. They can still be e.g. anti-militarists, this is a matter of priorities. In the end, the point is what feeds such a national identity. If it is the demarcation from other countries or peoples and at their expense, then it has to be rejected. But if it is the search for an own, positive value, democratic and tolerant, in order to meet the reform jam and to reach a basis of trust, without being directed against others, responsible and in full awareness of the situations of other nations, countries, and peoples, who all have their human right like us, then the public spirit, which springs from this identity, is not only a constructive and positive fundamental value, but also an essential presupposition for the necessary changes, which we cannot know exactly yet, but which are declared to be facts in the news and in politics already.

To identify with the country in which one lives is a normal and sane thing, it is the denial that is insane. This holds true to the same amount for all groups with a shared history, language, and culture. Or do we want to let Hitler tell us what we ought to feel or not feel for Germany? This would be twisted and perverted. A country-related public spirit is the basis for the solution of country-related problems.


3. Über die offene Gesellschaft
Anis Hamadeh, 10.01.2003

Der Pluralismus ist einer der wichtigsten Bestandteile der Demokratie und führt bestenfalls in die offene Gesellschaft. Das ist eine Gesellschaft, in der das Miteinander-Sprechen und das Einander-Verstehen von in Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Wettbewerb stehenden Individuen und Gruppen als friedens- und stabilitätssichernde Werte und als Präventivkräfte bei Konflikten erkannt werden. Die offene Gesellschaft setzt auf das Prinzip der im Grundgesetz verankerten Entfaltung des Menschen als Chance, im Vertrauen darauf, dass eine tolerante und kommunikative Atmosphäre das jeweils Beste in den Menschen weckt. Um eine solche Idee leben zu können, braucht man aktive und wachsame Strategien der Konfliktbewältigung.

Kritiker der offenen Gesellschaft werfen ein, dass die Demokratie nur ein begrenztes Maß an Meinungsvielfalt aushalten kann, da sonst beispielsweise auch notorische Extremisten von ihr profitieren könnten. Etwa auf der Parteien-Ebene. Dieses Argument wird von Politikern und Journalisten gleichermaßen bestätigt, weil es schlüssig klingt. Genauer gesagt: weil es an Ängste appelliert, sich vor Verantwortungen drückt, und daher beim Volk schlüssig ankommt. Die Alternative jedoch heißt: „Bestimmte Tendenzen lassen wir bei uns gar nicht erst hochkommen,“ und diese Alternative definiert ein ganz neues „Wir“, ein sich schwammig abgrenzendes Wir, das aus Gründen der Schwerfälligkeit und Unlust nicht genug Glauben an die Demokratie und die bestehenden Gesetze hat.

Die Furcht, dass in den Deutschen tief drinnen das Böse lauert, das zwangsläufig aufbrechen wird, wenn man eine offene Gesellschaft anstreben würde, wirkt mysteriös und schwach. Es klingt wie: „Wir würden ja gern unsere Kräfte entfalten, aber wir wissen nicht, ob wir sie kontrollieren können, und wer weiß, was für Unheil wir während des Lernprozesses anrichten.“ Eine solche Einstellung ist latent lernfeindlich, hypersensibel und angstfixiert. Das kann unmöglich die Philosophie des 21. Jahrhunderts sein! Sollen diese notorischen Extremisten doch mal kommen, na und? Was würden sie tun, was sie nicht auch ohne die offene Gesellschaft tun würden? Sind wir vielleicht wehrlos oder in irgendeiner Form unterlegen? Wer gegen die Gesetze verstößt, begeht ein Verbrechen und wird dafür bestraft, so oder so. Dafür haben wir die Gesetze ja gemacht. Alles andere ist Diskursverengung.

Der Notoriker als abstraktes Angstbild wird oft aber auch nur vorgeschoben, um andere Gründe für die Skepsis an der offenen Gesellschaft zu überspielen. Auch das Argument, dass wir doch schon längst in einer offenen Gesellschaft leben würden, beschönigt entweder oder weiß es nicht besser. Das neue, nicht-frontale Medium des Internets zeigt unsere Gesellschaft offen mit all den widersprüchlichen Diskursen, doch es zeigt nicht die offene Gesellschaft. Wie sieht die eigentlich aus?

Betrachten wir, wie Kinder kommunizieren, dann fällt auf, dass sie o f f e n kommunizieren. Wenn sie sich freuen, dann drücken sie es aus, wenn sie unsicher sind oder etwas auf der Seele haben, dann sprechen sie darüber. Dadurch sind sie kalkulierbar, sie zeigen sich, und also kann man sie, ihre Wünsche, ihre Ängste und ihre Handlungen einschätzen. Erwachsen geworden, verstecken sich diese Kinder mehr und mehr und kommunizieren immer weniger offen. Prinzipiell scheint dies nicht von der Zivilisation geboten und sehr übertrieben zu sein. Die Menschen werden schlecht einschätzbar und misstrauen sich daher gegenseitig. Sie kennen sich nicht einmal, unabhängig davon, ob sie sozial und politisch miteinander kompatibel sind oder nicht. Eine allgemeine Konfliktscheu entsteht, und die ist gefährlich, denn sie führt zur autoritären Gesellschaft.

Die Furcht vor der offenen Gesellschaft ist ursprünglich eine Furcht vor dem offenen Kind, das in unserer Gesellschaft fälschlich als etwas Unfertiges und Ungereiftes aufgefasst wird, Dinge, von denen Erwachsene, die den „Ernst des Lebens“ kennen, sich distanzieren. Als Schwäche werten sie die Kraft des Kindes, sich offen, kreativ und voller Friedlichkeit von Zweifel- und Schuldgefühlen zu befreien, um sich durch ein gutes Gewissen erfolgreicher entfalten zu können in die Richtung, die seinem jeweiligen Wesen entspricht und der Gesamtheit zu Gute kommt, von der es ein Teil ist. Die offene Gesellschaft orientiert sich nicht an Links und Rechts, sondern unterscheidet zwischen Leuten, die in der Lage sind, mit Gefühlen umzugehen und solchen, die dazu nicht in der Lage sind. Letztere sind es, die die Angstszenarien propagieren, überbewerten und glauben.

Eine geschlossene Gesellschaft kann man daran erkennen, dass man in ihr nicht lernt, mit sich selbst und anderen umzugehen. Sie ist entfremdet und kalt. Viele Situationen sind in ihr unbekannt, und die Leute wissen nicht, wie sie reagieren, entscheiden sollen, weil sie nichts mehr fühlen. Damit fehlen ihnen wichtige Werkzeuge des mündigen Bürgers. Die offene Gesellschaft beginnt in den Familien. Der Generationenkonflikt um den Status des Kindes sitzt tiefer, als die Presse es wahrhaben möchte. Kinder werden nicht ernst genommen. Weil sie kontrollierbar sind, werden sie auch kontrolliert, hier liegt der fundamentale Missgriff der Gesellschaft heute. Sie leugnet den Menschen und seine Freiheit bereits an der Basis. Nur wenn wir das Kind in uns zu kultivieren lernen, erreichen wir die offene Gesellschaft.


3. On the Open Society
Anis Hamadeh, January 10, 2003

Pluralism is one of the major ingredients of democracy and leads, in the best case, to the open society. That is a society in which communication and mutual understanding of related, neighboring, or competing groups are recognized to be peace- and stabilization-building values and conflict preventive forces. The open society leans on the constitutional principle of the right of human unfolding and understands it as a chance, trusting in the attitude that a tolerant and communicative atmosphere is promotive of bringing out the respective best in all people. To live such an idea it takes active and vigilant strategies of conflict mastering.

Critics of the open society remark that democracy can only bear a limited amount of pluralism, otherwise notorious extremists or other villains can profit from it. On the level of political parties, for instance. This argument is confirmed by both the politicians and the journalists, because it sounds logical. More precisely: because it appeals to fears and ignores responsibilities, therefore sounding logical for the masses. The alternative, however, is: "We will oppress certain tendencies", and this alternative defines a brandnew concept of "we", a fuzzy-edged we that has not enough faith in democracy and the existing laws for reasons of clumsiness and listlessness.

The fear, that deep inside the Germans there lurks evil, bound to be breaking out as soon as an open society is aimed at, appears mysterious and weak. It sounds like: "We would really like to unfold our powers, but we do not know whether we can control them, and who knows what kinds of bad things we might committ in the course of the learning process." Such an attitude is latently hostile towards learning, it is hyper-sensitive, and fear-fixed. This can by no means be the philosophy of the 21. century! Why, let those notorious extremists come, so what? What would they do that they would not have done without the open society? Are we defenseless or inferior in any respect? People who violate the laws are committing crimes and are punished for it, in any way. This is why we made these laws to begin with. Everything else is a narrowing of the discourse.

Yet the notorious person as an abstract image of fear often is only instrumentalized to cover some other reasons for the the scepticizm towards the open society. So does the argument that we already live in an open society, as it either euphemizes things or ignores them. The new, non-frontal medium of the internet shows our society openly with all its contradicting discourses, but it does not show the open society. What does it look like, anyway?

When we watch the way children communicate we find that they communicate o p e n l y. When they are happy they express it, when they are uncertain or have trouble to talk about, then they talk about it. Through this they are calculable, they show themselves, and thus their wishes and their fears and their actions are assessible. Being grown-up, these children hide more and more and they communicate less and less openly. Principally, this does not seem to be imposed by or expected from civilization, and it seems to be exaggerated. People become hard to assess and therefore they distrust each other. They do not even know the other, independently from their being socially and politically compatible or not. A general aversion against conflicts grows, and this is dangerous, because it leads to the authoritarian society.

The fear of the open society originally is a fear of the open child which in our society wrongly is regarded to be something unaccomplished and unmatured. These are things from which grownups, who experienced the "real life", want to distance themselves. The power of the child to liberate itself from feelings of doubt and of guilt openly, creatively, and full of peacefulness, is evaluated to be a weakness instead of the successful strategy that it is to cultivate a good conscience and thus to unfold and develop into the direction which is suitable for the respective character and which is to the benefit of the whole of which it is a part. The open society does not take left-wing and right-wing as orientations, instead it differentiates between those people who are able to deal with feelings and those who are not. It is the latter group that propagates, overevaluates, and believes the scenarios of fear.

A closed society can be indicated by its absence of strategies to learn handling oneself and others. It is alienated and cold. Many situations are unknown in it, and people do not know how to react and to decide, because they do not feel anything anymore. So they lack important tools of the responsible citizen. The open society begins in the families. The conflict of generations about the status of children is deeper than the press views it to be. Children are not taken seriously. Because they are controllable they are controlled, this is the fundamental mistake of the society today. It denies the human and his freedom at the very basis. Only when we learn to cultivate the child in ourselves we can reach the open society.


4. E-Musik und U-Musik
Anis Hamadeh, 12.01.2003

In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 18.01.02 erklärt der 80-jährige Komponist Hans Ulrich Engelmann anlässlich einer Uraufführung auf die Frage nach dem Einfluss des Jazz in der Kunstmusik: „Bei den jüngeren Komponistengenerationen habe ich das Gefühl, dass – dann eher unter dem Stichwort Crossover als Jazz – diese Unterscheidung von E und U, wie ihn die GEMA so streng aufgelistet hat, keine so große Rolle mehr spielt. Das ist eine Vision von mir: Dass diese Musikbereiche wieder eins werden, so wie es ganz früher einmal war. Dieses Lagerdenken, wie es ja eigentlich erst seit der Romantik vorherrscht, habe ich zumindest immer versucht, zu verhindern.“

Diese Vision hat eine Zukunft, denn die Unterscheidung zwischen E-Musik („Ernster Musik“) und U-Musik („Unterhaltungsmusik“) wird zunehmend in Frage gestellt. Nach der Neufassung der Gebührenordnung der GEMA Abschnitt XII können elektroakustische Werke, überwiegend elektronisch erzeugte Musik, Musique concrète, sowie Pop-, Jazz- und Rockmusik, soweit diese auf Antrag eines Bezugsberechtigten unter gleichzeitiger Vorlage eines Belegexemplars vom Werkausschuß in dieser Weise eingestuft worden ist, aufgrund der kompositorischen und realisationstechnischen Komplexität tariflich hochgestuft werden. Zur Glaubhaftmachung dieser Komplexität muss für jeden Titel eine Kopie auf Tonträger und schriftliche oder graphische Unterlagen dazu geliefert werden, aus dem die Vielschichtigkeit hervorgeht. Zuständig ist Dr. Jürgen Brandhorst vom GEMA-Musikdienst in München. (Quelle: Thomas Gerwin, Deutsche Gesellschaft für Elektroakustische Musik der TU Berlin, http://gigant.kgw.tu-berlin.de/DegeM/Mitteilungen/Mitteilungen_18/)

Die andere Seite der Medaille zeigte sich z.B. beim Streit der GEMA mit den Drei Tenören, deren Konzerte nach Schiedsspruch des Patentamtes nicht unter die Kategorie „Ernste Musik“ fallen (Urteil vom 7.7.1997). Zur Begründung wird der Schauveranstaltungscharakter des Konzertes genannt, der Umfang, die Art der Vermarktung und der Werbung und der Begleitumstände. Bei der E-Musik hingegen stehe der Gedanke der Wahrung der kulturellen Belange, des Musikgenusses und der Musikverbreitung im Vordergrund. Die GEMA begrüßte diese Entscheidung mit dem Hinweis, dass dem Urheber eine angemessene Vergütung an der Nutzung seiner Werke zu geben ist. (GEMA Brief 23, August 1997)

In diesem Streitpunkt von E und U geht es nur vordergründig um die Verteilung von Geldern. Argumente wie „Schauveranstaltungscharakter“, „Vermarktung“ und „Wahrung kultureller Belange“ zeigen, dass es hier um gesellschaftliche Werte geht, die weit über die Musik und sogar über die Kunst hinausgehen und die zu hinterfragen das neue Jahrhundert mit seinen veränderten Verhältnissen verpflichtet ist. Hat sich nicht schon Albrecht Dürer zur Schau gestellt und vermarktet? Ist Bob Dylan U-Musik? Und John Lennon? War Jimi Hendrix' Show Teil seiner Kunst? Wie steht es mit Paul Simon's Graceland-Album, ist das U-Musik oder geht es dort um kulturelle Belange? Oder darf es solche Künstler etwa nur in Amerika geben? – Kunst ist immer auch Unterhaltung, sonst ist sie schlecht, und sie ist immer auch ernst, sonst ist sie auch schlecht. Wer hier den Kunstbegriff spalten will, wirkt so altertümlich wie die Mönche in „Der Name der Rose“, die das Lachen verbieten wollten.

Eine Aufhebung der Unterscheidung wird sicherlich nicht dazu führen, dass Goethe kulturell gleichwertig neben Bohlen steht. Die Wahrung der Kultur jedenfalls kann nicht durch Etikettierungen von Juristen geschehen. Totzdem kann und soll man das Kulturerbe schützen. Mit dem Problem des Verlustes von E-Privilegien muss man sich auseinandersetzen, ohne dabei die ursprüngliche gesellschaftliche Funktion der Genres zu vergessen. Wenn etwa Formen wie das Theater und die Oper in früheren Zeiten Funktionen übernommen haben, die im Fernsehzeitalter von anderen Medien oder Trägern erfüllt werden, dann ist es müßig zu versuchen, die Leute tendenziell in vergangene Zustände zurückzulocken, nur um bestimmte Formen künstlich am Leben zu erhalten, die dann wichtiger als die Inhalte werden.

Die Argumente der E/U-Anhänger sind insgesamt nicht kohärent und nicht sinnvoll. Die Gesellschaft und die Kunst können sich nur aus sich selbst heraus natürlich entwickeln, nicht durch Reglementierungen von Geldverwaltern oder anderen Gutmeinenden. Da wird einem Musiker gesagt, dass er sich nicht zur Schau stellen und dass er nur bestimmte Arten von Werbung und Vermarktung verwenden darf, sonst sei er von vornherein zweitklassig. Als hätte das irgendetwas mit der Musik zu tun! Es ist kein Problem, seltene Instrumente oder beliebte Traditionen zu fördern und zu pflegen, doch muss dabei klar sein, dass es im 21. Jahrhundert keine Klassenunterschiede mehr zwischen einer E-Gitarre und einer Violine geben darf und dass die willkürliche Trennung von E und U entmutigend auf viele MusikerInnen wirkt, wenn sie ihre Inspirationen nur in vorgeschriebene Formen gießen dürfen. Vielmehr sollen sich die MusikerInnen, die den Wunsch dazu haben, frei entfalten können, um zu dem Besten zu gelangen, zu dem sie fähig sind. Lasst uns also harmonische und unharmonische Musik haben, alte und neue, erfolgreiche und erfolglose, solche, die die Zeiten überdauert und schnell vergessene, kommerzielle und esoterische, provinzielle und globale, und in all dem gute und schlechte, aber nicht mehr E und U!

Siehe auch das Interview zu E- und U-Musik im Deutschlandfunk vom 09.09.03

Zwei Bambus-Satiren zum Thema:
E-MUSIK
E & U (AGAIN)


4. E-Musik und U-Musik
Anis Hamadeh, 12.01.2003

In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 18.01.02 erklärt der 80-jährige Komponist Hans Ulrich Engelmann anlässlich einer Uraufführung auf die Frage nach dem Einfluss des Jazz in der Kunstmusik: „Bei den jüngeren Komponistengenerationen habe ich das Gefühl, dass – dann eher unter dem Stichwort Crossover als Jazz – diese Unterscheidung von E und U, wie ihn die GEMA so streng aufgelistet hat, keine so große Rolle mehr spielt. Das ist eine Vision von mir: Dass diese Musikbereiche wieder eins werden, so wie es ganz früher einmal war. Dieses Lagerdenken, wie es ja eigentlich erst seit der Romantik vorherrscht, habe ich zumindest immer versucht, zu verhindern.“

Diese Vision hat eine Zukunft, denn die Unterscheidung zwischen E-Musik („Ernster Musik“) und U-Musik („Unterhaltungsmusik“) wird zunehmend in Frage gestellt. Nach der Neufassung der Gebührenordnung der GEMA Abschnitt XII können elektroakustische Werke, überwiegend elektronisch erzeugte Musik, Musique concrète, sowie Pop-, Jazz- und Rockmusik, soweit diese auf Antrag eines Bezugsberechtigten unter gleichzeitiger Vorlage eines Belegexemplars vom Werkausschuß in dieser Weise eingestuft worden ist, aufgrund der kompositorischen und realisationstechnischen Komplexität tariflich hochgestuft werden. Zur Glaubhaftmachung dieser Komplexität muss für jeden Titel eine Kopie auf Tonträger und schriftliche oder graphische Unterlagen dazu geliefert werden, aus dem die Vielschichtigkeit hervorgeht. Zuständig ist Dr. Jürgen Brandhorst vom GEMA-Musikdienst in München. (Quelle: Thomas Gerwin, Deutsche Gesellschaft für Elektroakustische Musik der TU Berlin, http://gigant.kgw.tu-berlin.de/DegeM/Mitteilungen/Mitteilungen_18/)

Die andere Seite der Medaille zeigte sich z.B. beim Streit der GEMA mit den Drei Tenören, deren Konzerte nach Schiedsspruch des Patentamtes nicht unter die Kategorie „Ernste Musik“ fallen (Urteil vom 7.7.1997). Zur Begründung wird der Schauveranstaltungscharakter des Konzertes genannt, der Umfang, die Art der Vermarktung und der Werbung und der Begleitumstände. Bei der E-Musik hingegen stehe der Gedanke der Wahrung der kulturellen Belange, des Musikgenusses und der Musikverbreitung im Vordergrund. Die GEMA begrüßte diese Entscheidung mit dem Hinweis, dass dem Urheber eine angemessene Vergütung an der Nutzung seiner Werke zu geben ist. (GEMA Brief 23, August 1997)

In diesem Streitpunkt von E und U geht es nur vordergründig um die Verteilung von Geldern. Argumente wie „Schauveranstaltungscharakter“, „Vermarktung“ und „Wahrung kultureller Belange“ zeigen, dass es hier um gesellschaftliche Werte geht, die weit über die Musik und sogar über die Kunst hinausgehen und die zu hinterfragen das neue Jahrhundert mit seinen veränderten Verhältnissen verpflichtet ist. Hat sich nicht schon Albrecht Dürer zur Schau gestellt und vermarktet? Ist Bob Dylan U-Musik? Und John Lennon? War Jimi Hendrix' Show Teil seiner Kunst? Wie steht es mit Paul Simon's Graceland-Album, ist das U-Musik oder geht es dort um kulturelle Belange? Oder darf es solche Künstler etwa nur in Amerika geben? – Kunst ist immer auch Unterhaltung, sonst ist sie schlecht, und sie ist immer auch ernst, sonst ist sie auch schlecht. Wer hier den Kunstbegriff spalten will, wirkt so altertümlich wie die Mönche in „Der Name der Rose“, die das Lachen verbieten wollten.

Eine Aufhebung der Unterscheidung wird sicherlich nicht dazu führen, dass Goethe kulturell gleichwertig neben Bohlen steht. Die Wahrung der Kultur jedenfalls kann nicht durch Etikettierungen von Juristen geschehen. Totzdem kann und soll man das Kulturerbe schützen. Mit dem Problem des Verlustes von E-Privilegien muss man sich auseinandersetzen, ohne dabei die ursprüngliche gesellschaftliche Funktion der Genres zu vergessen. Wenn etwa Formen wie das Theater und die Oper in früheren Zeiten Funktionen übernommen haben, die im Fernsehzeitalter von anderen Medien oder Trägern erfüllt werden, dann ist es müßig zu versuchen, die Leute tendenziell in vergangene Zustände zurückzulocken, nur um bestimmte Formen künstlich am Leben zu erhalten, die dann wichtiger als die Inhalte werden.

Die Argumente der E/U-Anhänger sind insgesamt nicht kohärent und nicht sinnvoll. Die Gesellschaft und die Kunst können sich nur aus sich selbst heraus natürlich entwickeln, nicht durch Reglementierungen von Geldverwaltern oder anderen Gutmeinenden. Da wird einem Musiker gesagt, dass er sich nicht zur Schau stellen und dass er nur bestimmte Arten von Werbung und Vermarktung verwenden darf, sonst sei er von vornherein zweitklassig. Als hätte das irgendetwas mit der Musik zu tun! Es ist kein Problem, seltene Instrumente oder beliebte Traditionen zu fördern und zu pflegen, doch muss dabei klar sein, dass es im 21. Jahrhundert keine Klassenunterschiede mehr zwischen einer E-Gitarre und einer Violine geben darf und dass die willkürliche Trennung von E und U entmutigend auf viele MusikerInnen wirkt, wenn sie ihre Inspirationen nur in vorgeschriebene Formen gießen dürfen. Vielmehr sollen sich die MusikerInnen, die den Wunsch dazu haben, frei entfalten können, um zu dem Besten zu gelangen, zu dem sie fähig sind. Lasst uns also harmonische und unharmonische Musik haben, alte und neue, erfolgreiche und erfolglose, solche, die die Zeiten überdauert und schnell vergessene, kommerzielle und esoterische, provinzielle und globale, und in all dem gute und schlechte, aber nicht mehr E und U!

