09.10.2006: Vorveröffentlichung eines Essays aus dem bald erscheinenden Buch „Keine Angst vor der Angst. Narrationen aus einer Katakombe“ von Friedrich Hitzer
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Friedrich Hitzer (09.01.1935 – 15.01.2007), Schriftsteller, Übersetzer und Redakteur. Geboren in Ulm, Studium in den USA, der UdSSR und der BRD (Amerikanistik, Russistik, Germanistik und Lateinamerikanische Studien).1965 war er Mitbegründer der Vierteljahreszeitschrift „kürbiskern“, die er bis 1987 mit herausgab und als Chefredakteur betreute. Mit seinen Romanen (zuletzt: Lebwohl Tatjana), Essays, Erzählungen und Reportagen versucht Hitzer Brücken über die Abgründe des 20. Jahrhunderts zu spannen, die von den politischen Lügen und Vorurteilen des Kalten Krieges eingerissen wurden. Als Übersetzer übertrug er aus dem Russischen 28 Spielfilme des klassischen Sowjetfilms von Eisenstein bis Medwedkin, Gesammelte Briefe von Dostojewski, mehrere Bücher von Tschingis Aitmatow, Daniil Granin, Michail Schatrow, Muchtar Schachanow und viele andere mehr. Zuletzt übersetzte er die Autobiografie von Alexander N. Jakowlew, Architekt der Perestroika : Die Abgründe meines Jahrhunderts, Leipzig 2003 (demnächst in einer Neuauflage im Waldemar Weber Verlag, Augsburg). Friedrich Hitzer erhielt die russische Puschkin-Medaille 2006 für „Verdienste auf dem Gebiet der Kultur und Aufklärung, der humanitären Wissenschaften, der Literatur und Kunst, für den großen Beitrag beim Studium und dem Erhalt des kulturellen Erbes, der Annäherung und wechselseitigen Bereicherung der Kultur der Nationen und Völker.“
Bald erscheint sein aus 26 Essays zusammengestelltes Buch „Keine Angst vor der Angst. Narrationen aus einer Katakombe“ im Waldemar Weber Verlag, Augsburg. Auf dieser Seite finden Sie eine Vorveröffentlichung des vorletzten Essays: „Grassliche Rituale, oder: Geschäfte im Mainstream der Medien“.
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Über das Buch schreibt der Autor in der Einleitung: „Schon vor der großen historischen Wende achtete ich auf die Vorgänge hinter den Kulissen der neuen heißen Brennpunkte. Ganz gleich, wo sich das abspielte. Das Laboratorium des Machtwahns war nicht nur in Asien und Europa, Afrika und Lateinamerika zu besichtigen. Nordamerika, das Mekka der Demokratie, war nie die makellose Geschichte astreiner Demokraten, die deutsche Vasallen nach 1945 in ähnlicher Weise erfanden wie deutsche Kommunisten einst das 'russische Wunder' aus dem Geist des Bolschewismus. Wer die gegenwärtigen Bedrohungen in der Welt besser begreifen will, kommt ohne das andere Amerika nicht zurecht. Dies im Auge verfasste ich mehrere, miteinander verknüpfte Narrationen in den Jahren nach der historischen Wende Anfang der Neunzigerjahre. (...) In meinen Essays finden sich deshalb immer wieder Variationen zu diesen Grundthemen der Geopolitik und der Kriege um die Vorherrschaft über Eurasien – vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute.&8202;
Grassliche Rituale oder: Geschäfte im Mainstream der Medien Für die Germanistin Natascha T.
1. Der rechtzeitige Zufall ist so unschätzbar wie der Umsatz eines Buches. Auch wenn der Autor Günter Grass heißt, Martin Walser oder Hans-Magnus Enzensberger – gealterte Stars der Linken in Deutschland (West) seit den Fünfzigerjahren, die ich damals, noch in den USA (als potentieller Auswanderer), dann in der UdSSR, kaum wahrnahm. Die Exegesen um Titel, Thesen, Temperamente nahm ich eher verwundert als verständig zur Kenntnis – bis ich mich selbst an der deutschen Streitlust beteiligte und versuchte, Beiträge und Motive der zum Streit bereiten und öffentlich erwähnten Intellektuellen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs zu verstehen – kurzum viel von dem, was zum Input und Output der Verlage und der Feuilletons in den Perioden des Kalten Krieges gehörte, zu hinterfragen, zu sammeln und zeitweise auch zu verlegen. Enzensberger reussierte früh mit er-lesenen Studien über das geistige Klima der Restaurationszeit. Erstmals lanciert von Alfred Andersch, prägte Enzensberger mit anderen Ton-Angebern in und um die Gruppe 47 den „Literaturbetrieb“ – die Börse beim Einlass zu Geschäften mit der westdeutschen Verlegerei. Als Enzensberger in den Neunzigerjahren wie auch viele ehemalige Linke seiner Generation – ganz anders als der einst für unpolitisch gehaltene, nunmehr politisch verfehmte Handke – die Kriege der Nachwendezeit um die neue Weltordnung zu feiern begann, entzog ich mich den seit den Sechzigerjahren periodisch inszenierten Ritualen mit Intellektuellen. Mich erstaunte nur, dass es im wieder vereinigten Deutschland so wenig Untersuchungen über die neuesten Stimmungen für diese Aus- und Einbrüche gab, bei denen manche Leute für eine bestimmte Zeit über ein Thema präsent sein durften, als hätten sie sich sowohl für den Auftakt als auch den Abgesang abgesprochen, sei es bei BSE oder der Vogelgrippe, bei Walsers Auftritt in der Paulskirche, den Grass-Flüchen auf Lafontaine oder den Verwünschungen Handkes durch fast alle Kommentatoren. Erneut bricht ein öffentliches Gezeter über uns herein- wegen der angeblich verspäteten Beichte des Nobelpreisträgers der Literatur aus Danzig, Günter Grass.
Mich beschäftigt bis heute die Frage, warum die erwähnten Größen der westdeutschen Nachkriegsliteratur bei anspruchsvollen Lesern im anglosächsischen, französischen, spanischen und russischen Kulturkreis nicht so recht ankamen, Übersetzungen ihrer hierzulande heiß diskutierten Werke in andere Sprachen häufig subventioniert wurden. Haben sie vielleicht ihre Unsicherheiten und Ängste gegenüber den deutschen Traditionen verklausiert und waren immer bemüht, sich von der großen Masse abzuheben? Haben sie daher Wörter wie „Schicksalsgemeinschaft̶ und „Volk“ gescheut wie der Teufel das Weihwasser? Die so genannten Trivialen der Deutschen, im Westen waren es Autoren wie Simmel und Kirst, genossen nie so viel Zusprüche im deutschen Mainstream – sie verkauften ihre Bücher ohne die Kampagnen der Feuilletons, spiegelten sie doch Erlebnisse von Millionen in den Verhängnissen unserer Epoche. Im Ausland nahm man übrigens nicht ohne Ironie wahr, wie im deutschen Inland, ob in der BRD oder der DDR, die Haltungen der Deutschen gegenüber dem Nationalsozialismus so korrekt und wütend angefasst wurden. Nachvollziehbares gab und gibt es ja nicht im Übermaß, wie Deutschland zum Dritten Reich und danach in zwei Vasallenstaaten verwiesen wurde. Die schmerzhaften Vorgänge unter den betroffenen Menschen, die sich – vor allem seit 1933 – einer professionellen Gleichschaltung der Gefühle und des Denkens auslieferten, auch der Bestechung, sich am Vermögen der „Feinde“ zu bereichern, ließ man weitgehend außer Acht. Die Beteiligten blieben nach der Katastrophe zumeist sich selbst und den Spitzfindigkeiten unter intellektuellen Nachkriegseliten ausgesetzt, die sich im Westen oft amerikanischer als die Amerikaner und im Osten sowjetischer als die Russen gerierten, aber unter sich die einen wie die anderen für nicht so gut hielten wie sich selbst. Die etwas Leiseren unter den Inlands- und Auslandsdeutschen fanden in diesem Klima kaum Anklang. Am allerwenigsten die Nachdenklichen unter den Russlanddeutschen, die bis heute in diesem Betrieb kein Forum haben.
