(1) Klaus K.: Ich habe mich gefragt, warum die Stellung der Kinder in unserer Gesellschaft zweigespalten ist. Einerseits wissen wir, dass sie die Zukunft sind, die Zukunft der Familien und des Landes, wir wollen sie groß machen und ihnen eine Ausbildung zukommen lassen, andererseits nehmen wir sie nicht ernst und lassen sie Dinge tun, die sie nicht wollen. Aber warum nehmen wir sie eigentlich nicht ernst? Ich denke, es hat mit dem Überlegenheitsdenken der Erwachsenen zu tun. Die Erwachsenen sind typischerweise in der Lage, sich selbst zu versorgen, was Kinder nicht können. Die Erwachsenen haben mehr Erfahrung, und sie haben vermeintlich mehr Handlungsspielraum. Sie sind typischerweise besser in der Lage, ihre Affekte zu kontrollieren und haben damit eine zivilisatorische Überlegenheit. Auch haben sie in der Konstellation mit den Kindern eine Machtposition, so dass die Erwachsenen oberflächlich betrachtet keinen Nachteil zu befürchten haben, wenn sie die Kinder nicht ernst nehmen.
Der wichtigste Grund für die Kluft zwischen Erwachsenen und Kindern ist aber meiner Ansicht nach, dass Kinder keine Geheimnisse bewahren können bzw. müssen. Das Bewahren von Geheimnissen gehört zur Affektkontrolle, ist aber auch eine prinzipielle Angelegenheit. Die neugierige Unschuld der Kinder lässt sie ja überhaupt kein Bedürfnis nach Geheimnissen haben. Die Welt der Erwachsenen hingegen ist voller Geheimnisse. Sie heißen Tabu und sie heißen Korruption.
Ich muss noch immer an den TAGESTHEMEN-Kommentar zur Vertrauensfrage denken, von dem hier schon die Rede war. Darin hieß es, dass die Deutschen nun schmerzvoll erwachsen geworden wären. Ich fand das sehr repräsentativ für heutiges (deutsches) Denken. Natürlich wurde hier vom Verlust einer Unschuld gesprochen. Unschuld in dem Sinne, dass sich Deutschland nach dem Krieg bisher aus gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Ländern herausgehalten hat. Das Erwachsenwerden bekommt in einem solchen Zusammenhang einen emanzipatorischen und bewusstseinserweiternden Charakter. Sieht man die Zustimmung zu Kriegshandlungen dagegen als reine Machtfrage, bei der sich eine Partei (USA) durchgesetzt hat, was zum Einknicken der anderen Parteien geführt hat, dann wird man das nicht als Erwachsenwerden begreifen können und wird vielmehr eine solche Argumentation als Illusion ansehen, die auf Kosten des Images der Kinder und ihrer Unschuld geht.
Auch hier in der Chronik gibt es kaum Geheimnisse. Wir kämpfen ja genau gegen die Geheimniskrämerei, da wir der Ansicht sind, dass die Öffentlichkeit als Gegenteil der Geheimniskrämerei die wichtigste Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme darstellt, besonders die der Gewalt. Davor nämlich haben alle Gewalttäter Angst: vor der Öffentlichkeit. Denn sie wissen, dass sie falsch gehandelt haben und weiter handeln. Es sind die nichtprogressiven Konservativen, die versuchen, den progressiven Ansätzen die Legitimation und Autorität zu entziehen, indem sie sie als kindlich und damit zivilisatorisch unterlegen werten. Es ist doch nicht mehr als eine Frag der Wertung und damit des Glaubens. Deshalb denke ich, dass der Konflikt zwischen Kindern und Erwachsenen der wichtigste Konflikt ist. Eine Gesellschaft, die sich ihren Kindern nicht überlegen fühlen muss, um zu Selbstbewusstsein und Werten zu gelangen, das ist eine mündige Gesellschaft.
(2) Webmaster: Ein Reisender durch die Cyber-Zeit bin ich, in einem Koffer fliege ich, und ich habe ein Wort über den Ruhm und den Reichtum. Denn diese Chronik soll nicht zuende gehen, ohne dass wir dieses Thema geklärt haben. Man kann es nicht so einfach klären, sagt ihr? Unsinn! Das ist eine ganz einfache Sache: Ruhm und Reichtum existieren nicht.