Siehe auch das Interview zu E- und U-Musik im Deutschlandfunk vom 09.09.03

Zwei Bambus-Satiren zum Thema:
E-MUSIK
& U (AGAIN)


5. Gewaltloser egalitärer Liberalismus
Anis Hamadeh, 12.01.2003

Der Liberalismus unterscheidet sich dadurch von anderen Strömungen, dass er ein grundsätzlich breiteres politisches Spektrum vertritt, indem er die Freiheit als den höchsten Wert von Individuum und Gesellschaft erkennt. Es steht also kein theoretischer gesellschaftlicher Plan im Vordergrund, ebensowenig wie das bloße Wahren von Identität durch Besitz und Tradition. Die Abgrenzungen von Rechts und Links, mit denen die Rechten und Linken einander definieren, gehen an den Liberalen glatt vorbei. Denn da, wo Individualität gefördert wird, kommen die unterschiedlichsten Leute zusammen. Ein schwer reicher Mensch kann hier ebenso auf seine Freiheit pochen wie ein freigeistiger Künstler und damit den Liberalismus mitbestimmen. Menschen, die etwas mit dem Begriff der Freiheit verbinden, kennen auch die Toleranz und haben bestenfalls sogar ein Out-Group-Verhalten für den zivilisierten Umgang unter Feinden.

Die derzeitig vorrangige Kritik am Liberalismus kommt aus dem linken Lager und bezieht sich auf die neoliberal genannte Tendenz, Unternehmern zu viele Freiheiten zuzugestehen, sodass es weltweit zu undemokratischen wirtschaftlichen, Macht- und Kapital-Ballungen kommt. Und zweifellos wird man bei den Liberalen und in anderen Parteien auch wirklich egoistische Unternehmer finden, denen der Hunger in der Welt egal ist, denn irgendwo müssen solche Egoisten ja sein. Doch gibt es selbst innerhalb des Begriffs „neoliberal“ ein weiteres Spektrum unterschiedlicher Meinungen. Wo es jedoch zu undemokratischen Tendenzen in der Welt kommt, wird es aus derselben freiheitlichen Strömung auch Stimmen geben, die dem Ausdruck verleihen, ohne sich von rechtslinkser Ablenkungsrhetorik beeindrucken zu lassen. Insofern ist eine liberale Partei eher ein Mikrokosmos und Spiegel der Gesellschaft als eine andere Partei, da die Freiheit nirgends aus der Mode kommt.

Es gibt im Liberalismus auch einen egalitären Ansatz, einen, der darauf bedacht ist, dass es möglichst wenig Klassenunterschiede in der Gesellschaft gibt, weil wir alle aus einem Holz sind und uns gegenseitig nur dann wirklich respektieren können, wenn wir möglichst von gleich auf gleich miteinander kommunzieren, ohne Gewalt und ohne Dünkel. Die Situation gibt dann die gesellschaftlichen Rollen vor, nicht die Institution. Dazu bedarf es eines funktionierenden Bildungssystems und einer Wertschätzung des Menschen und seiner Individualität. Hier darf niemand ausgegrenzt werden, weil er arm ist, und niemand, weil er reich ist. Es ist vielmehr notwendig, dass die verschiedenen Teile der Gesellschaft einander sehen und sich damit aneinander orientieren können, denn beide wissen, dass auch der andere zum Ganzen gehört. Das kann dem einen ein Ansporn sein und bei dem anderen zu mehr Rücksicht und Solidarität führen. Wenn die Teile einander hingegen nicht sehen können, leidet das Ganze. Das ist die Philosophie der offenen Gesellschaft. Da ist nicht jeder unbedingt der Freund des anderen, aber man kennt sich und kann sich gegenseitig einschätzen.

Ebenso verhält es sich für den egalitären Liberalismus mit anderen Gruppen und Konstellationen als Arm und Reich. Es gilt zum Beispiel auch für die einzelnen Glaubensgruppen und Konfessionen. Um die gesamte Situation politisch zu erfassen, bedarf es der Übersicht über das Spektrum der Gruppe. Nur wenn die Mitglieder einer Gruppe in ihrer Vielfältigkeit untereinander bekannt sind, kann der eine die Freiheit des anderen, seine Befindlichkeiten, Wünsche und Ängste, seine „Zufriedenheitsstruktur“ verstehen und damit der Situation gerecht werden.

Der Grundwert des egalitären Liberalismus ist das Menschenrecht, bei dem die Freiheit an erster Stelle steht. Egalitär heißt auch, dass sich alle Staaten und Völker gleichermaßen an die UNO-Resolutionen halten. Zwar gibt es verschiedene Stadien von gesellschaftlichen Kulturen, die jeweils an ihren inhärenten Maßstäben gemessen werden, doch hat Gewaltvermeidung Priorität überall da, wo Gewalt die Freiheit verletzt. Eine Reformierung der UNO als Weltpolizei ist daher anzustreben. Im Afghanistankonflikt im Anschluss an den Elften September hätte niemand etwas gegen konzentrierte, der aggressiven Initiative der al-Qaida angemessene, UNO-Polizeiaktionen gehabt, Ziviltote und Schäden gegen Unbeteiligte, verursacht von einem emotionalisierten Staat, sind hingegen nicht hinnehmbar.

Die Kurve der Zivilisation zeigt uns eine zunehmende Gewaltkontrolle in den Gesellschaften. Demokratische Rechte (mit ihren Pflichten) wurden vielerorts eingeführt, die Todesstrafe in vielen Ländern abgeschafft, und manche Staaten verzichten inzwischen sogar auf das Militär. Es gibt aber auch eine Gegenbewegung, eine der Angriffskriege, der Massenvernichtungswaffen, der Unterdrückung von Minderheiten und der abstrakten Bomben. Mit Freiheit oder Individualismus hat das nichts zu tun.

Die Liberalen können heute zeigen, dass keine andere Partei besser dazu in der Lage ist, sich an Situationen zu orientieren, statt an Reglementierungen, und eine Eigenidentität als Miniatur der Gesellschaft auszubilden. Eine Partei, die durch interne Diskussionsbereitschaft und Konfliktbewältigung kreativer ist, mehr Energie hat und schneller zu den richtigen Entscheidungen gelangt als solche, die ihr Profil wesentlich dadurch erhalten, dass sie sich an einer konkurrierenden Partei spiegeln.


5. Nonviolent Egalitarian Liberalism
Anis Hamadeh, January 12, 2003

Liberalism is different from other currents in that it principally represents a wider political spectrum by realizing liberty to be the highest value of the individual and the society. Thus there neither is a theoretical plan for society in the foreground, nor the mere preservation of identity through property and tradition. The demarcations of right-wing and left-wing, with which right-wingers and left-wingers define each other, do not touch the liberals. For there where individuality is promoted the most different people get together. A heavily rich person can here rely on his or her freedom just as a free-minded artist can, and together they define what liberalism is. There is tolerance known to people who relate to the concept of liberty, and in the best case they even have an out-group behavior for the civilized intercourse among enemies.

The currently highest-ranking criticizm against liberalism comes from the left-wing camp and refers to the so-called neoliberal tendency to grant entrepreneurs too many liberties in a way that globally leads to undemocratic economic monopolies, as well as monopolies of power and of capital. And beyond doubt you will actually find such egotistic entrepreneurs, who do not care for the famines in the world, among the liberals and other parties, for there has to be some place where such egoists are. But even under the term "neoliberal" there is a wider spectrum of varying opinions. Where, however, undemocratic tendencies in the world are concerned, there you will find voices out of the same liberal current expressing themselves, without being impressed by the distracting rhetorics of rightists or leftists. In this respect, a liberal party rather is like a micro-cosmos and a mirror of society, more so than other parties, because freedom nowhere comes out of fashion.

There also is an egalitarian approach of liberalism, one that is interested in having as few class differences as possible in the society, because we all are made the same and we are only able to really respect each other, when we communicate with each other from equal to equal, as far as possible, without violence and and without self-conceit. It is the situation then, which creates the roles in society, and not the institution. For this, a functioning educational system is necessary and an appreciation of the human and his or her individuality. Here, nobody may be marginalized for their being poor or their being rich. It is rather necessary that the diverse parts of the society can see each other and thus be able to serve each other as points of orientation, because both know that the other belongs to the whole, too. This can be an encouragement for the poor who wants to be like the rich, and it can lead to more consideration and solidarity from the rich to the poor. If, on the other hand, the parts cannot see each other, it will be at the expense of the whole. This is the philosophy of the open society. In it, people not necessarily are each others friends, but they know each other and can assess each other.

Likewise, egalitarian liberalism deals with groups and constellations other than the poor and the rich, like the individual religious groups and confessions. In order to politically understand the whole situation an overview of the spectrum of the respective group is needed. Only when the members of a group are known to each other in their diversity they can truly understand the liberty of the other and his or her circumstances, wishes and fears, and their "contentment structures", and thus they can do justice to the situation.

The basic value of egalitarian liberalism is the human right, in which freedom ranks highest. Egalitarian also means that all the states and peoples comply with the UN resolutions to the same extend. It is true that there are different phases through which civilizations develop, and the civilizations have to be measured by their inherent norms. And yet the avoidance of violence has priority in every place where violence is injuring freedom. A reform of the UN as a world police is thus to be supported. In the Afghanistan conflict right after September 11 nobody would have voted against concentrated UN police actions, appropriate to the aggressive initiative of al-Qaida, but civilian deads and damages to unconcerned people, triggered by an emotionalized state, are not tolerable.

The course of civilization shows us an increasing control of violence in the societies. Democratic rights (with their duties) were introduced in many places, the death penalty abolished in many countries, and some states by now even do without any military. Yet there is a counter-movement, one of initiative wars, of weapons of mass destruction, of oppression of minorities and of abstract bombs. This has nothing to do with liberty or with individualism.

The liberals today can show that there is no other party more enabled to take situations as their orientations, and not regulations, and develop a self-identity as a miniature of society. A party which, due to the internal openness for discussion and conflict management, is more creative, more energetic, and faster in finding the right decisions than parties which derive their profiles to a wide extend from comparing themselves with a competing party.


6. Der mündige Bürger
Anis Hamadeh, 14.01.2003

Unter dem Begriff „mündiger Bürger“ versteht man einen Menschen, der der Staats- und Gesellschaftsform der Demokratie durch seine Bildung und Disposition gewachsen ist. Die Demokratie setzt den mündigen Bürger voraus, den, der weiß, was er tut, wenn er an die Wahlurne geht, den, der informiert ist über die Gesellschaft, in der er lebt, und dessen Handelsmaxime bestenfalls zur Allgemeingültigkeit erhoben werden kann. Jemand, der Argumente abwägen kann und der sich als gleichberechtigter Teil seiner Umwelt sieht. „Mündig“ kommt von „Mund“, dieser Mensch spricht also verantwortlich und unabhängig für sich selbst. Er oder sie hat eine angemessen fundierte eigene Meinung, woimmer eine vonnöten ist, und wenn nicht, weiß er oder sie, wie man sich solch eine Meinung bildet. Je mündiger die Bürger, desto besser die Regierung und desto demokratischer die Verhältnisse.

Für eine längere Zeit ist der Begriff des „mündigen Bürgers“ nicht in Mode gewesen. Das liegt daran, dass er für die Presse und andere Gruppen moralisierend oder belehrend klingt. Immerhin befinden wir uns bekanntermaßen in einer Titanic-Gesellschaft mit Werbeunterbrechungen. Seit den 80ern, in denen das Privatfernsehen aufkam, ist der Anteil an Suggestivbotschaften durch Werbung um ein Vielfaches größer als zuvor schon. Die heutige Werbung ist durch technische Effekte geschickt in der Vermittlung von Stimmungen, und das setzt sich in anderen Kommunikationsformen fort, bis hinein in die Politik, die ebenfalls immer ästhetischere Verpackungen sucht, seien es Talkshows, schwammgriffige Formeln, Corporate Identities, Kleidung und ähnliches. Wer die Presse nach dem mündigen Bürger fragt, wird ausgelacht, und wer die Politiker fragt, bekommt eine nette Antwort, und wird erst ausgelacht, wenn man außer Hörweite ist. Mündiger Bürger? Mach dich doch nicht lächerlich! Wir sind einfach bloß alle Egoisten, das weißt du doch.

Fragen wir zunächst, ob unser System den mündigen Bürger überhaupt ausbildet. Kommt Ihnen das, was im ersten Absatz steht, aus der Familie bekannt vor? Nicht, aha. Aber doch wohl aus der Schule. Auch nicht? Nanu. Woher also sollen die Leute ihren eigenen Mund bekommen? Unser Schulsystem ist durch mehrere Jahrhunderte auf uns gekommen. Wenn auch die körperlichen Züchtigungen und die national-patriotische Erziehung nach 1945 daraus gewichen ist, so ist doch bekannt, dass es eine sehr schwierige Sache ist, Schul- und Hochschulcurricula den Zeiten anzupassen, weil niemand so genau weiß, in welchen Zeiten wir eigentlich leben. Aber selbst das, was man erwarten würde, den k r i t i s c h e n Bürger als Erziehungsresultat, wird nicht ausgebildet. Schon früh im Deutschunterricht lernt man zum Beispiel, dass der Schlussteil eines Aufsatzes für die eigene Meinung und Kritik vorgesehen ist, doch wird das meist so verstanden, dass man hier einen Platz findet, sich über das behandelte Thema zu stellen, nachdem man ihm so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, ganz so, wie die Lehrer (oder Eltern etc.) sich über diese Schüler stellen, nachdem sie ihnen ihre kostbare Aufmerksamkeit gegeben haben. „Mündig“ heißt dann: „Ich kann mich selbst durchsetzen.“ Diese Variante ist zwar eher für Dschungelgebiete geeignet als für Demokratien, sie lässt sich aber beobachten.

Um zu mündiger Bürgerschaft zu kommen, muss man sich entfalten können und seine Grenzen kennen lernen. Erst dann sind die Urteilskraft und die Reife gegeben, um wahrhaftig am demokratischen Prozess mitzuwirken. Dies aber wird den Schülern nicht beigebracht, sie lernen – unabhängig sogar vom Curriculum – ein zweifelhaftes Sozialverhalten, das durch Zwänge und Klassen charakterisiert ist und sich im Berufsleben fortsetzt. Im gesellschaftlichen Diskurs bedeutet die Anstrebung des mündigen Bürgertums die konfliktvertragende, die offene Gesellschaft, mit einer kritischen Kultur. Während Kritik in der letzten Zeit eher als die Kritik interpretiert wurde, die man übt, ist in mündiger Kritik die ebenso wichtig, der man sich stellt.

Gegen eine solche Kultur spricht der vorherrschende Egoismus und Ego-Zentrismus. Warum sollte ich mich einer Kritik stellen, wenn ich es nicht notwendig muss? Um weiterzukommen, ist die Antwort. Jeder Fehler, den ich in mir selbst erkannt und behoben habe, verbessert mich und die Welt. In unserer abstrakten Gesellschaft wird Kritik zu schnell als Angriff auf die Person gewertet, auch weil sie häufig ungeübt daherkommt. Das Argument hat oft aber auch nicht die Kraft, sich gegen andere Formen der Entscheidungsfindung durchzusetzen. Wir sind bestimmter Kritik gegenüber sensibel und wollen sie lieber nicht hören. Stattdessen verzichten wir auf Diskussionen z.B. über den mündigen Bürger und die offene Gesellschaft und sitzen wie blöd auf Tabus.

Das 21ste Jahrhundert wird nach den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts zu neuen und zeitgemäßen Gesellschaftsphilosophien finden. Im Demokratie-Diskurs geht es darum, die grundlegenden Werte wiederzufinden, Werte, die von keiner Regierung vorgeschrieben wurden, sondern die von mündigen Bürgern einer anderen Zeit stammen, in Leidenschaft formuliert und gegen starke Widerstände durch Ideen, Argumente und Wahlen durchgesetzt. Ein politisches System ist entstanden, das durch regelmäßige Wahlen und andere Errungenschaften dazu in der Lage ist, sich den Zeiten aus sich selbst heraus anzugleichen, ohne dabei die individuellen und gesellschaftlichen Werte, insbesondere den der Freiheit, korrumpieren zu müssen.



6. The Responsible Citizen
Anis Hamadeh, January 14, 2003

The concept "responsible citizen" ("muendiger Buerger") describes a person who lives up to the governmental and social form of democracy through his or her education and disposition. Democracy takes the responsible citizen for granted, the one who knows what he or she is doing when going to the voter's box, one who is informed about the society in which he or she lives, and whose maxim of behavior in the best case can be elevated to general validity. Someone who can measure arguments and who sees him- or herself as an equal part of their surroundings. German "muendig" is derived from "Mund", mouth, so this person talks responsibly and independently for him- or herself. They have an adequately well-founded own opinion wherever there is a need for one, and if not, they know how to establish such an opinion. The more responsible the citizens the better the government and the more democratic the conditions.

For a longer period of time the concept of the responsible citizen ("muendiger Buerger") has not been in fashion. This is due to the fact that it sounds moralizing and didactic to the press and to other groups. Consider that we are living in a Titanic society with commercial breaks. Since the 80s, when the private TV started, the amount of suggestive messages via commercials has increased by far. The commercials today can cleverly convey moods and atmospheres with technical effects. This continues in other forms of communication and also enters politics which is always looking for more aesthetic covers, too, be they talkshows, fuzzycatchy formulas, corporate identities, dress-codes etc.. Who asks the press about the responsible citizen will be made fun of and who asks the politicians will receive a friendly reply and only be made fun of when without hearing. Responsible citizen? Don't be ridiculous! We just all are egoists, and you really know that.

Let us first ask whether our system generates the responsible citizen, at all. Does that what you just read in the first paragraph, remind you of your own family? No? But of your school certainly. Neither? Interesting. So where from are people ought to have their own "mouth"? Our school system has come down to us through several centuries. Even if physical punishments and the nationalistic patriotic education has vanished from it after 1945, it is known that it is a very difficult thing to modify a school or highschool curriculum according to the times, because nobody exactly knows what kind of times we really live in. Yet even the minimum expectation we would have, the c r i t i c a l citizen as an educational result, is not given. Early in school, for instance, the students learn in the German class that the final part of an essay is a place for the own opinion and for criticizm, yet this mostly is understood in the way that here the student finds a place to look down on the subject after having granted it so much attention, just like the teachers (or parents etc.) look down on the students after having dedicated so much of their precious time to them. "Responsible" here means: "I can carry my points with others." This variation rather is suitable for jungle areas than for democracies, but they are detectable, as a matter of fact.

In order to reach citizen responsibility we must be able to unfold and to learn our limits. Only then the power for reason and the maturity are given to veraciously participate in the democratic process. Yet this is not what is conveyed to the students. They learn – independently even of the curriculum – a doubtful social behavior which is characterized by pressures and classes and which continues in job life. In the social discourse, the call for a responsible citizenship means the conflict-abiding open society, with a critical culture. Whereas criticizm in the time ago had rather been interpreted to be the criticizm that one utters, in responsible criticizm the one with which one confronts oneself ranks equal.

Contradicting such a culture is the prevailing egoism and ego-centeredness. Why should I confront myself with a criticizm if I don't necessarily have to? In order to develop, is the answer. Every mistake I recognized and corrected in myself, improves me and the world. In our abstract society, criticizm too readily is taken to be an attack on the person, also because it often comes along in an unpractised manner. Another problem is that the argument often does not have the power to succesfully compete with other forms of decision making. We have become sensitive towards certain criticizm and rather don't want to hear about it. Instead, we do without discussions about e.g. the responsible citizen and the open society and sit on taboos like stupid.

The 21st century will – after the experiences of the last century – find to new and contemporary philosophies about society. For the democracy discourse it is time to regain basic values, values which were not prescribed by any government, but made by responsible citizens in another time, formulated in passion and brought to victory against strong opposition by means of ideas, arguments, and elections. A political system has grown which is able to adjust itself to the realities of the times by regular elections and other achievments, without having to corrupt the individual and social values, especially the one of freedom, by these actions.


7. Über Geheimnisse
Anis Hamadeh, 15.01.2003

Wie steht es in der offenen Gesellschaft mit Geheimnissen, inwieweit sind sie gerechtfertigt? Wir wollen zum Beispiel keinen gläsernen Bürger, von dem alle Daten in irgendeiner Maschine gespeichert sind, und keinen Big Brother oder Überwachungsstaat. Normalerweise geht es niemanden etwas an, was ich habe oder tue, und mit wem ich es tue, wenn ich die Gesetze einhalte. Es gibt eine Privatsphäre, die nicht in die Öffentlichkeit gehört und es gibt legitime Betriebsgeheimnisse. Welche Grenzen werden da in der offenen Gesellschaft gezogen, und mit welchen Begründungen?

Das Wort „Geheimnis“ stammt von dem im 15ten Jahrhundert aufgekommenen Begriff „geheim“, der ursprünglich „zum Heim (Haus) gehörig“ bedeutete, mit der Assoziation von „vertraut“, wie sie im „Geheimrat“ zum Ausdruck kommt. Erst im 16ten Jahrhundert trat laut Duden die Bedeutung „heimlich“ hinzu, und es entstanden z.B. „Geheimbünde“, Gruppen, die im Verborgenen, im Nicht-Öffentlichen agieren. Solche Gruppen hat es zwar auch schon früher gegeben, doch spiegeln neue Begriffe Veränderungen im Kollektivbewusstsein wider. Es muss ein gesellschaftlicher Grund vorliegen, wenn Begriffe erweitert verwendet werden oder neue Begriffe im Volksmund erscheinen.

Unsere Gesellschaft ist Geheimnissen gegenüber gespalten: Auf der einen Seite hat man ein Recht darauf, aus seinen Lebensumständen ein Geheimnis zu machen. Wenn man über eine Sache nicht sprechen oder Fragen nicht beantworten möchte, dann muss man es im allgemeinen auch nicht. Es wird mit guten Begründungen für freiheitseinschränkend erachtet, wenn es nicht freiwillig und gern geschieht. Durch die Veröffentlichung von internen oder privaten Daten können zum Beispiel unberechtigt Gefühle verletzt oder unnötig Missverständnisse und Zwistigkeiten gefördert werden. Wirtschaftliche und private Nachteile können entstehen, die keine Berechtigung haben.