Millionen unter den so genannten einfachen Menschen – getäuscht, verführt und durch den Machtwahn der Eliten korrumpiert -, erkannten sich in den grasslichen Ritualen nicht wieder. Was sollten denn die Leute tun, die bis zuletzt „für Führer, Volk und Vaterland“ kämpften- anders als Sophie und Hans Scholl, Tresckow, Stauffenberg und Hofacker, allesamt erst leidenschaftliche Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung, dann entschlossen zum Widerstand auf verlorenem Posten? Waren die meisten Deutschen denn wirklich Herr der eigenen Sinne gewesen oder nicht längst Opfer der schärfsten Waffen moderner Kriege geworden, nämlich einer nach System, oft im Labor für Pawlowsche Reflexe ausgeklügelten Propaganda der Führer für die Geführten? Wer jetzt die Sendezeiten und Leseseiten des Mainstream damit vollmacht, dass Günter Grass hier als exklusiver Sonderfall zu behandeln sei, betreibt das alte Schindlunder mit dem großen Publikum. Man schürt ein Feuer, das erloschen ist, um andere zu entfachen, die man nicht sehen soll. Somit werden viele Menschen von den Katastrophen der Gegenwart geschickt ablenkt. Ein Dutzend prominenter Neokons der USA, darunter William Kristol und Newt Gingrich, mobilisieren zum „Dritten Weltkrieg gegen den islamischen Faschismus“, 21 Ex-Generale und hohe Sicherheitsexperten der USA fordern Bush auf, seinen brandgefährlichen Kurs zu revidieren und mit allen Staaten der Welt politische Lösungen anzustreben, aber Deutschlands Mainstream-Medien wollen von den Dichtern und Denkern, dass sie sich wegen Günter Grass ereifern und zerstreiten.
Die Regisseure solcher Rituale verstehen es seit eh und je, bedingte Reflexe auszulösen – gerade unter Intellektuellen, die aus Eitelkeit und Rechthaberei zu jedem Pakt der Publicity bereit sind. Hier geht es zudem um ein Ass im Rampenlicht, das sich dagegen wehrt, das „Gewissen der Nation“ zu sein – wie schon Heinrich Böll, sagt Günter Grass: sie beide hätten doch diese Rolle immer abgelehnt! Tatsächlich bleiben bis heute die Millionen ausgeschlossen, die nicht so privilegiert behandelt werden wie Prominente des Literaturbetriebs. Sie sollen zuhören und zuschauen. Wenn sie wollen, dürfen sie den Zuschauerservice anrufen oder einen Leserbrief schreiben. Und so erhält man das Forum, das sorgsam sortiert und selektiert wird für die Neugierigen, die so gern durch die veröffentlichten Zuschriften und Blogs stöbern ...
Ausgerechnet fällt das Ritual in die Tage, da die veröffentlichte Meinung in Polen das Zentrum der Vertriebenen in Berlin als Versuch attackiert, aus Tätern Opfer machen zu wollen. Ungewollt und zielsicher versenkte der Mainstream die Chancen, durch Grass zwischen Warschau und Berlin versöhnend zu vermitteln und klarzustellen, wer die Profiteure des Vernichtungskrieges 1939 bis 1945 waren, die sich von den Verlierern unter den Deutschen deutlich unterscheiden. Zu diesen Verlierern gehören allemal die Verführten Deutschlands, gleichsam als letzte Opfer der Verbrechen gegen die Menschheit, vor allem die ungezählten Deutschen aus dem Osten, selbst wenn nicht wenige von ihnen erst dem Führer zujubelten und der Macht mit der Waffe dienten. Erst recht gilt das für diejenigen, die nach 1945 mit dem Kalten Krieg erst in den bolschewistisch geführten Machtbereich und nach der Wende in den Malstrom der Wessi-Gewinnler gerieten.
Wo sind die deutschen Stimmen geblieben, die solche unerwarteten Wenden in Ost und West anders als der Mainstream ausleuchteten? Wie etwa Günter Gaus, Wolfgang Ullmann, Christa Wolf, Christoph Hein und Friedrich Schorlemmer? Mit Sicherheit auch Günter Grass. Er hat zwar in seinem, oft ungestümen, nur scheinbar schneckenhaften Rhythmus ein Werk hervorgebracht, in dem sich der Autor vielfach als Schelm verstellte – wie der Simplex Grimmelshausens gegenüber den Gräueln und Abgründen von Gewalt und Krieg zwischen 1618 und 1648. Danach gab es in deutschen Landen fast keine Lebenden mehr mit Erinnerungen an die Verbrechen von Menschen an Menschen, die lange anhielten, aber vor dem neuen 30jährigen Krieg zwischen 1914 und 1945 fast vergessen waren. Demgegenüber bleibt die Zugehörigkeit zur Waffen-SS des siebzehnjährigen Danzigers am Ende dieser Periode eine Marginalie, die der Autor Grass immer bedachte, wenn man sein Werk vor sich hat und nicht den Freiwilligen auf dem elektrischen Stuhl der Medien.
Man könnte die ganze Debatte über Grass als blöden Zeitvertreib abtun, wäre da nicht die Inszenierung der veröffentlichten Meinungen und der damit verbundenen Spekulationen. Am ehesten sind zunächst, wie schon unterstellt, die Geschäfte im Mainstream zu verstehen, an denen Günter Grass und viele andere gutes Geld verdienen: Rechtzeitig mit den Vorstößen in die Buchhandlungen durch Vertreter auf Provisionsbasis hat der Verlag des ehemaligen Druckereibesitzers und engagierten Sozialdemokraten Steidl 150.000 Exemplare der gehäuteten Zwiebel Grass abverkauft. Und Steidl kann sich mit Autor und Vertretern zufrieden auf die Schenkel klatschen und schon die nächsten 100.000 Exemplare nachdrucken. Bekanntlich ist Papier bares Geld. Hier fließen die Euros in einem Strom der Wasser von Oder und Rhein, Donau und Spree, Elbe und Isar ins Sortiment der Neuerscheinungen. Wenn ein effektvoller Nebentitel das Marketing eines Buches würzt, vermehrt das den Umsatz ebenso unschätzbar wie das Prickeln um einen ertappten Autor: Ich war in der Waffen-SS – das ist ein Knüller, wenn er von Grass kommt. Aber den kreierte nicht der Autor allein ...
Natürlich macht man mit Büchern nie solche Geschäfte wie mit Waffen und SS. Der Krieg ist profitabler als alles andere, was Menschen betreiben – wenige verdienen Milliarden, vielen kostet dieses Gewerbe Leben, Ersparnisse und Vermögen – noch bei der Währungsreform 1948. Mit dem Krieg, dem Grass zum Glück entkam, machte man bis zum letzten Schuss noch verdammt gute Geschäfte, die hinter dem Enthusiasmus der Jugendlichen und dem Wahnsinn für den Untergang bis heute verschwunden sind. Darüber wird im Mainstream nicht gesprochen. Ich hätte mir gewünscht, unter den Befragten, die jetzt überall die Sende- und Druckplätze füllen dürfen, wäre noch Franz Schönhuber dran gekommen, der nicht mehr mitspielen kann. Schönhuber verfasste bekanntlich den Bestseller Ich war dabei und war stolz auf seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS, weil er ja schon damals, wie nachzulesen, auf der richtigen Seite stand, genau: im Kampf gegen Bolschewismus und Kommunismus.
Hätte Grass dem Journalisten Schönhuber seinerzeit sekundiert und ausgerufen – Auch ich war dabei! , stehe aber jetzt unbeirrt als historische Schnecke den ungeduldigen Kommunisten und Marxisten der 68er im Weg und trommle an der Seite von Willy Brandt auf der anderen Seite der Barrikade mit dem Zwerg Oskar gegen die Vergesslichkeit der verstockten Trotzköpfe! Was hätte solch ein Aufschrei dem Medienzirkus alles bescheren können? Bezahlte doch Schönhubers Verleger Fleissner, der ewig verletzte Sudetendeutsche, viel Geld an Willy Brandt, um an dessen Memoiren zu kommen und sie unter dem gleichen Dach mit Schönhubers Erinnerungen herauszubringen – Herbert Fleissner vermarktete bekanntlich alle deutschen Traditionen und Geschlechter (außer Kommunisten und den seit 1946 entsorgten deutschen Klassiker seines später gekauften Langen-Müller-Verlags: Guido Erwin Kolbenheyer).
Nein, Grass hat nicht aus Rücksicht auf die politischen Gepflogenheiten bei der Verleihung von Nobelpreisen der Literatur seinen Dienst bei der Waffen-SS erst jetzt benannt. Es ist durchaus möglich, dass er sich, wie das im Gespräch mit Ulrich Wickert zu verfolgen war, innerlich noch nicht bereit dafür sah. Und es bleibt sein gutes Recht zu bestimmen, wann er wie, warum und wozu öffentlich Stellung nimmt.
