- Das 21. Jahrhundert -
Seit 50 Jahren leben wir mit dem Fernseher, der unser Bewusstsein verändert hat. Er war eine Revolution, da er – zusammen mit dem Radio – eine neue Art von Öffentlichkeit geschaffen hat. Zuvor gab es Zeitungen und weiter vorher den Buchdruck, der zu vergleichbaren massenpsychologischen Veränderungen geführt hatte. Heute ist es das Internet, das diesen Weg fortschreitet. Was früher das Konversationslexikon war, ist heute eine Suchmaschine, und wo früher eine Frontal-Öffentlichkeit stand, kann sich heute im Prinzip jeder viel stärker selbst an der Öffentlichkeit beteiligen und sie mitgestalten, und das ist auch der Sinn des Internets.
Eine der Auswirkungen des Internets, die man bereits heute spüren kann, ist, dass es immer schwerer fällt, Dinge von gesellschaftlichem Belang geheim zu halten. Betrachten wir beispielsweise die hohe Anzahl von Augenzeugenberichten aus Palästina, die mit großer Geschwindigkeit verbreitet werden können, ganz anders, als es noch vor zehn Jahren denkbar war.
Das 21. Jahrhundert unterscheidet sich von den vorigen Jahrhunderten grundlegend durch die Demokratisierung der Öffentlichkeit mit dem Internet. Nach dem Elften September wurde zudem deutlich, dass die Gesellschaften der Welt alle sehr ähnliche Probleme haben, und dass sie, um zum Frieden zu gelangen, kooperieren müssen. Eine Weltkultur ist also im Entstehen, ein gemeinsamer internationaler Diskurs, an dem die Asiaten ebenso beteiligt sind wie die Europäer, und die Afrikaner wie die Amerikaner.
Das Fernsehen hat uns seit jeher das Gefühl vermittelt, dass wir die Welt verstehen, und dass die Welt berechenbar ist. Rituale wie die Abendnachrichten zementierten die Vorstellung, dass die Welt, wenn sie auch wohl nicht in Ordnung war, so doch in einer Weise unter Kontrolle blieb. Wir alle hielten unbewusst die Fernseh-Erlebnisse für Übersetzungen des Weltgeschehens, Übersetzungen in unsere Sprache, hergestellt von freundlichen Menschen, die uns mit warmen Stimmen Erklärungen, Eindrücke und Hintergründe servierten, uns also Arbeit ersparten, die unterhaltsam waren und uns Sicherheit durch das Ritual gaben.
Das Internet hat diesen Diskurs und diese Mentalität grundlegend verändert. Innerhalb von einer halben Stunde kann man sich heute einen Überblick über die Themen der Tagespresse verschaffen, ohne dafür das Haus verlassen zu müssen. Darüberhinaus kann man mit Leichtigkeit die Themen des Tages oder des Monats systematisch googeln und dabei eine Vielzahl von Informationen und Meinungen sammeln und auswerten. Viel eher als im Fernsehen stößt man im Internet auf kollidierende Diskurse im selben Medium. Jeder kann sich und seine Meinung hier darstellen, und es gibt keine Instanz, die eine Zensur ausüben könnte, solange das Gesetz nicht verletzt wird, zum Beispiel durch Verherrlichung von Gewalt.
In diesem Nährboden wächst die Weltkultur. Denn in keinem anderen Medium stehen die Gruppendiskurse (Familien, Firmen, Parteien, Vereine, Städte, Länder, Kulturen, etc.) so eng beieinander, und nirgendwo sonst werden die Diskrepanzen zwischen einzelnen Gruppen und ihren Diskursen so deutlich, Diskrepanzen, die im Medium Fernsehen größtenteils weg-harmonisiert werden, um den Unterhaltsauftrag des Mediums nicht zu gefährden.
Die Länder erwachen aus einer Art von Provinzialität und bewegen sich von der Lindenstraße auf die Datenautobahn. Die Schranken zwischen den Diskursen weichen auf, selbst Sprachbarrieren waren nie so weich wie heute, wo das Englische zur natürlichen Internetsprache geworden ist. Schon heute enthalten beispielsweise viele deutsche Homepages englische Darstellungen, und es werden mehr, denn das Internet ist das erste wirklich internationale Massenmedium in der Geschichte der Menschheit. Ohne die Taten Alexanders des Großen in Abrede zu stellen, stelle ich doch fest, dass, wenn man von einer Weltkultur sprechen möchte, man dies erst im 21. Jahrhundert sinnvoll tun kann.
