Zwischen Jesus und Muhammad gibt es viele Unterschiede. Jesus wurde nur etwa dreißig Jahre alt, während Muhammads Mission im reifen Alter von vierzig erst begann. Muhammad wirkte als Prophet etwa zwanzig Jahre lang bis zu seinem Tod 632, sechshundert Jahre nach Jesus, den er als Propheten akzeptierte und mit dem im Koran sogar häufig argumentiert wird. Der Unterschiede sind mehr: Über Jesus' Leben und seine Worte hat man nur ausgesprochen wenig Wissen, wie Rudolf Augstein im Buch „Jesus Menschensohn“ plausibel macht. Jesus hat das griechische Original des Neuen Testaments nicht selbst geschrieben oder überhaupt Schriftliches hinterlassen. Die erste Niederschrift war mit den Briefen des Apostels Paulus gegeben, die zwischen 50 und 64 verfasst wurden. Bis etwa zur ersten Jahrhundertwende lag das Neue Testament dann vor, kanonisiert und damit autorisiert wurde es allerdings erst auf der römischen Synode von 382. (s. dtv wissenschaft 4485: Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel, S. 165). Jesus hat auch kein Rechtssystem geschaffen.
Anders Muhammad. Über dessen Leben ist sehr viel bekannt, denn alle Handlungen und Worte des islamischen Propheten, selbst einige seiner Nicht-Handlungen, wurden schon sehr früh als rechtsrelevant erachtet und daher archiviert. Muhammad hatte einen anderen Bezug zum Text als Jesus. Er kannte die Texte der Christen und der Juden, und er war bereit für sie. Doch er lebte im Bewusstsein, das Wort Gottes unmittelbar ins Ohr diktiert zu bekommen. Er machte auch die Erfahrung, dieses Wort weiterzugeben und die – wohl auch von ihm selbst so erlebte – Wunderhaftigkeit der wörtlichen Inspiration kontinuierlich mit Gleichgesinnten und mit Feinden zu teilen. Das religiöse Erwachen in Mekka und Medina war begleitet von der Gründung einer bis heute beständigen Grammatik, einer Sprache also, eines autochthonen Rechtssystems, und – alles gleichzeitig – einer kumulativen historiographischen Methode, die unter dem Stichwort „Khabar“ anfänglich nur aus Heftchen für den Unterricht bestand, die aber bald schon zu massigen Weltchroniken zusammenwuchsen, wie die sehr bekannte des Tabari (starb 923). Eine Schriftkultur mit allem Drum und Dran hängt also am Islam und seinem Entstehen, und dies ist einer seiner wesentlichen Unterschiede zum Christentum.
In einem wichtigen Punkt waren die beiden Gottesmänner aber auch sehr ähnlich: Beide sahen ihre Botschaft nicht in erster Linie als Opposition zur herrschenden Macht, sondern sie sahen sich beide vermittelnd in der gleichen Frage, nämlich der des Bundes Gottes mit den Menschen. Beide beziehen sich in diesem Kontext ständig auf das Alte Testament, und es sind Persönlichkeiten wie der Prophet Abraham, die deutlich machen, dass es hier einen gemeinsamen religiösen Ursprung gibt.
- Der Kulturkampf -
Die Frage nach Muhammad, Jesus und Moses ist heute wieder relevant, denn wir erleben heute in Deutschland einen Diskurs, der die Nazizeit ausgräbt und damit ungelöste Konflikte, die sehr alt sind. Notwendig ist dieser Diskurs nach dem Elften September, da verschiedene Gruppen mit verschiedenen Inhalten von einer Neuen Zeit sprechen, womit ein Wettkampf der Visionen stattfindet, der die Vorstellungen eines George W. Bush genauso einschließt wie die eines Uri Avnery oder einer Arundhati Roy. Doch ist es wirklich nötig, all das wieder aus dem Keller zu holen? Brauchen wir nicht einfach nur auf Lessings Nathan zu verweisen und zu sagen, dass dies alles lange bekannt ist? Vergessen Sie's, wir müssen tatsächlich darüber reden. Es geht um die Normen und Werte des 21. Jahrhunderts. Es gibt Leute, die den Kulturkampf wollen, die sich für ihn rüsten und erste Warnschüsse abgeben. Und das nicht nur bei der WELT, der BILD oder der FAZ, wo es kaum überrascht, sondern auch anderswo und auf verschiedenen Ebenen. Auf der anderen Seite gibt es die, die den Kulturkampf nicht wollen. Bei diesen wird versucht, Wissenslücken zu schließen, auch die eigenen natürlich, im Vertrauen auf Buddhas Weisheit, dass alles Leiden auf Unwissenheit beruht.
