(1) D. Hofstaeder: Sehr bemerkenswert der Hinweis von Frau Stella, die vom Gelobten Land gesprochen hat als einem Zustand des familiären Glücks. Dies geht konform mit einigen Paradiesvorstellungen, die es in unserem Kollektivgedächtnis gibt, und wenn ich „unserem“ sage, meine ich damit das der Juden, der Christen und der Muslime, denn diese drei haben ein sehr ähnliches Verständnis von Himmel und Hölle und auch vom Paradies, das sie von anderen Glaubensrichtungen und Kulturen – etwa dem Buddhismus – unterscheidet.
Es gibt in jeder dieser drei Kulturen spirituelle und psychologische Deutungen der Paradiesvorstellung. Die Vorstellungen vom Gelobten Land spielen da mit hinein und wirken auch auf andere Kulturen. Elvis Presley hat zum Beispiel 1975 das Album PROMISED LAND aufgenommen, in dem Kalifornien als das Gelobte Land gesehen wird. Und ähnlich wie einige Alchemisten die Goldherstellung als ein Gleichnis für spirituelle Wahrheiten sahen, gab es auch Mystiker und Sufis, für die das irdische Paradies Existenz hatte, was für viele Mainstream-Theologen wie eine Don-Quichotterie aussehen konnte, weil die paradiesische Ekstase Züge hatte, die ihnen wahnhaft oder fantastisch vorkommen mochten.
Unsere Paradiesvorstellungen bilden unsere tiefsten und ursprünglichsten Wünsche ab, die nach Gottesnähe, Freiheit und Unschuld. Die Unschuld verloren hatten Adam und Eva der Sage nach dadurch, dass sie zu viel wussten. Sie wurden aus dem Paradies verbannt, begannen sich zu schämen und bedeckten ihre Blößen. So haben wir ein Bild vom edlen Wilden entwickelt, der sich die Unschuld bewahrt hat, wie etwa Tarzan oder Mogli. Der edle Wilde wurde ein Bezugspunkt für unsere Wunschprojektionen und Ideale, jedoch handelte es sich um ein passives Ideal, das nicht für die eigene Person angestrebt wurde, weil die Unschuld des Edlen Wilden verbunden ist mit einem (angeblichen) Wissens- oder Bewusstseinsdefizit, das dem Zustand vor dem biblischen Sündenfall ähnelt.
Die Bedeckung der Blöße in der Paradies-Legende kann als erster Schritt der Zivilisation verstanden werden, der Zivilisation, die heute die Quelle unserer Werte und Normen darstellt, also die höchste Priorität besitzt. Würden wir uns mit dem Edlen Wilden identifizieren, würden wir unsere Grundwerte damit in Frage stellen. Wir würden eventuell entdecken, wie abstrakt die Zivilisation ist, und wie konkret das Leben ist. Es würde die meisten wohl verwirren, denn woran soll man sich orientieren, wenn die Zivilisation nicht das Non-Plus-Ultra ist? Die Zivilisation ist ja mehr als ein Zustand, sie ist eine Richtung. Wir entschlüsseln jetzt das menschliche Genom, haben einen Teil unseres eigenen Gehirns als Computer nachgebaut, wir bemühen uns (theoretisch), physische Gewalt aus dem Alltag zu verbannen und so weiter.
Das stärkste Argument gegen die Zivilisation ist die zunehmende Entfremdung. Wenn man das Paradies oder das Gelobte Land in sich selbst oder in der Familie oder mit einem Partner finden und leben könnte, dann widerspricht das den Werten und Normen, die uns von unserer Zivilisation gegeben sind. So bleibt das Paradies für die meisten ein Traum oder eine Abstraktion, während sich Leute wie Frau Stella eher darüber wundern, warum nicht alle Menschen das Paradies so leben wie sie.
(2) Maja: Es ist schon spät in der Nacht. Ich komme gerade von Maria zurück, wo wieder einmal ein Freitagstreff war. Es waren diesmal weniger Leute da, als erst gedacht. Aber es wird damit zusammenhängen, was wir im BLUESLAND-Fall recherchiert haben. Man kennt das ja: Wenn es brenzlig wird, dann gehen viele erst mal auf Tauchstation. Zum Stand der Untersuchung können wir sagen, dass wir mir zunehmender Sicherheit wissen, dass sich mehrere Leute an der Tat beteiligt haben. Es ist Silke und mir gelungen, etwa 50 Leute zu dem Fall erneut zu befragen, wobei wir Zusammenhänge gefunden haben, die vorher nicht klar waren. Ich weiß nicht ob wir alle Täter ausmachen können, aber wir werden bestimmt etwas zur Lösung beitragen können, denn wir sind nah dran.
