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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Der Red.: Da in der heutigen Nachricht etwas Platz geblieben ist, erlaube ich mir, noch ein paar Worte zur Wissenschaft der Geschichte hinzuzufügen, ist sie doch Teil der Wissenschaft der Situation, die wir hier entwickeln. Die meisten Situationen haben eine historische Komponente. Jede politische Situation zum Beispiel, die auf Entscheidungen drängt, ist historisch gewachsen. In einer neuen Zeit brauchen wir neue Historiker. Das ist keine Marginalie. Es betrifft auch die Politiker und die Journalisten. Auch die Lehrer. Denn um etwas Neues zu beginnen, brauchen wir ein Bewusstsein von Geschichte. Wir müssen ja verstehen, was vorher die Situation gewesen ist, und was falsch gelaufen ist. Vorher können wir keine neue Situation kreieren. Und das betrifft die Multiplikatoren an erster Stelle.

Habe ich ein neues Bewusstsein von Geschichte anzubieten? Nein. Das brauche ich gar nicht, denn es ist alles schon vorhanden. Man kann fortschrittliche Geschichtswissenschaft unter den Stichworten ISIS und OSIRIS finden. Man kann, was das theoretische Material angeht, alles finden, was man für eine neue Zeit braucht. Was ich anzubieten habe, ist die Forderung nach SOPHIA, nach handelndem Wissen. Die Historiker sollen handeln lernen, und die Handelnden sollen Geschichte lernen. Lasst uns also die Elfenbeintürme absägen! Und reden wir nicht nur von den Professoren, reden wir auch gleich über die Politiker. Dadurch, dass die Presse sie oftmals übertrieben angreift, haben sie sich einen Schutzpanzer zugelegt, der sie für Reize aus der Außenwelt fast schon immun gemacht hat. Auch das ist ein Elfenbeinturm. Und auch unsere Presse ist ein Elfenbeinturm, denn die Journalisten sitzen in ihren warmen Stuben im Wissen darüber, von Tausenden, wenn nicht Millionen rezipiert zu werden, und viele sonnen sich darin. Wenn sie schreiben, nehmen einige eine zweite Persönlichkeit an, und wenn sie geschrieben haben, legen sie diese Persönlichkeit wieder ab. Der Krieg ist für viele Journalisten genauso ein Spiel wie ihre Beharkungen untereinander und mit den Politikern. All das kann weichen, wenn wir wieder handeln lernen.

Der Grund dafür, dass in unseren Gesellschaften bislang meist die Konservativen Geschichte geschrieben haben, liegt in der Schuldfrage. Das Subversive in der Geschichtswissenschaft ist, dass man historisch denken können muss, um Schuld festzustellen. Schuld kollidiert mit Macht. Ich nehme hier bereits Gerhard Richter vorweg, dessen heutiger Beitrag mich zu diesen Gedanken inspiriert hat. Wenn etwa vor Gericht die Schuld eines Angeklagten festgestellt wird, dann handelt es sich in ausnahmslos jedem Fall um eine historische Rekonstruktion von Ereignissen. Man kann das zum Beispiel gut in den 456 Gerichtssaal-Soaps sehen, die es im deutschen Fernsehen gibt, um die Bürger mehrmals täglich daran zu erinnern, wo sie landen werden, wenn sie sich danebenbenehmen. Die beiden Basisfähigkeiten, um Schuld zu begründen, sind juristisches und historisches Denken.

In der Chronik kamen wir immer wieder einmal an den Punkt der Schuld, und wie schwer es den Deutschen, aber nicht nur den Deutschen, fällt, mit eigenen Fehlern umzugehen. Und das wusste schon Geheimrat Goethe, das ist kein Phänomen, das man mit Hitler allein erklären kann. Die Konservativen sind unter anderem dadurch definiert, dass sie sich nicht irren, also auch nicht besonders viel Schuld haben. Dies ist allerdings keine Eigendefinition der Konservativen. Der Selbstschaden, der bei Verdrängung von Schuld entsteht, ist doppelt: Zum einen wird der eigene Energiefluss von Schuldgefühlen gestört, zum anderen hindert man sich selbst daran, zu lernen und sich so weiterzuentwickeln. Das ist übrigens auch der große Nachteil von Neid: Man läd sich selbst von der Party aus.