- Der Islam auf dem Prüfstand -
Der Islam steht bei vielen Kritikern heute zu Recht auf dem Prüfstand. Ganz im Sinne einer wirklichen Aufarbeitung von Vergangenheit und Gegenwart ist auch die Kritik am Islam und an den Arabern nicht nur legitim, sondern erwünscht, was sage ich: unverzichtbar. Auch um überarbeitete Islamprofis wie den Populitologen Prof. Bassam Tibi aus Göttingen zu entlasten, sind Essays mit Titeln wie „Der muslimische Aberglaube“ angebracht. Der direkte Fingerzeig auf den islamischen Glauben und seine Gläubigen. Wie ist es um Euch bestellt, Ihr Nachfahren Eures Propheten, und was ist Euer Beitrag an die Neue Zeit? Oder habt Ihr keinen Aberglauben? Gehen wir einige Punkte durch, um sie nicht den Kulturkämpfern als leichte Beute zu überlassen.
Die typischen Vorwürfe gegen den Islam und die Muslime sind die Frauenfrage, die autoritäre Gesellschaft, der Anti-Zionismus und der Dschihad bzw, das Dogma. Ein weiterer wichtiger Punkt für die Muslime ist es, Darwins Wissenschaft anzuerkennen. Alles andere scheint mir sekundär oder dumpfes Vorurteil. Frauen und die autoritäre Gesellschaft, das gehört zusammen. Und es geht nicht etwa um das berühmte Kopftuch. Das Kopftuch ist unwichtig, es verdeckt das Haupt der wirklichen Fragen. Das Tuch, dessen zwanghaftes Tragen nicht im Koran geboten wird und das es auch im christlichen Griechenland gibt, ist ein kulturelles Phänomen mehr als ein religiös-kultisches. Soll doch jeder tragen, was er will!
Der tiefere, hinter dem Schleier liegende Wert in der islamischen Ethik ist das Nicht-zur-Schau-Stellen physischer Attraktivität, und der gilt übrigens nicht nur für Frauen. So ist im Islam nach einem Hadith, also einer Überlieferung Muhammads, dem Mann das Tragen von Goldschmuck nicht erlaubt. An dieser Wurzel angekommen, lohnt durchaus die Frage, ob die moderne arabisch-islamische Kultur mit einer solchen Moralvorstellung nicht übertrieben prüde ist. Nur, wer soll diesen Vorwurf aussprechen, die Amerikaner? Man sieht viel Sex in der amerikanischen Öffentlichkeit, hinter dem sich aber bekanntlich ein konträrer und prüder Puritanismus verbirgt. Und in Amerikas demokratischen Satellitenstaaten sieht es nicht viel anders aus. Die Ermahnung, sexy zu sein, ist nicht etwa als Scherz gemeint. Es sei daran erinnert, dass die Araber und die Muslime Hollywood nicht nur akzeptiert haben, sondern geradezu lieben. Man kann nicht Hollywood lieben und den Rock'n'Roll dabei ablehnen, ohne zu lügen. Dass etwa auf einer Hochzeit Männer und Frauen in verschiedenen Räumen feiern, wie es in manchen orientalischen Gesellschaften der Fall ist, ist ein Ausdruck der Entfemdung der Geschlechter, die nicht im Sinne der Gesellschaft sein kann. Und dass im Orient Paare nicht ungestört Hand in Hand gehen können, ist liebesfeindlich.
