(1) Roger B.: Ein wesentlicher Strang unseres Diskurses ist die These, dass soziale Situationen aus zwei Quellen entspringen, nämlich unseren Wünschen und unseren Ängsten/Zwängen. Einer der höchsten Werte für die zweite Quelle ist die Gewalt, denn ihre Existenz und der Glaube daran ist die zentrale Rechtfertigung für unsere Ängste/Zwänge. Gäbe es diese Gewalt nicht, müssten wir nicht so viele Kontrollsituationen schaffen, sei es staatlich oder familiär. Ohne Gewalt könnte sich das Establishment nicht definieren. Freilich definiert es sich über die Gewalt von Out-Groups. Ein praktisches Beispiel dafür ist die (Regenbogen-)Presse. Sie schimpft gegen Nazis und Kinderschänder, gegen korrupte Politiker und afrikanische Diktatoren, gegen Terroristen und Drogendealer usw., bis am Schluss so viele Abgrenzungen zu anderen Gruppen vorhanden sind, dass man dadurch eine Identität gefunden hat. Eine Identität, die durch Abgrenzung, (passive) Reaktion und Kontrolle charakterisiert ist. Eine Art Sekundär-Identität.
Auf der anderen Seite steht der Wunsch als Ursprung einer Situation. Auf welche Werte stützt sich der? Ich denke, er stützt sich zum einen auf den Eigenwert der Wunscherfüllung, aber auch auf die Wahrheit des Augenblicks. Wenn man Schönheit erlebt in einem bestimmten Moment, und sich darüber im Klaren ist, dann erlebt man Wahrheit. Der Moment vergeht, aber die Wahrheit dieses Momentes vergeht nicht. So bleibt ein Wissen, das sich in Glaube verwandelt, wenn der Moment entschwunden ist. Dieses Wissen um die Wahrheit des Augenblicks kann, wenn ich Marco am Freitag bei Maria richtig verstanden habe, in Kunst transformiert und gewissermaßen konserviert werden. Das Kunstwerk, das in solchen Momenten entstanden ist, sendet Impulse aus, die auf die Wahrheit des Augenblicks seiner Entstehung referieren und damit etwas im Betrachter aktivieren können, wenn er die Konfrontation mit dem Kunstwerk als eine offene Situation versteht und also für sie offen ist. Bereit, sich verändern zu lassen, so wie der Künstler sich hat verändern lassen.
Aber nicht nur in Kunst kann diese Wahrheit des Augenblicks transformiert werden, sondern auch in das Wort. Die Bibel, der Koran. Verträge, Übereinkünfte. Werte, die zu einem bestimmten, möglicherweise inspirierten Zeitpunkt als genau richtig erkannt wurden, werden in Worte gefasst und aufgeschrieben mit dem Ziel, den bewusst formulierten Wunsch zum Urspung zukünftiger Situationen zu machen. Auch UNO-Resolutionen sind von dieser Art. Es sind alles self-fulfilling prophecies. Wenn man nicht an das Wort glaubt, sei es das der Bibel oder das der UNO, dann hat man keine Voraussetzungen für solche Wunscherfüllungen.
Marwan hat mir am Freitag erzählt, dass das Wort für die Muslime einen noch höheren Stellenwert hat als für die Christen, weil der Koran – anders als die Bibel – einen zeitgleichen Wortlaut hat. Und weil der Prophet Muhammad als Übermittler des Wortes ein absolutes Verständnis vom offenbarten Text hatte. Als Gott Muhammad damit beauftragte, seinem Volk etwas zu sagen, war Muhammads Respekt vor dem Wortlaut, den er hörte, so groß, dass er nicht nur den Inhalt der Botschaft widergab, sondern das wörtliche Zitat. Das Wort „Sag!“ (Arabisch: qul!) kommt daher 332 Mal im Koran vor.
Auch im Koran und in der Bibel ist es ja so, dass eine Öffentlichkeit geschaffen wird, die der Korruption und Geheimniskrämerei der Gesellschaft gegenübersteht als legitime und gewaltlose Opposition Dingen gegenüber, die der Gesellschaft nachweislich schaden.
(2) Hanna: Ich frage mich, ob es in offenen Situationen eigentlich auch Geheimnisse gibt. Und ich würde eher mit Nein antworten. Um ein Geheimnis zu wahren, braucht man Energie, man ist abgelenkt. In offenen Situationen lässt man die Dinge geschehen. Doch gibt es wohl zwei Arten von Geheimnissen. Einige sind notwendig, damit die Zivilisation und die Diplomatie funktionieren. Affektkontrolle ist ja auch eine Art von Geheimnis, man verschweigt, was man im Augenblick fühlt, um nicht durch (unkontrollierte) Emotionalität die Situation nachteilig zu beeinflussen. Oder wenn man ein Gefühl fühlt, das man selbst noch nicht richtig verstanden hat. Dann braucht man nicht darüber zu sprechen. Oder wenn man befürchten muss, ausgelacht zu werden, weil andere nicht nachvollziehen können, in welcher Situation man ist.