- Definitionsfragen -
Dass eine Weltkultur noch nicht geschaffen ist, erkennt man leicht an den Schwierigkeiten bei der Übersetzung zentraler Begriffe wie „Kultur“, „Zivilisation“ und „Diskurs“ in andere Sprachen. Die deutsche „Kultur“ ist etwas anderes als die englische „culture“, und die „Zivilisation“ ist etwas anderes als die „civilization“. Was den Begriff „Diskurs“ angeht, er entstammt der westlichen, wissenschaftlich-kritischen Tradition und hat kein natürliches Pendent im Arabischen, obwohl es bei den Arabern natürlich Diskurse gibt und auch Begriffe dafür. Andererseits hat das Arabische in Ausdrücken wie „thaqaafa“ und „hadaara“ Begriffe für Kultur und Zivilisation, die sich durchaus mit den westlichen in Beziehung setzen und vergleichen lassen.
Um sinnvoll von einer Weltkultur sprechen zu können, ist es notwendig, die Begrifflichkeiten aneinander abzustimmen, sei es durch Definitionen oder durch die Einführung neuer Fachausdrücke. Bleiben wir zu diesem Zweck bei den sich gegenseitig durchdringenden Begriffen „Kultur/culture“ und „Zivilisation/civilization“, die mir als die wesentlichen Begriffe erscheinen. Da der vorliegende Essay mehrsprachig geschrieben ist, muss erklärt werden, wovon genau die Rede ist, und aus welchem Grund.
In dem von mir häufig angeführten Buch von Norbert Elias „Über den Prozess der Zivilisation“ findet sich der Zivilisationsbegriff, den ich hier meine. Er ist charakterisiert durch fortschreitende Affektkontrolle und dadurch ermöglichte Sublimierung, Substituierung und Monopolisierung von Gewalt. Norbert Elias belegte in diesem Standardwerk anhand von vielen Beispielen aus der deutschen und der französischen Kultur, dass Gesellschaften sich in zivilisatorischen Prozessen befinden, die sich in gewisser Weise messen lassen, sodass man von Zivilisationsstufen sprechen kann.
Ganz ähnlich ist der arabische Begriff „hadaara“ bei dem Historiker und Philosophen Ibn Khaldun (starb 1406) in seiner berühmten „Muqaddima“ verwendet: Ibn Khaldun spricht von Zyklen der Herrschaft, die sich allgemein beschreiben lassen, ähnlich wie die Lebenszyklen eines Menschen. Zivilisation fängt für ihn mit dem Ackerbau an und endet mit den Wissenschaften, in denen die Künste enthalten sind.
- Das Problem der Diskriminierung -
Um eine Weltkultur entdecken und beschreiben zu können, bedarf es eines übergeordneten Maßes, um die einzelnen Kulturen miteinander vergleichen zu können, und das kann meines Erachtens nach ein allgemeiner Zivilisationsbegriff leisten. Es geht darum, systematisch widersprechen zu können, wenn gesagt wird, dass beispielsweise die islamische Kultur mit der westlichen Kultur unvereinbar sei, was üblicherweise mit dem blanken Anderssein der anderen Kultur begründet werden kann, ohne dass ein solches Verhalten im öffentlichen Diskurs besonderen Anstoß erregen würde.
Wenn wir nun aber sagen, dass die Kulturen und Subkulturen unserer zu entdeckenden Weltkultur mit den gleichen Instrumenten erfahrbar, beschreibbar und zum Teil messbar sind, und wenn wir dies auf eine dynamische Theorie gründen wollen, wie sie am deutlichsten Norbert Elias formuliert hat, müssen wir den Vorwurf berücksichtigen, dass es dem Gleichheitsprinzip widerspricht, Kulturen auf verschiedenen zivilisatorischen Stufen anzusiedeln, was den Anschein erweckt, als würden einige Kulturen „oben“ stehen und andere „unten“. Empfindliche Zeitgenossen werden – so wie ich sie kenne – auch Begriffe wie „Über-/Untermensch“ oder Formen von nationaler oder rassischer Überlegenheit in die Sache hineinassoziieren und lieber nach Alternativen suchen.