Die Stimmung bei Maria war trotzdem entspannt. Wir haben eine Presseschau gemacht und Spaghetti. Mark war auch da und hat gleich Marias Computer repariert. Bei Carl in der Wohnung ist ein Zimmer frei, wo Mark für die nächste Zeit wohnen wird. Ozzy hat nach dem dritten Glas Rotwein mal wieder die Geschichte von George erzählt, dem Mann, der sich im Baumarkt ein Seil gekauft hat, weil er Bunji-Jumping ausprobieren wollte, der dann von der Brücke sprang, ohne zu berücksichtigen, dass das Seil aus Gummi sein sollte, und dessen Körper man in siebzig Meter Entfernung von seinem Bein gefunden hat, was aus dem Grund besonders tragisch war, weil George nur ein Bein hatte. So ähnlich. Ansonsten hat Ozzy sich darüber aufgeregt, dass die Chronik so schlecht geworden ist. Dann war da noch die Sache mit den evangelischen Keksen, aber das habe ich nicht so richtig mitgekriegt.
(3) Chong: In meiner Weltanschauung ist es moralisch nicht gerechtfertigt, eine Gruppe A kollektiv zu bestrafen, wenn einzelne Personen Attentate auf eine Gruppe B verüben, auch wenn diese Attentate ebenfalls als Kollektivstrafen gemeint sind, und auch, wenn sie organisiert geschehen und Rückhalt in der Bevölkerung haben.
Wenn sie organisiert geschehen, darf die Organisation mit demokratischen Mitteln verfolgt werden, aber nicht die ganze A-Gruppe, denn jede Gruppe besteht aus Individuen, bei denen man von Friedlichkeit auszugehen hat, wenn kein begründeter Verdacht besteht. Sonst züchtet man sich seine Feinde selbst heran, und es werden mehr, statt weniger.
(4) Oliver: Im Grunde bin ich für diese Chronik dankbar. Früher hatte ich nie so richtig verstanden, warum die Band nicht weitermachen konnte, denn wir hatten im Grund alle noch Kraft und auch noch Songs. Ozzys Songs, das gebe ich zu. Aber heute verstehe ich es. Es ist richtig, ich kann mich nicht richtig in seine Lage versetzen, vielleicht muss man so sein, wenn man solche Songs schreibt, aber ich denke einfach anders. Ich bin Musiker. Hier muss ich Michael Recht geben, für den die BULLETS irgendwann zu wenig Musik gemacht haben und zuviel Show.
Was den Diskurs der Chronik angeht, so bin ich skeptisch. Ich glaube kaum, dass es ein größeres Interesse daran geben wird. Es ist auch zu viel Tagespolitisches drin, das ist in kurzer Zeit schon nicht mehr aktuell. Und jetzt dieser Beitrag von Stella! Soll das die Lösung sein, was Stella da erzählt hat? Die sexuelle Unaufgeklärtheit und Scheu als Ursache der meisten gesellschaftlichen Probleme? Also, ich halte das nicht für besonders überzeugend. Das ist doch ein alter Hut! Zum Beispiel haben Umfragen ergeben, dass die sexuelle Aufklärung in Deutschland sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert hat. Ich finde es nicht gut, wenn die Chronik mit solchen Klischees in den Endspurt geht, es klingt auch ein bisschen besserwisserisch. So nach dem Motto: „Alles könnte so leicht sein, wenn ihr es nur so gut wüsstet wie ich.“ Das gefällt mir nicht.
Es ist doch ein Stereotyp, dass sexuelle Offenheit zur gesellschaftlichen Befreiung führt. Genauso verhält es sich mit dem Rock'n'Roll und seiner Botschaft: „Hey werde so locker wie ich.“ Da braucht man sich nur die Folge von den Simpsons ansehen, wo Bart Simpson im Grunde genau das tut und sagt, was Ozzy tut und sagt: Freiheit predigen und versuchen, seine Platte zu lancieren. Insofern ist Ozzys trotzige Proklamation der neuen Zeit eben nicht besonders neu, und was da so toll und frisch aus ihm heraussprudelt, mögen für ihn wichtige Erkenntnisse sein, ich würde aber nicht sagen, dass man für so etwas Rock'n'Roll-Minister wird.