Es ist seit langem bekannt, dass die Folgen einer auf Vernichtung angelegten Strategie für die Weltherrschaft mit fast sechzig Millionen Toten sowohl den Opfern als auch den Tätern für lange Zeit die Sprache verschlagen hat. Es mag auch sein, dass Grass über diese Seite seines jungen Lebens nicht sprach, weil er als Kritiker der Restauration im deutschen Aufarbeitungsklima verlacht worden wäre. Halt doch den Mund, Flegel! Du warst doch auch dabei! Die alte Garde der Herren Nationalsozialisten hätte gut dafür bezahlt, ihn medial verhöhnen zu lassen – Grass entschied sich für eine Verräterpartei: die Sozialdemokraten. Andererseits hätte Grass auch kaum eine Chance für den, von ihm so ersehnten, aber fast immer politisch akzentuierten Preis gehabt. Wesentlich ist, dass sein Verschweigen nicht nur ihn betrifft. Die deutsche Wiederbewaffnung verlangte nach dem Vernichtungskrieg den Mythos von der anständigen Wehrmacht gegenüber der verbrecherischen Waffen-SS, ein Mythos, der spätestens nach der Wehrmacht-Ausstellung zuende war. Von seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS, die von der SS mit dem Totenkopf zu unterscheiden ist, wussten etliche Zeitgenossen. Vor allem die Dienststellen, die den Fragebogen eines deutschen Kriegsgefangenen aus dem Jahr 1945 verwahrten und sich bewusst waren, wie und warum Flakhelfer, zumeist Oberschüler und Gymnasiasten, in die SS gerieten. Ich kenne das aus Ulm an der Donau, wo nur einer in der letzten Klasse des Gymnasiums nicht vortrat, als der Direktor in Anwesenheit eines Offiziers fragte: Wer will jetzt nicht freiwillig zur Waffen-SS, um Führer, Volk und Vaterland zu verteidigen? Nur der Sohn des Generalfeldmarschalls Rommel aus Herrlingen blieb stehen. Lehrer und Offizier kannten den Grund. Die Mitschüler nicht. Nur der eine, Erwin Rommels Sohn Manfred, erfuhr schon damals, warum der Vater als Held gefeiert werden durfte und sich vergiftete, um die Ehre des Namens zu behalten und die Familie zu schützen. Als fast Zehnjähriger erlebte ich das Ritual für den Generalfeldmarschall in der noch nicht zerbombten Altstadt Ulm. Unsere Klasse hatte schulfrei bekommen. Bis heute habe ich die militärische Inszenierung vor mir, sehe die Tränen und höre das unterdrückte Schluchzen der Menschen im Schatten des Münsters und unter dem Trommelwirbel und den Klängen des Liedes „Ich hatt einen Kameraden“ ...
Von allen, die jetzt beim Abfragen der Medienregisseure für die Inszenierung mit Günter Grass den Daumen nach unten oder nach oben halten, hat mich vor allem ein mir unbekannter Volker Breidecker angesprochen, dessen Artikel (in der SZ vom 19./20. August 2006) den Blick auf das Werk lenkte und nachwies, dass Grass seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS nie verborgen hat. Auf den Punkt bringt es auch Ivan Nagel: „Die Jahre der Verfolgung für mich waren für ihn Jahre des alltäglichen Aufwachsens in einer immer verrückteren Welt. Das erzählte er genau und wahr, und das war mutig genug. Es ist gut, dass er jetzt die Kraft fand, auch den Rest zu erzählen.“ (SZ vom 18. August 2006) Martin Walser deutete in die Richtung, die meines Erachtens größere Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs verdient als das Abstimmungsritual für Zeitungen, Fernsehen und Internet. Walser, selbst ein gebranntes und zugleich geliebtes Kind der Medien, meinte, die „Krawallfraktion des Kulturbetriebs“ soll das Maul halten (in: Aspekte spezial vom 16. August 2006). Aber es ist ja mehr als Krawall, wenn das große Publikum zum Gaffen eingeladen ist, wie sich die Geistesgrößen der Nation miteinander über Schnee von gestern zanken, aber nicht über die zunehmende Barbarei unserer Tage.
Obwohl ich selbst erlebte, wie Grass andere Menschen, getreu nach deutschen Erziehungsregeln, öffentlich abkanzelte und die Faust schwang, bevor er sich vors nächste, unter den Schnauzer gehaltene Mikrofon stellen konnte, um Belehrungen und Hiebe mit eigenem Konterfei durchs weite Land zu schicken, finde ich es töricht und widerwärtig, wie verlogen noch immer diese Bewältigungsrituale verlaufen. Niemand unter den kurzfristig als Raunzer und Richter zugelassenen Literaten scheint zu merken, was damit bezweckt wird, wenn sie es jetzt Günter Grass heimzahlen dürfen, was sie ihm neiden oder was sie an ihm früher ärgerte. Doch selbst der Neid ist nebensächlich. Was ist denn neu an seiner späten Beichte? Der Siebzehnjährige geriet 1944 zufällig in die SS-Panzerdivision Frundsberg, wird als Ladeschütze registriert und erklärt 2006 – „das musste raus, endlich!“ Wen erschüttert das? Mich erschüttert, dass der Krieg längst verloren war und ganze Divisionen bis zur letzten Stunde, hier in der Schlacht um Berlin, verheizt wurden. Einer von ihnen, der Ladeschütze Grass, hatte unheimliches Glück und war danach bestrebt, schreibend herauszufinden, woher er kam und wohin er ging – das hat er doch nie verschwiegen! Er hat sich selbst verklausuliert, dosiert und nach Rollen verteilt. Mit Symbolen und Metaphern aus dem Tierleben und der Küche. Und wollte oft, dass andere seiner Agenda folgen. Toleranz war nicht unbedingt seine Stärke, wozu das deutsche Bewältigungsklima nie einlud. Traurig finde ich, wie er, nach anfänglicher Begeisterung über Jewgenija Kazewa, seine russische Übersetzerin, sich in Schweigen hüllte. Er besuchte sie in deren Moskauer Wohnung, sie erzählte von sich, und er forderte sie in Anwesenheit seines Verlegers Steidl auf, ihre Erinnerungen auf deutsch zu schreiben, was sie auch tat. Aber Grass fand nicht den Mut, ihr persönlich mitzuteilen, warum sie ihre Autobiographie nach seinen Wünschen ergänzen sollte, was sie nicht wollte und das Manuskript zurückzog: von einer unbekannten, Grass stellvertretenden Person im Lektorat. Sie, Jahrgang 1921, die das Jiddische zur Muttersprache hatte, viele Verwandte durch Deutsche verlor, die Leningrader Blockade überlebte – Schenia Kazewa, Kulturoffizier der ersten Stunde in Berlin, war zwar durch die rechthaberische Chuzpe des deutschen Literaturbetriebs nach der Wende enttäuscht, ließ sich aber weder von den jüngeren, arroganten Journalisten noch den älteren Koryphäen ihre „Kriegstrophäe“ verunstalten – „die deutsche Sprache und Literatur“, wie Schenia ihre Erinnerungen überschrieb, mit großem Erfolg dann auf russisch herausbrachte, obwohl sie sich sehr gefreut hätte, das Buch in Deutschland zu Lebzeiten verlegt zu sehen. Die Kunst des Verstehens ist im Mainstream der deutschen Verlegerei dem Hang zum Rechthaben schon immer unterlegen gewesen ... Aber auch deswegen wäre es unziemlich zu denken, es geschieht Günter Grass, der andere vor Egomanie so leicht verletzen konnte, gerade recht, was ihm jetzt widerfährt.
Immerhin bringt ihm der Krawall reiche Erträge. Das wissen vor allem diejenigen, die den Mainstream der Medien lenken. Aber die Hauptperson schweigt sich aus, die ihm das Geschäft samt Beschimpfungen und Lob bescherte. A la bonheur, Monsieur FS!
2.
Die Person heißt Frank Schirrmacher. Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat sich wieder als schneller und hintersinniger erwiesen als die Konkurrenten. Aber nicht nur er zieht daraus sein Kalkül. Sein Vorgänger, Joachim Fest, meldete sich wie aus dem Nebel von Gestern, als ihn Grass noch verbal verdrosch. Fest hält ihn für „unanständig“, würde von ihm, weil er die Mitgliedschaft bei der Waffen-SS erst jetzt zugäbe, nicht einmal einen Gebrauchtwagen abkaufen. Ein Herrenwitz? Nebbich! Für Schirrmacher, den forschen Nachfolger von Fest, ist Grass ein Ass, aber er liefert auch Futter für Fresser. So ist es halt, wenn man sich die Beute aufteilt. Grass schafft den Bestseller, und Schirrmacher mobilisiert die Figuren, die im Mainstream ihre Gesichter und Sprüche verbreiten. Ganz Germanien gerät außer Atem. Einige Literaten schnappen nach Luft, andere beißen zu, manche empören sich und pfeifen laut im Wald. Es klappt immer wieder. Und wirkt mit jedem Mal zynischer, wie Schirrmacher & Kompanie die Renner mal umsorgt, mal entsorgt. Er ist nicht der einzige Chef im Mainstream, der Intellektuelle verbraucht wie Kanonenfutter. Nach der Wende heizte Schirrmacher das Klima an, das Christa Wolf und andere bedeutende deutsche Schriftsteller der DDR verbrannte oder vertrieb. Die ganze Literatur sollte neu bewertet werden. Tatsächlich schrumpfte die deutsche Literatur nach der Wende wie ein zusammen gestauchter Liliputaner. Wurde immer fahler, oberflächlichler und schaler. Schirrmacher geleitete Martin Walser zur Rede in der Paulskirche, wo dieser „ein Fass“ aufmachte, die „Auschwitzkeule“ über die Köpfe der Versammelten um Roman Herzog und Ignaz Bubis warf und ein wichtiges Thema verschleuderte, bis ihn sein Laudator Schirrmacher nach dem Buch Der Tod des Kritikers fallen ließ.