Auf der anderen Seite gibt es eine Pressefreiheit und einen legitimen Wunsch der Bürger und der Leute nach durchschaubaren Verhältnissen und auch nach einer lebendigen und unzensierten Öffentlichkeit, ist doch die Öffentlichkeit eine der wesentlichen Bestandteile unserer Demokratie. Offenheit ist ein plausibler Wert gegen die Geheimniskrämerei und das Verschweigen einer Sache gilt als Mangel an Wahrhaftigkeit.

Wenn wir die offene Gesellschaft mit dem offenen Kind vergleichen, mag dies für viele Bereiche passend sein, beim Geheimnis allerdings scheinen sich die Wege zu trennen, denn Kinder sind bekanntlich schlecht im Wahren von Geheimnissen. Wenn Eltern ihren Kindern erzählen, wieviel sie verdienen oder welche Probleme sie mit Leuten haben, dann kann es geschehen, dass die es an unpassender Stelle weitererzählen. Der Grund des Geheimnisses liegt dann vielleicht darin, dass man keinen Neid erregen möchte, oder dass man in einer unangenehmen Situation nicht gesehen werden möchte. Oder weil eine Handlung noch nicht abschlossen ist und durch verfrühte Bekanntmachung gestört werden kann. Um nicht zu Vermutungen einzuladen. Oder weil man in einem Entscheidungsprozess ist, in dem man allein bleiben möchte, bis man die Situation selbst verstanden hat. Natürlich gehört auch das schlechte Gewissen als möglicher Grund in diese Kategorie.

Das kultivierte Kind, der mündige Bürger also, braucht Maßstäbe für die Legitimität und Illegitimität von Geheimnissen, um seine Offenheit nicht preisgeben zu müssen und um gleichzeitig in der Lage zu sein, berechtigte Geheimnisse verstehen und damit wahren zu können. Zu jedem Geheimnis gehört eine Situation mit einer Handlung oder einem Zustand, mit Beteiligten und deren Beziehung zueinander, mit Faktoren, die zu der Geheimnissituation geführt haben und mit Folgen für die beiden Fälle der Wahrung und der Preisgabe des Geheimnisses. Aus diesen Elementen besteht die Situation und ihre Analyse führt zur richtigen Bewertung des Geheimnisses.

Der Idealzustand ist der, wo die Gesellschaft möglichst wenig Geheimnisse braucht, denn Geheimnisse trennen die Menschen voneinander, sie fördern Unsicherheiten und Verdacht, und sie binden Energien, die man anderswo einsetzen könnte. Es ist Arbeit, Geheimnisse zu wahren. Es erfordert Aufmerksamkeit und Kontrolle, Dinge, die zum Leben dazu gehören, die aber oft übertrieben werden und eine Eigendynamik bekommen. Insgesamt gibt es in der heutigen Demokratie tendenziell wenig wirklich notwendige Geheimnnisse. Eine angemessene Gesellschaftspolitik ist so angelegt, dass ein möglichst großer öffentlicher Bereich entsteht, an der sich die Gesellschaft orientieren und ausdifferenzieren kann. Ein Bereich allerdings, der nicht gegen die Rechte des Privaten gerichtet ist, sondern der das Private bereichert, der aus dem Leben Konfliktbewältigungsstrategien entwickelt und der die gesellschaftlichen Bindungen und Energien verstärkt. Dass wir in einer solchen Entwicklung sind, beweisen die neuen schnellen Medien und Kommunikationsformen, die immer öfter auch Länder- und sogar Kulturschranken überwinden. Der Begriff der Öffentlichkeit erweitert sich und neben der Frontal-Öffentlichkeit durch Fernsehen, Zeitung und Radio, tritt die (internationale) Basis-Öffentlichkeit durch das Internet. Um diesen neuen Zeiten zu begegnen ist es angebracht, über Begriffe, die mit demokratischer Öffentlichkeit zu tun haben, wie das „Geheimnis“, neu nachzudenken.


7. On Secrets
Anis Hamadeh, January 15, 2003

What does the open society say about secrets, in how far are they justified? We do not want, for example, the glass transparent citizen whose data all are saved in some machine, and we do not want a Big Brother or controlling state. Normally, it is nobody's business what I have, what I do, and with whom I do it, as long as I respect the laws. There is a private sphere that does not belong into the public and there are legitimate operational secrets. Where are the borders drawn in the open society, and for what reasons?

Let us start with the etymology of the German concept for "secret", "Geheimnis". This word is derived from the adjective "geheim" which is extant since the 15th century and originally means "belonging to the home", with the association of "familiar", as expressed in the title "Geheimrat" (privy councillor). According to the dictionary Duden, it was only in the 16th century that the meaning of "concealed, esoteric, secret" joined in, and we find e.g. "Geheimbuende" (secret societies) in this time, groups which acted secretly, in the nonpublic domain. Such groups had existed before, but newly introduced concepts always mirror changes of the collective consciousness. There must be a social reason, when concepts are augmented or when new concepts appear in common language.

Our society is divided concerning secrets: on the one hand one has a right to make a secret out of the circumstances of one's life. When we don't want to talk about an issue or don't want to answer questions, then normally we don't have to. There are some good reasons for calling it a limitation of freedom, if it is not done voluntarily and with a good feeling. By way of the publication of internal and private data, for example, there is a possibility that feelings are hurt without a right or that misunderstandings or arguments are promoted without necessity. Economic and private disadvantages may generate which have no justification.

On the other hand there is the freedom of the press and a legitimate wish of the citizens for transparent conditions and for a vivid and uncensored public, for the public is one of the major constituents of our democracy. Openness is a plausible value against secrecy and it is regarded a lack of veracity if people pass over things in silence.

If we compare the open society with the open child, then this may be adequate for many domains. Concerning the secret, however, the parallels seem to be at an end, as we know that children are bad in keeping secrets. When parents tell their children how much they earn or what problems they have with people, it may happen that the children tell it to others in a wrong way. Maybe the reason of the secret is to avoid envy or the wish to not be seen in a certain uncomfortable situation. Or because a process has not been accomplished yet and could be disturbed by a communication that is too early. To prevent suspicions. Or because one is in a process of decision making wishing to be alone, until the situation has become clear to oneself first. Of course, the bad conscience also belongs to the possible reasons of this category.

The cultivated child, i.e. the responsible citizen, needs measures for the legitimacy and illegitimacy of secrets in order to not currupt his or her openness and, at the same time, to be in the position of understanding justified secrets and thus of keeping them. To each secret belongs a situation with an action or a state, with participants and their internal relations, with factors that had led to the secret situation, and with effects for both cases the keeping and the breaking of the secret. These elements constitute the situation and its analysis leads to the proper evaluation of the secret.

The ideal condition is reached when the society needs only few secrets, for secrets separate people and promote uncertainties and suspicion, and they consume energy which could be used elsewhere. It is work to keep a secret. It needs attention and control, things that surely belong to life, but often are exaggerated and self-propelling. All in all, in today's democracy we have only few really necessary secrets. An adequate social policy favors a public sector which is as large as possible, so that the society can take it as a point of reference and orientation to find fitting shapes and a pluralistic collective identity. This public sector is not meant to be directed against the rights of privacy, but to enrich the private sphere and develop strategies of conflict mastering out of life, and to strengthen the social ties and energies. We are in such a development and the new fast media and forms of communication, which more and more cross geographic and even cultural boundaries, are proving this. The concept of the public is augmenting and now includes an (international) root public ("Basis-Oeffentlichkeit") with the internet, next to the frontal public of TV, newspaper, and radio. To approach this new time it is in order to take a look at the concepts connected to the democratic public, like "secret", and to newly assess and evaluate them.


8. Fraktale Politik
Anis Hamadeh, 15.01.2003

Ein Fraktal ist ein selbstähnliches zwei- oder dreidimensionales Gebilde, eine Struktur, die sich selbst im Kleinen und im Großen abbildet und beinhaltet. Bekannt sind Fraktale aus der Physik bzw. aus der Natur. Das bekannteste Fraktal ist das so genannte Apfelmännchen (siehe Bild rechts). Diese Formen haben eine besondere Wirkung auf das menschliche Bewusstsein, da sie Verbindungen zwischen dem unendlich Kleinen und dem unendlich Großen aufzeigen. Sie haben eine Harmonie und eine aus ihrer puren Existenz geborene Konsequenz an sich, sie haben bei all ihrer Individualität (was ist individueller als ein Fraktal?) etwas Zwingendes und Zwangsläufiges.

Dadurch erscheinen sie makellos und perfekt, und dabei doch unbegreiflich, weil uns sowohl der mikroskopische als auch der makroskopische Blick auf die Gesamtheit des Fraktals wegen unserer eigenen Begrenztheit nicht möglich ist. Von einem solch faszinierenden Phänomen ist anzunehmen, dass es über seine Domäne hinaus Anlass zur Philosophie gibt und die Grenze zu den Geisteswissenschaften überschreitet. Ich weiß nicht, inwiefern der Begriff des Fraktals früher bereits übernommen und untersucht wurde, jedoch genügt es hier, auf Immanuel Kants Motto zu verweisen, nach dem die Maxime des Handelns die sei, die zur Allgemeingültigkeit erhoben werden kann und dann immer noch gut ist. Dass sich also die Handlungen aus dem Mikrokosmos des eigenen Agierens mit den Handlungen aus dem Makrokosmos des öffentlichen Lebens hinsichtlich ihrer Form und Struktur decken. Wie bei einem Fraktal. Deshalb nenne ich solches Denken „fraktales Denken“ und vermute darin eine ähnliche Perfektion wie in den Apfelmännchen: ein in sich stimmiges Denken als philosophisches Ideal. Ob die Menschen ein solches stimmiges Denken angesichts ihrer eigenen Unvollkommenheit tatsächlich verwirklichen können, ist eine andere Frage, eine, vor der Herr Kant aus Königsberg jedenfalls nicht kapituliert hat. Fragen wir uns also nicht ob, sondern wo und wie fraktales Denken auf die Politik übertragbar ist.

In der Politik geht es um Situationen und Gruppen, unter denen die Welt ständig neu verhandelt wird. Die RepräsentantInnen der Gruppen verwalten diesen Prozess und treffen Entscheidungen bzw. führen solche repräsentativ aus und wahren sie. Kants fraktales Motto steht hier keineswegs fehl am Platz, denn die PolitikerInnen brauchen aufgrund ihrer vielen Entscheidungssituationen eine Handlungsroutine, und die können sie nur aufrecht erhalten, wenn ihre Entscheidungen im Kleinen sich an den selben Werten orientieren wie in der großen Politik. Ja, es scheint sogar schwierig zu sein, eine Politik überhaupt anders als durch fraktale Argumente zu legitimieren. Wie sollte man denn Gesetze machen können, wenn z.B. die Handlungen von einzelnen grundsätzlich von Gruppenhandlungen verschieden und verschieden zu bewerten wären?

Fraktale Politik ist situationsbezogene Politik, sie abstrahiert von Variablen und betrachtet nur die Situation mit ihren einzelnen Faktoren, wobei definiert sein muss, was eine Situation ist, welche Arten es gibt und welche Prioritäten gesetzt werden. Nehmen wir ein politisches Prinzip als Beispiel, um ein solches Denken zu illustrieren, nämlich das, dass Probleme vor Ort gelöst werden sollten. Gibt es Ärger in der Gemeinde, soll sich die Gemeinde darum kümmern, und gibt es Probleme im Land, soll sich das Land darum kümmern. Dies ist ein fraktales Prinzip, es ist unabhängig von Einzelfall-Koordinaten und dient dem Zweck der Vereinfachung.

Angesichts des Reformstaus fragen sich viele, wie sich die Bürokratie in Deutschland tatsächlich vereinfachen lässt, was man denn ganz praktisch tun kann. Bei einem so komplexen und historisch gewachsenen Geflecht von Reglementierungen kann man nicht einfach mit der Machete alles niederreißen und neu aufbauen. Vielmehr gilt es, konstruktive Prinzipien wie das obige, die auf Vereinfachung zielen, fraktal anzuwenden, wo sie sich im Kleinen bewähren. Viele kleine mögliche Vereinfachungen der Bürokratie sind bekannt, werden aber vielleicht deshalb nicht angegangen, weil sie hilflos wie ein Tropfen auf den heißen Stein erscheinen würden. Vergessen wird dabei der Aspekt des kreativen und ermutigenden Versuchs und der Schaffung von angemessenen Strukturen. Vereinfachen kann keine Gesellschaft, die grübelt und Konsensurteile fällt, sondern eine, die sich im Vereinfachen übt. Die kleine Entbürokratisierungen und Konkretisierungen vornimmt, sie den Leuten zeigt und sagt: Hier, das ist eine kleine Vereinfachung, das ist die Richtung, die wir meinen.

Abgesehen von den diversen Lobbys, die es gewohnt sind, sich gegen andere durchzusetzen und in diesem Prozess Politik zu verursachen, ist die Hauptsorge bei der gesellschaftlichen Vereinfachung, dass Arbeitsplätze zusammengestrichen werden. Hier sind sicherlich zwei Situationen, die zusammengehören und daher zusammen betrachtet werden müssen, so weit diese Furcht wirklich berechtigt ist. Wenn unsere Gesellschaft durch Rationalisierungen faktisch weniger Arbeitskräfte braucht, können auch hier durch kleine, gesamtgesellschaftlich positive Veränderungen Muster vorgegeben werden, etwa durch Neubewertungen der Konzepte „Arbeit“, „Freizeit“, „Konsum“ und „Unabhängigkeit“, durch Projekte wie „Aussteigerdörfer“ oder durch verstärkte Halbtagsstellen in Positionen des mittleren Einkommens, z.B. in freizeitorientierten Branchen. Es sind nicht die Ideen, die in diesem Land fehlen, es ist der Mut. Die Bereitschaft für größere Veränderungen entsteht durch die Übung – mit der Voraussetzung, dass man auf das Wunschbild hin übt, nicht auf das Angstbild. Denn wer mutlos und pessimistisch ist, sieht vor dem geistigen Auge kein harmonisches Fraktal, dem man sich annähern und das man lernend verstehen und anwenden kann, sondern nur Unordnung und Chaos.


8. Fractal Politics
Anis Hamadeh, January 15, 2003

A fractal is a self-similar two- or three-dimensional entity, a structure that maps itself in the small and in the big. Fractals are known from physics, or from nature, respectively. The most known fractal is the "apple man" (? Apfelmaennchen, see picture on the right). These forms have a peculiar effect on human consciousness, for they show connexions between the infinite small and the infinite big. They have a certain harmony and consequence to themselves, born out of their mere existance. And despite their individuality (what is more individual than a fractal?) they have an enforced and necessary quality about them.

That makes them appear spotless and perfect, while still remaining unconceivable, because we are unable to view the entirety of the fractal both on the micro-level and on the macro-level, due to our own limitations. It can be expected from such a fascinating phenomenon that it will provide cause for philosophy beyond its original domain and that it crosses the border and enters the humanities. I don't know in how far the concept of the fractal had been taken over and investigated before, but it suffices here to refer to Immanuel Kant's Motto that the maxim of action be one that can be elevated to general validity and still be good. Meaning that the actions from the micro-cosmos of the own behavior congrue with the actions from the macro-cosmos of public life in respect to their form and structure. Like in a fractal. Therefore I call such a thinking "fractal thinking" and assume a similar perfection in it as in the apple men: a consistent thought as a philosophical ideal. Whether or not the humans factually can realize such a thinking in view of their own imperfection is another question, one, however, that did not deter Herr Kant in Koenigsberg at all. So let us not ask if, but where and how fractal thinking is applicable to politics.

In politics we deal with situations and groups among which the world is continuously negotiated. The representatives of the groups run this process and make decisions or representatively carry them out and maintain them. Kant's fractal motto by no means is at the wrong place here, for the politicians, due to the many decision situations they experience, need an action routine and can only keep one, if their decisions in the small have the same reference values as in big politics. Yes, it even seems to be difficult to legitimate a policy through other than fractal arguments, at all. How should we be able to create laws, if e.g. the behavior of individuals was principally different from group behavior and differently to evaluate?

Fractal politics is situation-related politics, it abstracts from the varying factors and only regards the situation with its constituents. This takes for granted a definition about what a situation is, what kinds of situations there are, and which aspects have priority. Let us take a political principle as an example to illustrate such a thinking, namely the one that problems are to be solved on the spot. If there is trouble in the municipality, then the municipality is to take care of it, and if there is a problem in the country, then the country is to take care of it. This is a fractal principle, it is independent of single case coordinates and serves the aim of simplification.

In view of the reform jams, many people ask themselves how in actual fact the German bureaucracy can be simplified, and what we practically can do. There is no way to simply demolish such a complex and historically grown structure of reglementations with a machete and to rebuild it. Rather, the task is to fractally apply constructive principles which aim at simplification, like the one mentioned above, wherever they hold good in the small. Many small possible changes in bureaucracy are known, but not practised, maybe because they would look helpless like a drop of water on a hot stone. Such an attitude, however, neglects the aspect of the creative and encouraging attempt and the one of the creation of adequate structures. Not the society that broods and that makes consensus decisions will simplify anything, but the one that practises simplification. The one that employs small deregulations and concretizations, shows it to the people, and says: look, this here is a small simplification, this is the direction that we mean.

Apart from the diverse lobbys which habitually carry their points with others and in this process cause politics, the main fear about social simplification is that it can mean job cuts. Here surely are two situations that belong together and therefore have to be dealt with together as far as this fear is really justified. If our society factually needs less workers, because of rationalizations, then here also small and holistic social patterns can be projected to bring about positive change, e.g. by reevaluations of the concepts "work", "spare time", "consume", and "independence", or by projects like "villages for alternative living" or by promoting half jobs in positions of middle income, e.g. in the entertainment and spare time sectors. It is not the ideas that this country lacks, but the courage. The readiness for bigger changes comes about by practise – under the presupposition that we practise into the direction of our wishes, not the one of our fears. For people who are discouraged and pessimistic, do not see a harmonic fractal, which can be approached, learnt, understood and applied, before the inner eye, but only disorder and chaos.


9. Der Wert des Neuen
Anis Hamadeh, 17.01.2003

Wenn man davon ausgeht, das die Bezeichnungen „links“ und „rechts“ in der heutigen Politik nicht mehr wirklich mit Inhalten gefüllt sind, sondern sich eher auf traditionelle Lager beziehen, die auf einer Skala eingetragen sind, dann stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien man die Parteien und die politischen Richtungen und Meinungen denn sonst einordnen soll, um sich über sie unterhalten zu können. Man könnte – wie in einem früheren Blatt vorgeschlagen – zwischen denen unterscheiden, die mit Gefühlen umgehen können und denen, die es nicht können. Auf einer Skala zwischen egoistisch und egalitär bis mitfühlend. Ein weiteres sinnvolles Kriterium ist die Einstellung gegenüber Gewalt, von pazifistisch über relativ gewaltfrei und autoritär bis militaristisch.

An irgendetwas muss man die Meinungen ja festmachen können, um sie zu vergleichen und zu bewerten, und dazu gehört auch die Einstellung gegenüber dem Neuen. Man kann heute beispielsweise nicht sagen, dass die „konservative“ CDU dem Neuen grundsätzlich skeptisch gegenübersteht und sich immer auf alte Traditionen beruft. Einer der höchsten Würdenträger dieser Partei, Herr Professor Roman Herzog, hat immerhin den legendären „Ruck“ erfunden und kämpft bis heute tapfer für dieses Neue. Auch bei der Diskussion im Bundestag über die Rockmusik zeigte sich eine erstaunliche Aufgeschlossenheit gerade aus dem werte-konservativ genannten Spektrum. Eine solche Akzeptanz des Neuen bildet eine Partei für sich und ist an keine Fraktion gebunden.

Ist aber das Neue überhaupt wert, ein Wert zu sein? Da gibt es Leute, die verweisen auf das Sprichwort: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, und jemand hat es sogar in alle Sprachen übersetzt (auf arabisch: „La jadiida tahta sh-shams“), damit keine Zweifel daran offen bleiben, dass das Neue ein alter Hut ist. Verschafft man sich einen Überblick über das Schrifttum der Welt, mag man nichts mehr schreiben. Besonders in der Philosophie. Bevor man das alles rezipiert hat, hat man schon genug von der Sache und wendet sich anderem zu. Alles hats schon mal gegeben und wird zum Abklatsch, zur Mode oder zum Fragment. Ich glaube, diese Einstellung gab es bereits in der Antike.

Genützt hat es nichts. Es hat immer wieder Neues gegeben, und die Frage nach dem Neuen war stets aktuell und gesellschaftsverändernd. Präzise gesagt gibt es sogar tendenziell immer mehr Neues, weil es neue Medien gibt und mehr Stimmen, die sich öffentlich äußern. Es gibt heute überaus viel mehr Wissenschaftler und selbst Künstler auf der Welt als je zuvor, und sie alle beschäftigen sich per definitionem mit Neuem.

Mit dem „Neuen“ verhält es sich genau wie mit dem „anderen“, beide sind zunächst einmal dadurch definiert, dass sie zuvor unbekannt waren und jetzt ins Bewusstsein treten. „Überraschung“ ist ein ähnlicher Begriff, manche mögen es prinzipiell, manche prinzipiell nicht. „Veränderung“ ist auch so ein Wort, und „Kreativität“ und „Glaube“ im Grunde auch. Begriffe, die per se keine Bewertung zulassen. Woher soll ich wissen, ob ein neues Musikstück gut ist, bevor ich es höre, oder ob jemandes Glaube akzeptabel ist, welche „Veränderung“, „Kreativität“ etc. gemeint ist und was sich hinter all diesem Neuen verbirgt?

Das Neue ist insofern kein Wert an sich, sondern eine potenzielle Botschaft, die zu entschlüsseln ich nur in der Lage bin, wenn ich erstens die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mitbringe, ich mich also auf dieses Neue einlasse und wenn ich zweitens ein vorhandes Set von Werten vorweisen kann, an dem ich meine Beurteilung ausrichte und vornehme. Die erfolgreiche Konfrontation mit dem Neuen setzt also Werte voraus. Und bei den Leuten, die sich vor diesen Voraussetzungen sträuben, findet man das Es-gibt-nichts-Neues-Argument als bloße Ausrede. So können sich oft auch die guten und nützlichen unter den neuen Dingen erst dann durchsetzen, wenn ein paar hunderttausend andere Leute darüber geredet und geschrieben haben. Und das dauert.

