(1) Lutfi M.: Die deutsche Islamwissenschaft hat in diesen Zeiten Hochkonjunktur. Ich habe mir durchgelesen, was über die Zustände an den Unis gesagt wurde. Da ich selbst historisch und literarisch interessiert bin und deutsch spreche, habe ich schon öfter mit deutschen Islamwissenschaftlern zu tun gehabt. Nachdem der Zentralrat der Muslime in Deutschland nun eine „Islamische Charta“ vorgelegt hat, die sofort zu einer wichtigen Quelle zum Thema „Islam in Deutschland“ geworden ist, ist eine kritische Diskussion in vollem Gange. Die wird unter anderem getragen von der deutschen Islamwissenschaft.
Als ich darüber am 06.03. auf Seite 5 in der FR las, hatte ich gemischte Gefühle. Einerseits ist es wahr, es gibt einiges zu kritisieren am Eigenverständnis des Islam. Auf der anderen Seite ist es nicht immer ganz leicht, sich von muffeligen deutschen Professoren sagen zu lassen, was der Islam sei. Es klingt so heraus, dass es den deutschen Islam-Experten ein Anliegen ist, dass die Muslime sich „einem säkularen Rechtsverständnis annähern“. Die FR zitiert Herrn Professor Tilman Nagel, der vor Kurzem auf einer Tagung der CSU-nahen Hans-Seidel-Stiftung sprach. „Der Islam verstehe sich als allumfassende Ordnung, die auch zwischenmenschliche Beziehungen regele. Deshalb müssten Muslime viele Teile ihres Glaubens aufgeben, wollten sie tatsächlich das Grundgesetz anerkennen.“ Das ist ein Zitat aus der FR, als sie über Nagel spricht. Im gleichen Zusammenhang steht da auch: „So kenne der Islam die Religionsfreiheit nur, um sich zum Islam zu bekehren.“
Ich kenne Herrn Nagel als einen der wichtigsten lebenden deutschen Islamwissenschaftler, und ich habe einige seiner Bücher gelesen. Viele davon sind Standardwerke, und vieles darin ist exzellente Arbeit. Wenn sich Herr Nagel aber so gegenüber der Hans-Seidel-Stiftung geäußert hat, dann hat das nichts mit Wissenschaft zu tun, sondern eher mit Politik. Es klingt so ähnlich wie in einem Artikel des ebenfalls renommierten Islamwissenschaftlers Wolfgang Günter Lerch, der vor Kurzem in der FAZ über das Thema Schächtung geschrieben hat. Den Titel „Schächtung als Religion“ empfand ich bereits als in seiner Doppeldeutigkeit abwertend. Lerch hat dort auch das unselige Wort vom „Euro-Islam“ verwendet.
Aber die FR schrieb noch mehr: Ein Münchner Islamwissenschaftler namens Raddatz sagte laut Zeitung: „Zum Kernbestand des Islam gehöre, dass jeder Muslim verpflichtet sei, die Vorherrschaft des Islam anzustreben.“ Man sieht hier sehr genau die Ängste der Islamwissenschaftler. Sie sprechen ja in erster Linie von ihren Vorstellungen. Mein Kernbestand des Islam sieht jedenfalls ganz anders aus. Ich glaube, manche Wissenschaftler lernen und lernen und lesen alte Quellen und werden immer schlauer, und zum Schluss haben sie etwas gefunden, das sie von ganzem Herzen ablehnen können. Und da sie sich nicht mit sich selbst, sondern mit dem Objekt „Orient“ beschäftigen, finden sie dieses Abzulehnende auch dort, und nicht bei sich selbst.
Manchmal klingt es so, als würden diese Islamwissenschaftler nur deshalb so auf den Säkularismus pochen und solche Angst vor der Vormachtstellung des Islam haben, weil sie sich vor ihrer eigenen Gewalt fürchten, so ähnlich wie es Ozzy erzählt hat. Ich frage mich nämlich, warum die Vormachtstellung anderer Staaten oder sogar anderer Religionen, die man tatsächlich in der Welt spüren kann, in Ordnung ist.