Jedoch ist das Gleichheitsprinzip gerade das Ziel, für das mit dem Werkzeug der Zivilisationskritik ein Bewusstsein geschaffen werden kann. Im Gegenteil equalisiert der Zivilisationsbegriff die tatsächlich vorhandenen Diskriminierungen von Kulturen, die im allgemeinen lediglich an ihrer Technologie und ihrem Bruttosozialprodukt gemessen werden, und das auch noch hinter vorgehaltener Hand. Zudem gibt es bei den Bewohnern z.B. Afrikas und Asiens durchaus ein Bewusstsein darüber, dass es so etwas wie einen Fortschritt gibt, und dass man im Gegensatz zum Westen gewisse gesellschaftliche Transformationen nicht bzw. noch nicht erreicht hat.
- Werte -
Um sinnvoll von einer Weltkultur zu sprechen, bedarf es übergeordneter, für alle Kulturen geltende Werte. Zu den Hauptproblemen gehören daher die Fragen: Wie ist der Prozess der Zivilisation zu bewerten? und: Was ist Fortschritt?
Wir sind in einer Zeit angekommen, in der die ökonomischen Märkte weitgehend erschlossen sind und nicht mehr wachsen wie in den 50er-Jahren. In einer Zeit, in der auch die Machbarkeit von technischer Weiterentwicklung an natürliche Grenzen geraten ist. In der Weltraumforschung etwa sind viel mehr Dinge möglich als bezahlbar. Auch die Affektkontrolle als weiteres Merkmal der Zivilisation bedarf keiner revolutionären Durchsetzung mehr, da auch sie an natürliche Grenzen stieß und stößt, wie etwa dem berechtigten Gegenruf nach dem Wert der Natürlichkeit, wie er von Rousseau verwendet wurde und nach ihm immer wieder.
Fortschritt bedeutet also nicht, dass die ökonomischen Märkte sich ständig erweitern, es bedeutet nicht, den ultimativen Computer zu bauen, und weitere Fortschritte in der Affektkontrolle sind zweifelhaft, da sie die Gefahr der Überzivilisation bergen, der Entfremdung und der sozialen Kälte.
Betrachten wir die beiden wesentlichen Gruppen im Kulturkampf, den demokratischen Westen und den arabisch-islamischen Osten. Der Westen verweist auf seine zivilisatorischen Errungenschaften, hauptsächlich das Bürgerrecht. Häufig finden wir auch das Argument, dass staatlich-öffentliche Angelegenheiten und Glaubensangelegenheiten voneinander getrennt werden, anders als im Osten. Dies, so das Hauptszenario im Westen, hat uns zu Wohlstand und zu technischer Überlegenheit gebracht.
Das Selbstverständnis des Westens basiert auf der eigentlich equalistischen Annahme, dass andere Kulturen – zum Beispiel die arabisch-islamische – sich in die gleiche, vermeindlich fortschrittliche, Richtung begeben würden, wenn sie nur dieselbe zivilisatorische Entwicklung einschlagen würden. Diese Annahme ist insofern falsch, als der zu Unrecht so genannte „Wohlstand“ der westlichen Länder zwangsläufig eine Verarmung anderer Länder zur Folge hatte und hat.
- Der internationale Diskurs -
Es ist eine Lüge, dass der Westen von der Gleichheit der Menschen in aller Welt ausgeht und dass er ein Hort der Freiheit und der Offenheit ist, voll von Menschenrechten und Toleranz und Wohlstand für alle. Dadurch, dass die Kulturen der Welt so viel näher aneinandergerückt sind, lässt sich diese Lüge immer schwerer vertuschen. Auch die Präsidenten Scharon und Bush wecken mit ihrer Politik außerhalb ihrer eigenen Gruppen nur wenig Überzeugung hinsichtlich der These von der Gleichheit der Menschen und dem Menschenrecht in der demokratischen Welt. Es sind die Europäer, die das Misstrauen der Araber und Muslime gegenüber dem Westen inzwischen so gut nachvollziehen können, dass ein neuer Diskurs möglich ist.