Wenn ein Amerikaner im Fernsehen einen Film sieht, der fünf Jahre alt ist, dann schaltet er meist weiter. In Deutschland ist das irgendwie anders. Wir sind es gewohnt, dass Dinge erst einmal woanders passieren, bevor sie uns in abgeschwächter Form erreichen. Die Amerikaner sind dem Neuen gegenüber aufgeschlossener als die Deutschen, denn anders könnten sie keine Moden kreieren und keine nach vorn gerichteten Tendenzen fördern. Man mag darüber streiten, was „nach vorn“ heißen soll (und das scheint gerade mit den US-Amerikanern sinnvoll zu sein), ein wesentliches Charakteristikum für den kulturellen Erfolg der USA im vorigen Jahrhundert jedenfalls war seine Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neuen. Die Amerikaner waren seit den Tagen der Mayflower immer auf der Suche. Auf der Suche nach sich selbst, so wie jedes Land und jede Gruppe. Wir bauen Computer, um unser Gehirn zu verstehen, und wir entwickeln Kulturen, um unsere Identität zu verstehen.

Wer auf der Suche ist, der will das Neue... sehen! Er will es prüfen, um es dann anzunehmen oder nicht. Jede Annahme bedeutet auch eine eigene Veränderung, denn man lässt etwas in sich hinein, dem man ein Stück weit vertrauen muss und das man nicht oder nicht sofort ganz verstehen und kontrollieren kann. Der Suchende sehnt sich nach solchen Bereicherungen, denn wir verändern uns sowieso ständig: „Niemand durchquert zweimal den selben Fluss“, denn beim nächsten Mal ist anderes Wasser im Fluss, und man selbst hat sich auch verändert. Das Neue ist also allgegenwärtig und frisch wie ein Brot aus dem Ofen.


9. The Value of the New
Anis Hamadeh, January 17, 2003

If we suppose that the labels "right-wing" and "left-wing" are not really filled with much content anymore in politics today, but rather are referring to traditional camps, registered on a scale, then the question appears which the criteria are according to which one should judge upon parties and political directions and opinions, in order to be able to talk about them at all. One could – as proposed in an earlier page – differentiate between those who can deal with feelings and those who cannot. On a scale between egotistic and egalitarian to compassionate. Another meaningful criterion is the attitude towards war, ranging from pacifist over relatively nonviolent and authoritarian up to militaristic.

There are bound to be measures with which opinions can be assessed, in order to compare them and to judge them, and one of these also is the attitude towards the new. Today, you cannot say e.g. that the "conservative" party CDU would principally be sceptical about the new and that it would always cling to old traditions: it was one of the most renowned personalities of this party, Professor Roman Herzog, who invented the famous "jolt" ("Ruck") which is supposed to go through Germany, and he has bravely been fighting for this new thing until today. In the parliamentary discussion about rock music, too, a suprising acceptance showed especially from the so-called value conservative spectrum. Such an acceptance of the new builds up a party in its own right, independent of the parliamentary parties.

But is the new worth to be a value, at all? There are people who refer to the saying: "There is nothing new under the sun", and somebody has even translated it into all the languages (in Arabic: "La jadiida tahta sh-shams"), so that there won't be any doubt about that the new is an old bonnet. If you get yourself an overview of the history of human scripts and writings you can easily be deterred of writing something yourself. Especially in philosophy. Before you have seen all those books you already have enough of the whole thing and turn to do something else. Everything has been there before and becomes a mere copy, a fashion, or a fragment. I think this attitude has existed even in antiquity.

But it was no use. There has always been the new, and the issue of news has steadily been topical and changing the society. Actually, we have a tendency towards the growth of news, because we have new media and more voices to talk in public. Today we have much more scientists and even artists in the world than ever before, and they all by definition deal with the new.

With the "new" it is like with the "other", both are in the first place defined by the fact that they have been unknown before and now reach the consciousness. "Surprise" is a similar concept, some principally like it, some principally don't. "Change" is another of these words, and "creativity" and "faith", basically also. Concepts which per se don't give room for evaluations. How can I know whether a new piece of music is good before I hear it? And how can I know whether somebody's faith is acceptable, what "change", "creativity" etc. is referred to and what is behind all this new?

In this respect the new is not a value as such, but a potential message which I will only be able to decipher if I firstly have the readiness to confront myself and join this new, and if I secondly have an existing set of values at my disposal for measuring and finding my assessments and judgements. Thus the successful confrontation with the new takes earlier values as presuppositions. And in those people who are inhibited towards those presuppositions we find the argument of "nothing new under the sun" as an excuse. Thus the good and useful bits of the new often are only successful when some hundreds of thousands of other people have talked and written about them. And that takes time.

When an American watches a movie on TV which is five years old, they mostly zap to another channel. In Germany, this is somewhat different. We are used to having things happen elsewhere first, before they reach us in a mild version. The Americans are more promotive of the new than the Germans, otherwise they could not create all those fashions or support progressive tendencies. There may be an argument about what "progressive" means (an argument which seems to make sense especially with the Americans), yet one of the major characteristics of the cultural success of the USA in the past century was its readiness for the new. The Americans since the days of the Mayflower have always been searching. Searching for themselves, like every country or group. We build computers to understand our brains and we develop cultures and civilizations to understand our identities.

The one who is searching wants the new, wants to see the new! Wants to test it to further adopt it or not. Every acceptance also means a change within, because we let something enter our systems, having to trust it to some extend, and not – or not instantly – being able to understand and control it. The one who searches is longing for such enrichments, because we change constantly, anyway: "Nobody crosses the same river twice", for next time there will be other water in the river, and one has changed oneself, too. So the new is omnipresent and fresh like a bread out of the oven.


10. Über Politikverdrossenheit
Anis Hamadeh, 17.01.2003

Seit einigen Jahren oder Jahrzehnten spricht man in Deutschland über die „Politikverdrossenheit“ der Bevölkerung. Dieses Phänomen, da sind sich Presse und Politiker einig, zieht sich durch verschiedene Altersgruppen und soziale Schichten und kommt vor allem bei jungen Menschen gut an. Man könne niemandem trauen und glauben, ist die häufigste Begründung für diese Verdrossenheit, „Das bringt sowieso alles nichts“ die zweithäufigste. Allerdings ist „Politik“ ein abstrakter Begriff. Manche verstehen darunter eher die Verteilung von Geldern und Posten, andere sehen darin ein Parteiengerangel, noch andere den Wettbewerb und die Umsetzung von Ideen. Was ist das für eine Verdrossenheit und worauf bezieht sie sich?

Dass die Deutschen ein Volk von Unzufriedenen sind, ist bekannt, und darüber zu schreiben, provoziert kaum. Verdrossenheit steht auf der deutschen Tagesordnung, ist gewissermaßen normal. Und es betrifft nicht einmal Deutschland allein, sondern ist ein Phänomen der Zeit. So tief ins Mark reicht es, dass man es eine Bindungsverdrossenheit, eine Meinungs- und Konfliktverdrossenheit, ja eine Identitätsverdrossenheit nennen kann. Auf dieser erdnahen Ebene bewegt sich diese Stimmung, und von hier aus gelangt sie in die Politik.

Die hier vertretene These lautet, dass die Wurzel der allgemeinen Verdrossenheit eine negative Grundeinstellung gegenüber I d e n t i t ä t e n ist. Der bloßen Identität einer Person oder Gruppe oder sonstigem wird routinemäßig misstraut. Wie die Xenophobie, die grundsätzliche Ablehnung des anderen, gibt es in der Gesellschaft auch eine Ablehnung des Eigenen, des Individuellen. Latent wird der Identität vorgeworfen, dass sie gegen andere Identitäten gerichtet ist. Das ist die Kehrseite der Konsensgesellschaft.

Zum Teil ist ein solches Denken durch unser Regierungssystem bereits vorgegeben. Unser parlamentarisches System basiert unter anderem auf einer Rollenverteilung von Regierung und Opposition. Die einen regieren, die anderen reagieren, kontrollieren, bringen Alternativen und... sind dagegen. Diese Rollenvorgabe aus dem Zentrum des öffentlichen Lebens setzt sich in der Presse und in vielen anderen Gruppen fort. Der Regierungs-Oppositions-Gedanke strukturiert unser Denken. Dies hat durchaus eine Berechtigung, denn die Regierungsformen, die wir früher hatten, taugten nicht viel. Die Gefahr eines solchen Rollendenkens ist jedoch, Identitäten nicht an den Eigenkriterien zu messen, sondern an ihren Beziehungen zu anderen Identitäten. So wird z.B. ein Pro-Palästinenser schnell als Anti-Israeli oder gar Antisemit eingeschätzt, als würde „palästinensisch“ sich einzig über etwas außerhalb der eigenen Identität Liegendes definieren.

Unsere Gesellschaft ist eine Wettbewerbs- und Konkurrenzgesellschaft. Auch das ist, genau wie bei Regierung/Opposition, gesund und normal, solange dadurch die Identitäten nicht verzerrt werden. Sonst gäbe es keine Anbieter mehr, sondern nur noch Rivalen, die sich gegenseitig fixieren und ihre Identitäten daraus schöpfen. Sie interessieren sich dann weniger für die Ware oder das Gut, sondern für die Rivalität und den Rivalen. Auch bei den politischen Parteien ist es so: In der einen Partei vermutet man automatisch den Gegner der anderen Partei. Einen potenziellen Konfliktherd vermutet man in einer Partei, allein aufgrund der Tatsache, dass es auch noch andere Parteien gibt. Eine Sache, die sich bewusst von anderen a b g r e n z t. So sieht man auf die Grenzen der Sache, und nicht auf die Sache selbst.

Sei es eine politische Partei, eine ethnische Gruppe, eine Religion oder eine philosophische Richtung, wer sich zu einer Identität bekennt, der hat in unseren Zeiten das nagende Gefühl, sich damit g e g e n etwas zu entscheiden. Aha, du bist in der Partei X, also bist du definiert gegen die Partei Y etc. Hier beginnt die Politik- und Meinungsverdrossenheit. Man möchte Konflikte vermeiden, und je ausgeprägter eine Identität ist, desto mehr erscheint sie als gegen etwas anderes gerichtet und damit konfliktanfällig. Deshalb sagen die Leute auch „beneidenswert“ anstatt „bewundernswert“, weil Identitäten bei uns eine negative Konnotation haben. Folge dieser Entwicklungen ist nicht nur die Verdrossenheit, sondern auch die Vorherrschaft repressiver Gruppen, wie wir es aus vordemokratischen Zeiten und aus Dschungelgebieten kennen.

Auch das durch Profitmaximierung geprägte Verhalten in der Wirtschaft bekommt in einem solchen Klima eine unangemessen große Rolle. Wer nämlich für eine bestimmte Firma arbeitet, wird deshalb nicht gleich der Antihaltung verdächtigt. Man ist ja sozusagen g e z w u n g e n, irgendwo zu arbeiten. Anders ausgedrückt: Man braucht sich nicht mit der Arbeitsstelle zu identifizieren und kann sie entsprechend als identitäts- und bedeutungsfrei ansehen. Es handelt sich insofern nicht um die freie Wahl von Orientierungen oder Zugehörigkeiten, die als potenziell „oppositär“ missverstanden werden könnten. Hier hat die Identität nichts mit Verantwortung zu tun.

Ein anderes Identitätsverständnis kann man ansatzweise in der Kunst, im Sport (ohne den Karrierismus und den Hooliganismus) und in der Unterhaltungsbranche erkennen. Aus der Sicht eines Publikums (oder Marktes s.o.) werden Identitäten nicht so dringlich durch Vergleiche und Abgrenzungen bestimmt und eher durch die Eigentümlichkeit und Individualität. Die Strukturen für Neubewertungen der Identitätsfrage sind also gesellschaftlich bereits vorhanden. Dinge ohne Identitäten nämlich mag auch niemand. Das ist das Dilemma der Identitäten: Auf der einen Seite gelten sie als negativer und verdächtiger Wert, auf der anderen Seite werden Individualität und Eigenidentität im öffentlichen Diskurs als wichtig und erstrebenswert erachtet. In diesem Tabu nistet die Identitätsverdrossenheit und die ist die Mutter der Politikverdrossenheit.


10. On the Sulkiness About Politics
Anis Hamadeh, January 17, 2003

For a number of years or decades Germany has been talking about the sulkiness about politics ("Politikverdrossenheit") in the population. This phenomenon, as is agreed upon among both the press and the politicians, concerns different age groups and social classes and especially is attracting the youth. Nobody can be trusted and believed, is the most common reason given to explain this sulkiness, "It is all no use, anyway" is the reason ranking at the second place. Yet, "politics" is an abstract concept. Some people take it to rather mean the distribution of money or of posts, others view it as the wrestling between parties, even others as a competition and realization of ideas. What kind of sulkiness is this and what does it refer to?

That the Germans are a people of unsatisfied persons is known and it hardly provokes to write about it. Sulkiness is an everyday occurrence in Germany, it is, in a way, normal. And it does not even concern Germany alone, but is a phenomenon of the times. It cuts to the quick so much that one can call it a sulkiness about social ties, about opinions and conflicts, yes about identities. On this down-to-earth level this mood is situated, and from here it enters politics.

The thesis of the article at hand is that the basis of the general sulkiness is a fundamentally negative attitude towards i d e n t i t i e s. There is a routine suspicion against the mere identity of a person or a group or other things. Similar to xenophobia, the principal rejection of the other, we also find in society a rejection of the peculiar and the individual. Latently, identities are blamed for being against other identities. This is the back side of the consent society.

Partly, the biase of this thinking can be derived from our governmental system. Our parliamentary system bases, among other things, on the distribution of the roles of government and opposition. The first group governs, the other group reacts, controls, brings in alternatives, and... is against. This set of roles right in the center of public life continues in the press and in many other groups. The dichotomy of government/opposition structures our thought. This is not without reason, for the governmental forms we experienced in earlier times did not do very well. Yet the danger of such a distinctive role thinking is that identities are not measured according to their inherent criteria, but according to their relationships to other identities. In this way, e.g. a pro-Palestinian quickly is regarded to be an anti-Israeli or even an anti-Semite, as if "Palestinian" would solely be defined by something outside and beyond the own identity.

Our society is a society of competition. This, too, as with government/opposition, is sane and normal as long as the identities are not distortet. Otherwise we would not have any offerers and suppliers anymore, but only rivals fixing each other and deriving their identities from this action. They will not be too much interested in wares and goods, but in rivalry and in the rival. This holds true also for the political parties: in a party we automatically suspect the opponent of another party. A potential source of conflicts is what we suspect in a party, simply because of the fact that there are other parties around. Something that consciously d e m a r c a t e s from others. Thus the focus is on the borders of a thing and not on the thing itself.

Be it a political party, an ethnic group, a religion, or a philosophical current, whoever takes side for an identity, in our times has the nagging feeling of having decided a g a i n s t something. Ah, you belong to the party x, so you are defined against the party y etc.. Here starts the sulkiness about politics and about opinions. We want to avoid conflicts, and the more distinct an identity is the more it appears to be directed against something and therefore to be conflict-prone. Identities have a negative connotation. Result of this development is not only the sulkiness, but also the hegemony of repressive groups, as we know them from pre-democratic history and from jungle areas.

The behavior of economy, too, which is marked by its principle of profit maximization, in such a climate gains an unadequately big role. For those who work in a company are not instantly suspected of employing an anti-attitude. One, so to speak, is f o r c e d to work somewhere. In other words: one does not have to identify with the working place and can accordingly regard it as free from identity and meaning. In this respect, we are not dealing with the free choice of orientations or relationships which potentially could be misunderstood to be "oppositary". Identity here has nothing to do with responsibility.

There is a different understanding of identities that can to some extend be detected in art, in sports (excluding carrierism and hooliganism), and in the world of entertainmaint. Viewed from the perspective of an audience (or a market s.a.), identities are not so urgently defined by comparisons and demarcations, and more by aspects of peculiarity and individuality. Thus the structures for reevaluations in the identity issue are already provided in society. There is the point that nobody likes things without an identity, either. This is the dilemma of identities: on the one hand they are regarded to be a negative and suspicious value, on the other hand individuality and self-identity in the public discourse are acknowledged to be important and desirable. In this taboo nests the sulkiness about identities which is the mother of the sulkiness about politics.


11. Die Verrätertheorie
Anis Hamadeh, 18.01.2003

Die Verrätertheorie besagt, dass ein einziges „Schwarzes Schaf“ in einer Gruppe ausreicht, um den Frieden in der Gruppe zu stören und eine Politik mit friedlichen Mitteln damit an eine Grenze zu bringen. Ein gutes Beispiel ist die Politik der Abschreckung, die im so genannten Kalten Krieg vorherrschend war. Es ging dabei um den neu hinzugekommenen Faktor der Atombombe und in der Konsequenz um den Overkill. Die Logik war dabei: Wenn einer der Staatschef den Roten Knopf drückt, ist er ein Verräter des Friedens. Man kann ihn daran nur hindern, wenn man selbst einen Roten Knopf hat. Gäbe es keine potenziellen Verräter, vor denen man sich schützen müsste, würde man selbst die Bombe auch nicht benötigen bzw. haben, so die Argumentation.

Nicht nur in der Frage nach der Anwendung von Gewalt spielt die Verrätertheorie eine fundamentale Rolle, sondern in vielen Bereichen des Lebens. Neben dem Argument: „Vor dem Verräter muss ich mich schützen“ gibt es das noch weiter verbreitete Argument der Unabwendbarkeit des Verrats: „Wenn ich den Verrat nicht begehe, dann wird es jemand anderes tun.“ Die Menschenkloner z.B. benutzen es, um von ihren Taten abzulenken. Scheinbar unabhängig von moralischen Erwägungen deuten sie auf die pure wissenschaftliche Möglichkeit eines solchen Projekts. Man kann es machen, also wird es jemand machen. Und wenn es sowieso jemand macht, kann ich es auch selbst machen.

Eine leichte Abwandlung bzw. Präzisierung dieses Topos ist: Man kann damit Profit machen, also wird es jemand machen. Und wenn es sowieso jemand macht, kann ich es auch selbst machen. Vom möglichen Verrat, der in diesen Taten steckt, wird abgelenkt. Das bedeutet z.B., dass, wenn es einen Markt für gestohlene Autos gibt, es Leute gibt, die sich an solchen Argumentationen abzusichern versuchen, wenn sie Autos stehlen oder damit hehlen.

Die Verrätertheorie ist bis heute problematisch und umstritten. Ihr Missbrauch ist auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen bekannt, ihre Effektivität und Kohärenz wird von vielen Seiten angegriffen, und doch lässt sich mit ihr immer wieder erfolgreich argumentieren. Die Hauptkritik an der Verrätertheorie vom potenziellen Schwarzen Schaf ist, dass sie sich an Angstszenarien orientiert und selbst Angst erzeugt. Oft verbirgt sich auch nichts anderes als notorisches Misstrauen dahinter und die fehlende Bereitschaft, sich in die Situation des anderen zu versetzen. Wünsche nach Dominanz und Ausbeutung lassen sich dahinter verstecken. Und bei all dem steht noch sehr in Frage, ob eine Politik, die sich an der Verrätertheorie orientiert, überhaupt funktioniert und funktionieren kann. Immerhin war die Abschreckungspolitik der Supermächte nach 1945 ein Kalter Krieg und kein Warmer Frieden.

Auch der Faktor des Selbstschutzes ist nicht wirklich überzeugend. Sind die Amerikaner heute besser geschützt als am Elften September? Ich wage das zu bezweifeln. Auch die Israelis bedienen sich dieses Klischees und sagen: Solange es die Möglichkeit von Verrätern unter den Palästinensern gibt (allen Palästinensern, nicht nur den Offiziellen), müssen wir Gewalt auf die Gruppe ausüben. Ähnlich ist es bei der Terrorbekämpfung: Weil es da draußen Verräter gibt, richten wir gleich unser Leben an ihnen aus und rechtfertigen eine nach Innen und nach Außen repressive und auf Kontrolle gerichtete Politik. Russland hat sich angeschlossen, um in Tschetschenien ungestört agieren zu können, Indien und Pakistan nutzen die Gelegenheit allgemeiner Gewaltanwendung, um an neue Grenzen zu kommen, und auch Nordkorea möchte da nicht abseits stehen. Der drohende Krieg im Irak folgt genau derselben Logik der Verrätertheorie, die sich als Gewaltspirale entpuppt. Denn auch nach einem Irakkrieg gibt es keinen Grund für die Annahme, dass als Konsequenz der Weltfrieden ausbricht.

Wenn aber die Verrätertheorie selbst nach den eigenen Maßstäben nicht funktioniert, welches Denken ist dann angebracht? Eine wichtige Rolle spielt die gesellschaftliche Umgebung des Verrats: Bush hatte – außer in der Gewaltfrage! – Recht damit, nicht nur die Terroristen zu meinen, sondern auch die, die ihnen Unterschlupf gewähren. In all diesen Fällen sind die Umgebung und die Öffentlichkeit wirksame Kontrollinstanzen, um Gewalttätern und Verbrechern die soziale Basis zu entziehen.

Wenn sich zwei Menschen in der Wüste begegnen und keine anderen Gesetze herrschen als die des Lebens, dann ist es sicherlich angebracht, eine Portion Misstrauen als Schutz zu haben. Was allerdings die westlichen und auch die östlichen Kulturen angeht, so liegt die Verrätertheorie auch im schlechten Gewissen begründet. Die Länder erinnern sich daran, wie sie andere Völker in einer Art behandelt haben, in der sie selbst nie behandelt werden wollen. Eine wirkliche Überwindung der Verrätertheorie kann geschehen, wenn die Länder der Welt sich auf eine gemeinsame Weltgeschichte einigen können und damit die gemeinsamen Werte finden, von deren Existenz ich überzeugt bin, und die es nur zu diskutieren und zu formulieren gilt.

Dass die, die heute am Lautesten die Massenvernichtungswaffen bei anderen kritisieren, selbst am meisten von diesen Waffen haben, ist offensichtlich. Über die Verrätertheorie lässt sich abschließend sagen, dass sie vornehmlich von solchen Gruppen ins Gespräch gebracht wird, die erkennen, dass sie selbst zu solch einem Verrat in der Lage sind, und die sich also nicht vor dem anderen, sondern vor sich selbst fürchten.


11. The Traitor Theory
Anis Hamadeh, January 18, 2003

The traitor theroy says that a single "black sheep" in a group is sufficient to disturb the peace in the group and to thus bring a policy of peaceful means to a limit. A good example is the policy of deterrence which was prevailing in the so-called Cold War. The argument was about the newly introduced factor of the atomic bomb and, in consequence, the overkill. The underlying logic was: if one of the chiefs presses the red button he will be a traitor of peace. There is only the one way to stop him of possessing a red button ourselves. Were there no potential traitors we have to be protected from, we would not need or have the bomb ourselves, such is the line of argumentation.