- Die Legitimationsfalle -
Behandelt der Islam die Frauen schlecht? Es ist wahr, dass die Frau im islamischen Recht faktisch schlechter abschneidet als der Mann, und in den Gesellschaften ebenfalls. Dies geht bis zur Diskriminierung und Entmündigung. Darüber muss geredet werden dürfen. Herausgerechnet werden muss dabei – wenn die Kritik aus dem Westen kommt – die Wahnvorstellung, dass es in unserer Gesellschaft (und in der deutschen schlimmer als etwa in der amerikanischen) eine Gleichberechtigung von Mann und Frau geben würde, und dass Frauen bei uns nicht unterdrückt würden. Ja, diese Tatsache wird gerade daran deutlich, dass der Islam in diesem Punkt immer wieder mit denselben Stereotypen angegriffen wird. Es ist das Thema „Unterdrückung der Frau“, allgemeiner sogar noch „Unterdrückung“, das den Kritikern auf der Seele liegt, viel mehr noch als der Islam. Der Islam, dieses exotische System, läd ein zu Projektionen, um die eigene Seele unter falschem Namen zu erkunden und ihr die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.
So kommen wir hier bereits an eine Grenze der Kritik, bei der Frage, welcher Mund sie aussprechen kann. Ein Motiv, das sich wiederholen wird, sodass ich Professor George Lakoff aus Berkeley zu Hilfe rufe, einen seit Jahrzehnten friedenspolitisch aktiven Linguisten, der als Rat nach dem Elften September sagte: „Those that teach hate in Islamic schools must be replaced – and we in the West cannot replace them. This can only be done by an organized, moderate, nonviolent Islam. The West can make the suggestion, but we alone are powerless to carry it out. We depend on the goodwill and courage of moderate Islamic leaders. To gain it, we must show our goodwill by beginning in a serious way to address the social and political conditions that lead to despair.“ (Quelle: www.press.uchicago.edu/News/911lakoff.html), dass wir also nach den Ursachen der Verzweiflung suchen sollen und moderate Kreise zu einem Gespräch ermuntern sollen, ohne dabei eine Kontrolle anzustreben, von der Art, wie sie Edward Said in seinem bahnbrechenden Buch „Orientalism“ erkannt und formuliert hat. Es liegt nicht in der Hand des Westens, einen Orient nach seinem Willen zu erwirken, und das ist auch gar nicht schlecht, denn wer weiß schon, was für ein Frankenstein dabei herauskommen würde?
In die Legitimationsfalle gerät, wer von Außen die orientalische Gewalt kritisiert, denn die Frage kehrt wie ein Bumerang zurück und hallt lange nach: Und du? Lebst du nicht in Gewalt? Das Jesuswort des ersten Steins, es gilt für beide Seiten im Kulturkampf, im Kampf derer also, die eine große unversöhnliche Diskrepanz zwischen den Kulturen sehen oder generelle Bosheit in der anderen Kultur oder Arten von völkischer Überlegenheit. Es gibt solches Denken ja auch heute noch, sogar in Regierungen.
Und doch, nach all der Abstraktion und Berücksichtigung sehen wir Fernsehbilder aus Algerien, die uns daran erinnern, dass Algerien noch heute mit Problemen beschäftigt ist, wie sie die Generation von Sartre und Camus bereits kannte. Und ähnelte es nicht den Bildern aus Palästina? Was sind das für Völker, oder ist es nur eines? die einen Saddam Hussain zulassen und einen Bin Laden hervorbringen? Und wieviel Rücksicht muss im Westen genommen werden auf die Minderwertigkeitsgefühle der Verlierer von 1967 und zuvor der Kolonial- und Imperialgeschichte Englands und Frankreichs? Bestimmt sollte auch hier der zornige Araber-Kritiker zunächst einen Moment mit der Frage verbringen, ob diese Konstellationen der dunklen Vergangenheit nicht noch zu seinen Lebzeiten in eine politische Umbewertung geraten könnten, im Wesen vergleichbar den derzeit laufenden Entschädigungsforderungen schwarzer Amerikaner für die Versklavung ihrer Familien.