Und nun durfte Nobelpreisträger Grass auf den heißen FAZ-Stuhl sitzen, damit alle hinterher hecheln, um ihre Anteile am Getöse des Medienrennens zu kassieren. Grass kennt den Preis und pokert hoch: Solch eine Werbung für das neue Buch Beim Häuten der Zwiebel kommt nicht ein zweites Mal für seinen Verleger, der sowieso macht oder unterlässt (Kazewa!), was der Starautor will. Die Gewissenslast des Nobelpreisträgers über die kurze Karriere bei einer vor Berlin fast aufgeriebenen SS-Panzerdivision ist viel wert! Das Subjekt: ein Schuljunge aus kleinen Verhältnissen steigt zum Flak- und Lade-Helfer auf! Und dann zum Großschriftsteller und Sozialdemokraten. Der Handel: Für Altherausgeber Joachim Fest zählte Er – Speer, vorher war es Hitler – Mächtige auf der Vorbühne, in den Kulissen ihrer Macht bleibt es bei Fest eher dunkel. Sein Nachfolger Schirrmacher, Jungherausgeber für Mainstream-Geschäfte nach der Wende, hat den Sozialddemokraten sich produzieren und desavouieren lassen. Wer nimmt Grass da noch eine Kritik an Kriegen ab, die wieder so profitabel sind wie vor 1945? Wendet sich Grass jetzt gegen den US-amerikanischen Wahn („Geburtswehen einer Neuordung“ – Condoleeza Rice über die Zerstörung Libanons), ausgeführt von israelischem Militär, wird er vom Mainstream verschwiegen, verhöhnt oder als Antisemit verschrieen.
Auch hier begegnet einem die alt bekannte Gedanken- und Gnadenlosigkeit. Viele deutsche Intellektuelle haben zu den Präventionskriegen seit 1990 entweder geschwiegen oder sie als „humanitäre Friedenseinsätze“ hoch gelobt. Ein einsamer Rufer in der Wüste der deutsch schreibenden Prominenten-Intelligenzija war der Österreicher Peter Handke in Paris. Wie hat man Handke in Deutschland deswegen zerrupft, geprügelt und gejagt, bis er im Sperrfeuer des Politik-Medien-Komplexes den Kopf hob und darauf verzichtete, den Heinrich Heine-Preis der Stadt Düsseldorf entgegenzunehmen. Dabei war Handke – ganz allein ohne Grass, Walser, Enzensberger – so sanft und vornehm, vergleiche ich ihn mit dem zornigen, englischen Dramatiker und Nobelpreisträger Harold Pinter, den der deutsche Mainstream schlicht ignorierte, genau: mordete ...
Die grasslichen Rituale um Nonkonformisten der Literatur und Publizistik begleiten einen Niedergang der einst so kritischen Szene unter etlichen deutschen Intellektuellen, die nicht einmal merken, wie die Präventionskriege der Weltmacht USA und ihrer Vasallen in den meisten Kulturen rund um den Planeten gleichermaßen Ohnmacht und Hass schüren. Sie zerstören Kulturen, stürzen Millionen ins Unglück und bereiten den Boden für verbrannte Erde. Die Lausitz des Günter Grass 1945 ist heute globalisiert.
Während der Inszenierungen um Nebenschauplätze in der Vergangenheit werden Demokratie und Freiheit demontiert und immer mehr deutsche Soldaten an die Fronten gescheiterter, aber profitabler Kriege abkommandiert. Während der Mainstream die späte Beichte des Günter Grass abregnen lässt, beschließt die Bundesregierung unter Angela Merkel den Einsatz deutscher Soldaten im Mittleren Osten. Für die Befriedung nach einem barbarischen Blitzkrieg, den die Bevölkerung in ihrer Mehrheit ebenso verurteilt wie die Politiker, die solche Verbrechen ermöglichen. Warum wird eigentlich nie die Frage nach dem Nutzen gestellt, den die verheizte deutsche Jugend an den Fronten zwischen 1939 und 1945 der Rüstungsindustrie und den Banken brachte? Vor allem nach Stalingrad und dem Zusammenbruch der Front in Nordafrika (unter Rommels Kommando); nach der Panzerschlacht am Kursker Bogen und der Landung der westallierten Truppen in der Normandie? Wem brachte denn der Idealismus eines Günter Grass noch einen Gewinn, dessen er sich mit den Jahren seines Erwachens aus dem deutschen Fog of War schämte und damit wie so viele kaum umgehen konnte, was ihm nach all seinen eindrucksvollen literarischen Werken durchaus zu glauben ist? Für jedes Flugzeug, jeden Panzer, jedes Schiff, jede Flak, für jede Patrone und Bombe, die kaputt gingen oder verschossen wurden und explodierten, gab es bis zur letzten Stunde des Krieges Nachbestellungen. Die Rüstungsindustrie stand 1945 im Zenit ihrer Produktion und ließ damit vor allem die Eigentümer, Aktionäre und Banken – nicht nur in Deutschland! – unglaubliche Gewinne einheimsen. Die Profiteure des Krieges irrten nicht wie Günter G. zitternd durch die Lausitz und sangen im Wald vor lauter Angst Hänschenklein. Die Profiteure von heute überlassen das Zittern den Patrouillen im Kosovo, in Afghanistan und im Irak. Ja, die Weltanschauung war für die Propagandisten des Mainstream im Dritten Reich eine andere als die von heute. Aber sie besorgten das gleiche Geschäft wie ihre Nachfolger heute. An den Fronten verbluten immer die Jungen, auch die der Waffen-SS seit 1943. Der Idealismus der Verführten verschleiert die Geschäfte des Krieges am besten. Die Namen der Propagandisten des Mainstream bis 1945 fallen deshalb weniger ins Gewicht als deren Methoden und Zweck. In welchem Sinn unterscheiden sie sich eigentlich von denen, die heute das Volk wieder betrügen, täuschen und aus Zerstörungen ihre Vorteile ziehen? In den Stäben der Leitmedien saßen bis in die Siebziger-, Achtzigerjahre hinein noch viele alte Fachleute der Verführung und der Vernichtung. Sie passten sich an die Fortsetzung des erlernten Gewerbes unter Hitler nach dem Krieg so vorzüglich an wie manche ehemalige Stalinisten nach der Wende an die derzeitigen US-Strategien zur Beherrschung der Welt. Gerade die Intellektuellen, die nach einer Deutung der Brüche und Umbrüche in der Mitte und am Ende des 20. Jahrhunderts durch Worte und Bilder suchten, waren den Routiniers der Macht und der Medien nicht gewachsen. Viele fanden sich überhaupt nicht mehr zurecht. Die Geduld und Ruhe zur Besinnung fehlten oft ebenso wie die Information über die Gründe von Untergang, Zusammenbruch und Neubeginn. Und wer ist jetzt wieder vorschnell dabei, den Ton anzugeben! Generation Ich lautet das Fazit-Grass eines Kurt Kister (SZ vom 18. August 2006), wo indes nicht zu erfahren ist, was der Redakteur eigentlich will, er wiederholt nur, was die Zeitung schon reproduzierte – einen geradezu lächerlichen Streit unter Leuten, die niemand mehr ernst nimmt, wenn sie sich über Grass fusselig reden und mit den SZ-Redakteuren schweigen oder stotternd zustimmen, wenn der Bundestag beschließt, junge deutsche Soldaten in Himmelfahrtskommandos rund um die Welt zu schicken!