Not only in the question of the application of violence the traitor theory plays a fundamental role, but in many other domains of life, as well. Next to the argument: "I have to protect myself from the traitor" there is the even more spread argument of the inevitability of the treason: "If I don't commit the treason, somebody else will." The people who clone humans use it, for example, to divert the attention from their deeds. Apparently independent of moral reasoning they refer to the mere scientific possibility of such a project. It is possible, so somebody will do it. And if somebody will do it anyway, then I can do it just as well.

Slightly modified or more precisely, respectively, this topos sounds like this: There is the possibility of making profit with it, so somebody will do it. And if somebody will do it anyway, then I can do it just as well. The possible treason inherent to these actions, is being escaped. This means e.g. that, if there is a market for stolen cars there will be people who try to defend themselves with such a line of argumentation, when they steal cars or receive stolen cars.

The traitor theory has been problematic until today. Its misuse on several social levels is known, its efficiency and coherence is doubted by many, and yet people successfully take it as an argument over and over again. The main criticizm of the traitor theory of the black sheep is that it is fear-oriented and producing fear itself. Often, it is based on notorious suspicion and the lacking readiness to see the situation of others. Wishes for domination and exploitation can be covered with it. And all in all, it is very doubtful that a policy, which follows the traitor theory, functions and can function at all. Consider that the deterrence policy of the super powers after 1945 had been a Cold War and not a Warm Peace.

Neither is the factor of self-protection really convincing. Are the Americans better protected today than they were on September 11? I dare doubt that. The Israelis, too, use this clichè and say: as long as there is the possibility of traitors among the Palestinians (all the Palestinians, not only the officials), we will have to exert violence on the group. Similar in the fight against terror: by reason of the existance of traitors outside we adjust our lives for them and justify a repressive and controlling policy in both domestic and foreign affairs. Russia joined in, in order to act undisturbedly in Chechenia; India and Pakistan take the chance of general use of violence to reach new borders, and North Corea does not want to stand apart, either. The threat of a war against Iraq follows the very same logic of the traitor theory which turns out to be a spiral of violence. For even after a war against Iraq there is no reason for the assumption that a world peace will break out as a consequence.

But if the traitor theory does not work even according to its own standards, what kind of thinking is appropriate? An important role plays the social surroundings of the treason: Bush was – except in the question of violence! – right in addressing not only the terrorists, but also those who harbor them. In all these cases the surroundings and the public are effective controlling powers to take away the social basis of violent perpetrators and criminals.

When two people meet in the desert where there are no other laws than the laws of life, then it surely is adequate to protect oneself with an amount of suspicion. But concerning the western and also the eastern countries, the traitor theory is also grounded in a bad conscience. The countries remember having treated other peoples in a way they never want to be treated themselves. A real mastering of the traitor theory can happen, when the countries of the world agree on a common world history and thus to find the common values the existance of which I am convinced of, and which only have to be discussed and formulated.

It is obvious that those, who today are the loudest to criticize weapons of mass destruction in others, own most of these weapons themselves. So what can be said about the traitor theory in summary is that it is brought into the discussion mostly by such groups who recognize to be in the position of committing such a treason themselves and which thus are not afraid of others, but of themselves.


12. Die Impulsmetapher
Anis Hamadeh, 18.01.2003

Eine der wichtigsten Fragen im gesellschaftlichen Diskurs des 21sten Jahrhunderts ist die nach der Kontrolle. In welchen Bereichen ist Kontrolle notwendig, wieviel und welcher Art soll und darf sie sein, wer führt sie durch, welchem Zweck soll sie dienen, und verwandte Fragen. Sind wir auf dem Weg zu einer Weltkontrolle, um potenzielle Terroristen nicht entwischen zu lassen? Oder hat die demokratische Erfahrung ausgereicht, um einen Abbau von Kontrollnotwendigkeiten konstatieren bzw. prognostizieren zu können? Für beide Tendenzen finden sich Belege. Die Problematik der Kontrolle zeigt sich mit all ihren Facetten in der Kommunikation und der Erziehung. Ohne ein Maß an Kontrolle und Führung können sich Kinder nicht zurechtfinden und nicht lernen, methodisch ihre Fähigkeiten und ihr Wesen zu entwickeln. Kontrolle beinhaltet immer einen Zwang, daher muss es eine Rechtfertigung für sie geben. Zwänge sind einerseits Bestandteil unseres sozialen Lebens, andererseits können sie leicht zu Machtzwecken missbraucht werden.

Betrachten wir einige Situationen, die nicht durch Kontrolle charakterisiert sind oder sogar durch deren Abwesenheit. Die Kunst gehört dazu. Zwar bedarf es teilweise kontrollierter Techniken, um sie zu manifestieren, doch gehören zu ihr wesentlich die Inspiration und die Trance, die sich meines Wissens nur durch Kontrollverlust erreichen lassen und die beide gesellschaftlich gesehen marginalisiert und kaum fassbar sind. Die meisten Situationen, zu denen nur eine einzige Person gehört, brauchen wenig Kontrolle. Auch wenn z.B. Leute auf den Bus warten, ist dies eine weitgehend kontrolllose Situation. Es muss lediglich darüber gewacht werden, dass man rechtzeitig in den Bus einsteigt, alle anderen Handlungen sind frei. Die Art, wie wir uns die Kontrollfrage stellen, ist in unserer Mentalität begründet. Eine typische Situation hat bei uns einen Kontrollfaktor, sonst ist sie langweilig, uninteressant, unerheblich, vielleicht unehrlich. Anhand unserer Vorstellungen von Kommunikation und von Erziehung soll das hier illustriert werden.

Aus der kognitiven Linguistik stammt der Begriff der „Conduit Metaphor“, der „Leitungsmetapher“ für Kommunikationsprozesse. Wir stellen uns Kommunikation hauptsächlich vor als eine Botschaft, die von einem Sender durch eine Art Leitung zu einem Empfänger gelangt, der die Botschaft entschlüsselt und somit versteht. Auf diese Weise erleben wir die meisten Kommunikationsmethoden. Wort und Schrift, Telefon, Radio, Fernseher, Rechner, all dies basiert auf dieser Vorstellung. Sie ist also erfolgreich und hat uns zu enormen Erfindungen gebracht. Auch in der Erziehung und in didaktischen Prozessen setzen wir die Conduit Metaphor voraus: Wissen wird (wie durch eine Leitung) weitergegeben. Die Lernenden „füllen“ sich mit Wissen, vielleicht wird es ihnen gar „eingetrichtert“. Die Basisannahme ist, dass es einen „Stoff“ gibt, der kontrolliert vom Lehrer auf den Schüler übergeht.

Gewiss ist diese Vorstellung nicht verwerflich oder per se überkontrolliert. Jedoch versperrt die Conduit Metaphor den Blick auf alternative, weniger kontrollgebundene, Sichtweisen über Kommunikation und Didaktik. Denn weniger kontrollgebunden muss nicht schlechter sein. Betrachten wir dazu die Impulsmetapher:

Bei der Impulsmetapher gibt der Sender einen Impuls aus, der den Empfänger erreicht und auf ihn einwirkt. Es handelt sich um einen gezielten (manchmal auch ungezielten) Impuls, dessen Resultat sowohl dem Sender als auch dem Empfänger zunächst verborgen bleibt. Der Sender weiß, dass er mit diesem Impuls eine Botschaft ausgibt, er weiß aber nicht genau, welche. Auch das ist Kommunikation, hier wird nur auf andere Merkmale fokussiert. Die Impulsmetapher ist nicht etwa besser oder schlechter als die Conduit Metaphor, sie ergänzt sie vielmehr und mit ihr lassen sich andere Phänomene der Kommunikation besser verstehen, zum Beispiel die erwähnte Trance oder die Inspiration, die auf Impulsen beruhen und auf Impulse reagieren.

Der Grund für die Vernachlässigung der Impulsmetapher gegenüber der Conduit Metaphor liegt vermutlich darin, dass in der Impulsmetapher die Kommunikation als weit weniger kontrolliert, geplant und vorhersehbar gesehen wird. Der Sender „weckt“ eher etwas im Empfänger als dass er etwas transportieren würde. Wir alle geben im Alltag solche Impulse aus, durch Metabotschaften, Zeichen wie Gesten und Mimik, Tonfall und Sprachstil etc., und wir empfangen solche Impulse, wenn wir plötzliche Assoziationen haben, wenn wir angeregt und inspiriert werden, wenn wir träumen etc.. Die Kunst ist der Ort, wo die Kommunikation über Impulse vorherrschend wird, wenn ein Orchester spielt oder Dichtung gelesen wird, wenn geschauspielert und gespielt, gemalt und getanzt wird.

Der kommunikative Aspekt der Kunst wird in unserer Welt vernachlässigt, „Botschaften“ sind noch immer out, und lernen im Grunde auch. Man verbindet damit unwillkürlich Kontrollsituationen und Zwänge, weil man davon ausgeht, dass die Botschaft etwas von außen Motiviertes ist. Die Impulsmetapher zeigt eine Art zu erklären, dass Botschaften auch „ausgelöst“ werden und damit zum großen Teil von innen kommen können. Sie zeigt, dass Botschaften mehrschichtig sind und dass das Lernen von der Offenheit des Empfängers ausgehen kann anstatt von Sender und Botschaft. Die Aktion des Impuls-Empfängers beschränkt sich nicht auf das Dekodieren einer vorgegebenen Botschaft, sondern hat auch einen kreativen und individuellen Aspekt. Kommunikation kann man sich also als kontrollierte Versendung einer Botschaft und als Impuls vorstellen, so wie man sich das Licht als Partikel und als Welle vorstellen kann.


12. The Impulse Metaphor
Anis Hamadeh, January 18, 2003

One of the most essential issues in the social discourse of the 21st century is the one of control. In which areas is control necessary, how much and of which kind should and may it be, who is to control, for what purposes, and related questions. Are we on our way to global control, in order to not let potential terrorists get away? Or did the democratic experience suffice to substantiate or predict a decrease of control necessities? For both tendencies we find proof. The problematic nature of control with all its facets shows in communication and in education. Without an amount of control and directoring children cannot know their way around and cannot learn to methodically develop their abilities and their characters. Control always implies a force or pressure and therefore needs a justification. Pressures on the one hand are constituents of our social life, and on the other hand they can easily be misused to exert power.

Let us consider some situations which are not characterized by control or which even are characterized by its absence. Art belongs to this category. It is true that the manifestation of art also in parts needs controlled techniques, but to the main characterists of art belong inspiration and trance which both – as far as I know – are only attainable through the loss of control and which both are socially marginalized and hard to define.

Most of the situations, which consist of only one person, only need little control. Also, if e.g. people are waiting for the bus, this is a mostly control-less situation. The only need of surveillance is in making sure to enter the bus in time, all other actions are free. The way we deal with the control issue is rooted in our mentality. A typical situation for us has a control factor to it, otherwise it is boring, uninteresting, immaterial, maybe unsincere. With the example of our understanding of communicational and educational processes this mentality is to be illustrated here.

Known from cognitive linguistics is the concept of the "conduit metaphor" for communication processes. We mostly conceptualize communication as a message which comes from a sender and reaches a recipient through a kind of conduit. The recipient then decodes the message and thus understands it. We experience most of our methods of communication in this way. Word and script, telephone, radio, television, computers, all this bases on this model. It thus is a successful metaphor and it has brought us to enormous inventions. In education, too, and in didactic processes we take the conduit metaphor for granted: knowledge is passed on (like through a conduit) and the learners are "filled" with knowledge, or maybe the knowledge is even drummed or "poured into the heads" of the students. The principal assumption here is the existance of a certain "matter" which the teacher passes to the student in a controlled way.

Certainly this model is not reprehensible or over-controlled per se. Yet the conduit metaphor closes the sight on alternative, less control-related, conceptualizations of communication and didactics. For less control-related does not have to mean that they are worse. Let us take a look at the impulse metaphor for this matter:

In the impulse metaphor the sender is exerting an impulse which reaches the recipient and effects him or her. It is a purposeful (sometimes also purposeless) impulse the result of which in the beginning remains unknown to both the sender and the recipient. The sender knows that this impulse implies a message, but he does not exactly know which one. This, too, is communication, only that the focus is on different characteristics. The impulse metaphor is not at all better or worse than the conduit metaphor, it rather accomplishes it and provides evidence for understanding other phenomena and aspects of communication, for example the mentioned trance and inspiration which come about via impulses and which react on impulses.

The reason for the neglect of the impulse metaphor to the favor of the conduit metapor probably is due to the fact that in the impulse metaphor communication is conceptualized much less in terms of control, plan, and expectation. The sender "wakes" something in the recipient rather than transporting something. We all produce such impulses in everyday life, e.g. by our meta-messages, signs like gestures and miming, tone and style of speech etc., and we receive such impulses when we have sudden associations, when we are stimulated and inspired, when we dream etc.. Art is the place where the communication via impulses becomes prevailing, when e.g. an orchestra is playing, or when poetry is read, when there are acting and play, pictures or dance.

The communicative aspect of art is being neglected in our world, "messages" are still out, as learning actually is. We involuntarily associate them with control situations and pressures, because we take for granted that a message is something motivated from the outside. The impulse metaphor shows a way of explaining that messages can also be "aroused" or "kindled" and thus to a great extend can come from the inside. The impulse metaphor indicates that messages are multi-layered and that learning procedures can start with the openness of the recipient, and not only with sender and message. The action of the recipient of the impulse is not restricted to decoding a given message, but also has a creative and individual aspect. Thus we can conceptualize communication as the controlled sending of a message and as an impulse, similar to our conceptualizations of light as particles and as waves.



13. Das Schulbuch-Projekt
Anis Hamadeh, 24.01.2003

Das Gegenteil von Krieg heißt Frieden. Doch wie sollen wir ihn erreichen? Im Laufe meiner Beschäftigung mit dieser Frage kam ich immer wieder auf zwei miteinander verknüpfte Motive bzw. Ergebnisse: Erstens Frieden durch Öffentlichkeit, zweitens Frieden durch Geschichtsbewältigung. (Siehe z.B. den Artikel „Peace work and virtual Palestine“ unter http://www.redress.btinternet.co.uk/ahamadeh3.htm [Link erloschen, 2023]). Eine Radio-Nachricht anlässlich des 40. Jahrestages des Elysée-Vertrages, in der von einem Schulbuchprojekt zwischen Deutschen und Franzosen die Rede war, erinnerte mich daran. In der Nachricht hieß es, dass die gemeinsame Geschichte der beiden Länder in den jeweiligen Schulbüchern gleich behandelt werden soll, so dass im einen Geschichtsbuch die Übersetzung des anderen vorliegt. Ohne Frage wird dies die ohnehin gute Verständigung dieser beiden Völker nochmals weit verbessern. Man sollte es in der ganzen Welt so machen!

Stellen wir uns ein solches Schulbuchprojekt vor. Das Ziel könnte man so formulieren, dass alle Schüler auf der Welt einen gemeinsamen Geschichtstext zur Verfügung haben, in dem sie die Vergangenheit der internationalen Beziehungen ihrer Länder nachlesen können. Dies ist nicht etwa als Ideologie, sondern eher als eine Art Völkervertrag zu verstehen. Er bezieht sich nur sekundär auf die jeweilige Landesgeschichte und konzentriert sich auf die Darstellung der Interaktion zwischen Völkern. Ähnlich einer UNO-Resolution wird dieser Text in einem mühe- und konfliktvollen Prozess erarbeitet.

Zwei Vorteile gegenüber einer UNO-Resolution hat ein solcher Text: Zum einen ist er in einer Art geschrieben, dass er leicht übersetzbar ist und dass Jugendliche ihn verstehen können. Das schließt Wortklaubereien und Zweideutigkeiten weitgehend aus. Zweitens ist dies ein Projekt, das die verschiedensten Gruppen und Individuen, z.B. Politiker, Journalisten und Friedensgruppen, unabhängig voneinander anstreben können, ohne dass es dafür weiterer Anweisungen bedarf. Die Zeitschrift G/Geschichte beispielsweise macht in Nürnberg sehr erfolgreich genau das und sie wird ja auch von Kultusministerien und dem Deutschen Jugendmedienwerk empfohlen.

Wenn wir in einer Welt ohne Gewalt leben wollen und eine solche Welt für unsere Kinder vorbereiten wollen, dann gilt es, die gewaltlosen Alternativen auszuarbeiten und zu koordinieren und damit heute anzufangen. Gerade Deutschland hat hier bereits gute Ansätze, man denke an die exzellenten deutschen Geschichts-Dokus im Fernsehen. Diese Einstellung betrifft auch die Presse: Auch in den Zeitungen wird uns jeden Tag ein Geschichtsbild präsentiert, und natürlich wird auch um ein solches gestritten und gerungen. Doch was gäbe es heute Sinnvolleres, als mit zivilisierten Mitteln über die Geschichte zu streiten?

Einen Text gilt es zu erstellen, der von allen beteiligten Parteien akzeptiert wird. Das ist das Maß. Ein Vertragstext, den ein Kind verstehen kann. Die Deutschen und Franzosen werden es wohl schaffen, das ist ein Anfang. Ein Stück im Puzzle-Spiel. Welche anderen Gruppen haben ähnlich gute Verhältnisse und können ohne viele Probleme folgen, um die Struktur zu unterstützen? Die leichten Sachen zuerst! Die jeweiligen Kultus- bzw. Erziehungsministerien können dann über die Gerechtigkeit des Textes durch ihre Akzeptanz entscheiden.

Doch selbst, wenn es nicht so schnell auf diese hohe Ebene gelangen sollte, ist festzustellen, dass die Internetgemeinde ohnehin im Begriff ist, eine solche Datenbank aufzubauen. Die Geschichtswissenschaften sind vom Netz verändert worden, weil man nirgends schneller so gezielt Informationen zu den historischen Ereignissen der Welt bekommen kann. Diese historische Flut wird ständig erweitert und miteinander verknüpft, ein Trend, der unabhängig von irgendwelchen Projekten zu beobachten ist. Auch die Universitäten leben in der Welt der erweiterten Öffentlichkeit und verlieren durch den neuen Wettbewerb zunehmend ihr Elfenbeinturm-Image.

Das Schulbuchprojekt ist eine Aufgabe, die im Rahmen einer Weltfriedensinitiative gesehen werden kann. Zu Beginn dieses Jahrhunderts finden sich nämlich immer mehr Friedensgruppen in der realen virtuellen Welt zusammen und immer schneller, wie etwa die Transcend-Gruppe um Professor Johan Galtung (www.transcend.org). Viele zeitgemäße Konfliktbewältigungssysteme kursieren im Netz und formieren sich. Angesichts dieser internationalen Dichte ist es uns heute möglich, ein so komplexes Thema wie die gemeinsame Weltgeschichte in Angriff zu nehmen. Frieden kommt nicht wie Manna vom Himmel. Frieden ist etwas Aktives. Wir wollen und wir brauchen Frieden. Richtigen Frieden. Ehrlichen Frieden.

Anm.: Der genannte Artikel „Peace work and virtual Palestine“ auf deutsch (Schlussteil des Essays: Palästina, Israel und die Bilder)


13. The Textbook Project
Anis Hamadeh, January 24, 2003

The opposite of war is peace. But how to reach it? In the course of my dealing with this question I have come to two interacting motives or results, respectively, over and over again: firstly, peace by means of public and publicity, secondly, peace through the mastering of history. (See e.g. the article "Peace work and virtual Palestine" at http://www.redress.btinternet.co.uk/ahamadeh3.htm [link expired,2023]) A recent radio news reminded me of that. It was on the occasion of the 40th anniversary of the Elysée Contract between France and Germany, and the news dealt with a textbook project between the Germans and the French. The schoolbooks of the two countries shall consider the shared history in an equal way, so that each text is a translation of the other. Without question, this will further improve the already harmonious relations between the two peoples. We should do this worldwide!

Let us imagine such a textbook project. The aim could be formulated as the availability of a standard historical text for all students in the world, in which they can read about the past of the international relations of their countries. This is not to be understood in an ideological way, but rather as a kind of agreement between peoples. It only secondarily is concerned with the respective domestic histories and concentrates on the interaction between countries. Similar to a UN resolution, this text will be elaborated in a process full of effort and conflict.

There are two advantages of such a text in comparison with a UN resolution: on the one hand it is written in a way that makes translations easy and that young people can understand. This to a major extend will exclude any phrase-mongers and ambiguities. On the other hand, different groups and individuals, such as politicians, journalists, or peace groups, independently from each other can enter this direction without needing further orders. The German monthly history journal "G/Geschichte", for example, very successfully lives this attitude and it is recommended by ministries and the German Youth Media Enterprise.

If we want to live in a world with no violence and if we want to prepare such a world for our children, then we are to elaborate the nonviolent alternatives and to coordinate them, and start now. Especially Germany already has generated good starting points, like the excellent German history TV documentaries. This attitude also concerns the press: the newspapers, too, present historical frames to us every day, and of course there also are conflicts and struggles about such frames. But what does make more sense today than to struggle over history in a civilized manner?

A text is to be construed which is accepted by all involved parties. That is the measure. A contract text which a child can understand. The Germans and the French will be able to manage, this is a start. A piece of the jig-saw. Which other groups have similarly good relations and can follow without many problems to support the structure? Easy things first! The respective ministries of education then can decide upon the justice of the text in accepting it.

But even if it was not possible to implement such a project on the high level so fast, it can be stated that the internet community is generating such a data bank, in any case. The science of history has been changed by the web, for nowhere else can you obtain targeted information about the historical events in the world so fast. This historical flood is continuously increasing and interlinking, a trend that can be observed independently of any kind of project. The universities, too, are living in the world of the augmentet public and are losing their ivory tower image in this new competition.

The textbook project is a task that can be viewed within the framework of a world peace initiative. For in the beginning of this century we find more and more peace groups which get together and coordinate in the real virtual world with accelerating speed. Like, for example, the Transcend group around Professor Johan Galtung (www.transcend.org) Many contemporary conflict management systems are circulating in the web and taking shape. In view of this international density we today are in the position to approach such a complex issue as the common world history. Peace does not rain out of the sky like manna. Peace is something active. We want and we need peace. Real peace. Honest peace.


14. Die Rückkehr der Moralisten
Anis Hamadeh, 23.03.2003

Die These, dass der militärisch Stärkere die Welt oder wesentliche Teile der Welt kontrollieren kann, ist durch den imperialen Overstretch soeben widerlegt worden. Schon im Anfang war klar, dass die öffentliche Meinung in der Welt diesen Krieg nicht akzeptieren würde, wie auch immer er ausgehen mag. Wodurch hat sich diese Meinung durchgesetzt? Durch Argumente und die erweiterte Öffentlichkeit. Die Kriegsbefürworter mussten schließlich zugeben, dass, wenn es um Argumente und die Moral ging, sie den Kürzeren zogen. An dieser Stelle wurde eine Grenze erreicht, denn unsere Demokratie – mit der viele von uns sich in diesen Tagen auseinandersetzen – ist auf Moral gegründet und nicht auf das Recht des Stärkeren.