Natürlich gibt es Bekanntheit, das ist klar. Eine Sache oder Person kann vielen Leuten bekannt sein, sie kann auch von vielen geliebt oder gehasst werden, aber Ruhm? Was soll das sein? Ein abstraktes Bild, das sich jemand gemacht hat, um etwas zu projizieren, was mit der eigentlichen Sache nicht viel zu tun hat. Ein Bild, ein Image wird geschaffen, ist in den Köpfen von Tausenden von Leuten, wenn es aktiviert wird. Vielleicht benimmt man sich gegenüber einer berühmten Person anders als sonst? Auch das ist Quatsch. Dafür gibt es andere Wörter wie Respekt oder Achtung oder anderes. Ruhm? Gibts nicht. Es ist eine Erfindung von verkorksten Menschen.
Und Reichtum? Ich kenne Geld, auch viel Geld oder sehr viel Geld, aber Reichtum, was soll das sein? Wenn man mehr hat, als man braucht? Wozu sollte das gut sein? Dazu möchte ich sagen, dass ich Geld sehr gern habe, weil man sich davon schöne Sachen kaufen kann, aber Reichtum hat für mich keine Bedeutung, die mehr aussagt, als der Begriff Geld. Insofern ist der Begriff Reichtum überflüssig, er lenkt nur ab. Es klingt so, als würde das Leben leicht sein, wenn man reich ist. Solche Begriffe lenken nur ab. Sie kommen in meinem Lexikon deshalb auch gar nicht erst vor.
(3) Lisa: Kürzlich hörte ich im Radio ein Interview mit dem Schriftsteller Peter Rühmkopf. Ich musste dabei an Marco und Ozzy denken und unsere Frage, wie groß man in der Gesellschaft werden kann. Herr Rühmkopf hat erzählt, dass er mit einem Freund zusammen eine neue literarische Richtung entwickelt hat, die er aber unter sehr vielen Pseudonymen verbreitet hat, weil er meinte, dass das Publikum so viele Ideen nicht mit einer Person oder zwei Personen in Verbindung bringen kann. Deshalb hat er sich sozusagen vervielfältigt, um als Person die Sache nicht zu stören und nicht so aufzufallen. Anders wäre er nicht so erfolgreich geworden, meinte er. So habe ich es wenigstens verstanden.
(4) Stella: Schalom. Wer ist eigentlich dieser Oliver? Was denkt der eigentlich, was er sich erlauben kann? Ich habe keineswegs von Klischees geredet, sondern von ernsten und tiefen Gefühlen, und ich tat das, um etwas von meiner Liebe und von meiner Hoffnung zu übertragen. Was soll das überhaupt heißen: Klischees? Wenn Glück ein Klischee ist, dann kann einem das wohl egal sein, oder vielleicht nicht? Ich habe vielmehr den Eindruck, dass Oliver sich sehr nach einer solchen Heimat sehnt, und dass er sie einfach nicht finden kann. Also will er sie anderen auch nicht gönnen. Naja, mein Problem ist das sowieso nicht.
Ich möchte noch einmal auf die grüne Schachtel zu sprechen kommen. Meine Eltern hatten mir die Filme damals in einer grünen Schachtel gegeben, und es kursieren bei uns auch Begriffe wie „Grüne-Schachtel-Phase“. Ich gebe zu, dass es mir, nach dem, was ich zuvor alles hier gelesen habe, ein aufklärerisches Bedürfnis war, auf diese Geschichte hinzuweisen, denn ich denke tatsächlich, dass die allgemeine sexuelle Aufklärung weithin überschätzt wird. Ja, fünf Filme. Nicht einer, nicht drei, fünf. Es ging nicht darum, eine leidige Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen, sondern darum, einen umfassenden Lernprozess einzuleiten. Wenn ich mich zu einem Thema gut informieren will, lese ich auch nicht nur ein einziges Buch, sondern mehr.
Die Titel der Filme gebe ich hier nicht bekannt, weil das für mich eine Familiensache ist, aber es handelt sich um zwei wissenschaftliche Aufklärungsfilme, zwei Spielfime und einen Standard-Erotik-Film. Meine Eltern hatten ein kleines Heft mit dazugelegt, in denen sie die Filme kommentiert haben. Das Heft war schon viele Jahre alt. Es beginnt mit der Handschrift meiner Mutter, die schreibt, dass sie soeben sehr viel aus einem dieser Filme gelernt hat, und dass es sich um ein Wissen handelt, das sie ihren Kindern nicht vorenthalten will, wenn die Zeit gekommen ist.