Innerhalb ihrer eigenen Gruppen können die Meinungsführer auf allen Seiten des Kulturkonflikts diskriminierende Entscheidungen treffen, ohne dass es sehr auffällt. Man betrachte dazu das autoritäre Verhalten der Staaten USA und Israel, das auf Angst und andere Negativa gegründet ist und jeweils vom eigenen Volk jubelnd unterstützt wird. Dieses Verhalten kann nur deshalb bestehen, weil der Diskurs unter einer öffentlichen Glocke geführt wird, die sich durch die Fehler der gegnerischen Gruppe argumentativ absichern kann, dies aber nicht einmal muss, weil der Verweis auf die nationale Sicherheit ausreicht. Zur Illustration ein Zitat von Ephraim Kishon aus der taz vom 23.8.2002 als Reaktion auf Herrn Blüms Israelkritik: „Wer nicht einsieht, dass dieses winzig kleine Land Israel, von 21 feindlichen Ländern umgeben, nur um sein Überleben kämpft, der ist ein Antisemit.“ Die USA argumentieren inzwischen genauso, und weitere Staaten werden folgen, wenn dem kein Ende gesetzt wird.
Meine Primärkritik gilt den Supermächten, das ist eine Sache des Respekts, soll aber keineswegs davon ablenken, dass der Osten ebenfalls nicht der alleinige Besitzer von Nathans Ring ist, siehe zum Beispiel Essay 4, „Der muslimische Aberglaube“.
Das prägnanteste Beispiel für die Divergenz der In-Group-Diskurse ist der Vergleich mit Hitler und den Nazis. Wer Scharon mit Hitler vergleicht, bekommt auch mit israelischen Friedensgruppen Ärger, wer Bush mit Hitler vergleicht, ist im parlamentarischen Diskurs in Deutschland nicht tragbar, ebenso wie jemand, der den Israelis Nazimethoden nachsagt. Wer dagegen Saddam oder Bin Laden oder auch Herrn Möllemann mit Hitler vergleicht, hat nichts (aber auch gar nichts) zu befürchten. Das liegt daran, dass im westlichen Diskurs Hitler für das absolut unvergleichliche Böse steht und damit für die Mutter aller Beleidigungen, während der Osten darauf hinweist, dass Hitler aus Westeuropa stammt und aus der stabil wirkenden Weimarer Demokratie erwachsen ist, in Zeiten einer Wirtschaftskrise. Auch der Imperialismus und der Kolonialismus wird in den entsprechenden Geberländern weitaus freundlicher bewertet als in den Nehmerländern.
Dies sind Punkte, die zur Vorbereitung eines internationalen, der Epoche des Internet angemessenen, Diskurses erörtet werden und auf einen Nenner gebracht werden müssen. Aus diesem internationalen Diskurs – der sich in diesen Jahren in natürlicher Weise formiert – erwächst die Weltkultur.
- Weltgeschichte -
Als die Abbasiden-Dynastie im Jahre 750 die umaiyadischen Kalifen ablöste und Bagdad erbaute, schrieb sie die arabisch-islamische Geschichte neu auf, wobei das Bild entstand, dass die Abbasiden die bessere Dynastie für die Muslime sei. Lässt man einen US-Amerikaner und einen Indianer die Geschichte der Entstehung der Vereinigten Staaten schreiben, so wird man auch hier auf unterschiedliche Schwerpunkte und Einschätzungen stoßen.
Diese Unterschiede machen auffindbar und messbar, an welchen Stellen und aus welchen Gründen Diskurse, ganz besonders nationale Diskurse, miteinander nicht kompatibel sind.
Wenn eine Nachrichtenagentur beispielsweise vom „Palästinensischen Holocaust“ spricht, dann ist bereits klar, dass hier eine In-Group angesprochen wird, denn keine etablierte deutsche oder amerikanische, geschweige israelische, Zeitung würde so etwas schreiben oder auch lesen. Auf der israelischen Seite wiederum ist es die Sicherheits-Paranoia, die – weil sie auf Kosten der Palästinenser und Araber geht, und weil sie auf dem Dogma der bevorzugten Rolle der Juden zu Gott, unserem Schöpfer, aufbaut („auserwähltes Volk“) – jede Bereitschaft der Out-Group zum Zuhören im Keim erstickt. Der notwendige Dialog zwischen West und Ost, zwischen Juden und Arabern, zwischen Männern und Frauen und zwischen den Generationen kann nur erfolgreich sein, wenn die gemeinsame Geschichte der gegnerischen Parteien nach einheitlichen Kriterien untersucht und bewertet wird. Dies kann nur in der Weltkultur geschehen, weil sich die streitenden Parteien im globalen Dorf ständig über den Weg laufen, und weil sie ständig mit dem Diskurs der Anderen konfrontiert werden. Weil sie dazu gezwungen sind.