Die Regierung der Vereinigten Staaten ist zu weit gegangen und sie konnte das tun, weil sie niemand aufhalten konnte. Der dadurch entstandene Glaubwürdigkeitsverlust aber führte zu einem Autoritätsverlust, den die Medien durch die erweiterte Öffentlichkeit nicht mehr verhindern konnten und, in weiten Teilen der Welt, dieses Mal auch nicht verhindern wollten. Da es in öffentlich gestellten rechtlichen Fragen (z.B. der nach Gewalt, Angriffskrieg o.ä..) um die Darstellung der Dinge ebenso geht wie um die Dinge selbst, haben auch die Medien eine größere Verantwortung für den gesellschaftlichen und globalen Frieden, als es früher schien.

Die Moralisten sind heute stärker als die Militaristen, weil sie mehr und bessere Antworten haben. Und weil sie nicht mehr so leicht unterdrückt werden können wie früher. Daran müssen sich auch die Politiker und die Journalisten gewöhnen, die routinemäßig nach einer Kontrolle der Öffentlichkeit streben, indem sie bestimmte, zum Teil wechselnde, Personen, Gruppen und Bevölkerungsteile bevorzugen bzw. benachteiligen, um damit eine trügerische gesellschaftliche Ruhe zu bewahren. In einer großen Öffentlichkeit können illegitime Gewalt und Benachteiligung nicht lange verheimlicht werden, und sie führen zu moralischer Abwertung, weil unsere Demokratie in ihrer Essenz eine Überwindung solcher Gewalt darstellt.

Das Phänomen der Weltöffentlichkeit besteht aus zwei Elementen: zum einen aus der Idee der erweiterten, nicht-frontalen, freien Öffentlichkeit, und zum anderen aus dem Dialog der Kulturen. Beides wird manifest und anschaulich im Internet. Betrachten wir das erste Element etwas genauer: Die freie Öffentlichkeit ist etwas Neues, weil früher die Medien, die Politiker und andere Gruppen mehr oder weniger stark bestimmen konnten, was „die Realität“ ist. Wenn die Zeitungen beispielsweise über bestimmte Sachen nichts oder nur wenig geschrieben haben, dann mögen diese Sachen geschehen sein, sie haben aber in der öffentlichen Wahrnehmung keine oder nur wenig Realität. Eine öffentliche Medienkritik beispielsweise war früher schwierig, denn wo sollte man sie öffentlich äußern, wenn nicht in eben diesen Medien? Das ist heute anders.

Die Leute sind – wenn sie wissen, was Krieg ist – für den Frieden. Das ist nicht neu, wurde früher aber überspielt. Die meisten Leute weltweit waren auch von Anfang an gegen den Nahost-Konflikt, doch diese Diskussion wurde bisher unterdrückt. Heute wird das deutlich, wenn man vergleicht, wie und worüber die Zeitungen berichten und welche Informationen dagegen im Internet kursieren. Da ist ein neuer, freierer Diskurs entstanden, der die Frage nach den Prioritäten der Nachrichten sichtbar neu und glaubwürdig stellt.

Das zweite Element der Weltöffentlichkeit ist der Dialog der Kulturen. Denn nicht nur in Deutschland meldet sich eine neue Basis, auch in anderen Ländern, auch in arabischen Ländern. Die Leute verstehen, dass sie, in West und Ost, jeder auf seine Weise, dasselbe wollen. Und dass sie alle, jeder auf seine Art, ein neues Kollektivbewusstsein, eine neue Identität ausbilden. Die Kontakte zwischen den Kulturen waren nie annähernd so stark wie heute durch das Internet. Abschreckung und Bedrohung, das ganze Militär, es reicht offensichtlich nicht mehr aus, um Sicherheit und Freiheit zu bewahren. Die notwendige Orientierung zwischen den Kulturen wird als Basis von Sicherheit greifbar. Und diese Orientierung besteht aus Begegnungen und Argumenten. Das ist die Rückkehr der Moralisten. Anders gesagt: Jesus hatte keine Homepage.

Die Kriegsführer sagen immer, dass Gewalt das letzte Mittel sein muss, aber sie halten sich nicht daran. Hätten die Amerikaner oder die UNO den Irakern zum Beispiel eine Million Internetanschlüsse gelegt! Auch eine Love Parade in Bagdad hätte eine ungeheure Wirkung gehabt. Diese Dinge wurden nicht einmal diskutiert. Und die Stärkung alternativer Gruppen. Die Richtung, die hier gemeint ist, ist, das Problem von Innen anzugehen und die Iraker dabei als souveräne Menschen zu betrachten. Heute steht den Regierungen in aller Welt eine neue Öffentlichkeit gegenüber, eine, die über Kulturgrenzen hinweg nach Frieden und Gerechtigkeit verlangt. Die Gesellschaften brauchen übergreifende Werte und ein Outgroup-Verhalten, um miteinander umgehen zu können.

Jetzt, wo das Militär seine Unzulänglichkeit bewiesen hat, die Völker zusammenzubringen, suchen die Menschen ihre Antworten anderswo. Und anders als 1968, als die Progressiven sich meist in der Opposition genügten, gibt es heute viele echte Antworten auf dem Markt. Übrigens waren wir immer schon Moralisten: In fast jeder Diskussion argumentieren wir moralisch. Nur, dass die politischen Entscheidungen aufgrund der kontrollierten Öffentlichkeit davon weniger beeinflusst waren. Das ist jetzt anders.


14. The Return of the Moralists
Anis Hamadeh, March 23, 2003

The thesis that the militarily stronger can control the world or essential parts of the world has now been refuted by the imperial overstretch. It has been clear right from the beginning that the public opinion in the world would not accept this war, however it might end. By which means did this opinion emerge and prevail? By means of arguments and the augmented public. The war approvers finally had to admit that they lost their case whenever it came down to arguments and morals. At this point, a limit was reached, for our democracy – with which many of us are concerned these days – is grounded in morals and not in the law of the stronger.

The government of the United States went too far and it could do so, because there was nobody to stop them. Yet the so generated loss of credibility led to a loss of authority, something the media could not prevent due to the augmented public, and which they – this time – in greater parts of the world did not want to prevent, either. As we are dealing with the presentation of things as well as with the things themselves in publically posed juridicial questions (e.g. of violence, initiative wars, etc.), the media, too, have a bigger responsibility towards social and global peace, than seemed to be the case in former times.

The moralists today are stronger than the militarists, because they have more and better answers. And because they cannot be oppressed as easily as before. This is a fact that the politicians and journalists, too, have to get used to, who pursued a routine of attempting to control the public by preferring and, respectively, prejudicing certain, partly changing, individuals, groups, and social segments, in order to preserve a deceptive social calm. In a big public, illegitimate violence and prejudice cannot be kept secret for long, and they lead to a moral devaluation, because our democracy in its essence constitutes the mastering of such violence.

The phenomenon of the world public consists of two elements: firstly, the notion of the augmented, non-frontal, free public, and secondly, the dialogue between the cultures. Both are manifest and illustrated in the internet. Let us take a closer look at the first element: the free public is something new, because in former times the media, the politicians, and other groups were more or less able to define what "reality" is. When, for example, the newspapers did not write about certain issues, or not enough, then these issues may have truth, but in the public impression they have no or only little reality. A public media criticism, for instance, had until now been a difficult thing, for where should one have uttered it publically, if not in the very media? This is different today.

People are – if they know what war is – for peace. This is not new, but it had been played down. Most people worldwide had also been against the Middle East conflict right from the beginning, but the discussion had been suppressed. This becomes clear today when we compare the topics and methods of the newspapers with the information that is current on the internet. A new, freer discourse has come into being, and it is reposing the question of priorities in the news department in an apparently new and a credible way.

The second element of the world public is the dialogue between the cultures. For not only in Germany a new grassroot movement has come up to the surface, but in other countries as well. In Arab countries as well. People understand that they, in the west and in the east, in their respective ways, want the same. And that all of them, each one in his or her style, are generating a new collective consciousness, a new identity. Never before have the contacts between the cultures been remotely as tight as today, because of the internet. So deterrance and threat, the whole military, it obviously does not suffice anymore to establish and keep security and freedom. The necessary orientation between the cultures and civilizations has become a tangible basis for security. And this orientation consists of encounters and arguments. This is the return of the moralists. In other words: Jesus had no homepage.

The leaders of war always say that violence has to be the last resort, but they do not keep their word. Had the Americans or the UN installed a million internet accesses for the Iraqis! Or a love parade in Baghdad, this would also have had a very powerful effect. These things have not even been discussed. And the encouragement of alternative groups. The direction which is meant here is to approach the issue from within, while seeing the Iraqis as souvereign human beings. Today the governments in the whole world are confronted with a new public, one, that is demanding peace and justice beyond cultural boundaries. The societies need comprehensive values and an outgroup behavior in order to deal with each other.

Now that the military has proven its insufficiency in bringing the societies closer together, people are searching for their answers elsewhere. And differently from 1968, when the progressives mostly were content with merely being oppositional, today there are many real answers on the market. By the way, we have always been moralists: in almost every discussion we use morals in our arguments. Only that the political decisions have not been effected by that too much, due to the controlled public. This is different now.


15. Die Rückkehr der Gewaltfrage
Anis Hamadeh, 28.03.2003

Der Gedanke, dass die Moral, die Liebe oder die Öffentlichkeit stärker sein könnten als die Gewalt, gilt in unseren Gesellschaften als unrealistisch und naiv, wie man am Irak-Krieg sehen kann. Bush wird diesen Krieg gewinnen, weil er mit seiner Armee am meisten Gewalt ausüben kann, sagen sogar die Europäer, selbst wenn viele denken, dass die Kosten des Krieges dafür zu hoch sein werden. Aber wer sollte Bush schon aufhalten? Wie kann da irgendjemand behaupten, Gewalt sei nicht das Stärkste?

Dem möchte ich zwei Dinge entgegenhalten: Erstens wird übersehen, dass Bush bzw. die Alliierten sich selbst aufhalten könnten, weil sie aufgrund einer strategischen Fehlentscheidung – der, einen Angriffskrieg zu führen – weitere Fehler machen werden. Oft werden wir in der Debatte an den Präzedenzfall geführt, dass Hitler ohne Gewalt nicht zu stoppen gewesen wäre, zumindest nach 1939 oder 1941 nicht mehr. Das selbstzerstörerische Element des Nationalsozialismus, das zu diesem Zeitpunkt sichtbar war, wird dabei ebenso unterschlagen wie die Tatsache, dass Hitler nach derselben Logik lebte, dass also Gewalt zur Kontrolle notwendig sei. Hätte Hitler nicht auch einen anderen Weg gefunden, um sich zu zerstören? Dass es auf Selbstzerstörung hinauslief, lag doch im System schon begründet. Und wer hätte sich während des Kalten Krieges vorstellen können, dass sich die Sovietunion ohne militärische Gewalt auflöst? Hat sie aber.

Zweitens: Was heißt Stärke, was heißt Sieg? So weit ich sehen kann, bewegen sich die Gewaltbefürworter in einem Zirkelschluss, weil mit Stärke und Sieg eben solche Dinge assoziiert werden, die in Gewalt begründet sind. „Stärke“ wird inhärent schon als „militärische Stärke“ konzipiert und „Sieg“ als „militärischer Sieg“ bzw. als „Kontrolle“. Sie bestätigen sich also nur selbst. Gewaltgegner dagegen sehen Bush als Verlierer, weil er unschuldige Menschen getötet und den Kulturkampf angeheizt hat. Das kann nicht stark sein und kein Sieg.

Es ist letztlich nicht die Gewalt, die stark ist, sondern der Glaube an die Gewalt. Nicht Gewalt bestimmt die Handlungen, sondern die Furcht vor Gewalt. Ein Angstbild, das vor dem inneren Auge entsteht, als erwartete Situation, die es zu vermeiden gilt. Ein Glaube. Warum urteilen wir am Maßstab der Kontrolle und nicht am Maßstab der Moral, oder sagen wir: der Demokratie? Es handelt sich dabei auch um einen Glauben, da ist prinzipiell kein Unterschied. Hier aber basiert er auf einer gesellschaftlichen Übereinkunft wegen des Wunsches nach sozialem Frieden.

An dieser Stelle werden viele sagen: Philosophisch mag das stimmen, aber praktisch nicht. Dem möchte ich widersprechen. Wenn es eine große Öffentlichkeit gibt, die sich auf moralische Argumente beruft – und die gibt es kulturübergreifend – dann werden sich Gewalttäter wie Bush oder Saddam so weit isolieren, dass sie sich nicht halten können, egal, wie viel militärische Stärke sie haben mögen. Es muss sich nur der Glaube durchsetzen, dass dies möglich ist, so wie derzeit der Glaube an die Gewalt vorherrscht. Ein Paradigmenwechsel, der durch die erweiterte Öffentlichkeit des Internet durchaus eine Realität hat und für den viele arbeiten, ob das der Papst ist oder Professor Glenn Paige in Hawaii mit seinen politologischen Nonkilling-Analysen, Künstler in der ganzen Welt oder die vielen Friedensorganisationen, die sich immer besser koordinieren.

Es ist eine anthropologische Konstante, dass sich die Menschen nur dann ändern, wenn sie es müssen. Diesen Punkt aber haben wir erreicht: Seit dem Elften September ist deutlich, dass sich die Welt verändern muss. Die Amerikaner, die kein Verdun erlebt haben, versuchen es mit Kontrolle, aber es funktioniert nicht und kann nicht funktionieren. Wenn jetzt nur wenig Menschen an den Frieden wirklich glauben können, ändert das nichts an dieser Tatsache, denn die Lage ist faktisch immer gewalttätiger geworden. Irgendwann kommt der Punkt, wo entweder die Gewalt siegt und die Welt untergeht oder wo der Frieden siegt, weil die Menschen der Welt sich darauf einigen können und so viel Vertrauen finden, dass sie daran glauben können.

Der Umgang mit Schuld scheint mir einer der wichtigsten Angelpunkte für diesen ganzen Themenkomplex zu sein. Werimmer Schuld in der eigenen In-Group nicht sehen kann – und das sind viele – benötigt ein Feindbild, um diese Schuld im anderen sehen und benennen zu können. In unseren Gesellschaften, in Ost und West, kennen wir kaum Möglichkeiten, Schuld abzutragen. Daher sind viele historische Schuldsituationen nicht bereinigt. Zusätzlich entstand eine Relativität von Schuld (bzw. Moral, das trifft hier dasselbe), die die Abkehr von Staaten vom Völkerrecht erst realistisch machte.

Die praktische Überwindung des Tötens in der Welt ist möglich, wenn ein Netz von internationalen öffentlichen Organisationen und Personen über den Frieden wacht, legitimiert durch die internationale Bevölkerung. Ein Wachen, das keine Kontrolle darstellt, sondern eine Orientierung und ein Zeigen des Spiegels. Dies ist auch die Basis aller Religionen. Dass die UNO es derzeit allein nicht schafft, haben wir gesehen. Das darf uns aber nicht entmutigen, sondern muss ein Ansporn sein, endlich in ein neues Jahrhundert zu gelangen, in dem das Töten in der Out-Group ohne Wenn und Aber ebenso geächtet ist wie das Töten in der In-Group.


15. The Return of the Violence Issue
Anis Hamadeh, March 28, 2003

The notion that morals, love, or the public could be stronger than violence, is held to be unrealistic and naive in our societies, as can be seen in the Iraq war. Bush will win this war, because he can committ more violence than anybody else, this is what even the Europeans are saying, even if many people think that the costs of the war will be too high. But who should be able to stop Bush? How can anybody claim that violence is not stronger than anything else?

To this I would like to object with two arguments: firstly, people forget that Bush or the allies, respectively, could stop themselves, because due to a strategic wrong decision – to lead an attacking war – they will make more mistakes. Often in the debate we are led to the precedence that Hitler could not have been stoppped without violence, at least after 1939 or 1941. The self-destructive element of national socialism, which by that time had been visible, is neglected here as well as the fact that Hitler had lived by the same logic, that violence is necessary for control. Would Hitler not have found another way to destroy himself? For self-destruction had been inherent to the system. And who would have imagined during the Cold War that the Soviet Union would dissolve without military violence? But it did.

Secondly: what does strength or power mean, what does victory mean? As far as I can see, the supporters of violence are moving in a vicious circle, because the association of power and victory is with things that are again grounded in violence. "Power" inherently is conceptualized as "military power" and "victory" as "military victory" or "control". Thus they are only affirming and reconfirming themselves. Opponents of violence, on the other hand, view Bush as a loser, because he killed innoscent people and because he nourished the culture struggle. This cannot be strong or powerful and it cannot be a victory.

In the end it is not violence which is strong, but the belief in violence. Not violence is directing our actions, but the fear of violence. An image of fear which is generating before the inner eye, as an anticipated situation which is to be avoided. A belief. Why do we judge by the measure of control and not by the measure of morals, or let's say: democracy? This also is a belief, there is no principal difference in that. Yet here it bases on a social agreement and is due to the wish for social peace.

At this stage, many people will say: this may be true philosophically, but not practically. I would like to contradict that. When there is a big public which calls for moral arguments – and there is inter-culturally – then the violent perpetrators like Bush or Saddam will isolate themselves so far that they cannot keep the power, no matter how much military strength they might have. Only the belief has to be established that this is possible, the way that now the belief in violence is prevailing. A paradigm change, which through the augmented public of the internet does have a reality, and for which many people are working, be it the pope or Professor Glenn Paige in Hawaii with his politological nonkilling analyses, artists in the whole world, and the many peace organizations, which are coordinating better and better.

It is an anthropological invariant that people only change when they have to. Yet this point is reached: since September Eleventh it is clear that the world has to change. The Americans, who have not experienced a Verdun, try it with control, but it does not work and cannot work. If today only few people can really believe in peace, then this does not change anything of this fact, for the world has factually become more and more violent. There comes the point where either violence will win and the world will be destroyed or where peace will win, because the people in the world have agreed on it and have found so much faith that they can believe in it.

The way of how we deal with guilt seems to me to be one of the most important aspects of this whole issue. Whoever cannot see guilt in the own ingroup – and they are many – needs a stereotype of an enemy in order to see and to name this guilt in the other. In our societies, East and West, we hardly know of ways to decompose guilt. Therefore many historical situations of guilt are not cleansed. Additionally, a relativity of guilt (or of morals, this is the same here) took place, which made the turning away of states from international law realistic to begin with.

The practical mastering of killing in the world is possible, when a net of international public organizations and individuals are on guard about peace, legitimated by the international population. To be on guard without controlling, but with supplying an orientation and a mirror. This also is the basis of all religions. It is obvious that now the UN cannot make it on its own. Yet this must not discourage us, but on the contrary give us the strength to finally reach a new century in which killing within the outgroup, without any buts, is just as outlawed as killing within the ingroup.



16. Über politische Emanzipation
Anis Hamadeh, 05.04.2003

In letzter Zeit findet sich in der deutschen Presse häufiger der Gedanke der politischen Emanzipation von den USA. So z.B. in einem Kommentar der Kieler Nachrichten am 04.04.03: „Will Europa mehr Gewicht gegenüber der Supermacht USA in die Waagschale werfen, muss es eigenständiger werden – in letzter Konsequenz auch militärisch, weil man sonst in Washington nicht ernst genommen wird und bei jeder Krise vom Bündnispartner abhängig ist.“ (Frank Lindscheid, S.2). Inwieweit verschafft uns das Militär die gewünschte Eigenständigkeit? Das ist die Frage dieses Artikels.

Den Ruf nach mehr europäischer Unabhängigkeit vertreten heute Politiker jeder Couleur, es liegt in der Luft. In der Herangehensweise und vor allem der Definition jedoch gibt es gravierende Meinungsunterschiede. Für die einen bedeutet „mehr Gewicht“ in der Konsequenz etwa so viel wie „mehr Militär“, wie im obigen Beispiel. Die Begründungen lauten: erstens, weil man sonst nach den Kriterien der Amerikaner nicht eigenständig sei, zweitens weil man sonst Krisen nicht allein bewältigen könne. Gehen wir diesen beiden Argumenten auf den Grund!

Wenn Europa von den Vereinigten Staaten unabhängiger sein möchte, scheint es angebracht, die Kriterien der Amerikaner zu hinterfragen. Mit einer Aufrüstung würde Europa in erster Linie sagen: Ja Amerika, wir spielen dein Spiel mit, wir wollen es nur besser spielen oder zumindest ähnlich gut. – Nach politischer Emanzipation sieht das nicht aus. Die Amerikaner werden die Europäer niemals ernst nehmen, solange die Europäer sich an den USA spiegeln. Sie können dann nur ein Abklatsch sein. Was das andere Argument angeht, dass also Krisen nur militärisch gelöst werden können, so ist es nicht viel überzeugender, denn es fehlt jeder Beweis für seine Richtigkeit. Niemand bestreitet, dass die Konflikte in der Welt eines Drucks bedürfen, einer Bedrohungskulisse meinetwegen auch. Aber warum sollte das Militär das stärkste Mittel sein, um solchen Druck zu erzeugen? Weil es so teuer ist? Weil nichts einschüchternder wirkt?

Nun ist die Einschüchterung nicht, was unsere Demokratie gemeint hatte. Das ist nicht nur eine Phrase, sondern hat auch einen Grund, nämlich den der gesellschaftlichen Stabilität. In jedem Krieg entsteht eine große Schuld, und die steht dem Frieden entgegen. Es ist ein Mythos, dass Kriege unvermeidlich sind, wenn man es auf der materiellen Ebene betrachtet. Spirituell ist es richtig: Es wird immer Konflikte geben und das sind Kriege auch, die Frage ist, wie diese Kriege geführt werden. Ob also wirklich Blut vergossen werden „muss“.

Normalerweise stelle ich dagegen den Frieden (und also auch den Krieg!) durch Öffentlichkeit, Historie und Kreativität. Über die anfechtbare Verrätertheorie, in der ein Verräter ausreicht, um eine gewaltlose Welt zu unterwandern, habe ich an anderer Stelle geschrieben, ebenso wie über das notwendige Outgroup-Verhalten im internationalen Diskurs. Es sind Argumente, die außerhalb des Glaubenssystems von Gewaltgläubigen stehen und also von ihnen gar nicht gesehen werden. (Sie werden ja auch von den Amerikanern nicht ernst genommen.) Eine Waffe wird von den Gewaltgläubigen bereits als eine militärische Waffe konzipiert. Etwas anderes können sie sich nicht vorstellen. Das ist bedauerlich, denn auch die Gerechtigkeitsgläubigen (als Gegensatz zu den Gewaltgläubigen) wünschen die politische und eventuell kulturelle Emanzipation von den USA. Die beiden Lager haben also im Grunde dieselben Wünsche.