(5) Guido: Also jetzt reicht's mir aber! Ja, ich habe mir ein Auto gekauft. Ja, ich hab eine rote Weste getragen. Na und? Was wollt ihr überhaupt von mir? Ich sage es noch einmal: ich habe nichts zu tun mit dem Brand im BLUESLAND. Wenn ich zehntausend Mark dafür gekriegt hätte, hätte ich mir bestimmt ein teureres Auto gekauft. Ich bin von mehreren Leuten per Mail dazu aufgefordert worden, Torstens Adresse herauszugeben, aber ich habe keine Ahnung, wo der Typ heute wohnt, oder was er macht. Das ist alles schon so lange her. Ich fühle mich mehr als belästigt.
(6) Robert: Wenn Diskurse fehlschlagen oder soziale Probleme nicht gelöst werden, dann liegt das oft daran, dass die Randmeinungen nicht in den Diskurs integriert werden. Zum Beispiel habe ich gestern bei Maria gehört, dass die orientalischen Staaten mit dem Problem konfrontiert sind, inwiefern sie radikale Gruppen an der Macht partizipieren lassen können. Wenn zum Beispiel islamistische Meinungen in Gesellschaften unterdrückt werden, in denen sie Rückhalt finden, dann kann es leicht zu Problemen kommen. Die arabischen Regierungen wissen, dass sie diese Stimmen nicht ungehört lassen dürfen, da sonst Gewalt droht.
Nun kann man sagen: Wenn eine solche Gruppe vor Gewalt nicht zurückschreckt, dann kann man auch nicht mit ihr verhandeln. Dass diese Gewalt – zumindest in der Selbstdarstellung – aus der Ignoranz oder Arroganz resultiert, die diesen Gruppen entgegengebracht wird, dass sie also zu Gewalttätern durch die andere Partei gemacht werden, dieser Aspekt fällt meistens aus der Betrachtung. Es würde auch bedeuten, dass das Establishment allein durch sein Schweigen mit Gewalt zu tun hätte. Und wir haben ja schon gesehen, dass zum Beispiel die deutsche Politik Gewalt fast nur mit physischer Gewalt gleichsetzt, um sich nicht selbst zu belasten. Sonst müsste auch die Versendung deutscher Soldaten in Kriegsgebiete als Gewalt gelten, denn die Soldaten können nicht wählen, ob sie den Krieg mitmachen wollen oder nicht.
Oder nehmen wir Mark H.: Auch für ihn war es nicht möglich, mit den Eltern von gleich zu gleich zu reden, er wurde ausgegrenzt. Mark hat es in sich hineingefressen, Ozzy hat eine andere Strategie gefunden, die auf dem Regenstein-Prinzip beruht. Die Palästinenser fühlen sich von der Welt und von Israel nicht geichberechtigt ernstgenommen, die U-Musiker fühlen sich so, und es gibt tausende von Gruppen und Situationen, in denen Leute ausgegrenzt werden, die eigentlich zur Situation dazugehören. Über deren Köpfe hinweg entschieden wird, und die sich nicht entfalten können, weil sie keinen Platz zugestanden bekommen.
Meiner Ansicht nach kann man das alles mit dem Begriff der „strukturellen Gewalt“ von Johan Galtung in Verbindung bringen. Es ist die Art von Gewalt, die man nicht sehen kann. Die auch offiziell, also behördlich und juristisch, nicht zur strafbaren Gewalt gehört, bis auf Sachen wie Psychoterror und Mobbing. Ansonsten ist diese Gewalt zu schwer fassbar. Außerdem wird ja von Galtung die Arbeitslosigkeit als strukturelle Gewalt erkannt, und wenn das juristisch von Belang wäre, würde unser Rechtssystem zusammenbrechen.
Ist es Gewalt, wenn man nicht eingeladen wird? Ich habe doch gar nichts gemacht, wird der Tatverdächtige sagen, und genau das soll Gewalt sein. Nichts zu tun. In dieser Frage geht es um ungesagte Worte, um ungeklärte Beziehungen, um Aufmerksamkeit, die nicht gegeben wurde, obwohl es der Situation gerecht geworden wäre, und um Partizipation.
Redaktion in Kiel, 16.03.02
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