In dieser Sache sind meine Eltern wirklich fortschrittlich, das haben wir Kinder schon sehr früh gemerkt. Wir verstanden die Erwachsenenwelt besser als unsere Schulkameraden, glaube ich. Allerdings ist das nur ein kleiner Teil von dem, was meine Eltern ausmacht. Wer irgendwie denkt, dass es sich bei ihnen um irgendwelche Sexmonster handeln würde, der liegt ganz daneben. Es sind biedere Leute in vielen Bereichen. Das sollte ich hier schon noch einmal betonen. Allerdings sind sie tolerant. Als ich ihnen gesagt hatte, dass ich in der Chronik über die grüne Schachtel sprechen möchte und den Grund nannte, fanden sie es okay.
(5) Ozzy: Also Moment mal! Ganz so war das nun auch wieder nicht. Das mit der Geschichte von George stimmt, aber es war nach dem zweiten Glas Rotwein, nicht nach dem dritten. Und ich habe am Freitag nicht gesagt, dass die Chronik schlecht ist, das dürfte ich schon aus beruflichen Gründen nicht sagen. Ich hatte lediglich an einer Stelle leicht abfällig über den didaktischen Aspekt des Unternehmens gesprochen. Und damit folge ich wieder dem Diskurs, denn wir wollten ja die Impulse genauer betrachten, und nicht die Fütterung mit Information. Es geht uns ja doch darum, etwas zu zeigen, und nicht, etwas zu sagen. Und ich hatte mich gefragt, ob 400 Seiten nötig sind, um das zu zeigen, was wir zeigen wollen. Ich bin dann letztlich wieder zur Vernunft gekommen, als Carl einwarf, dass wir auch über die Presse geschrieben haben, und dass es also besser ist, wenn wir ausführlich schreiben, um nicht einzelne Personen oder einzelne Zeitungen zu sehr herauszuheben, denn um Personen geht es nicht.
Ach ja, die Geschichte mit den evangelischen Keksen. Man muss dazu wissen, dass ich eine Beziehung zum evangelischen Glauben habe, die familiär begründet ist. Hanna hatte jedenfalls diese Schokoladenkekse mitgebracht, es war eine Art Vollkornkeks. Eine gute Marke auch, ist halt Geschmacksache. Ich hatte einen probiert und fand ihn fade. Dann fiel mir das mit den evangelischen Keksen ein. Naja, es war zwar Schokolade drauf, aber die haben da irgendwas in die Kekse reingemacht, so dass man die Schokolade überhaupt nicht schmecken kann ...“
(6) Carl: Im Laufe der letzten sechs Monate habe ich viel darüber gelernt, wie Verstehen zu Toleranz führt. Mein gesamter Begriff von Toleranz hat sich verändert. Wahre Toleranz ist etwas aktives für mich geworden. Ich kann zum Beispiel den Buddhisten gegenüber nicht tolerant sein, wenn ich nicht weiß, auf welchen Prinzipien ihre Welt aufgebaut ist, und was ihre Handlungen bestimmt. Wenn ich es aber herausfinden möchte, muss ich zunächst einmal wissen, was meine eigenen Handlungen bestimmt, denn sonst kann ich die Informationen, die ich von dem Buddhisten bekomme, nicht vergleichen. Der Mangel an Toleranz in unserer Gesellschaft liegt daran, dass die meisten Leute sich gar nicht bewusst darüber sind, was ihre Handlungen motiviert. Und wenn sie darüber nachdenken und merken, dass es Zwänge sind, aus denen heraus sie handeln, dann werden sie wütend und verlieren die Kommunikationsfähigkeit.
Wenn ich jemanden mit einer roten Badekappe und einem Auerhahn unter dem Arm über die Straße laufen sehe, wie soll ich mich verhalten? Vielleicht finde ich ihn lächerlich, vielleicht finde ich ihn blöd, aber wenn es sonst nichts gegen ihn gibt, sollte ich doch tolerant sein. Wir suchen die neuen Werte ja nicht aus Spaß oder aus Dünkel, sondern weil andere Kulturen und andere Individuen ihre eigenen Riten und Lebensformen haben. Ich glaube, dass sich die Kulturen an der Oberfläche unterschiedlich ausgebildet haben, dass sie aber alle menschlich sind und damit im Prinzip gleich. Wir suchen nach einer Art Tiefenstruktur menschlichen Lebens und Miteinanders. Denn wo wir auf das Fremde treffen, begegnen uns Missverständnisse und Konflikte. Das ist normal. Wenn wir die Tiefenstruktur kennen, die globale tolerante NEtikette, dann haben wir ein wichtiges Instrument für den Dialog. Wir brauchen das, um unsere eigenen Standards zu relativieren, insbesondere unseren Zivilisationsbegriff, der den abwertenden Gegenbegriff „unzivilisiert“ mit sich trägt."
Redaktion in Kiel, 18.03.02
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