home   ao english   musik   literatur   journalismus   bilder   sprachen   mehr   shop   sitemap

ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
vorige DIE 72. NACHRICHT nächste

(1) Simon: In diesen Tagen die Nachrichten zu lesen und dabei Deutscher zu sein, ist keine schöne Sache: Die Arbeitslosenzahl ist auf ein neues Rekordhoch geklettert, die Insolvenzen häufen sich, PISA, die Aussicht auf neue Kriege, die von den USA ausgehen, deren Vasall wir sind, Demonstrationsverbote, Blaue Briefe aus Brüssel und so weiter und so fort. In jedem Monat wird es schlimmer, und in jedem Monat werden deshalb die Kritiker fester geknebelt, damit die Wahrheit nicht so schlimm aussieht, wie sie ist.

Der Kanzler ist gefesselt an die Lobbys, die er zu vertreten hat, und er hat durch seine Wischi-Waschi-Politik, die er Konsenspolitik nennt, kaum noch Möglichkeiten zur Veränderung. Nehmen wir die Forderung aus Brüssel zum Wettbewerbsrecht: In Brüssel sagt man, dass etwa eine Automarke in einem Land nicht mehr kosten soll als in einem anderen Land, damit ein freier Wettbewerb möglich ist. Das ist eine ganz logische und unterstützenswerte Einstellung, denn durch den Wettbewerb entstehen die für den Verbraucher besten Preise. Das ist ja die Bedeutung von wirtschaftlicher Freiheit. Unser Bundeskanzler aber hat sich strikt dagegen ausgesprochen, weil er der Autoindustrie verpflichtet ist, denn dort sind viele Arbeitsplätze. Immer wieder sind es Lobbys und Interessen, die unsere politische Realität bestimmen, und nicht die Situation. Naürlich gehören die Lobbys und die Interessen zur Situation, aber nicht in dem Maße.

Was mich und viele andere nervt, sind nicht einmal die faktischen Probleme, sondern die unglaubliche Arroganz, mit der die Mächtigen ihre Politik machen. Sie sind nicht ehrlich! Sie hören nicht auf die Stimmen, die Alternativen aussprechen. Sie sehen zu, wie sich die Lage mit jedem Monat verschlimmert, und sie ignorieren die Kriegsgefahr. Und die Presse? Sie sagt uns: Seht, es wird immer schlimmer. Aber sie ist handlungsunfähig, abstrakt, ein Elfenbeinturm. Sie werden erst reagieren, wenn es zu spät ist. Und dann werden sie noch sagen: Seht ihr, wir haben es damals schon gewusst! Sie spielen. Sie verstehen die Realität nicht, in der sie leben. Bald wird es neue Gewalt geben, man kann das sehen, und die werden die Politiker und die Presse und die Bürger dann wieder verstehen. Unsere Gesellschaft reagiert nur auf Gewalt, weil unsere Gesellschaft auf Gewalt aufgebaut ist.

(2) Carl: Wenn wir wüssten, was Recht und was Unrecht ist – und wir wissen es – dann stellt sich die Frage, wie wir es umsetzen. Es ist uns ja bekannt, dass viel Unrecht herrscht in der Welt. Es scheint eine Art offizielles und eine Art familiäres Unrecht zu geben, wobei das offizielle das ist, welches behoben wird, gewöhnlich in Form eines Rechtsstreits vor Gericht. Wie gehen die Gerichte mit Unrecht um? Nun, sie bestrafen es. Die Bestrafung ist dabei immer ein Zwang, denn ein Verurteilter wird sie im Normalfall so auffassen. Zwang und Gewalt sind sich sehr ähnlich. Gefängnisstrafen etwa sind Gewalt, denn sie bedeuten Freiheitsentzug und Isolation. Wenn ich jemanden auf diese Art in meinem Keller einsperren würde, wäre das eine Gewalttat. Diese Gewalt wird üblicherweise durch zwei Begründungen legitimiert: Sie gibt die Gewalt an den Täter zurück, straft ihn also mit seinen eigenen Mitteln, und sie schreckt ab.

Eine der Grundfragen der Erziehungswissenschaft und auch der Soziologie ist die nach der Strafe. Wer bestraft? Wie bestraft er? Und wofür bestraft er? In unserer Gesellschaft wird Gewalt inzwischen von fast allen gesellschaftlichen Instanzen als eine Notwendigkeit gesehen, nicht nur bei Bestrafungen, sondern auch, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. So etwa das Demonstrationsverbot in München. Da das Establishment über das Gewaltmonopol verfügt, kann es das tun.