Die Geschichtswissenschaft ist in unseren Gesellschaften in einen Elfenbeinturm gesperrt worden und will befreit werden. Anders können wir als Gesellschaften weder den Zweiten Weltkrieg aufarbeiten, noch das Israel-Palästina-Problem lösen. Wir müssen reden, viel reden, aber vor allem streiten. Streiten, um uns zu einer zeitgemäßen Geschichtsbetrachtung durchzuringen, die alle Völker dieser Erde azkeptieren können. Das ist die Aufgabe. Es ist eine sehr konkrete Aufgabe. Wir leben heute in der Weltgemeinschaft, nicht in Europa oder in der Nato oder im Orient oder im Okzident. Wir leben in einer Weltgemeinschaft, und uns steht die gewaltige Aufgabe bevor, allen Bürgern gerecht zu werden.

(2) Sibylle J.: Ist es notwendig, „durch die Hölle zu gehen“, um glücklich zu werden? Muss man erst Leid erfahren haben, um sich selbst zu finden, um Glück erkennen zu können  ...? Das sind weit verbreitete Auffassungen. Oft wird auch gesagt, dass Künstler leiden müssen, um daraus Kreativität zu gewinnen, und dass sie durch die Einsamkeit müssen. Es spricht einiges für diese Thesen. Viele Künstler, seien es Musiker, Schriftsteller oder Maler, hatten schwere Zeiten. Ich merke bei mir selbst, dass einige meiner Werke aus unverarbeiteten, oft leidvollen Gefühlen heraus entstanden sind. Auch Ozzy hat viel gelitten. Und bei ihm scheint es mir so, dass er sich und seine Kunst durch die Ablehnung der anderen erst richtig verstanden hat und dadurch erst gemerkt hat, was für ein großes Potential in ihm steckt.

Ich mag an diese Behauptungen trotzdem nicht so recht glauben. Vor allem sträube ich mich dagegen, weil das bedeuten würde, dass Leid in der Gesellschaft notwendig und erwünscht ist. Außerdem ist mir zumindest ein Gegenbeispiel begegnet: Astrid Lindgren. An ihrem Todestag habe ich ein paar Radiobeiträge über sie gehört. Immer erwähnt wurde, dass sie eine sehr glückliche Kindheit hatte. Ich habe auch einen kurzen Ausschnitt aus einem Interview mit ihr gehört, in dem sie das selbst sagt. Aus ihren Büchern spricht viel Liebe und Freiheit. Und sie hat sehr viele Bücher geschrieben, bis ins hohe Alter. Das alles spricht dafür, dass sie ein glücklicher Mensch war.

Im Deutschlandfunk habe ich am 29.01. in der Sendung FAZIT (0 bis 1 Uhr) ein interessantes Interview mit einem deutschen Kinder- und Jugendbuchautor – Hans Christian Kirsch – gehört. Eine seiner zentralen Aussagen war, dass Pippi Langstrumpf subversiv ist. (Er sagte auch, dass es seiner Ansicht nach eine Aufgabe von Literatur ist, subversiv zu sein.) Auch Tarek hat darüber in der letzten Nachricht geschrieben, ich möchte seinen Ansatz hier ergänzen. Ich denke, das Subversive an Pippi ist, dass sie frei ist. Sie tut, was sie mag und ist auch noch fröhlich dabei. Die Leute müssen sie mögen, obwohl sie nicht der Norm entspricht. Kirsch bemerkte auch, dass Pippi Macht über die anderen Kinder hat, diese aber nicht ausnutzt. Man kann Pippi also vertrauen, sie ist eine positive Autorität. In einer Gesellschaft, in der die Autoritäten sich üblicherweise auf Gewalt stützen, ist das bereits subversiv.

Laut Kirsch war Astrid Lindgren die erste Kinderbuchautorin, die Kinder ernst genommen hat. Wahrscheinlich mögen deshalb auch so viele Erwachsene ihre Bücher. Wobei ich es schon paradox finde, dass Eltern ihren Kindern Pippi Langstrumpf zu lesen geben, es selbst vielleicht sogar mögen, es dann aber nicht schaffen, den Kindern die nötige Freiheit zu gewähren, damit diese sich entfalten können.

(3) Gerhard Richter: Langsam scheint es ja interessant zu werden, was das BLUESLAND angeht. Ich muss schon sagen, ich bin einigermaßen beeindruckt davon, was ihr da alles so auf die Beine stellt. Und Ozzy! Ich hätte das nie für möglich gehalten. Ich meine, ich habe dir ja immer schon zugehört, das weißt du ja auch, aber was du da jetzt scheibst, das eröffnet mir eine neue Sicht auf die Dinge. Ich fühle mich zehn oder zwanzig Jahr jünger, wenn das alles so lese. Und ich freue mich jetzt schon auf das Wiedersehen.

