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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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Die Chronik ist jetzt fast beendet. Nachdem ich bereits die 96. Nachricht reserviert habe, muss ich jetzt auch noch die 95 reservieren. Vor einigen Tagen erreichte mich ein langer Beitrag, den ich übermorgen ins Netz stellen werde, so wie die betreffende Person es gewünscht hat. Bis dahin gebe ich keine weiteren Informationen über den Inhalt des Beitrages als den, dass der BLUESLAND-Fall unmittelbar und unwiderruflich vor seiner Aufklärung steht. Hier sind die Beiträge der letzten zwei Tage:

(1) Maria: Als wir anfang Oktober diese Mail von Ozzy bekamen, Simon, Carl und ich, da hätten wir uns nicht träumen können, dass wir innerhalb eines halben Jahres die Ereignisse unserer Vergangenheit so umfassend behandeln würden. Dass etwas passieren musste, das wussten wir, aber planen ließ sich das nicht. Wenn ich sagen würde, dass ich damit zufrieden bin, wie sich die Dinge verändert haben, wäre das ungenau. Die meisten von uns sind nicht mehr die, die sie am Anfang waren. Carl und ich haben uns jetzt verlobt. Das ist wohl eine Neuigkeit. Auch habe ich viele neue Leute kennen gelernt, ja und Ozzy, Ozzy ist auch wieder in meinem Leben.

Die BULLETS werden nicht wiederauferstehen, das ist allerdings sicher: Carl und ich werden unseren eigenen Weg gehen, Michael und Oliver sind sowieso draußen, und auch Ozzy geht seinem individuellen Schicksal entgegen. Er wird es schaffen, und wir werden ihm dabei helfen.

Es kommt mir so vor, als wäre trotz aller Tabus und Konflikte, über die wir in der Chronik gesprochen haben, die Liebe der Faktor, der uns zum Handeln bringt. Die Israelis kämpfen aus Liebe zu ihrem Land, die Palästinenser genauso. Mark H. handelte aus Liebe zu seinen Eltern, und seine Eltern handelten auch aus Liebe. Selbst Conan Bukowski sagte, er gebe sich den Frauen, die seinen Charakter mögen, und die es wollen. Der Autonome, der uns früh verlassen hat, der Fundamentalist, der zu seinen Glaubensbrüdern gegangen ist, all diese Leute handeln meiner Meinung nach aus Liebe. Vielleicht sogar die deutsche Presse. Nur dass so oft Gewalt dabei herauskommt.

(2) Marwan J.: Es hat mich bewegt, was Stella geschrieben hat. Vor allem deshalb, weil sie eine Jüdin ist. Ich habe noch nie so wenig Wut gespürt beim Hören des Wortes Zionismus. Ich stamme aus Gaza, das ist einer der am dichtesten besiedelten Orte der Erde. Es gibt dort viele überfüllte Flüchtlingslager, und aus einem davon komme ich. Vor zwölf Jahren hatte ich hier einen Studienplatz bekommen, der mich gerettet hat, wie es mir vorkommt, denn die Zustände in Gaza sind nur schwer zu ertragen. Viele meiner Freunde sind zur HAMAS gegangen, ohne die HAMAS würde vieles noch schlechter funktionieren. Auch unser legitimer Widerstand hätte lange nicht so viel Gewicht ohne sie. Aber mein Fall war sie trotzdem noch nie.

Der Zionismus ist jedenfalls für uns Palästinenser der Inbegriff von Unrecht, weil wir darunter zu leiden hatten und haben. Es ist für uns nicht verständlich, dass man 1948 unsere Dörfer zerstört hat, damit andere Leute Platz bekamen, die nie zuvor in diesem Land gewesen sind. Die Vertreibungen, dann die Besetzung der Westbank und des Gazastreifens 1967, das ist für uns Zionismus. Sabra und Schatila, das ist für uns Zionismus.

Als ich aber Stellas Beitrag gelesen hatte, kam es mir anders vor. Es kam mir auch gar nicht so vor, als ob sie eine typische Israelin ist. Allerdings muss ich zugeben, dass ich eigentlich gar keine Israelis kenne. Das ist bisher für mich tabu gewesen. Als sie jedenfalls so schrieb, dachte ich für einen Moment: Die schreibt gar nicht über den Zionismus, sondern über den Dschihad. Und danach bin ich ganz durcheinandergekommen, aber positiv.