Um aber sinnvoll über die Gewalt und die autoritäre Gesellschaft in arabischen Ländern zu sprechen – was im Rahmen eines Essays nicht mehr als angeregt werden kann -, bedarf es der Ideen „über den Prozess der Zivilisation“ von Norbert Elias als Maßstab. Es ist notwendig, die beobachtete Gewalt im Kontext ihrer Zivilisationsstufe zu sehen, um der Situation gerecht zu werden. Und „Zivilisationsstufe“ ist hier keineswegs ein Begriff, der Überlegenheiten definieren könnte, auch wenn das immer wieder versucht wird. Es hat zu tun mit der Entwicklung von Kollektiven, die nach gewissen Regeln verläuft, die in der Soziologie seit Ibn Khaldun (starb 1408) untersucht werden. Wer allerdings denkt, die Araber seien beispielsweise intellektuell den Deutschen unterlegen, irrt sowieso. Gewiss ist das arabische Bewusstsein anders, da braucht man nur in Kairo den Fernseher anzumachen, dann weiß man das, oder durch die Straßen der Innenstadt zu gehen. Aber es ist nicht von einer Art, dass man von Unterlegenheit sprechen kann.
Die Wahrheit ist, dass sich der Westen selbst um die Gewaltfrage drückt und es nicht sehr eilig damit hat. Schnelle Lösungen gibt es nicht, Patentrezepte schon gar nicht – so etwa spricht der Schröder-Mainstream. Immerhin, mit der hier umrissenen Idee der begleitenden Selbstkritik wird die Orient-Kritik von westlicher Seite zu einer konstruktiven Angelegenheit, denn jeder Appell an den anderen ist dann gekoppelt an die Frage, inwieweit die eigenen westlichen Werte, die lange vor sich hin gelebt haben, ohne angemessen aktualisiert zu werden, noch Bestand haben. Oder sind wir im Westen noch immer so unbewusst, dass wir vom anderen erwarten, woran wir selbst scheitern, die harmonische Gesellschaft zum Beispiel?
Zum Anti-Zionismus: Der Hauptstreitpunkt in der Auseinandersetzung zwischen dem Westen und den arabischen und muslimischen Staaten ist die Israel-Problematik inklusive der Demokratie-Debatte. Das muss man klar sehen. Positiv ausgedrückt heißt das, dass ein jerusalemischer Frieden völlig neue Perspektiven aufwerfen kann und zuvor nicht erlebte Furchtlosigkeiten in der ganzen Welt. Nach 54 Jahren Krieg kann man sich das fast nicht mehr vorstellen, aber selbst hier kommt nach Regen Sonnenschein, wie kaum ein Historiker bestreiten wird, der das Wetter kennt. Wie aber steht es um das Feindbild Israeli bei den Arabern, wo sind sie zu kritisieren? Die Antwort wird leicht, wenn man mit einem Maß misst: Verallgemeinerungen und damit Verschwörungstheorien sind unzulässig. Die Ablehnung, den anderen kennen zu lernen, und sei er Feind, auch. Der Aufruf zu Initial-Gewalt ist ebenfalls unzulässig. Durch den Vorschlag des saudischen Kronprinzen, den Staat Israel tatsächlich zu akzeptieren, sind die Araber diesen notwendigen Sinneswandlungen in letzter Zeit ein gutes Stück entgegengekommen. Die Forderung, die Araber müssten sich mit dem Holocaust auseinandersetzen, um zu einer Verständigung zu gelangen, darf nur für die Elite gelten, denn das Volk, das seit langer Zeit unter nicht nur sebstverschuldeten Entbehrungen und Verlusten zu leiden hatte, um seine bloße Existenz und Identität zu erhalten, ist im jetzigen Stadium auf diesem Ohr taub. Doch wird auch eine solche Zeit kommen, und dann werden – unter heißen Tränen wohl – die Gemeinsamkeiten der Kinder Abrahams hervortreten, und die Vergangenheit wird sich im Bewusstsein beider verändern.