Der Zufall Grass kommt zur rechten Zeit – vor einem Einsatz im Nahen Osten. Deutsche sollen dort besorgen, was die israelische Armee für die Auftraggeber und Waffenlieferanten in den USA nicht schafften. Da können Kriegsgegner wie Günter Grass nicht mehr Nein sagen! Jetzt wollen wir von ihm hören: Auf, auf zum Kampf! Gegen die Hisbollah! Gegen Syrien und den Iran! Das ist nicht hergeholt. Der Deutschlandfunk verwandelte das religiöse Forum Schabat-Schalom vom 18. August 2006 in eine Art Mobilmachung: „Die Enkel der Holocaust-Opfer“, war da eine jüdische Stimme aus Deutschland zu vernehmen, „erwarten von den Enkeln der Holocaust-Täter, Israel mit der Waffe zu verteidigen“. Und der SZ-Leitartikel zum Schabbes (19. August 2006) beschließt vollmundig: „Grass war Deutschland“! Thomas Steinfeld zerfleddert hier das literarische Werk in einer Weise, wie ich das nur aus den Verurteilungen Boris Pasternaks kenne. Vom sowjetischen Mainstream angestachelt, verkündeten damals Steinfeldski und Co, sie seien froh, das Werk des Dichters nicht zu kennen, es sei ja sowieso nichts wert. Auch zu Grass gibt es solche Äußerungen – ich bin so froh, ließ eine Deutsche jetzt ihre amerikanischen Freunde wissen, dass ich noch nie ein Buch von Grass gelesen habe ... Ich liebe nur Böll, beschloss sie ihre E-Epistel ...
Wenn man über Nebenschauplätze eines verbrecherischen Präventionskrieges von gestern reden darf und mit Fragen nach einem unausgereiften Schuljungen und Flakhelfer des Jahres 1944 überschüttet wird, aber gegenüber den Kriegsverbrechen von heute die Augen verschließen soll, kann man nachvollziehen, warum sich Frank Schirrmacher die Hände reiben darf: Er verbuchte für die FAZ einen Punktsieg über die anderen Leitmedien. Der Sieg dürfte zwar nicht lange währen, und das Strohfeuer Grass bald erlöschen, bis man wieder etwas Neues zu inszenieren hat, um die Angst der Menschen und damit ihre Wehrlosigkeit zu vermehren – Angst vor dem Terror, die Staaten mit besorgen, die andere Länder in Präventionskriegen aus der Luft terrorisieren, Behausungen von Zivilisten in Schutt und Asche legen, Brücken und Straßen unbefahrbar machen, Bürgerkriege begünstigen und Millionen Menschen erneut zu Vertriebenen und Flüchtlingen machen. Was erfährt denn darüber das Publikum in Deutschland im Mainstream der Medien? In der Washington Post vom 20. August 2006 kann man nachlesen, dass seit 2001 ein Drittel der Gesamtbevölkerung Afghanistans und nach 2003 über 13 Millionen Iraker zu Displaced Persons wurden; über sechs Millionen von ihnen sind in die Nachbarländer geflohen, aus dem Libanon flohen im Sommer 2006 Hunderttausende nach zwanzig Jahren erneut, viele nach Syrien, dem der nächste Krieg droht. Alle Vertriebenen der Kriege im ehemaligen Jugoslawien, im Mittleren und Nahen Osten zusammen genommen, übersteigen die Zahlen, mit denen Deutschland ab 1945 überflutet wurde. Wer weiß das schon im Kreis des Vorstands, der das Zentrum für Vertriebene verwaltet? Zum Geschäft im Mainstream gehört, diese Zahlen zu verschweigen. Warum?
Warum ist die veröffentlichte Meinung der Mainstream-Medien in Deutschland auf einem Niveau angelangt, wo man nur noch herausfinden will, wie uns Politik und Medien täuschen, belügen, betrügen und für den nächsten Krieg gleichschalten?
4.
Zur Macht und Autorität eines Gemeinwesens gehören vor allem die Mittel der massenhaften Einflussnahme auf die größtmögliche Zahl seiner Menschen. Noam Chomsky, der eine ganze Schule prägte, nach deren Analysen die Medien einen wesentlichen Bestandteil des intellektuellen Klimas einer Zeit und eines Staates ausmachen, sieht die Hauptfunktion der Massenmedien darin, die Menschen von Wichtigerem fernzuhalten. Dem dienen alle Gattungen und Formate – von der Unterhaltungsindustrie bis zu den Akteuren und Themen der Eliteunternehmen.
Macher und Leser dieser Eliteunternehmen verkörpern das System der Regeln im Mainstream. Die Chefredakteure und Abteilungsleiter der Zeitungen und Fernsehanstalten, die den Mainstream zur Hauptströmung der veröffentlichten Meinung machen, gleichen dem Führungspersonal in Unternehmen, Parteien, Verwaltungen und Hochschulen. Sie sind hierarchisch gegliedert und werden von der Spitze aus kontrolliert. Wer sich nicht damit abfindet, wird entfernt. An Hebel solcher Macht kommt, wer bereit ist, das Geschäft der Ablenkung abzuwickeln und die Wirklichkeit zu frisieren, dafür durchläuft man verschiedene Stadien der Anpassung und Selektion. Sie ähnelt der Nomenklatura des Sowjetmanagements, ist aber feiner und effektiver bestellt und wird weitaus besser bezahlt. Nicht von ungefähr stammen die besten Satiren einer dermaßen gesteuerten Gesellschaft von englischen Autoren. Ich denke an Aldous Huxley und seine Brave New World, bekannt als Schöne neue Welt, in der die Menschen in unbegrenztem Materialismus und uneingeschränkter Sinnlichkeit und Sucht weder Liebe noch Mut oder eigene Gedanken und Phantasie haben, kurzum eine Art weiche Tyrannei leben und akzeptieren. Sie wähnen sich frei und sind doch fremd bestimmt.
Chomsky erinnert an George Orwell, der seine weltberühmte Satire Animal Farm zwar auf die Sowjetunion bezog, aber sein Vorwort für die englische Originalausgabe nicht veröffentlichen durfte – der Verlag ließ es nicht zu, denn darin war zu lesen, in England werde man zwar nicht auf Schritt und Tritt vom Geheimdienst kontrolliert oder verfolgt wie in der Sowjetunion, doch im Resultat ergäben sich unmissverständliche Direktiven : „Wer in seinem Denken zu unabhängig ist oder auf die falschen Gedanken kommt, erhält keine Chance, seine Ideen zu verbreiten.“
Unter englischen und amerikanischen Verhältnissen sind das ungeschriebene Regeln der Anpassung, die man in den Elitehochschulen in sich aufnimmt. Nicht so wie bei Geboten und Verboten nach alter deutscher Sitte. Deutsche sind eher auf Gefolgschaft getrimmt. Elisabeth Wöckel, Mitarbeiterin und theologische Beraterin von Dom Helder Camara, in vielen Ländern der Dritten Welt für Emanzipation und Freiheit des Denkens aller Menschen ohne Rücksicht auf die soziale Herkunft tätig, beschreibt die aktuelle Anpassung und zunehmende Gleichschaltung in Deutschland nach den Vorgaben der so genannten Globalisierung: „Die politische Klasse unserer repräsentativen Demokratie konnte sich diesem Sog nicht entziehen, immer mehr mischte sie sich ein in den Kampf um die Märkte in anderen Ländern. Es entwickelten sich neue imperialistische Strukturen in der politischen Führung der EU. Festgeschrieben sind sie in der neuen EU-Verfassung. Die Prioritäten der Politik liegen auf dem kurzfristigen Sektor des freien Marktes und Gewinnes für deutsche Unternehmen durch militärische Absicherung der dafür notwendigen Ressourcen in anderen Ländern und an der eigenen Gewinnchance der politischen Klasse im Spiel um die Macht. Die Nachteile dieses Spiels für die Bevölkerung liegen auf der Hand. Die Stimm-Abgabe an der Wahlurne beraubt die Bürger ihrer im Grundgesetz garantierten Souveränität für vier Jahre. Wichtige Entscheidungen werden in schnellen Entscheidungen und Gesetzesänderungen ohne sie getroffen. Die letzten Legislaturperioden haben gezeigt, welche Veränderungen, getarnt als 'Reformen' im bisher demokratisch-sozialen System des Landes von der politischen, intellektuellen und wirtschaftliche Klasse in ganz kurzer Zeit vorgenommen wurden. Mit den so genannten 'Reformen' arbeitet man am Abriss der fünf Säulen unserer Demokratie, an der freien Bildung, am Gesundheitssystem für alle, an der freien Presse, der freien Justiz und den freien Gewerkschaften.“ Die Medien transportieren diesen Willen zum Publikum – „mitnehmen“ heißt das im Jargon der Gleichschalter.