Der Dschihad des Islam ist ja ein ebenso zweischneidiger Begriff wie der Zionismus, je nach dem, zu welcher Gruppe man sich zugehörig fühlt. Für die Israelis ist der Dschihad eine Ideologie, so wie für uns der Zionismus eine Ideologie ist. Im Eigenverständnis hingegen ist der Zionismus eine Kraft, die zu innerer und äußerer Stärke führt, die zur Identität gehört und zum höheren Streben. Genau wie bei uns der Dschihad.

Im Westen stellt sich der Dschihad meistens als etwas Kriegerisches dar, und er hat auch diesen Aspekt. Die Frage ist wie immer, wie stark ein solcher Aspekt gewertet wird, sei es von der In-Group oder der Out-Group. Mit beiden Begriffen lässt sich für Krieg ebenso argumentieren wie für Frieden. Es kommt auf die Menschen an, die sich darüber eine Meinung bilden. Und es kommt in unserem Jahrhundert sicher auch darauf an, dass nationale, religiöse und kulturelle Bewegungen und Erscheinungen wie der Zionismus oder der Dschihad global kompatibel sind. Dass sie Antworten bereit halten für andere Gruppen, die skeptisch sind, oder die sich bedroht fühlen.

Die Araber und die Juden sind Cousins. Sie sind sich schon sehr ähnlich in vielen Dingen. Als ich Palästina damals verlassen hatte, war Israel für mich tabu. Ich nannte es, wenn überhaupt, das zionistische Gebilde, sowie es früher die Zeitungen bei uns geschrieben hatten. Ich war nicht bereit, den ungerechten Verlust des ursprünglichen Palästinas hinzunehmen, auch wenn viel Zeit seitdem vergangen ist. Unrecht bleibt Unrecht. Aber heute denke ich schon pragmatischer. Man kann versuchen, sich über die Freihandelszone näherzukommen. Außerdem sollte jeder Palästinenser Hebräisch lernen und jeder Israeli Arabisch. Wir müssen irgendwann mit diesen Dingen anfangen. Der frühere Schachweltmeister Bobby Fischer hat auch Russisch gelernt, um die Sprache des Feindes zu verstehen. Das war klug. Wenn die Palästinenser Hebräisch können, dann können sie auch ihre Kritik auf Hebräisch vorbringen. Zum Beispiel könnten sie dann auf Hebräisch sagen, dass es zwar Araber gibt, die einen israelischen Pass haben, und die auch wählen dürfen, aber Ministerpräsident dürfen sie nicht werden.

Tatsächlich kann ich mir einen Frieden mit Israel jetzt vorstellen, gerade jetzt, wo die verhassten Panzer wieder in unseren Städten waren. Sie haben sogar das Krankenhaus von Bethlehem beschossen, was nach der Genfer Konvention selbst in Kriegszeiten verboten ist. Aber da sind auch noch die Selbstmordattentäter. So etwas kann man nicht gutheißen oder tolerieren. Sie kommen allerdings nicht von einem Staat. Wir alle hassen diesen Krieg. Wir sind kaputt von diesem Krieg. Wir wollen Frieden.

(3) Marco: Der wesentliche Anhaltspunkt der Chronik ist für mich der Gedanke der offenen Situation. Er fasst vieles von dem zusammen, über das wir gesprochen haben. Meine Selbstversuche haben mich darin bestätigt, dass es die ungeplanten, unkontrollierten Situationen sind, in denen wir wachsen können. Da man selbst immer Teil der Situation ist, die man erlebt, kommt es auf einen selbst an, ob man offene Situationen anstrebt beziehungsweise zulässt oder erst einmal erkennt. Es geht darum, in der Lage zu sein, den Impuls, der von Außen an einen herankommt, zunächst unkritisch zuzulassen, damit er wirken kann. Wir hatten ja gesagt, dass der Impuls nicht steuerbar ist. Aus einem Gedicht oder einem Song kann ein Impuls ausgehen, aber auch aus dem Blick des Gemüseverkäufers. Es scheint, als würde das Unterbewusstsein diesen Impuls aufnehmen und für sich verwerten, ohne dass das Bewusstsein großartig mitbekommt, was überhaupt los ist. Ich denke, wir vermasseln es uns selbst, wenn wir nicht auf das Unterbewusste hören und es nicht als Teil unseres Ichs betrachten. Ihm nicht vertrauen können.