Wie also steht es mit den globalen Werten des 21. Jahrhunderts? Worum geht es? Im Grunde geht es um nichts anderes als das, wofür die UNO steht. Der Grund für das Mauerblümchen-Dasein der UNO liegt darin, dass die Gleichheit unter den Menschen zwar auf dem Papier steht, dass sie aber in den In-Group-Diskursen dadurch unterminiert wird, dass „Mensch“ wesentlich mit „In-Group-Mensch“ assoziiert wird, und dass die anderen Leute keine wirklichen Menschen darstellen. Anders als durch Rassismus ist überhaupt nicht zu erklären, dass beispielsweise die Palästinenser nur verminderte Menschenrechte haben und dass sie auch keine Nutznießer der Genfer Konventionen sein dürfen. Dies ist einzig auf ihre Rasse gegründet. Auch das Leben eines Kurden ist faktisch weniger wert als das eines Türken, und das Leben eines Tschetschenen ist weniger wert als das eines Russen.
Im internationalen Diskurs aber werden die Kurden als Kurden sprechen, vielleicht sogar in ihrer eigenen Sprache, und die Türken können es ihnen nicht mehr verbieten, weil sie das Internet nicht zensieren können. Viele Länder im Osten bemühen sich darum, die Macht des Internets durch Zensurversuche zu verhindern, jedoch ist absehbar, dass dies nicht möglich ist. Es mag technisch sogar funktionieren, die neue Art der Öffentlichkeit aber lässt sich nicht verhindern. Das epistemologische System, in dem die Öffentlichkeit nicht nur von oben, sondern auch von unten gesteuert wird.
- Zivilisationskritik -
Neben der Affektkontrolle, der Gewaltsublimierung und dem technischen Fortschritt gibt es einen Faktor, der im 21. Jahrhundert definitiv zum Repertoire der Zivilisation gehört, nämlich den toleranten Umgang mit Out-Groups. Dies geht nur, wenn man die Menschlichkeit der Out-Group anerkennt, wenn man also sich selbst als Mensch sogar in der Out-Group wiedererkennen kann. Der Wert also, der die oft hermetischen In-Group-Diskurse auf einen gemeinsamen, globalen Nenner bringen kann, ist der Wert der Menschlichkeit im Ur-Sinne: den anderen als gleichwertig zu erkennen, auch wenn er nach einem fremden Buch betet, denn er ist Mensch mit all seinen Bedürfnissen und Leidenschaften, mit seinen Stärken und Schwächen, seinen Bindungen, Wünschen und Ängsten. Und dies ist für uns alle gleich, ob wir nun Peruaner sind oder Schweden, Kenianer oder Australier.
Die menschlichen Gesellschaften bewegen sich nach einander ähnlichen Mustern in zivilisatorischen Prozessen. Fast immer treffen wir dabei auf Selbstbestätigung durch Abgrenzung: Der europäische Adel setzte sich durch seine Umgangsformen bewusst vom einfachen Volk ab und hielt sich menschlich für etwas Besseres, viele Völker – auch Römer, auch Araber – hatten menschliche Sklaven, gegen die sie gut aussehen konnten, auch hat der weiße Mann der Urbevölkerung diverser Kontinente ihr Land weggenommen im Bewusstsein, menschlich mehr wert zu sein als die Kultur mit der niedrigeren Zivilisationsstufe. Ein Irrtum, der bis heute in seiner Gesamtheit nicht als solcher zum Kollektivwissen gehört. Die Deutschen trieben den Rassismus dann mit den Nazis auf die Spitze, und ihr Scheitern ist allgegenwärtig. Diese Selbstbestätigung durch Ablehnung einer anderen Gruppe ist wegen der Nichtverarbeitung der Nazizeit noch nicht überwunden. Auch heute noch brauchen beispielsweise die Linken die Rechten, um sich definieren zu können, die Israelis brauchen die Palästinenser als Feind und den Druck der Weltgemeinschaft, um weiterhin leiden zu können und legitime, nach Sicherheit strebende, sie aber aus mysteriösen Gründen nicht erreichende Israelis zu sein. Bush braucht Saddam, um von Amerika abzulenken, und so weiter.