In den USA gelten die New York Times, die Washington Post und die Los Angeles Times als Flaggschiffe des Mainstream, der in Deutschland getreulich nachströmt und die Eliteorgane Süddeutsche Zeitung (mit der New York Times als Montagsbeilage), Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Zeit, Die Welt einbettet. Über diese Foren geben sich die Manager der Eliten in Wirtschaft, Politik und Verwaltung ihr tägliches Stelldichein für die Informationen über den Gang der Welt und erhalten dabei mehr Meinungen für gleichartige Mentalitäten als Analysen, was zugleich andere Medien zum Imitieren und Variieren anstiftet. Themen für Kampagnen lassen sich über die Online-Ausgaben der Flaggschiffe schneller transportieren als Richtlinien durch Komitees, Ministerien und zentrale Presseämter.
Diese Elitemedien machen ohne Werbung nur Verluste. Bei reduzierten Werbeetats verliert man zwar Geld, sie werden aber dennoch gehalten, ist doch ihr Produkt die Meinung der Leserschaft über die Vorgänge in der Welt – zum Konsumieren für einen bestimmten Zeitpunkt und eine gewisse Dauer. Danach wird abgeschaltet und neugeschaltet. Das Führungsmanagement in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft – ganz besonders die Berater – fingern durch alle medialen Foren und Netzwerke. Untereinander pflegen sie neurotische, mit Vorliebe profitable Beziehungen. Journalisten und Figuren zum Zitieren und Hofieren hassen und brauchen sich wie Sadisten und Masochisten, sie halten sich für die Großdenker, Infotainer und Entertainer, das Fernsehen macht sie allgegenwärtig. Was sie bringen, zählt als Wirklichkeit, was sie verschweigen, existiert nicht oder gehört zu den „Verschwörungstheorien“. Sie verfassen füreinander Bücher über Reformen und Demokratie, Geschmack und Life Style, lassen mitunter auch Sprecher der Kommunikations- und Informationswissenschaften zu Wort kommen, vor allem wenn sie als verkappte Botschafter von Lobbies und Denkbehältern – englisch: think tanks – auftreten.
In Deutschland lenkt zum Beispiel eine „hochgefährliche Krake“ – Helmut Schmidt über die Bertelsmann-Stiftung – die meisten von uns durch die Gewässer, wo die Krake das Leben umschlingt, Vorschläge und Themen für die Nachrichtenmaschine absondert. Vorschläge für Niedriglohnsektoren, für den Exportweltmeister, das Bündnis für Arbeit, die Agenda 2010, Hartz I bis IV. All das quoll aus dem Think Tank Bertelsmann-Stiftung, ohne die sich die Manager der Politik und der Medien kein Berufsleben und keine Statistik mehr vorstellen können. Die Bertelsmann AG ist mit rund 80.000 Beschäftigten und sechs Unternehmensbereichen der fünftgrößte Medienkonzern der Welt. Zu ihr gehören: Random House mit über hundert Verlagen in 16 Ländern als der weltgrößte Buchverlag, darunter Gruner + Jahr, Stern, Geo, Brigitte, Financial Times Deutschland, RTL-Group mit 67 Unternehmen von Ufa Film- und Fernsehproduktion über Antenne Bayern bis Radio Hamburg. Jeden Tag schalten mehr als 170 Millionen Zuschauer einen Sender von der RTL Group ein wie: RTL-Television, Super RTL, VOX oder N-TV in Deutschland, M6 in Frankreich, Five in Großbritannien, Antena 3 in Spanien, RTL 4 in den Niederlanden, RTL TVI in Belgien und RTL Klub in Ungarn. Der Venusberg-Report des CAP (Centrum für angewandte Politikforschung) mit rund 60 Mitarbeitern unter Führung des Mediendauergasts Professor Werner Weidenfeld entwickelt strategische Konzepte. Demnach gilt es, „Konfliktdominanz nah am Krieg Staat gegen Staat sicherzustellen“, für eine „deutliche Luftüberlegenheit und eine Schlagkraft“ der EU-Streitkräfte zu sorgen, die „von land- und seegestützten Plattformen operieren kann [...] Was Europa braucht, ist eine Streitmacht, die an jedem beliebigen Punkt der Erde eingreifen, kämpfen, essen, bleiben kann“. Zum Katalog der Empfehlungen gehören „präventive weltweite Militärmissionen, um Anschläge in Europa oder auf europäische Interessen zu unterbinden“. (Ingrid Lohmann. Die 'gute Regierung' des Bildungswesens: Bertelsmann-Stiftung, www.erzwiss.uni-hamburg-de/Personal/Lohmann/Publik/BertelsmannStiftung.pdf )
Wer sich fragt, warum die kritischen Untersuchungen aus der Werkstatt US-amerikanischer Autoren über diese Zusammenhänge in den Elitezeitungen Deutschlands unterschlagen werden, findet hier die Antwort. Oligopole und Monopole dieser Art Denkbehälter und Meinungsmaschinen sorgen nach Noam Chomsky dafür, dass innerhalb der bestehenden ideologischen Institutionen der international vernetzten Mainstream-Medien so etwas nicht diskutiert wird. Das Publikum in seiner Masse besteht aus Unwissenden, die aus den öffentlichen Arenen heraus zu halten sind. Sie dürfen alle paar Jahre ein bekanntes Mediengesicht wählen – aus dem Kreis der schon Selektierten in der politischen Klasse. All das entspricht Maßstäben, die Lenin für die Avantgarde der „Arbeiter und Bauern“ entwarf. Die große Linie zieht Noam Chomsky vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart. Damals bewies die USA-Führung, wie man mit Propaganda den Krieg gewinnt. Das vorgetäuschte Ziel lautete: War without victory, aber faktisch wollte man „das Denken der ganzen Welt kontrollieren – vor allem das der USA“. Das habe auch Adolf Hitler begriffen – im Buch Mein Kampf kündigte er daher eine eigene, deutsche Propagandamaschine an, die in ihrer Wirkung auf die Deutschen und viele andere in Europa nicht minder vehement war als die der Bolschewiki weit über die Völker der Sowjetunion hinaus, geht es doch immer um die „Fabrikation von Konsens“ der Massen im Interesse der Herrschenden.
Das Repertoire für die „Fabrikation von Konsens“ ist ausgefeilter denn je. Eigenes Denken und Handeln für persönliche Interessen sind deswegen erschwert. Als ich einen Generalstaatsanwalt nach dem Wesen des Betrugs fragte, antwortete er: Betrug ergibt sich stets aus der Tatsache, dass ihn der Betrogene nicht merkt. Wer aber einen Betrug merkt, muss nach geltendem Recht dem Betrüger die Absicht nachweisen. Zur Professionalität derer, die uns desinformieren, genau: ihre wahren Absichten verschleiern, gehört es aber, zu leugnen, was sie anstellen. Es ist ein Teufelswerk.
Die Mechanismen der Propaganda und der ihr verwandten Strategien der Public Relations in der Wirtschaft verfolgen allesamt das Ziel, die Menschen zu einer freiwilligen Zustimmung zu den fortgesetzten Betrügereien einiger weniger zu bewegen, die sich auf Kosten der Mehrheit bereichern. Die Betreiber solcher Medien erzeugen unaufhörlich Verführte und Wehrlose, kurzum genau die Menschen, die zu einer Eigenverantwortung unfähig sind, so sehr ihnen diese Medien und die meisten Politiker dies auch ständig als Ziel aller „Reformen“ vorgaukeln.
Die Werke darüber, wie man das Denken der Menschen in den Griff bekommt, stehen – so Noam Chomsky im Essayband Die politische Ökonomie der Menschenrechte – natürlich nicht im Lehrplan der Universitäten. Es fehlt auch die Medienpädagogik an Schulen, die zum Überleben der Menschen in einer freien und gerechten Gesellschaft gehört. Zugleich vernetzen sich dank des Internet, das noch nicht kapitalisiert wurde, zahlreiche Alternativen für humanere Verhältnisse. Dafür muss ein Mensch jedoch viel Zeit, Energie und kritisches Potential aufbringen, was zugleich durch das Geschäft im Mainstream abgebaut wird. Kinder und Jugendliche sind dagegen fast wehrlos, müssten sie doch wissen, was sie noch nicht können – gegenüber allem, was sie hören und sehen, kritisch zu sein. Auch Erwachsene spüren zunehmend, dass sie fast nichts mehr ungeprüft annehmen können. Und Verbraucherzentralen, die Fakten der Mainstreammedien überprüfen, gibt es nicht. Das hört sich an, als seien wir zu einer Ohnmacht verdammt wie einst der Jugendliche Günter Grass.
5.