Es gibt Gründe für Geheimnisse. Selbst wenn wir nach unseren Wünschen leben wollen, brauchen wir Geheimnisse, es ist nicht möglich und nicht sinnvoll, ständig in offenen Situationen zu leben. Ein kontrollierendes Gegengewicht ist nötig. Solche Geheimnisse aber, die niemals öffentlich werden sollen, sind anders. Sie sollen eine Schuld verdecken. Solche Geheimnisse gilt es in die Öffentlichkeit zu bringen und aufzulösen."
(3) Silke P.: Schade, dass wir nicht weiter auf den Begriff der Heiligkeit eingegangen sind, der den Webmaster so beschäftigt hat. Das Wort hat heute einen pathetischen Klang, weil uns nichts mehr heilig ist. Das ist auch so ein Nebeneffekt der Aufklärung gewesen, die Profanisierung der Welt. Heilige Orte und Zeiten, Rituale, Gegenstände, Personen, was soll man sich darunter vorstellen? Ich weiß es selbst nicht. Aber es muss etwas dran sein, denn die Menschen haben seit Jahrtausenden diesen Begriff, und ich kenne keine Sprache, in der es ihn nicht geben würde.
Ich glaube, ich bin einfach nur zu eitel, um Heiligkeit zu verstehen. Es gibt wohl keine Heiligkeit ohne Glaube und Demut. Wenn du nicht willst, dass es so etwas wie Heiligkeit gibt, dann bleibst du davon verschont. Wenn zum Beispiel ein Indianerstamm eine heilige Handlung ausführt und du dabei zusiehst, dann mag es dir lächerlich vorkommen, weil du eine ganz andere Situation erlebst, in der die Dinge eine andere oder gar keine Bedeutung haben. Du fühlst nicht, was die anderen fühlen. Ich stelle mir Heiligkeit so vor, dass man die Situation aktiv mitgestalten muss, um ihr gerecht zu werden.
Es kommt mir so vor, als könne man Heiligkeit erkennen, wenn man sich dafür öffnet. Kinder können das, sie verstehen früh, was Heiligkeit bedeutet. Es ist nichts, was mit einer bestimmten Religion zu tun hat, es ist umfassender, schamanisch. Ich glaube, als Kind hatte ich selbst so einen Begriff, aber ich kann mich nicht mehr gut daran erinnern. Wenn ich das hier so schreibe, komme ich aber wieder näher. Wie hat Ozzy das noch mal genannt? Taqrib, ja richtig. Mit ein bisschen Übung müsste man es schaffen, wieder zurückzufinden.
(4) Ozzy: Eigentlich wollte ich nichts mehr schreiben, ich hab ja nun auch reichlich. Aber mir ist eine seltsame Sachen passiert, von der ich noch berichten möchte. Die Geschichte mit diesem Pärchen: Ich stand mit Sibylle und einem Freund namens Richard vor der Wohnungstür, als eine aufgeregte Frau mit Handy auf uns zu kam und sagte, dass um die Straßenecke gerade eine Frau verprügelt wird, und sie rufe gerade die Polizei an. Wir sind sofort losgerannt und sahen das Paar, etwa anfang zwanzig, mit einem etwa 16-jährigen Freund. Er brüllte, sie heulte, der Dritte kuckte zu. Ich rief ihm zu, dass bereits die ganze Straße aufmerksam geworden ist, und dass er sich beruhigen soll. Aber er hat sich wieder über seine Freundin aufgeregt. Sie hatte irgendwas gemacht. Ich fragte sie, und sie sagte, ich solle es einfach so lassen. Dann schlug er sie ins Gesicht. Ich griff ihn von hinten, dass er seine Arme nicht bewegen konnte und sagte ihm, dass das nicht geht. Dass er sich versündigt. Er sagte, er wisse das, er könne sich nur einfach nicht beherrschen. Ich musste ihn irgendwann wieder loslassen. Es war auch Unsinn, auf die Polizei zu warten, denn was sollten die machen? Ihn einsperren? Und dann?
Ich konnte den Dritten noch befragen, während die beiden sich entfernten. Er sagte, dass der Große der Polizei bekannt ist, und wie das Mädchen mit Vornamen hieß. Mehr wollte er nicht sagen, um sich nicht selbst zu belasten, was ich verstand. Da gingen sie hin. Ich wusste nicht weiter. Die Situation war nicht aufgelöst. Richard sagte, ich hätte alles getan. Er sagte, das Mädchen hatte Zeit genug, um wegzulaufen, als ich ihn festhielt. Aber sie ist nicht weggelaufen. Sie wollte es so. Und Richard hatte Recht. Am Schluss war ich auf sie mehr sauer als auf ihn. Dennoch, ich kann es nicht verstehen. Ich sehe die Gewalt vor meinen Augen und begreife nicht, wieso die Leute sich das antun.
Redaktion in Kiel, 20.03.02
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