In dieser Auseinandersetzung geht es nicht nur um Argumente, sondern im besonderen um Glaubensvorstellungen. Insofern hat sie nicht nur philosophischen, sondern auch historischen Charakter. Es wird sich zeigen, ob das vorherrschende Paradigma, das ohne Hinterfragung Gewalt und Gewaltandrohung als stärkstes Mittel der Politik ansieht, sich weiterhin behaupten kann, oder ob das Lager der Gewaltlosen sich aufgrund des immer sichtbarer werdenden Scheiterns der Gewalt durchsetzen kann.

Die Presse und die Politik jedenfalls sind daran gewöhnt, dass Gewalt im Zentrum des Interesses steht, und daher wird dieser Glaube dort auch oft zementiert und für Menschen anderen Glaubens heißt es schlicht: Das geht nicht und wird daher nicht diskutiert. So lachen die beiden Lager sich gegenseitig aus, die einen nennen die anderen „Träumer“ und die wiederum werfen dem gegnerischen Lager vor, der notwendigen Auseinandersetzung mit dem Übervater USA durch eine Art unsubtilen Schwanzvergleich aus dem Weg zu gehen. Die Veränderungen, die Krieg und Gewalt in den Menschen auslösen, sind in jedem Fall psychologische Veränderungen, und das bedeutet, dass die Gewalt nicht das einzige Mittel sein muss, sondern dass sie eines unter vielen ist.

Natürlich ist Gewalt ein Mittel und wird es auch immer sein. In von morallosen Tieren bewohnten Dschungelgebieten und auch anderswo. Nur ist es nicht klug, wenn die offizielle Öffentlichkeit sich weigert, Alternativen überhaupt wahrzunehmen, weil sie ihren Diskurs stören, auf Kosten von möglichen Lösungen, die beide Lager anstreben. Könnte es nicht zumindest sein, dass die wirkliche Emanzipation von Hollywood und der jetzigen US-Regierung darin besteht, die zivilisatorische Linie der Gewaltvermeidung weiterzuentwickeln? Innovationen jedenfalls sind von den Gewaltgläubigen schon lange nicht mehr ausgegangen.


16. On Political Emancipation
Anis Hamadeh, April 05, 2003

In recent times, the German press quite often writes about the idea of political emancipation from the USA. For example in a commentary in the Kieler Nachrichten on April 04, 03: "If Europe wants to gain more weight in relation to the US super power, it has to become more independent – in the last consequence also militarily, for otherwise one would not be taken seriously in Washington, and one would be dependent on the allied partner in every crisis." (Frank Lindscheid, p.2). Inhowfar does the military provide us with the aspired independence? This is the issue of the article at hand.

The call for more European independence today is coming from politicians of all walks of life, it is in the air. Yet there are grave differences in approach and, most of all, in definition. There are people for whom "more weight" consequently means "more military", like in the example above. As reasons we find: firstly, to meet the criteria of independence of the Americans, secondly, because otherwise we would not be able to master crises alone. Let's spot the ground of these two arguments!

If Europe wants to be more independent from the United States, it seems to be in order to question the criteria of the Americans. With a new armament, Europe would basically say: yes America, we do play your game, only that we want to play it better or, at least, in a similar way. – This does not sound much of political emancipation. The Americans will never take the Europeans seriously, as long as the Europeans are mirroring themselves in the USA. They could only be their spitting image. Concerning the other argument, the one that crises can only be solved militarily, it is not much more convincing, for there is no proof whatsoever for its validity. Nobody denies the necessity of pressure in view of the conflicts in the world, even a threatening scenario, if you want. But why should the military be the most powerful means to supply such a pressure? Because it is so expensive? Because there is nothing more intimidating?

Now, intimidation is not what our democracy had meant. This is not only a phrase, it also has a reason, the one of social stability. In every war a great deal of guilt is building up, which contradicts peace. It is a myth that wars are inevitable, if regarded on the material level. Spiritually it is right: there will always be conflicts and wars, the question is how these wars are conducted. And whether bloodshed really is a "must".

Usually, I promote the idea of peace (and therefore also of war!) through the public, through history, and through creativity. At a different place I wrote about the controversial traitor theory, in which one traitor suffices to undermine a non-violent world. I also wrote about the necessary outgroup behavior in the international discourse. These are arguments which stand outside the belief system of the believers in violence and which are hence not even perceived by them (and these arguments are not taken seriously by the Americans, either). A weapon for the believers in violence is already conceptualized as a military weapon. They cannot imagine anything else. This is regrettable, for the believers in justice (as opposed to the believers in violence) also wish the political and maybe cultural emancipation from the USA. Thus both camps, in the end, have the same wishes.

In this struggle, we do not only deal with arguments, but especially with belief systems. Thus it does not only have a philosophical dimension, but also a historical one. It will show whether the current paradigm will continue to prevail, the one which, without questioning, regards violence and the threat of violence as the strongest means of politics, or if the camp of nonviolence can take over, due to the more and more apparent failure of violence.

The press and the politicians, at any rate, are used to regarding violence as the center of interest. Therefore this belief in those circles often is cemented, and to people of different beliefs they simply say: it does not work and so we will not discuss it. In this way, the two camps are laughing about each other. The one calls the other a "dreamer", and they in turn blame the opposing camp for avoiding the necessary dispute with the super-father USA by proposing a kind of unsubtle comparison of dicks. The changes, which war and violence evoke in people, in any case are psychological changes, and that means that violence does not have to be the only means, but one among many.

Of course, violence is a means and it will always be. In jungle areas, inhabited by moral-less animals, and elsewhere. Only, it is not wise, if the official public refuses to even perceive any alternatives by reason of its disturbing their discourse, at the expense of possible solutions aspired by both camps. Could it not at least be a possibility that the real emancipation from Hollywood and from the current US administration lies in further developing the civilisatory path of avoiding violence? Innovations, at any rate, have not really come from the part of the believers in violence for a long time.


17. Über liberalen Islam
Anis Hamadeh, 23.04.2003

Besprechung von: „Die zum Schweigen gebrachte Mehrheit“ von Radwan A. Masmoudi, in: „Was ist liberaler Islam?“ Journal of Democracy Vol. 14/2 (http://www.journalofdemocracy.org), April 2003, S. 40-44. (auf Englisch)

Ein konstruktiver Artikel über die Zukunft der islamischen Zivilisation. Zu Beginn erklärt Masmoudi den Begriff „Liberaler Islam“ und nennt ihn eine Bewegung und „ein Zweig, eine Schule des Islam, in der die menschliche Freiheit im Islam betont wird.“ Er spricht hier nicht im parteipolitischen Sinne, sondern im Sinne einer liberalen Mentalität, einer, die bereits existiert und die an Boden gewinnt, wie der Autor, Gründungsmitglied des Zentrums zum Studium von Islam und Demokratie in Washington, D.C. (www.islam-democracy.org.), im folgenden ausführt.

Als Orientierungspunkte nennt er „klassische Liberalisten wie Frédéric Bastiat, Ludwig von Mises, oder Friedrich von Hayek“ in ihrer Eigenschaft als Unterstützer von „wenig Staat, individueller Freiheit, Menschenwürde und Menschenrechten.“ (S. 40). Auf der nächsten Seite zählt Masmoudi einige der bereits existierenden liberalen Muslime auf, für die er diese Beschreibung als zutreffend ansieht. Es sind Tarek al-Bichri und Saleem al-Awwa (Ägypten), Mohamed Talbi (Tunesien), Anwar Ibrahim (Malaysien), Fathi Osman, Aziza al-Hibri und Abdulaziz Sachedina (Vereinigte Staaten), Shafeeq Ghabra (Kuweit), Abdelwahab El-Affendi (Sudan), Nurcholish Madjid (Indonesien), Ibrahim al-Wazir (Jemen) und Abdul Karim Soroush (Iran).

Aber warum repräsentieren sie eine zum Schweigen gebrachte und „überwältigende“ Mehrheit? Weil, sagt Radwan Masmoudi, politische Macht und Kontrolle bei zwei Minderheitengruppen liegen, die er „säkulare Extremisten und religiöse Extremisten“ nennt (S. 41). Beide jedoch hätten an Legitimation verloren, wegen ihrer kontrollierenden, unterdrückenden und oft genug gewalttätigen Art. Daher gelte für die Mehrheit der Muslime, dass sie „ihre Religion gläubig praktizieren, aber auch in der modernen Zeit leben möchten; sie wollen also eine moderne, moderate und angemessene Interpretation des Islam.“ (S. 42).

Der Autor sieht wesentliche Impulse für eine Veränderung muslimischer Gesellschaften in westlichen Vorreitern. Am Ende seines Artikels schreibt er: „Die Reformation des Islam wird Freiheit und Demokratie erfordern, und derzeit ist der Westen der einzige Ort, an dem wir das haben. Aus diesem Grunde glaube ich, dass die Reformierung im Westen beginnen wird.“ Ich erinnere mich an ähnliche Gedanken des ägyptischen Professors Nasr Abu Zayd.

Ich teile die Einstellung und Einschätzung von Dr. Masmoudi, dass eine solche gesellschaftliche Veränderung fällig ist. Auch sehe ich den Vorteil, vom Wissen der westlichen Muslime zu profitieren, die mehr Freiheit kennen. Ja, ich habe eine Vorstellung von einem liberalen Islam, in dem „Glaube und Vernunft zusammengehen“ (S. 42). Ich frage mich nur, ob „die internationale Gemeinschaft einen beständigen Druck auf die bestehenden Regierungen ausüben muss, um mehr Freiheit zu erlauben, denn es ist in ihrem Interesse und in dem ihrer Gesellschaften.“ (S. 43) Dies widerspricht seinem eigenen koranischen Anspruch von „La ikraha fi d-din“, („Es sei kein Zwang in der Religion“ S. 40). Man könnte argumentieren, dass die internationale Gemeinschaft nichts mit Religion zu tun hat, aber das ist nicht, was Masmoudi meint.

Die Pfeiler des liberalen Islam sind für ihn „Hurriya“ (Freiheit), „Adl“ (Gerechtigkeit), „Shura“ (Beratung), und „Ijtihad“ (Rationale Interpretation). (S. 41) Und in diesem Zusammenhang schreibt er: „Es ist heute notwendig für die muslimische Ummah, dass die Tore des Ijtihad – verschlossen für 500 Jahre – wieder geöffnet werden.“ Und ja, ja, wir liberalen Muslime grüßen Dich freudig, Bruder Radwan! Also bist Du gegen den „Taqlid“, die bloße Übernahme dessen, was die selbsternannten Autoritäten sagen, und seien sie Amerikaner.

Meiner Ansicht nach sehen die westlichen Länder Schwierigkeiten darin, ihren Tugenden wie Demokratie, Freiheit oder Pluralismus, gerecht zu werden, besonders in der Außenpolitik. Es gibt Risse in diesem demokratischen Ideal, insbesondere ein fehlendes Outgroup-Verhalten. Daher scheint es angemessen zu sein, den Begriff Demokratie in seine Bestandteile zu zerlegen und diese zu benennen und in islamischen Begrifflichkeiten neu zu bewerten. In unserer Zeit der schnellen Information überlappen die politisch relevanten Diskurse immer mehr, sie nähern sich an und fordern einander heraus. Eine Wandlung in den arabischen und muslimischen Gesellschaften kann meiner Ansicht nach nur mit einer Wandlung im demokratischen Westen zusammenfallen. Es wird eine andere Art von Reform sein, doch ist es notwendig. Man denke nur an die UN!

Sehen wir den Tatsachen ins Gesicht: Wir leben noch immer in einer Welt der Klassen, der Besseren und Schlechteren, sei es auf der Ebene der internationalen Gemeinschaften oder der von einzelnen Gesellschaften. Wir brauchen ein gemeinsames Maß auf all diesen Ebenen, das würde mir wie ein reformierter Islam erscheinen. Zusammenfassend halte ich fest, dass ich die Herangehensweise und Ideale weitgehend teile, während mein eigener Liberalismus das egalitäre Element etwas mehr betont. Vielleicht setze ich auch etwas mehr Hoffnungen in innere Prozesse, da die neuen Medien und die neue Politik die Welt verändern.



17. On Liberal Islam
Anis Hamadeh, April 23, 2003

Review of: "THE SILENCED MAJORITY" by Radwan A. Masmoudi, in: "What Is Liberal Islam?" Journal of Democracy Vol. 14/2 (http://www.journalofdemocracy.org), April 2003, pp 40-44.

A constructive article about the future of Islamic Civilization. In the beginning, Masmoudi explains the concept of Liberal Islam by calling it a movement and "a branch, or school, of Islam that emphasizes human liberty and freedom within Islam." He does not talk in party political terms here, but in terms of a liberal mentality, one that already exists and one which is gaining ground, as the author, founding president of the Washington, D.C.-based Center for the Study of Islam and Democracy (www.islam-democracy.org.), continues to indicate.

As points of reference he mentions "classical libertarians such as Frédéric Bastiat, Ludwig von Mises, or Friedrich von Hayek" in their capacities as promoters of "limited government, individual liberty, human dignity, and human rights." (p 40). On the next page, Masmoudi names some of the already existing liberal Muslims who he sees to fit the description. They are Tarek al-Bichri and Saleem al-Awwa (Egypt), Mohamed Talbi (Tunisia), Anwar Ibrahim (Malaysia), Fathi Osman, Aziza al-Hibri, and Abdulaziz Sachedina (United States), Shafeeq Ghabra (Kuwait), Abdelwahab El-Affendi (Sudan), Nurcholish Madjid (Indonesia), Ibrahim al-Wazir (Yemen), and Abdul Karim Soroush (Iran).

But why do they represent a silenced and "overwhelming" majority? Because, says Radwan Masmoudi, political power and control are with two minority groups which he calls "secular extremists and religious extremists" (p 41). Yet both have lost legitimacy, because of their controlling, repressing, and often enough violent character. And thus the majority of Muslims would "want to practice their religion faithfully, but (...) also want to live in the modern age; that is, they want a modern, moderate, and appropriate interpretation of Islam." (p 42).

The author sees the major impulses for a transition of Muslim societies in western pioneers. He writes at the end of his article: "The reformation of Islam will require freedom and democracy, and right now, the only place where we have them is in the West. It is for this reason that I believe reformation will begin in the West." Similar thoughts I remember from the Egyptian Professor Nasr Abu Zayd.

I share the attitude and the assessment of Dr. Masmoudi that such a social transition is due. I also see the advantage to benefit from the knowledge of western Muslims who have experienced more freedom. Yes I have such a notion of a liberal Islam where "faith and reason are combined" (p 42). I wonder only if "the international community needs to exert sustained pressure on the existing governments to allow more freedom, because it is in their own interest and in that of their societies." (p 43) It does, in fact, clash with his own Qur'anic claim of "La ikraha fi d-din", ("there can be no compulsion in religion." p 40). One could argue that the international community has nothing to do with religion, but this is not what Masmoudi means.

The pillars of liberal Islam for him are "Hurriya" (liberty), "Adl" (justice), "Shura" (consultation), and "Ijtihad" (rational interpretation). (p 41) And in this context he writes: "It is vital for the Muslim ummah today that the doors of Ijtihad -closed for some 500 years -be reopened." And yes yes, we liberal Muslims cheerfully greet you, Brother Radwan! Thus you are against "Taqlid", against the mere adaptation of what the self-declared authorities say, and be they American.

In my view, the western countries find difficulties in living up to their virtues like democracy, freedom, or pluralism, especially in the foreign policies. There are cracks in this democratic ideal, especially a lacking outgroup behavior. Therefore it would seem adequate to decompose the concept of democracy and to name and re-evaluate its factors in Islamic terms. In our age of fast information the politically relevant discourses more and more overlap and approach and challenge each other. A transition in the Arab and Muslim societies can to my mind only interact with a transition in the democratic West. This will be a different kind of reform, but it is necessary. Just look at the UN!

Let's face it: we are still living in a world of classes, of bettermen and worsemen, be it on the level of international communities or of single societies. We need the common standard on all those different levels, this would seem to be a reformed Islam to me. In summary, I share most of this article's approach and ideals, while my own liberalism might stress the egalitarian element more; and maybe I set some more hope in internal processes, as the new media and the new policies are changing the world.


18. Über die Streitkultur
Anis Hamadeh, 28.04.2003

Die Demokratie ist eine Ordnung, die es ermöglicht, gesamtgesellschaftliche Entscheidungen gewaltlos zu erarbeiten und zu treffen. Die Ausdifferenzierung der verschiedenen Meinungen geschieht durch das pluralistische Prinzip: Jeder kann seine Meinung sagen und versuchen, Unterstützung dafür zu finden, um so am politischen Prozess teilzunehmen. Thesen stoßen auf Antithesen und auf Alternativen, oft kommt es zu Synthesen oder zu Kompromissen oder auch zur Durchsetzung einer einzelnen Meinung, wenn sie überzeugend ist. Eine Rolle der Kultur in der Gesellschaft ist die Erleichterung der politischen Auseinandersetzung durch die Bereitstellung von Umgangsformen, Bildung, Referenzen wie Bücher, Geschichte und Kunst, und ähnlichem.

Funktioniert diese Demokratie in der Gesellschaft? Stoßen Thesen wirklich auf Antithesen, Zustimmung und Ablehnung, oder stoßen sie auf Schweigen und Ausgrenzung? Vielerorts lässt sich nämlich eine allgemeine Konfliktscheu ausmachen, sei es in den Familien, den Schulen, den Firmen, den Fernsehsendern und auch den Friedensbewegungen in der Welt. Diese Konfliktscheu wird begründet mit dem Wert der Wahrung von Einigkeit, mit der angeblichen Sinnlosigkeit von Konflikten, mit Harmoniebedürfnissen, mit dem Primat der Autorität, oft wird es auch einfach als Charaktereigenschaft hingenommen: Ich streite nicht gern, gehe Konflikten lieber aus dem Weg, brauche so etwas nicht, stehe darüber etc.

Anlass dieses Artikels war ein Porträt des erfahrenen Fernsehjournalisten Gordian Troeller (NDR, 26.04.03, 23.30, „Zwischen allen Stühlen auf dem richtigen Platz“), dessen Dokumentationen aus den armen Teilen der Welt zu den besten gehören. Troeller hatte und hat es mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun, Menschen, die eine andere Sprache sprechen, eine andere Kultur haben, andere Besitzverhältnisse und so weiter. Das Vertrauensverhältnis, das Troeller jedesmal aufbauen kann, erklärte er damit, dass er mit seinem fremden Gegenüber scherzend streiten kann. Wenn man sich die jeweiligen Vorurteile gegenseitig zuruft und sich dabei ständig einer Ironie gewärtig ist, lernt man sich kennen und kann einander einschätzen.

Deutsch... klingt das nicht gerade. In der Kultur, in der ich sozialisiert wurde, gab es kaum offene Konflikte. Das muss auch nichts Schlechtes sein, denn wenn die Leute mit sich selbst und miteinander im Reinen sind, dann gibt es tatsächlich keine Konflikte, und das ist ein legitimes Ideal. Das Problem ist, die Leute sind meist nicht im Reinen mit sich selbst und miteinander. Von einer Streitkultur sind wir entfernt. Stattdessen verkümmern Gefühle oft oder stauen sich.

Dass Politik in erster Linie Verständigung ist, wird häufig übersehen. Zur Verständigung ist es nicht nur notwendig, Entscheidungen zu treffen, sondern vor allem, miteinander zu reden, Dinge übereinander zu lernen und gemeinsame Erfahrungen zu machen. Die Streitkultur bringt gesellschaftliche Sicherheit durch das Wissen über den anderen und den Respekt der Meinung des anderen. In der Kultur der Konfliktscheu nämlich setzen sich regelmäßig autoritäre Meinungen durch, weil es in ihr viel mehr Ängste gibt, was seit Menschengedenken autoritär ausgenutzt wird, durch Kontrolle, den Aufbau von Tabus, die Propagierung der eigenen Bedrohung oder des eigenen Opfertums, durch Einschüchterung und durch vielfältige Formen der Abhängigkeit und des unwidersprochenen eigenmächtigen Schaffens von politischen Tatsachen, die einer Zustimmung bedurft hätten.

Wenn ich zwei politische Artikel lese, von denen mir der erste sehr gefällt, ich jedoch keinen Draht zum Autor finde, während ich den zweiten in den wesentlichen Punkten ablehne, jedoch mit der Person gut auskommen und gut streiten kann, dann ist mir die zweite Person wichtiger, denn ohne Streitkultur nützt auch kein guter Artikel etwas. Natürlich zählen die Menschen hinter den Meinungen, denn die wirkliche Welt ist die der Menschen, nicht die der Meinungen.

Mit Dingen wie Kritik, Konfrontation, Schuld, Fremdem umzugehen, ist keine leichte Sache. Man muss sich zeigen können, sich formulieren können, sich kennen, man muss immer wieder Energie aufwenden. Der Lohn dafür ist Menschsein, Lebensnähe. Und die Bereicherung vom Wissen und Wesen der anderen. Und Entwicklung hin zur Entfaltung.

Dies gilt für Einzelpersonen so wie für politische Parteien, die im Idealfall zusammen mit den gesellschaftlichen Eliten die Streitkultur vorleben und repräsentieren. Wenn es um die Frage geht, warum unsere Gesellschaften so verkrustet sind, so wenig innovativ, so egoistisch und reform-unwillig, dann liegt das zu einem guten Teil am Verlernen und Nichtlernen der Streitkultur, die eine tolerante Gesinnung voraussetzt. Es bedarf einiger Übung, um zu streiten, und den anderen dabei zu respektieren. Bevor wir über politische Entscheidungen sinnvoll verhandeln können, müssen wir einander kennen, und zwar von beiden Seiten: als Freund und als Feind.



18. On Streitkultur
Anis Hamadeh, April 28, 2003

Democracy is an order which enables us to nonviolently elaborate general social decisions and to make them. The process of decision-making among the different opinions takes places via the pluralistic principle: everybody can utter their opinions and can try to find support for them, and thus participate in the political process. Theses meet antitheses, often we reach syntheses or compromise or also the victory of a single opinion, if it is convincing. One role of culture in society is the facilitation of political debates by providing manners, educational knowledge, references like books, history and art, and similar things.

Does this democracy function in the society? Do theses really meet antitheses, agreement and disagreement, or do they meet silence and outlawing? For in many places we can find a general conflict aversion, be it in the families, the schools, the companies, the TV stations, and also the peace movements in the world. This conflict aversion mostly is justified with the value of unity, with the alleged immateriality of conflicts, with needing harmony, with the priority of authorities, and often it is simply accepted as a part of the character: I do not like to quarrel, I rather avoid conflicts, I don't need that, I am above such things etc.