In den Tagen, da Frank Schirrmacher den Schriftsteller auf seinem Stuhl Platz nehmen ließ, versammelten sich die US-Veteranen für Frieden bei ihrer Nationalversammlung, um Leutnant Ehren Watada anzuhören, der begründete, warum er den Einsatzbefehl im Irak verweigerte. Ich erhielt übers Internet zugleich die Nachricht über die rund 40.000 Deserteure der US-Streitkräfte seit 2000. Als Watada im fernen Nordamerika die Bühne betrat und in Deutschland Grass auf Schirrmacher eingestellt war, erhoben sich fünfzig Kameraden des Leutnants und setzten sich demonstrativ hinter ihren Kameraden auf die Bühne. Die Rede fand großen Beifall und wurde weltweit verbreitet. Sie ist auch allen Redaktionen der Elitemedien in Deutschland bekannt. Aber sie beschlossen, diese Rede ebensowenig zu verbreiten wie die Warnung der führenden US-Atomphysiker im offenen Brief an Bush vor einem Einsatz kleiner Atomwaffen für einen seit langem beschlossenen Krieg gegen den Iran. Sie verschwiegen uns die Artikel von Seymour Hersh im The New Yorker über die bestellten Luftangriffe auf den Libanon als Teil dieser Kriegsplanung. Die Geschäfte im Mainstream brauchen die Sprengkraft des Vergangenen, damit sie die Worte Watadas nicht hören müssen:
„Die Nürnberger Prozesse haben Amerika und der Welt gezeigt“, rief der junge US-Leutnant japanischer Abstimmung in den vollen Saal, „dass die Bürgerinnen und Bürger wie auch Soldatinnen und Soldaten die unaufhörliche Verpflichtung haben, eine Komplizenschaft mit Kriegsverbrechen zurückzuweisen, die ihre Regierung begeht. Die weit verbreitete Folter und die unmenschliche Behandlung von Häftlingen ist ein Kriegsverbrechen. Ein Aggressionskrieg, geboren aus einer nicht offiziellen Politik der Prävention ist ein Verbrechen gegen den Frieden. Eine Okkupation, die jedes internationale humanitäre Gesetz und jede Souveränität verletzt, ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Diese Verbrechen bezahlen wir mit unseren Steuergeldern. Sollten sich Bürgerinnen und Bürger weiterhin still verhalten, durch selbst verschuldete Ignoranz oder Wahl, macht es sie so schuldig wie den Soldaten, der in diese Verbrechen verstrickt ist.“
Leutnant Ehren Watada spricht übrigens mit der gleichen Leidenschaft für das Völkerrecht und gegen neue Kriegsverbrechen wie der deutsche Major Florian Pfaff. Doch die Führungseliten deutscher Politik und Medien verschweigen beide Offiziere und veranstalten stattdessen eine Abstimmung über den Schriftsteller Grass. Was für ein unwürdiges Spektakel! Es ist, in den Worten von Leutnant Watada, noch mehr. Es geht hier um den Vorwurf einer Komplizenschaft mit Kriegsverbrechern.
„Wenn wir sagen“, sagte Leutnant Watada, „wir stehen gegen alle Feinde, fremd oder heimisch, was tun, wenn die gewählten Vertreter zu Feinden werden? Welchen Befehlen folgen wir? Die Antwort lautet – dem Gewissen, das jedem Soldaten innewohnt, jedem Amerikaner und jedem menschlichen Wesen. Unsere Pflicht gegenüber der Verfassung ist eine Verpflichtung, keine Wahl.“
Hat Günter Grass diese Stimme gehört? Was liegt denn näher, als den fast Achtzigjährigen danach zu fragen, warum er im Alter von siebzehn Jahren noch nicht so weit war, zu durchschauen, was Watada und seinesgleichen im Sommer 2006 öffentlich aussprechen? Auch Watadas Mutter, die ihre Landsleute und die Menschen aller Welt dazu aufruft, ihren Sohn in seinem bevorstehenden Prozess wegen Befehlsverweigerung zu unterstützen? Die Stimmen des anderen Amerika, um so mehr die des anderen Israel, die sich gegen die weapons of mass deception – die „Waffen der Massentäuschung“ erheben – sind weltweit unüberhörbar, werden indes vom deutschen Mainstream behandelt, als gäbe es sie nicht. Das gilt sogar für Senator John Kerry, den letzten Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei, der das grassliche Ritual in Bild, Ton und Schrift nicht einmal als Randfigur begleiten durfte: Immerhin hielt er bei einer Sitzung des US-Senats Anfang August 2006 eine viel beachtete Rede und schlug vor, eine regionale Sicherheitsstruktur im Nahen und Mittleren Osten zu schaffen – unter Beteiligung aller Staaten um den Irak, der Arabischen Liga, der NATO und der Europäischen Union, den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates. Warum dürfen wir das nicht hören und lesen?
In fast allem regiert Mittelmaß, meint Albrecht Müller, und „eine geistig beschränkte Ideologie beherrscht die öffentliche Debatte“. Da wird etwa verbreitet, Günter Grass sei mit seinem Bekenntnis der Stasi zuvorgekommen – als ob die Stasi 2006 noch einen anderen Einfluss hätte als den eines bedingten Reflexes von Journalisten im Mainstream. Ich fürchte, das hat Methode. Wir werden von den Bedrohungen der Gegenwart abgekoppelt und zunehmend mit der Angst vor Terroranschlägen eingeschüchtert, damit man an Kriegen, die den Terror vermehren, ungestört teilnehmen kann. Das kann nur bedeuten: Man will verhindern, dass wir uns gegen einen neuen großen Krieg wehren, so lange es noch geht.
Sogar die Analysen über Propaganda im Dritten Reich und nach dem Modell des Bolschewismus, die ich in der Literatur der USA, Englands und Russlands entdecke, finde ich erst durch Recherchen übers Internet und bestelle die Titel in den Orginalsprachen, weil sich keine deutschen Verlage dafür gefunden haben. Ein Blick in das Sortiment, das Der Club (Bertelsmann) anbietet, durch TV-Verkaufsgesichter und wie das von Professor Hellmuth Karasek und Dr. Wolfgang Herles, Hauptakteure bei den grasslichen Ritualen, belobigen lässt, ist so peinlich wie Sabine Christiansens sonntägliches Stelldichein zum Ersatzparlament Fernsehen. All das ist aber weniger skandalös als gefährlich. Wenn sich Intellektuelle dazu verleiten lassen, an Inszenierungen wie die um Grass teilzunehmen und sich über die Zeitgeschichte so bar jeder Kenntnis äußern, fühlt man sich an Debatten vor 1914 erinnert oder nach 1945. Offenbar genügt den Abgefragten ein Stichwort wie „Waffen-SS“ oder „Hitler“, um gleich so zu reagieren wie ein Hund beim bekannten Experiment von Iwan Pawlow. Lauter bedingte Reflexe und kaum Kenntnisse über die verheerenden Auswirkungen von Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart.
Chomskys Urteil über Hitlers Lehren aus den Propagandaerfolgen der USA im Ersten Weltkrieg malt zum Beispiel keinen Teufel an die Wand, sondern einen Politiker, der durch „betäubendes Hämmern der Wiederholungen“ (Carl Zuckmayer) und die „richtige Verwendung der Propaganda als wirkliche Kunst“ (Hitler und Goebbels über sich selbst) so vorging wie ein General vor der Schlacht. Man weiß aus allen Untersuchungen, dass Angriffe mit Waffen zu Wasser, zu Land und aus der Luft, seit 1914 nur der letzte Vollzug des Trommelfeuers zuvor gewesen ist – die „Konzentration auf den Gegner“ in Wort, Bild und Ton. Das hat sich seit 1914 unheimlich verfeindert und vergrößert. Die „Generäle“, die in unserer Zeit die Worte und Bilder, das Marketing und die Weltanschauung befehligen, brauchen aber nicht unbedingt Diktatoren von gestern. Liest man die Originalaussagen der Diktatoren, klingt das mitunter wie eine Regel für den Mainstream von heute. Sind etwa aus dem Grund Bücher wie Mein Kampf (von Hitler) oder Fragen des Leninismus (von Stalin) in Deutschland völlig aus dem Verkehr gezogen worden?