Als Ozzy die Berichte der Nato-Tagung in München gelesen hatte, ist er an die Decke gegangen. Er sieht sich darin wieder: Kritik, ob konstruktiv oder destruktiv, wird auf Kosten des Kritikers erstickt, um ein totes System aufrecht zu erhalten. Auch für mich und einige andere ist das Monopol des Staates nicht mehr legitim. Das Gewaltmonopol kann man dem Staat nicht nehmen, auch wenn es die Verantwortlichen schon lange selbst zu Gewalttätern gemacht hat, aber das Strafmonopol kann man ihm durchaus nehmen.

Es ist ja immer die Frage, wie man bestraft. Das Establishment ist naturgemäß unkreativ, starr und fantasielos, deshalb kann es auch nur durch Gewalt bestrafen. Ihm fällt schlicht nichts anderes ein. Das sieht man ja an den Argumentationen der Politiker und mancher Journalisten. Ozzy ist aber noch etwas anderes eingefallen, denn er sagt: ‚Der Weg der Gewaltlosigkeit ist der Weg in die Öffentlichkeit.' Wenn dir nämlich familiäres Unrecht geschieht, also nicht offizielles, dann hast du faktisch zwei Möglichkeiten, wenn du dich revanchieren willst: Entweder, du begehst ebenfalls Unrecht bzw. greifst zu Gewalt, dann tust du genau das, was dein Gegner tut, und du bist um keinen Deut besser. Oder du konfrontierst den Schuldigen öffentlich mit seiner Schuld in einer Weise, die ihm nicht mehr erlaubt, sein Unrecht zu verdrängen.

Der Haken an der Geschichte ist, dass dieser Weg in die Öffentlichkeit eine Öffentlichkeit voraussetzt, die aus mündigen Bürgern besteht, aus Leuten, die sich eigenständig eine Meinung bilden können, was ja bekanntlich in der Schule verhindert wird, wo man lernt, sich an die Gesellschaft anzupassen. Auch das Fernsehen hat bisher verhindert, dass die Leute sich engagieren, denn man kennt aus dem Fernsehen das schlimmste Unrecht und die brutalste Gewalt, und man hat alles schon einmal gesehen. Man weiß, dass, wenn der Fernseher ausgeschaltet ist, all diese Dinge nicht mehr da sind. Man hat also Zugang und kann sich informieren, und dann kann man wieder abschalten oder ein anderes Programm einschalten. Wir haben das Familiäre und das Offizielle, oder auch das Private und das Öffentliche, sorgfältig getrennt, so wie man sorgfältig den Müll trennt.

Trotzdem, der Weg in die Öffentlichkeit ist eine anthropologische Konstante. Zu allen Zeiten wurde der Gesellschaft Unmündigkeit vorgeworfen, und zu allen Zeiten hat es Männer und Frauen gegeben, die den Weg der Öffentlichkeit gegangen sind, um Konflikte gewaltlos auf den Tisch zu bringen, über die zu sprechen waren. In unserer Mediengesellschaft gibt es neben den Nachteilen der Abstraktion auch den wichtigen Vorteil, dass Informationen und Meinungen sehr schnell und in einer großen Öffentlichkeit verbreitet werden können. Davor nämlich hat das Establishment große Angst: dass jemand ihnen in die Öffentlichkeit entschlüpfen könnte, bevor er gebrochen wird, und dass er den anderen dadurch beweisen kann, dass eine andere Welt möglich ist.

(3) Klaus K.: Es ist ein Phänomen, dass Deutschland so von sich überzeugt sein kann, obwohl jeden Tag deutlich wird, dass so Vieles im Argen liegt. Die meisten Deutschen sind nämlich in der Tat der Ansicht, dass die politische Grundsituation richtig ist. Das hat aber weniger etwas mit der Grundsituation zu tun, als mit den Deutschen selbst und ihrer Einstellung zum Leben. Noch immer gibt es bei uns dieses unreflektierte Vertrauen gegenüber der Regierung und den obrigkeitsstaatlichen Entscheidungsträgern. Man sieht das daran, dass die Gesellschaft größere Veränderungen nicht zulässt, auch wenn sie dringend nötig sind und es gute Argumente dafür gibt.

Viele aus der Chronik sind der Ansicht, dass eine wirkliche demokratische Freiheit, wie sie das Grundgesetz vorsieht, faktisch nicht gegeben ist. Es ist eine Scheinfreiheit, und daher wurde auch schon der Begriff „Demokratur“ genannt. Schuld daran ist in erster Linie die Doppelmoral, dass also die Bürger die einen Dinge sagen und die anderen Dinge tun. Das ist bei uns eine normale Angelegenheit, die zwar manchmal hinterfragt und auch kritisiert wird, jedoch wieder nur auf der Wortebene, sodass die Kritik zur Doppelmoral dazugehört. Insofern wird bei uns auch eine gewisse Art von Kritik offiziell gefördert, um diesen Schein zu wahren.