The article at hand was written on the occasion of a TV portrait about the experienced German TV journalist Gordian Troeller (NDR, April 26, 23.30 p.m., "Between the chairs at the right place"), whose documentaries from the poor parts of the world belong to the best. Troeller has been dealing with the most diverse people, people who speak a different language, who have a different culture, different property circumstances and so on. Troeller explains the relationship of trust which he can build each time and says that he is able to quarrel with his alien vis-à-vis in a humorous way. When we confront each other with our respective prejudices, while steadily being aware of the irony, then we can learn about each other and are able to assess the other.

This attitude is not exactly... German. In the culture, in which I was socialized, there hardly were any open conflicts. This does not have to be a bad thing, for if people are at peace with themselves and with one another, then there really won't be any conflicts, and this is a legitimate ideal. The problem is that people mostly are not at peace with themselves and with one another. We are far from a "streitkultur", a quarrel culture. Instead, feelings often become stunted or choked.

But politics is in the first place about understanding, this is not sufficiently acknowledged. And for understanding it is not only necessary to make decisions, but, most of all, to talk with each other, to learn about each other and to share experiences. The streitkultur brings social security through the knowledge about the other and through the respect for the opinion of the other. For in a culture of conflict avoidance, authoritarian opinions regularly prevail, due to the fact that in such a culture there are many more fears, something which has been exploited by authoritarians since the stone age, by means of control, the creation of taboos, the propagation of being threatened or being a victim, by intimidation and manyfold forms of dependency, as well as the unobjected autocratic creation of political facts, which would have needed an authorization.

When I read two political articles, the first of which I like very much without finding a wavelength to communicate with the author, while I reject the second article in its major points while being able to communicate with its author and quarrel with him or her, then I prefer the second author, because without a streitkultur a good article is of no use. It is of course the humans behind the opinions who count, for the real world is the world of humans, not the one of opinions.

It is not an easy thing to handle criticism, confrontation, guilt, and alien things. You have to be able to show yourself, formulate yourself, know yourself, and continuously spend effort and energy. The reward for this is humanity, closeness to life. And the enrichment by the knowledge and the characters of the others. And development towards unfolding.

This holds true for individuals as well as for political parties which, in the ideal case, give an example of living the streitkultur and representing it, together with the social elites.Whenever the question arises why our societies are so rigid, so little innovative, so egotistic and unwilling of reforms, then a good part of the answer is the unlearning and nonlearning of streitkultur and the necessary tolerant attitude. It needs some practise to quarrel, while still respecting the other. Before we can meaningfully trade political decisions, we must know each other, and this from both sides: as a friend and as an enemy.


19. Über Kultur
Anis Hamadeh, 30.05.2003

„Kultur“ bezeichnet in unserer Alltagssprache meist ein Segment des gesellschaftlichen Lebens, zu dem Sparten wie Musik und Theater gehören, Kunst, Bildung und Tradition (Kulturerbe), es gibt „Kulturveranstaltungen“ und entsprechende Rubrizierungen in Politik und Presse. Dieses Alltagsverständnis von Kultur soll hier hinterfragt werden, da es – so die These – die deutsche Reformdebatte verzerrt und sogar verhindert. Die Gesellschaft fasst ihre Probleme größtenteils als wirtschaftliche Probleme auf und konzentriert die Debatte darauf. Dies ist insofern bequemer, als man es dann im wesentlichen mit Zahlen zu tun hat, mit abstrakten Größen, die man gegeneinander aufrechnet. Ich behaupte dagegen, dass es sich stattdessen in der Hauptsache um kulturelle Probleme handelt, die durch Reformen angegangen werden müssen.

An der Basis betrachtet ist die Kultur das Gegenstück zur Natur. Kultur als das von Menschen (mit einem Bewusstsein) Gemachte und Natur das Übrige. Im Lateinischen bedeutet „cultura“: „1. Bearbeitung, Anbau; 2. Ausbildung, Veredelung; 3. Verehrung, Huldigung“, abgeleitet von „cultus“ mit ähnlichen Bedeutungen (sowie „Schmuck“ und „Lebensweise“). Da wir in einer Zeit leben, in der man typische Kultur gern in eine „Klassik“ und ein konserviertes Kulturerbe projiziert anstatt sie als einen Teil des eigenen Lebens zu begreifen, ist bei uns Kultur Teil der Soziologie (Politik, Verwaltung, Wirtschaft etc.), und nicht umgekehrt, wie man es sich auch vorstellen kann, wenn man z.B. Begriffe betrachtet wie Esskultur, Badekultur, Wohnkultur, und besonders politische Kultur oder Streitkultur. Ist Kultur also Teil der Ökonomie oder ist Ökonomie Teil der Kultur?

In der Frage nach Reformen in unserer Gesellschaft müssen wir uns über unsere Prioritäten im Klaren sein. Provokativ gesagt: Geht es um das Goldene Kalb oder geht es um das Glück und die Freiheit der Menschen? In der Selbstbeschreibung von Kulturattac (www.kulturattac.de) beispielsweise heißt es: „Kultur ist die Basis, auf der jeder von uns täglich Entscheidungen trifft. Kultur ist das Bindeglied der Gesellschaft, das Zusammenhalt schafft. Darum braucht eine andere Welt auch eine andere Kultur.“ In diesem Verständnis ist Kultur etwas Grundlegendes, Umfassendes. Ein Aufruf zur Reform bedeutet hier nicht, Gelder neu zu verteilen, sondern z.B., von einer Angstkultur zu einer Streitkultur zu gelangen, denn das Problem der Gesellschaft ist der Isolationismus und Nihilismus, und dem kann man nur entgegentreten durch das Schaffen von Zusammenhalt und Identität.

Nehmen wir als Beispiel den aktuellen Fall des katholischen Priesters Gotthold Hasenhüttl, der auf dem diesjährigen Kirchentag das päpstliche Verbot des gemeinsamen Abendmahls zwischen Evangelen und Katholiken umging und damit eine Diskussion auslöste. Durch seinen gewaltlosen Akt hat der Priester und Theologieprofessor kulturell gewirkt. Der große Andrang von 2000 Gläubigen beider Konfessionen machte eindrucksvoll deutlich, dass weite Teile der Basis das päpstliche Verbot nicht verstehen und auch nicht wollen bzw. Erklärungsbedarf haben. Eine Gegenkultur, in der das gemeinsame Abendmahl im Experiment geprüft wird, wobei das Experiment sicher die Reaktionen miteinschließt.

Anhand eines Zeitungskommentars zu diesem Thema lässt sich beispielhaft deutlich machen, dass eine gesellschaftliche Abneigung dagegen besteht, kontroverse Themen zu diskutieren. „Einheit lässt sich nicht erzwingen“ ist der Titel des Kommentars von Patrick Klein in den Kieler Nachrichten am 30.05.03 auf Seite 2. Darin heißt es: „Die theologischen Differenzen im Abendmahlsverständnis sind vielen Laien sicher nicht verständlich zu machen. Fakt ist aber, dass es sie gibt. Das ist zu akzeptieren, mindestens aber zu respektieren. Auch das meint Ökumene. Gemeinschaft und Einheit lassen sich nicht erzwingen.“ Was für ein Zwang? Anstatt die Differenzen zu erläutern, wie es einem Zeitungsleser normal erscheinen würde, wird hier schlicht die Meinung einer Hierarchiespitze verteidigt, und zwar, „weil es sie gibt“. Der inhaltliche Diskurs wird zweitrangig. „Spektakuläre Aktionen sind eher kontraproduktiv, denn so werden wichtige Gesprächsbrücken leichtfertig zerstört.“ Hier wird die Aktion gar nicht als wichtige Gesprächsbrücke erkannt, weil als Gesprächsteilnehmer nur eine Hierarchiespitze in Frage kommt, was im Grunde zur Null-Aussage führt: Wir dürfen das Gespräch über die Sache nicht führen, damit es geführt werden kann. Die Definition von „Gespräch“ als von oben ausgehend ist eine typische Manifestation unserer vorherrschenden isolationistischen Angstkultur. Dieselbe autoritäre Argumentation zeigt sich z.B. in der öffentlichen Kritik an der US-Regierung.

Der Zusammenhalt der Gesellschaft, für den die Kultur – und selbstverständlich auch die Streitkultur – sorgen kann, wird hier von der Presse gar nicht gewünscht, sondern sie wollen Hierarchien und die Ruhe im Karton. Es wirkt fast schon neurotisch, mit welchem übertriebenen Eifer Reformen z.B. von der Presse verhindert werden: „Da wirkt es bisweilen fast schon neurotisch, mit welchem übertriebenen Eifer die Reformgruppen für das gemeinsame Mahl streiten.“

Die Befreiung der Medien, der Kommunikation, Information, Kunst und Kreativität ist der entscheidende Weg für die Befreiung der Menschen aus den starren Strukturen, die die Welt zu dieser Krise geführt haben. Dies bedeutet eine neue Kultur, die frei ist von autoritären Diskursvorgaben. Eine Kultur, die die Fragen der Zeit aufgreift und sie nicht im Zuge der allgemeinen Einsparungsmaßnahmen wegkürzt. Eine Kultur, die für die ganze Gesellschaft gilt, und durch das Zusammenrücken und die Notwendigkeit der Verständigung der Zivilisationen auch für die ganze Welt.



19. On Culture
Anis Hamadeh, May 30, 2003

In our everyday language, "culture" usually refers to a segment of social life that includes divisions such as music and theater, art, education and tradition (cultural heritage); there are "cultural events" and corresponding rubrics in politics and the press. This everyday understanding of culture is to be questioned here, since – according to the thesis – it distorts and even prevents the German reform debate. For the most part, society perceives its problems as economic problems and focuses the debate on them. This is more convenient insofar as one is then essentially dealing with numbers, with abstract quantities that are set off against each other. I argue, on the other hand, that instead it is mainly a matter of cultural problems that need to be addressed through reform.

Viewed at its base, culture is the counterpart of nature. Culture as that which is made by humans (with a consciousness) and nature the rest. In Latin, "cultura" means "1. cultivation, cultivation; 2. training, refinement; 3. worship, homage," derived from "cultus" with similar meanings (as well as "adornment" and "way of life"). Since we live in a time when people like to project typical culture into a "classic" era and a preserved cultural heritage instead of understanding it as a part of their own life, culture in our country is part of sociology (politics, administration, economy, etc.), and not the other way around, as one can also imagine when looking at terms like food culture, bathing culture, living culture, and especially political culture or dispute culture. So is culture part of economy or is economy part of culture?

In the question of reforms in our society, we have to be clear about our priorities. Provocatively speaking, is it about the golden calf or is it about people's happiness and freedom? For example, Kulturattac's self-description (www.kulturattac.de) states, "Culture is the basis on which each of us makes decisions every day. Culture is the link in society that creates cohesion. That's why a different world needs a different culture." In this understanding, culture is something fundamental, all-encompassing. A call for reform here does not mean redistributing funds, but rather, for example, moving from a culture of fear to a culture of dispute, because the problem of society is isolationism and nihilism, and this can only be countered by creating cohesion and identity.

Let's take the current case of the Catholic priest Gotthold Hasenhüttl as an example, who circumvented the papal ban on joint communion between Protestants and Catholics at this year's Kirchentag, thus triggering a discussion. Through his nonviolent act, the priest and professor of theology had a cultural impact. The large crowd of 2000 believers of both denominations made impressively clear that large parts of the base do not understand the papal prohibition and do not want it or need explanation. It is a counterculture in which the common Lord's Supper is being tested in an experiment, whereby the experiment certainly includes the reactions.

A newspaper commentary on this topic can be used as an example to illustrate that there is a social reluctance to discuss controversial issues. "Unity cannot be forced" is the title of the commentary by Patrick Klein in the Kieler Nachrichten on 05/30/2003 on page 2. It says: "The theological differences in the understanding of the Lord's Supper are certainly incomprehensible to many lay people. But it is a fact that they exist. This is to be accepted, or at least respected. This is also what ecumenism means. Communion and unity cannot be forced." What kind of forcing? Instead of explaining the differences, as would seem normal to a newspaper reader, the opinion of a hierarchy top is simply defended here, "because it exists". Discourse on content becomes secondary. "Spectacular action tends to be counterproductive, because it carelessly destroys important bridges of conversation." Here, the action is not even recognized as an important conversational bridge because only a hierarchy top can be a conversation participant, which basically leads to the zero statement: We must not have the conversation about the thing in order to have it. Defining "conversation" as starting from the top is a typical manifestation of our prevailing isolationist culture of fear. The same authoritarian reasoning is evident, for example, in public criticism of the U.S. government.

The cohesion of society, for which culture – and of course also the culture of debate – can provide, is not at all desired by the press here; instead, they want hierarchies and peace in the box. The exaggerated zeal against reforms, for example, by the press, almost seems neurotic: "The exaggerated zeal, with which the reform groups argue for the common meal, sometimes seems almost neurotic."

The liberation of the media, communication, information, art and creativity is the decisive way for the liberation of people from the rigid structures that have led the world to this crisis. This means a new culture free from authoritarian prescriptions of discourse. A culture that takes up the questions of the day and does not cut them away in the course of general cost-cutting measures. A culture that applies to the whole of society and to the whole world, as we are moving towards each other with the need for civilizations to understand each other.


20. „Warum bleiben wir zurück, während sie vorankommen?“
Araber und Muslime im neuen Jahrhundert

Anis Hamadeh, 24.08.03

Wenn es um das Verhältnis zwischen dem Osten und dem Westen geht, fragen Muslime und Araber häufig: „Warum bleiben wir zurück, während sie vorankommen?“ Man findet diese Frage auch in arabischen Quellen, vielleicht schon seit 1798, als Napoleon Ägypten angegriffen hat. In moderner Zeit wurde sie durch die Teilung des Nahen Ostens von den Briten und den Franzosen populär. Ihren Höhepunkt erreichte sie 1967, als mehrere arabische Staaten den Sechs-Tage-Krieg verloren. Bereits die Gründung Israels 1948 wurde aufgrund der Vertreibungen und der Landnahme die „Nakba“ („Desaster“) genannt.

Nun sind die arabischen Staaten nicht die einzigen, die schmerzvolle Erinnerungen haben, sogar die USA kennen das. Vietnam, zum Beispiel, oder der Irak. Und die US-Amerikaner fragten kürzlich in ähnlicher Weise: „Warum hassen sie uns?“ Beide Fragen sind latent selbstkritisch und beide enden in der Schwerelosigkeit, denn es sind keine gesicherten Antworten im Kollektivbewusstsein überliefert. Andernfalls wäre „Warum bleiben wir zurück, während sie vorankommen?“ nicht mehr auf dem Markt. Ist es aber. Muslime und Araber in der ganzen Welt fragen sich auch heute, warum ihre Kultur und Zivilisation nicht so kraftvoll und erfolgreich ist wie das westliche System.

Man kann mit Recht argumentieren, dass die Menschen im Westen ebenfalls nicht glücklich sind, doch ist das Thema damit in keiner Weise geklärt. Es gibt im Westen allgemein eine bessere Organisation, ein besseres Sozialsystem, ein besseres Erziehungssystem und insgesamt mehr Freiheit. Ein plausibler Grund dafür ist, dass westliche Gesellschaften im allgemeinen weniger autoritär sind als östliche, trotz des reaktionären Trends zurück zum traditionellen nationalen Staat wie etwa in Israel und in den USA.

In den meisten, wenn nicht in allen arabischen und muslimischen Ländern findet man folgende Charakteristika: Jungen und Mädchen werden in den Schulen getrennt. Es gehört sich nicht, in der Öffentlichkeit Zuneigung zum anderen Geschlecht zu zeigen. Frauen und Männer können nicht Hand in Hand durch die Straßen gehen (Küssen wäre undenkbar). Männer und Frauen haben große Schwierigkeiten, vor einer Heirat zusammenzukommen. In Dörfern gibt es eine Geschlechtertrennung sogar bei Hochzeiten. Nicht selten werden Leute von ihren Eltern verheiratet bzw. zur Heirat gedrängt, besonders Mädchen und Frauen. Auch habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie Lehrer in einer Grundschule (in die mein Vater gegangen war) Kinder mit einem Stock geschlagen haben. Das sind keine Ausnahmen, es ist eine vorherrschende Mentalität.

Es gibt Machotum auch im Westen, und es gibt Gewalt. Man kann das exquisit daran erkennen, wie die Menschenrechtsverletzungen eines bestimmten Landes in westlichen Öffentlichkeiten euphemisiert werden: Wer Menschenrechtsverletzungen in einem anderen Land verteidigt, der verteidigt die autoritäre Gesellschaft in der eigenen Umgebung. Mit anderen Worten: Solange dieses Land ungestraft die Menschenrechte verletzen kann, können wir auch unsere Kinder (Frauen, Schüler, Angestellten etc.) zu Hause kontrollieren. Dennoch sind die im vorigen Absatz genannten Verhältnisse in westlichen Gesellschaften heute eher fremd.

Wer also wissen möchte, warum Muslime und Araber hinterherhinken, während der Westen vorangeht, bitteschön! Der Westen kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Selbst das Argument, dass die Einführung von Freiheit im Osten am fehlenden Personal scheitert, ist nicht gültig, denn es gibt genügend einheimische Politiker, Journalisten, Anwälte, Intellektuelle und Künstler, die sich aktiv für Freiheiten einsetzen. Sie haben es schwer in ihren eigenen Ingroups.

Wollen Araber und Muslime wissen, warum sie hinterherhinken, während der Westen vorangeht oder wollen sie im Selbstmitleid schwelgen? Warum lassen sie zu, dass Kreativität und Sexualität kontrolliert werden, wie die Kirche es in Europa vor einigen Jahrhunderten tat? Natürlich kann die Arabische und Islamische Welt vorankommen, wenn es die Menschen dort wollen. Sie können das kreative Potenzial, das nötig ist, um diesen Minderwertigkeitskomplex zu überwinden, systematisch befreien und näher zurückkommen zur Idee der egalitären Gemeinschaft, dem ursprünglichen islamischen und auch christlichen Gedanken. Wenn sie es wollen.

Wenn ich Kinder in einer arabischen Straße sehe, frage ich mich, wie diese Kinder aufwachsen werden. Werden sie zu Hause oder in der Schule geschlagen? Werden sie die Chance bekommen, glücklich zu werden? Oder sind sie verdammt dazu, in den Fußstapfen ihrer Eltern zu gehen und deren Schmerz wieder und wieder durchzumachen? Jahrhundertelang haben Eltern ihre Resignation und Verzweiflung, ihre Abhängigkeiten und Ängste an ihre Kinder tradiert, wie sie sie selbst überliefert bekommen haben, in Schweigen. Sie haben nicht gelernt, ihre eigenen Gefühle zu verstehen und kennen kaum Selbstkritik. Viele sehen Kritik und Gewalt als Dinge an, die Schmerz bringen, ohne zwischen den beiden unterscheiden zu können. Es gibt einen nicht hinterfragten, manchmal mittelalterlichen, Glauben an Autoritäten. Deshalb hinken sie hinterher. Und auch der Westen hinkt weit hinter dem Ideal her, sodass diese Worte in der Tat für beide gelten können.

20. "Why do we lag behind while they move forward?"
Arabs and Muslims in the new century

Anis Hamadeh, August 24, 2003

Concerning the relationship between the East and the West, Muslims and Arabs often ask: "Why do we lag behind while they move forward?" This question can also be found in Arabic sources, maybe even since 1798, when Napoleon invaded Egypt. In modern times, the partition of the Middle East by the British and the French made it popular, and it reached its climax in 1967, when several Arab states had lost the Six-Days-War. The foundation of Israel in 1948 was called the "Nakba" ("disaster"), because of the expulsions and the land-taking.

The Arab states are not the only ones which have painful memories, however. Even the USA has them. Vietnam, for instance, or Iraq. And the US Americans, in a similar way, recently asked: "Why do they hate us?" Both questions are latently self-critical and both end in zero-gravity, as no stable answers are transmitted in the collective consciousness. Otherwise, "Why do we lag behind while they move forward?" would not be on the market anymore. But it is. Muslims and Arabs around the world are wondering until today why their culture and civilisation is not as powerful and successful as the western system.

One can rightly argue that people in the West are not happy, either, but this does in no way erase the issue. People in the West generally have a better organisation, a better social system, a better educational system, and all in all more freedom. A plausible reason for this is that western societies generally are less authoritarian than eastern ones, despite the reactionary trend back to the traditional national state e.g. in Israel and in the USA.

In most, if not all, Arab and Muslim countries you will find the following characteristics: boys and girls are segregated in schools. It is bad manners to show affection to the opposite sex in public. Women and men cannot walk hand in hand in the streets (kissing being even unthinkable). Men and women have great difficulties in coming together before marriage. In villages there sometimes is a gender segregation even at weddings. Sometimes people are married to others by their parents, or the parents build up a pressure. I also saw with my own eyes how teachers in an elementary school (where my father went as a kid) beat children with a stick. These are no exceptions, it is a prevailing mentality.

There is machism also in the West, and there is violence. You can exquisitely tell by the way the human rights violations of a certain country are euphemized in western publics: when you defend human rights violations in another country, then you defend the authoritarian society in your own surroundings. In other words: as long as this country can violate the human rights without punishment, we can control our kids (or wifes or students or employees etc.) at home. Still, the items mentioned in the preceding paragraph are rather alien to western societies today.

So if anybody wants to know why Muslims and Arabs lag behind while the West moves forward, here you are. The West cennot be made responsible for this. Even the argument that the implementation of freedom in the East lacks staff is not valid at all, for there are indiginous politicians, writers, lawyers, intellectuals and artists who actively seek to establish liberties. They have a hard time in their own in-groups.

Do Arabs and Muslims want to know why they are lagging behind while the West moves forward or do they want to indulge in self-pity? Why do they allow people to control creativity and sexuality like the church did in Europe some centuries ago? The Arab and Muslim World can of course move forward, if people there want to. They can systematically liberate the creative potential which is needed to master this inferiority complex and to get back closer to the idea of an egalitarian community which is the original Islamic idea as it is the Christian idea. If they want to.

When I see children in an Arabian street I ask myself how these children will grow up. Will they be beaten at home or at school? Will they get a chance to become happy? Or are they condemned to walk in the foot-prints of their parents and to repeat their pain over and over again? Centuries have passed and parents have transmitted their resignation and despair, their dependencies and fears to their children, just as they received it themselves, in silence. They did not learn to understand their own feelings and they don't know much about self-criticism. Many view criticism and violence as things which bring pain, without being able to distinguish between the two. There is an unquestioned, sometimes medieval, belief in authorities. This is why they are lagging behind. And the West, too, is lagging far behind the ideal, so that these words actually are valid for both.

 
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