Einen Impuls aufnehmen, bedeutet für mich, dass ich mich verändere. Ich bin nach dem Impuls ein anderer, habe etwas Neues integriert, bin weitergekommen. Es heißt ja, dass nur der sich treu bleibt, der sich ändert. Aber wohin soll man sich ändern, in welche Richtung, und nach welchem System? Das, so denke ich, sagt uns das Unterbewusstsein. Wenn wir es beobachten und gewähren lassen. Nach meiner Erfahrung verliert man dabei auch nicht die Kontrolle, solange man die Fähigkeit hat, sich selbst zu beobachten.

Ich habe mich gefragt, wohin man gelangt nach all den Metamorphosen und Wandlungen. Wahrscheinlich ist es die Buddhaschaft, die Erleuchtung. Denn dem Buddha fehlt es an nichts, ohne dass er etwas tun muss. Er lächelt und ist glücklich. Er hat alle Verhaltensweisen abgelegt, die ihm schaden, und genießt jeden Augenblick seines Daseins in inspirierter Stimmung. Das schafft kaum jemand. Ich schaffe es wohl nicht, und ich glaube, Ozzy wird über sich dasselbe sagen. Als Ideal und Erklärung taugt der Buddha aber allemal.

Was wir Normal-Sterblichen aber aus der Übung mit offenen Situationen ganz praktisch gewinnen können, ist die emotionale Balance. In meinem Selbstversuch mit der imaginären Kamera kam es mir an einem bestimmten Punkt so vor, als sei ich in der perfekten emotionalen Mitte, bereit, in ein Lachen auszubrechen oder ein Weinen, zu allen Seiten offen. Es war ein gutes Gefühl. Ein Gefühl von Weichheit, Flexibilität, Geschmeidigkeit. Attribute, die nicht unbedingt zum herrschenden Männerbild passen. Ich schlage daher vor, das Männerbild zu verändern.

(4) Samantha: Ich möchte dem beipflichten, was hier gesagt wurde darüber, wie man mit Schuld umgehen sollte. Seit die Kirchen ihren gesellschaftlichen Rückhalt verloren haben, fehlen der Gesellschaft die Möglichkeiten der Beichte und der Ent-Schuldigung. Oft wird das Unrecht nachträglich noch größer gemacht, weil der Unrecht-Tuende seine Schuld – sogar vor sich selbst – leugnet, in der Hoffnung, nicht bestraft zu werden. Dadurch bleibt die Situation in einem Zustand der Spannung, die sich irgendwann entläd und zu groben Fehlern führen kann.

Es ging in dieser Chronik zu Beginn um die Frage, wie groß man in unserer Gesellschaft werden kann und darf, und dass es keine richtigen Stars bei uns gibt, weil die Gesellschaft mit der Rolle nicht zurecht kommt, die ein solcher Star hätte. Wir nannten auch Gegenbeispiele wie Udo Lindenberg und durchaus auch James Last. Einen John Lennon oder einen Freddie Mercury hat die deutsche Gesellschaft allerdings nicht hervorgebracht. Aber wer ist dafür verantwortlich zu machen? Die Presse? Nein, da sage ich glatt Nein. Das wäre zu einfach. Das Establishment. Ja gut. Und wer ist das? Ich jedenfalls wünsche mir sehr, dass es bei uns so etwas auch mal gibt, und dass wir die interessanten Leute nicht immer aus Amerika und England holen müssen.

Dabei gab es doch in Deutschland Stars. In den Dreißigern jedenfalls noch. Vielleicht haben die Deutschen tatsächlich Angst davor, dass sie wieder Nazis werden, wenn sie sich oder einander zu groß machen. Dass sie wieder in diesen Rausch kommen und wieder eine solch katastrophale Bruchlandung erleben müssen. Ich kann das verstehen. Es hat lange gedauert, bis ich mir verziehen hatte, was ich früher mit Menschen gemacht habe, dass ich eine Phase hatte, in der ich viel Schuld auf mich geladen hatte. Als ich das irgendwann mit dem Herzen bereute, wollte ich ganz klein sein, ich wollte gar nicht mehr so wichtig sein. Ich wollte bestimmt kein Star mehr sein. Das ist heute etwas anders. Vor allem, weil Star-Sein nicht mehr für mich bedeutet, Ansehen zu haben und bedient zu werden, sondern, etwas aus sich zu machen und seinem Schicksal zu folgen. Auf einer Streichholzschachtel habe ich gelesen: „Ein Schiff im Hafen ist sicher. Aber dafür werden Schiffe nicht gebaut.“ Ich denke, dass die hohe See eine offene Situation ist, in der alles Mögliche passieren kann, das stimmt. Das ist fast wie im Leben.

Redaktion in Kiel, 22.03.02

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