Einen Gedanken zur Definition von progressiver Politik möchte ich noch beisteuern, der mir im Kopf herumgegangen ist, und der hier noch nicht angesprochen wurde. Es geht um den Spruch „Recht haben ist nicht Recht bekommen“, den ich noch sehr gut im Gedächtnis habe, weil ich damals in Hamburg diesen Prozess verloren hatte, obwohl ich Recht hatte. Drei ‚unabhängige' Zeugen hatten ausgesagt, dass im BLUESLAND ein Drogenhandel stattfinden würde. Ich bekam daraufhin Probleme. Das war kurz nach dieser Razzia, eine wirklich miese Geschichte war das. Ich meine, kein Inhaber eines solchen Ladens kann ausschließen, dass so etwas mal vorkommt. Meine Politik war jedenfalls immer: Macht so etwas draußen, und lasst mich damit in Ruhe. Marihuana gegenüber bin ich liberal, aber nicht im BLUESLAND, natürlich. Das Schanzenviertel ist einer der sozialen Brennpunkte in Hamburg. Mo und Silke und ein paar andere hatten viel Kontakt zu Leuten, die heroinabhängig waren, und die Gemeinschaft des BLUESLAND schuf ein positives Klima. Ich denke, bei uns und durch uns fanden einige Leute den Weg aus der schlimmen Sucht. Ich kenne sieben mit Namen. Aber wir hatten natürlich nie darüber Buch geführt. Für Mo war es eine Glaubenspflicht, mit Leuten zu reden, die ihn aufsuchten, um über ihre Probleme zu reden.

Vor Gericht sah das alles ganz anders aus. Da war die Razzia, die war schon eine Pharce. Diese sehr seltsamen Zeugenaussagen und die öffentliche Meinung. Der Ruf des BLUESLANDS änderte sich schlagartig und wir brauchten ein halbes Jahr, um wieder zu einer Art Identität zu finden. Es war nie mehr dasselbe wie früher.

Der Spruch „Recht haben ist nicht Recht bekommen“ war mir deshalb so aufgefallen, weil er nihilistisch und unmoralisch ist. Wenn überhaupt, dann darf man diesen Satz nur dann sagen, wenn man – ohne dazwischen Luft zu holen oder zu schlucken – unmittelbar anfügt: „aber ich helfe, das zu ändern, denn das ist meine verdammte Bürgerpflicht!“

(4) Marwan J.: Eine Ergänzung habe ich noch zu meinem letzten Beitrag, wo ich über die Kirchen gesprochen habe. Da ich mich kritisch über die Kirchen geäußert habe, muss ich gerechterweise zugeben, dass es auch im Islam starke Abweichungen vom ursprünglichen Glauben gegeben hat. Ich hatte das auch erwähnt, aber mir ist noch ein Punkt eingefallen. Und zwar hieß der islamische Prophet Muhammad der Gesandte Gottes (rasuul allah). Das Wort „Kalif“ (Chaliifa) bedeutet „Stellvertreter“, und ursprünglich war das arabische Wort für „Kalif“ „chaliifa rasuul allah“, also „Stellvertreter des Gesandten Gottes“. Später nannten sich aber die Kalifen „chaliifat allah“, also „Stellvertreter Gottes“, und das ist ein Wort, das sich nicht einmal der Prophet angemaßt hätte. Die Festigung der Machtstrukturen hatte also sowohl im Okzident als auch im Orient zu arrogantem Verhalten geführt, sei es nun von den Päpsten oder von den Kalifen.

Da ich gerade schreibe, möchte ich noch einen Gedanken zum Import von Stammzellen abgeben. Mir sind nämlich zwei ganz seltsame Sachen aufgefallen. Erstens: Es lohnt sich, die Debatte um Stammzellen mit der Debatte um den deutschen Kriegseinsatz zu vergleichen. Bei den Stammzellen könnte man fast denken, jemand hätte heimlich die Demokratie wieder eingeführt. Keine Verunglimpfungen anderer Parteien, respektvoller Umgang miteinander, mein lieber Mann, da konnte ich ja nur staunen. Zweitens: Warum wurde eigentlich über den Import entschieden, und nicht gleich über die Herstellung? Ist das vielleicht typisch deutsch, dass die Amerikaner die Drecksarbeit machen, und man selbst entscheidet dann nur noch (positiv) über die Amerikaner? Können wir denn in unserem Land keine Grundsatzentscheidungen mehr treffen, weil wir sonst fürchten müssen, die Mitte zu verlieren?

Redaktion in Kiel, 02.02.02

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