Diese Faktoren, die wie Perlen an einer Schnur erscheinen würden, sobald die UNO oder eine andere globale Instanz eine Weltgeschichte schreiben würde, zeigen uns, was nicht in Ordnung ist in dieser Welt. Die tolerante Weltkultur des 21. Jahrhunderts misst die einzelnen Kulturen an deren individuellen Standards, wofür ein Wissen vonnöten ist, und sie ordnet dieses Wissen in ein Gefüge von zivilisatorischen Koordinaten ein, (was in diesem Essay nicht geleistet werden kann), die für alle Gruppen gleich gelten.
- Kooperation für den Frieden -
Die Weltkultur ist keine Projektion, kein Wunschdenken. Sie ist im Entstehen begriffen, und auf der ganzen Welt gibt es Menschen, die hier eine Chance sehen, um über Länder- und Kulturgrenzen hinweg eine übergeordnete Öffentlichkeit zu entwickeln, die die In-Group-Diskurse sprengt und die allgegenwärtigen In-Group-Arroganzen entlarvt. Wenn es eines gibt, das die Menschen über alle Grenzen hinweg brauchen, dann ist das Frieden. Und wenn es ein anderes gibt, das die Menschen dafür benötigen, dann ist das Kooperation. Dies sind Werte, die jede Kultur kennt und schätzt, und angesichts der Internationalität und des Erkennens dieser Werte entsteht hier eine ganz neue In-Group. Attac als globale Gruppe ist nur eine Ahnung davon.
Dies, so möchte ich provokativ behaupten, ist der Fortschritt. Die Weltkultur. Sie bahnte sich an mit dem Fernsehen und der als integratives Moment weit unterschätzten Popmusik (Elvis, Beatles). Diese (multikuturelle) Weltkultur stellt sich nicht gegen die Souveränität von Staaten, sondern sie schafft etwas eigenes, etwas, das sie nicht durch den Wunsch nach Kontrolle gewinnt, sondern durch den Wunsch nach Gleichberechtigung in der Menschenwürde.
In der Kneipe kann man sich mehr Sprüche erlauben als in einem offenen Medium, wo jeder zuhören kann. Rassismus kann es nur dort geben, wo die In-Group-Diskurse dicht, hermetisch sind, wo kein Unparteiischer zuhören kann, der den Überschwang für die betreffende Gruppe nicht teilt. Auch die nationalen Diskurse werden sich in dieser Welt verändern. In Deutschland beispielsweise hat sich seit Hegel, vor allem aber im späteren politologisch-soziologischen Diskurs, eine auf Arroganz beruhende Sprachverwendung durchgesetzt, in Form von unlesbaren, vor Fremdwörtern und Schachtelsätzen triefenden, Aufsätzen und Büchern. Dies hatte zur Folge, dass deutsche Geisteswissenschaftler weitaus weniger als in früheren Jahrhunderten am internationalen Diskurs teilnahmen. So habe ich viele Menschen kennen gelernt, die Deutsch wegen Hesse, Wittgenstein, Freud oder Nietzsche, aber niemanden, der Deutsch wegen Adorno oder Habermas gelernt hätte. Besonders ihr Hang zum akademischen Leiden hat die Deutschen weitgehend aus dem Rennen gebracht: Wer will schon einen deutschen Fußnoten-Soziologen in eine andere Sprache übersetzen?
Kooperation für den Frieden heißt Abkehr vom Lagerdenken und Zuwendung zum Menschen, der in jeder Kultur und auf jeder Zivilisationsstufe gleich in der Würde ist. Die Sprengung der Hinterm-Ofen-Hocker-In-Group-Diskurse wird einige Wahrheiten ans Tageslicht bringen, die unangenehm sind. Nicht nur für den Westen, aber für den in erster Linie. Wir werden neue Riten brauchen, um endlich mit historischer Schuld umzugehen zu lernen, denn das können wir nicht, nicht im Westen und auch nicht im Osten.
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