Damit eng verknüpft ist die bekannte und unglücklich gestellte Frage nach der Kompatibilität von Demokratie und Islam. Diese Frage ist innenpolitisch relevant, aber auch hinsichtlich Israels, welches manchmal als ein Bollwerk der Demokratie in Nahost betrachtet wird. Demokratie und Islam, zwei zu Projektionen einladende, aus ganz verschiedenen historischen Zusammenhängen stammende
Begriffe. Zwei Systeme, die beide mehr oder weniger Schwierigkeiten haben, mit einer Out-Group umzugehen. Und eine Frage, die meistens nur zu intellektualisieren versucht, was sie eigentlich will: Sind wir mit denen kompatibel? Dazu kann man eigentlich nur sagen: Du musst es einfach ausprobieren, wer weiß das schon? Wo es aber ernst wird, da geht es um die Menschenrechte, die der Westen einfordert, und von denen sich der Osten fragt, warum er sie sich von Außen definieren lassen muss, es gar als Beleidigung auffasst. Als hätte der Osten keine Menschenrechte! Hier wird es, hier muss es Streit geben. Denn wir wollen da durch, weitergehen, alle Beteiligten wollen das.
Zum Dschihad: Auch in dieser Sparte gibt es jahrzehnte- und jahrhundertealte Vorstellungen, die stets wiederkehren. Dass er kriegerisch sei, sagen die einen, dass er im Gegenteil mystisch pazifistisch sei, sagen andere, und beides kann man belegen. Es ist wie mit dem Leben selbst: Du kannst etwas Gutes darin sehen oder etwas Schlechtes. Es liegt, wie so vieles, im Auge des Betrachters. Eine ganz ähnliche Ambiguität gibt es ja im Zionismus (dazu auch Ozzy 94.2).
- Der muslimische Aberglaube -
Was nun ist der muslimische Aberglaube? Es ist der Glaube an die Stagnation und den Verlust, der es den arabischen Gesellschaften verbietet, glücklich zu sein. Der Glaube daran, dass das Tor zum Ijtihaad, zum Forschen, geschlossen sei, so wie alles Neue noch mit „ibdaa´“ assoziiert wird, was die Konnotation der Schande hat. Es ist der Glaube an die Ohnmacht und an die Abhängigkeit von Feinden, um die eigene Identitätslosigkeit zu vertuschen. Der Glaube an das Primat des Hintenrum angesichts komplexer Realitäten. Es ist auch die Angst, dass der Islam den Muslimen nicht gibt, was sie von ihm erwarten, dass man aber durch die quasi-Heiligkeit der arabischen Sprache hilflos und kritikunfähig bleibt.
Die Muslime haben – und das hat sich negativ ausgewirkt – seit etwa dem elften Jahrhundert oder dem neunten – keinen konstruktiven kritischen Diskurs über die Grundlagen ihrer Religion mehr geführt. Eine Aufklärung blieb bekanntlich aus, und auch eine arabische Jugendbewegung vom Schlag der Hippie-Bewegung hat es nicht gegeben. Nicht nur anfang des letzten Jahrhunderts wurde der offene Diskurs unterbunden – etwa im Fall Taha Husains Äußerungen zur vorislamischen Dichtung oder anderer „Skandalbücher“, die am Image der islamischen Reinheit kratzten -, und bis in unsere Zeit reicht diese Intoleranz, wie der empörende Fall der „Zwangsscheidung“ des wichtigen ägyptischen Denkers Nasr Hamid Abu Zaid im Zusammenhang mit einem idiotischen Apostasie-Vorwurf zeigt. Professor Abu Zaid arbeitet (in Holland) zu den zentralen Fragen und geht den Weg, das koranische Wort in seinem historischen Kontext zu betrachten. Hier genau ist das arabisch-islamische Kollektiv zögerlich, in der historisch-relativen und kritischen Bewertung seiner eigenen Identität.