Joseph Goebbels hat nach 1933 Sergei Eisenstein den deutschen Filmregisseuren als Vorbild für Propaganda angepriesen, worauf der seinerzeit schon weltberühmte Regisseur antwortete. Eine Diskussion über diesen Brief blieb aus – die Mainstream-Medien veröffentlichten die Korrespondenz nie. Bei meinem, in den Sechzigerjahren angefertigten Filmporträt Iwan Grosny in zwei Teilen (für die Zeitschrift film, Hannover 1965), die Iwan IV. zeigten und Stalin meinten, konnte ich mir kein Dokument über eine Unterhaltung des Regisseurs mit dem Diktator persönlich vorstellen. Sie fand aber statt. Das Protokoll darüber wurde 1999 im Band Wlast i intelligenzija (Die Macht und die Intelligenzija) abgedruckt – herausgegeben von Alexander Jakowlew in der Reihe Russland. 20. Jahrhundert. Dokumente. An diesem Gespräch vom 26. Februar 1947 (von 23.15 bis 00.05) im Kreml nahmen Stalin, Molotow und Schdanow auf der einen, Eisenstein und der Grosny-Darsteller Tscherkassow auf der anderen Seite teil. Als Eisenstein sich danach erkundigte, ob es eine Direktive bezüglich des Filmes gäbe, antwortete Stalin: „Ich erteile Ihnen keine Anweisungen, ich drücke das aus, was der Zuschauer anzumerken hat. Man muss die historischen Gestalten richtig abbilden ...“
Modern gesprochen, berief sich der Diktator auf das Publikum, man könnte auch sagen: Das Volk will das haben, was wir produzieren lassen. Unser Wille bestimmt die Einschaltquote. Tscherkassow, der legendäre Darsteller des Iwan Grosny, wollte wissen, ob man eine bestimmte Szene, in der einer ermordet wird, belassen soll – der „Vater aller Völker“, der im 20. Jahrhundert mehr Massenmorde veranlasste als sein durchaus ebenbürtiger Feind Hitler, antwortete darauf: „Drin lassen. Morde kommen immer vor.“ Stalins Rivale Hitler, wie er selbst Oberbefehlshaber im Krieg, berief sich in seiner Terminologie ebenfalls darauf, dass ja das Publikum einschalte und sehe, was er für das „gesunde Volksempfinden“ hielt, Hitler sorgte sich immer um die „Kunst für alle“.
Natürlich war der Mainstream unter den Bolschewisten und den Nationalsozialisten von Weltanschauungen der „Vernichtung der Feinde“ geprägt, aber zu allen Ritualen der Massenpropaganda gehören immer wieder kehrende Kampagnen und Rituale mit Akteuren, die dafür oder dagegen stimmen – im Rahmen der Veröffentlichungen, die der Mainstream genehmigt und organisieren lässt.
Der kasachische Nationaldichter Muchtar Schachanow fügte in seine Verserzählung Irrweg der Zivilisation. Ein Gesang aus Kasachstan eine Inszenierung mit Gespenstern aus dem Jenseits ein. Zu ihnen gehört Hitler im Kreis von Engeln, dem Helden Manas, dem ehemaligen US-Außenminister Dulles und Andrei Sacharow. Die Groteske Schachanows wirkt nicht weniger aktuell als manche Szenen, die Grass gerne verwendet, um das Vergangene aus Wahnbildern von Gestern den Menschen unserer Zeit nahezubringen. Hitler lässt, ungebrochen und unverdrossen, den Kirgisen Manas wissen: „Den letzten Krieg verlor ich zwar/ Doch feiert die Idee/ Triumphe, sogar in deinem Land“. Natürlich sind Schachanows versammelte Geister verwundert und wollen wissen, was Geist Hitler meint: „Nichts mehr lesen/ Nicht mehr denken,/ Ganz und gar als Sklaven/ Auf den Wert des Geistes speien ...“ Und Schachanow ruft auch ins Gedächtnis, wie dieser Hitler in den Tischgesprächen sich damit brüstete, warum er nie einen Roman lese, fast nie das Feuilleton, er würde sich ja nur ärgern und dafür sorgen, dass die Menschen solch einen Quatsch bleiben ließen, sein Siegeszug sei damit auch im 21. Jahrhundert gesichert.
Das heißt: Man braucht keine Führer wie Hitler oder Stalin, es gibt modernere Rezepte der Massenbeeinflussung und der Lenkung von Intellektuellen und Massen: Entertainment, Infotainment, Nachrichtenunterdrückung im Sinn der Herrschenden. All das verhindert das eigene Denken und die Erinnerung der Völker an ihre Vorgeschichte. Getreu der Verkündigung: „Grass war Deutschland“.
Mit diesen Ritualen kann man Kriege leichter vorbereiten. Scheuen deshalb die deutschen Mainstreamregisseure gerade die kritischen Amerikaner, die das derzeit am schärfsten zum Ausdruck bringen? Unterdrücken sie das andere Amerika deshalb, weil sie glauben, an den Eroberungen und Rohstoffsicherungen der Administration Bush als Mittelmacht nochmal partizipieren zu können? Ein verdienter Haudegen der imperialen Kriege der USA, Smedley Butler, sollte in den Dreißigerjahren Roosevelt im Auftrag einflussreicher Konzerne und Banken stürzen und die Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Vorbild von Mussolinis Italien ausrichten. Es misslang, weil Smedley Butler auspackte und erklärte, gegen die eigenen Landsleute werde er die gut bezahlten Verbrechen, die er einst in Lateinamerika verübte, nicht begehen. In seinem Buch War is a Racket lässt er keinen Zweifel daran, was er von denen hält, die Kriege anzetteln:
„Krieg ist ein Racket, die organisierte Großschieberei. Das war Krieg schon immer. Womöglich das älteste Gewerbe der Art, zu allem leicht und höchst profitabel, ganz sicher das bösartigste Gewerbe. Das einzige, in seinen Dimensionen wahrlich internationale Geschäft. Auch das einzige, bei dem die Profite nach Dollar und die Verluste nach Leben abgerechnet werden. Ich glaube, ein Racket beschreibt man am besten damit, was die Mehrheit eines Volkes nie annimmt. Nur eine kleine Gruppe von Insidern wissen da Bescheid. Sie betreiben es zum Wohl der sehr wenigen, auf Kosten der sehr vielen. Eine Handvoll Leute machen aus dem Krieg ihre riesigen Vermögen.“
Ob die Bosse der Elitemedien zu dieser Minderheit gehören, bleibt offen. Dass sie ihr dienen, wissen sie genau und halten lieber den Mund, sonst fliegen sie aus ihrem gut bezahlten Job. Bestimmt kennen die Medienbosse die Fakten aus den Vereinigten Staaten von Amerika und wissen auch, warum Generale wie Butler und Eisenhower in ihrer Abscheu vor dem Krieg heute in den USA so oft zitiert werden. Dies dem deutschen Publikum zu unterschlagen, ist riskant. Wo die Schlachtrufe von Militaristen von überallher zu hören sind: Germans to the Front! Gerade auch dann, wenn diese Aufrufe aus Israel kommen, wo es Leute gibt, die sich nicht scheuen, Kinder im Fernsehen zu zeigen, die auf Bomben schreiben, sie mögen die Feinde zerfetzen.
Wer Schriftsteller wie Günter Grass und seine deutschen Erinnerungen entsorgen will, sollte sich bewusst sein, wie der Mainstream mit Hermann Kant verfuhr. Der fast gleichaltrige Kant (geboren 1926) geriet zufällig weiter östlich als Grass (geboren 1927) in Gefangenschaft. Kant wählte seinen Weg der Selbstbesinnung und eines mühseligen Neuanfangs nach 1945 über die Kommunisten und die von ihnen ausgerichtete DDR. Grass tat es über die Sozialdemokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Beide schufen wichtige, unverwechselbar sprachgewaltige Werke, in denen zu spüren bleibt, wie die Autoren und ihre Gestalten, zutiefst verletzt und verführt von Deutschen durch Deutsche, die Gewalt und das Verbrechen für alle Zeiten zu überwinden suchten. Wollen wir uns solche Kreationen des Geistes, die zu allen Zeiten unter Mühen entstehen, wirklich nehmen lassen und durch die seichten Produkte ersetzen, die uns Random House alias Bertelsmann empfiehlt? Da viele später Geborene doch noch nie davon gehört haben, was Dichter im Idiom des Deutschen und Russischen verfassten – sie lebten zufällig noch weiter östlich als Grass und Kant, dort wurden sie – im Machtbereich des Dritten Reiches – in die SS eingezogen, oder – unter sowjetischem Oberkommando – in die Trudarmee, Zwangsverbände aus Deutschen gegen die Angreifer aus Deutschland, die kaum ein Soldat überlebte ...
Wir haben noch viel Eigenes zu entdecken oder wieder zu entdecken, was nicht unter der Überschrift History steht, eher unter dem Titel Jenseits der Hölle. Um zu beantworten, wie man im „Zeitalter der Vernichter“ überlebte, gibt es reichlich deutsche Stoffe, auch als Warnung vor Wiederholungen dessen, was die Jahre 1914 bis 1945 mit sich brachten. Danach sahen sich die Menschen im Osten und Westen Deutschlands und in ganz Europa zutiefst erschüttert – die grasslichen Rituale tragen zu keiner Versöhnung und Vertiefung der Gedanken über die Erschütterung bei.
Deshalb brauchen wir alle, die sich damit auseinandersetzen – mit Günter Grass und den Angehörigen seiner Generation, samt der früher oder später Geborenen, die mit ihrem Wort das Unfassbare in unserer Geschichte etwas begreiflicher machen.
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