Bei uns in der Presse ist es beispielsweise so, dass kritische Journalisten, die nicht allzu kritisch sind, ins Establishment eingebunden werden. Sie bekommen Auszeichnungen von den Entscheidungsträgern, und schon werden sie unkritischer. Dadurch entsteht das Bild, dass es eine gesellschaftliche Kritik gibt, die auch ernst genommen, ja sogar belohnt wird. Das Gegenteil ist aber wahr. In dem Moment nämlich, wo ein Journalist über die Freiheit schreibt und selbst ins System eingebunden ist, wissen die Entscheidungsträger, dass sie nichts zu befürchten haben, was an ihrer Macht kratzt. Damit wird die Kritik zum Alibi und zum Lippenbekenntnis, und der Kritiker zum Unterstützer dessen, was er kritisiert.

Von zentraler Bedeutung also ist, wer über die Freiheit spricht. Wer offensichtlich unfrei und abhängig ist, der darf bei uns auch über die Freiheit reden. Das ist eine Art Spiel. Eine solche Stimme wird durchgelassen, denn sie ändert nichts und zementiert den Jetztzustand sogar. Die Innovationen kommen traditionellerweise aus Amerika, weil jeder das so erwartet. Wenn nämlich ein Deutscher innovativ ist und als freier Mensch über die Freiheit spricht, dann wird aus ihm ein Gegner der Gesellschaft gemacht bzw. er wird ignoriert. Gründe dafür finden sich immer. Zusammenfassend würde ich sagen, dass bei uns die Devise gilt: Kritik ja, aber nur, wenn alles beim Alten bleibt.

(4) Roger B.: Mit dem Brand im BLUESLAND ist eine Ära zuende gegangen. Oft ist es ja so, dass eine Zeit durch ein grauenhaftes Ereignis beendet wird. Auch für den Elften September trifft das zu. Oder für die 60er-Jahre. 1969 wurde die hoch schwangere Schauspielerin Sharon Tate in Hollywood ermordert, von Leuten des Verbrechers Charles Manson, der die Hippiezeit am Rande mitgestaltet hatte. Manson war eine Art Guru, für viele sogar eine Erlöserfigur. Er hat auch ein paar Gedichte und Lieder geschrieben und hatte viele Kontakte.

Der Mord an Sharon Tate war das Ende des Woodstock-Traumes. Galten Hippies zuvor als alternative Aussteiger, die vielleicht hier und da zu weit gingen, aber doch insgesamt innovativ und auf einer spirituellen Suche waren, so wurden sie nun sehr schnell mit Manson identifiziert. Ein gewaltiger Vertrauensverlust war die Folge. Man kam per Anhalter zum Beispiel nicht mehr weit als Hippie in Kalifornien. Es war vorbei. Die Auflösung der BEATLES, der Tod von Jimi Hendrix und Janis Joplin sowie das Vietnamtrauma taten ihr übriges, um die Sechziger inhaltlich zu beenden. Warum dieser fürchterliche Hollywood-Mord damals geschehen musste, weiß auch heute niemand. Es ist geschehen. Man kann – wie ich es hier kurz versucht habe – einen übergeordneten Zusammenhang erkennen, doch die Tat selbst bleibt unverständlich. So denke ich auch, dass der Brand im BLUESLAND, selbst wenn er aufgeklärt werden würde, nicht verständlich werden kann.

Das Schlimme am Fall Manson ist zudem, dass der Mörder von bestimmten Leuten verklärt wurde. Seit Manson gibt es in der Popmusik eine zerstörerische Seite. Einige Punker haben Manson-T-Shirts getragen, Iggy Pop hat auch einmal ein Hakenkreuz auf dem T-Shirt getragen, und dieser Zweig lässt sich bis zu Marilyn Manson verfolgen. Der Geruch des Bösen wurde für einige Leute attraktiv, sie hielten es für fortschrittlich und kritisch. Es stand für eine bestimmte Art von Macht, die die Popmusik zuvor nicht hatte, die aber als Kritik am Establishment nicht taugte, weil sie auf Gewalt basierte, eine anarchische Gewalt, die das Establishment bereits in Elvis fürchtete, und die sich dann in den 70ern breit machte. Das hat für mich auch nichts mit Punk zu tun. Wenigstens hieraus können wir lernen, sollte der BLUESLAND-Fall geklärt werden können.

Redaktion in Kiel, 06.02.02

Nächste Nachricht >>


+++ ROCK'N'ROLL +++ NACHRICHT VON OZZY BALOU +++ EINE REKONSTRUKTION +++
hoch
Datenschutzerklärung und Impressum (data privacy statement and imprint)