Der Islam ist – ursprünglicher noch als das Christentum – präskriptiv, er schreibt vor. Nicht alles am Islam ist Vorschrift – Gott bewahre, aber die Vorschriften stehen auf den versteinerten Säulen der Geschichte, und ihre Relativierung kann das gesamte System erschüttern. Was tut der abergläubische Muslim? Er sagt sich, dass das größte Vorbild Muhammad ist (was legitim ist), und er denkt, wenn er alles nachmacht, was der Prophet gemacht hat, vielleicht beim Bart schon angefangen, wenn er sich ganz in die Zeit zurückversetzt, dann könne er keinen Fehler machen. Dies allerdings – ist Aberglaube. Und es wird dem Propheten bei weitem nicht gerecht. Es schmälert seine Leistung, lebte Muhammad doch deutlich im Bewusstsein seiner eigenen Historizität. Er selbst und seine Zeitgenossen fragten sich, warum ein bestimmter Vers zu einer bestimmten Zeit offenbart wurde, und dieser Verweis auf den historischen Kontext ist seit frühesten Zeiten Bestandteil der Exegese, also der Koranerklärung. Was Muhammad damals für die Frauen tat, war fortschrittlich: Er gab ihnen überhaupt erst ein Recht. Es wird ein Kampf sein, den Musliminnen das ganze Recht zu bringen, wie es für den Propheten ein Kampf war, ihnen das halbe Recht zu bringen. Bei den sogenannten Hadd-Strafen wie dem Abhacken der Hände und derlei Altertümern hat man es auch geschafft: Faktisch hängen die Gerichte zumeist das Schuldmaß so hoch, dass die Hadd-Strafe nicht erreicht werden kann. Diese noch notwendigen Tricksereien müssen in ein allgemein akzeptiertes System gebracht werden, leugnen lassen sie sich sowieso nicht mehr.
Darf man als Muslim den Koran oder den Propheten hinterfragen, kritisieren? Ich sage, man muss es sogar, wenn man erstens seinen eigenen Islam verstehen möchte und zweitens verhindern möchte, dass andere den Islam missbrauchen. Dafür brauche ich Wissen, echtes Wissen, keine Dressuren. Man muss solange fragen, bis man seine Fragen beantwortet und seine Zweifel abgelegt oder anerkannt hat. Und dies gilt nicht nur für Individuen, sondern auch kollektiv, etwa in der Gewaltfrage. Die Rushdie-Affäre um das Buch „Die Satanischen Verse“ hat gezeigt, dass es Probleme gibt. So etwas wie dieses Buch (von dem Teile auch mich befremdet haben) muss die muslimische Gemeinschaft ertragen können. Auch das Tabu der Darstellung des Propheten, das auf das ohnehin umstrittene Bilderverbot zurückgeht, ist an seinem ursprünglichen Sinn gemessen im Fernsehzeitalter lächerlich. Solche Hemmungen helfen nur den autoritären repressiven Kreisen, das ist genau wie im Westen. Es gibt in den arabischen Ländern zu viele Ehrenrührigkeiten hinsichtlich des Islam, zu viele Formalitäten, die mit der uneingeschränkten Autorität des Wortes zusammenhängen. So etwa die Forderung, jedesmal nach der Nennung des Namen Muhammads als Ehrenbezeugung eine lange Floskel anzuhängen, was wohl aus einem Rechtstext abgeleitet ist und offensichtlich stört, da man Hemmungen bekommt, den Namen Muhammads auszusprechen. Ebenso andere Floskeln wie die überstrapazierte Basmallah („Im Namen des Allbarmherzigen Gottes“), von der der gute Ton gebietet, sie beispielsweise oben auf jeden Brief zu schreiben – eine in meinen Augen empörende Anmaßung, anzukündigen, in Gottes Namen zu sprechen.
Es ist diese Art der Kleinigkeiten, deren offene Kritik von allein zum Kern der Probleme führen wird. Es ist nicht der umfassende intellektuelle Diskurs, denn der wird in den arabischen Ländern seit langem geführt. Es gibt hervorragende kritische Bücher wie das „ath-Thaabit wa-l-Mutahauwil“ („Das Statische und das Dynamische“) von Adonis, einem der führenden arabischen Schriftsteller und Denker, allein die Generation muss noch erfunden werden, die genug Hoffnung hat, um Kraft für wirkliche Veränderung zu bekommen.
Nach dem Elften September wissen auch die Araber und die Muslime, dass etwas Neues geschehen muss. Und dass sie nicht alles Misslingen der Welt auf Israel zurückführen können, ist ihnen klar. Die Herausforderung der Freiheit des Internets und der Sender al-Jaziira deuten ebenfalls in eine Zeit der Öffnung. Eine Zeit, in der man die Israelis und den Westen mit ihrem Aberglauben kritisieren kann und gleichzeitig den muslimischen Aberglauben, der letztlich wenig mit dem Islam und viel mit den Muslimen zu tun hat, den Aberglauben an die sich nicht wandelnde Welt.
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