Edward Said hat in seinem bekannten Buch ORIENTALISM von etwa 1972, das unter dem Titel ORIENTALISMUS auch ins Deutsche übersetzt vorliegt, aber normalerweise vergriffen ist, ausführlich darüber geschrieben, wie die Geisteswissenschaftler und die Literaten vor allem in den USA, in England und in Frankreich, eine politische Funktion innehatten und dass sie oftmals die Imperial- und Kolonialpolitik dieser Länder kulturell untertstützten.
In Deutschland war die Lage anders, weil es so gut wie keine deutschen Kolonien gab. Aber auch die deutsche Islamwissenschaft stammt aus dem Bereich der Theologie. Diese Wurzeln sollte man nicht vergessen. Ursprünglich war die Islamwissenschaft oder die Orientalistik, wie sie früher nach dem Kunstwort „Orient“ genannt wurde, eine Ergänzung zur Bibelwissenschaft und der Wissenschaft der alten Sprachen. Für die Historiker sind die Islamwissenschaftler nicht sehr wichtig, weil die Historiker eurozentristisch arbeiten. Von einer Weltgeschichte sind die meisten dort weit entfernt. Auf diesem Gebiet sind die Islamwissenschaftler wiederum progressiv.
Um 1900 herum entstand die DEUTSCHE MORGENLÄNDISCHE GESELLSCHAFT, die eine Zeitschrift herausbrachte und damit die moderne deutsche Islamwissenschaft begründete. Es war zunächst sogar ein großangelegter Austausch mit arabischen, persischen und türkischen Wissenschaftlern geplant, doch kam dieses Projekt aus den Kinderschuhen leider nicht heraus. Offenbar bestehen da doch Mentalitätsschwierigkeiten. In Krisenzeiten wie nach dem Elften September sieht man ganz gut, wo die Vorurteile liegen, und wer sie hat, denn viele müssen heute Farbe bekennen.
Auch für diejenigen Islamwissenschaftler, die den Orient in Schutz nehmen, ist einiges problematisch. Wie gesagt, es gibt bei uns viel zu kritisieren. Auch wir Araber müssen uns verändern. Unsere Einstellung gegenüber Israel zum Beispiel. Aber wir müssen auch über unsere Religion nachdenken und den toleranten Pluralismus. Die Gewaltbereitschaft in unseren Ländern muss uns erschrecken, und dass der Name unserer Religion für den Terrorismus missbraucht wird. Ich glaube allerdings kaum, dass Herr Tilman Nagel uns dabei sehr behilflich ist.
(2) Heike T.: Gerade habe ich mir die Chronik mal wieder angeschaut, und da sah ich den Beitrag von Stella. Wow! So was habe ich ja noch nie gehört. Fünf Videokassetten haben Deine Eltern Dir da gelassen? Ich meine, eine wäre schon ein absoluter Ausnahmehammer gewesen, aber gleich fünf? Das hat mich ziemlich beeindruckt. Wie muss das wohl gewesen sein, als sie Dir einen Stapel Videos gegeben haben? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Übrigens meckere ich nicht mehr so viel, ist euch das eigentlich aufgefallen?
(3) Mo: Es wäre bestimmt schön, wenn wir den BLUESLAND-Brand endlich auflösen könnten, ja, das stimmt. Ich bin zwar nicht ganz so zu zuversichtlich, aber wenn ich mir vorstelle, dass die Täter dies hier lesen könnten, bin ich doch berührt, und die Sache bekommt eine neue, eine aufgefrischte Realität.
Seit fast zehn Jahren sitze ich jetzt in diesem Rollstuhl. Ich habe mich anfangs oft gefragt, ob Gott mich vielleicht für irgendetwas bestraft hat, und es hat lange gedauert, bis ich mich damit abfinden konnte. Ich werde bald fünfzig, so alt ist das noch gar nicht. Wenn ich mir vorstelle, dass der Täter sich stellt, werde ich nicht mehr wütend. Ich habe das hinter mir gelassen und verziehen.
Im letzten Beitrag ist der Begriff des Zionismus gefallen. Mich hat gewundert, dass es erst so spät dazu kam, denn wenn wir über die Tabus in der Welt und in Deutschland reden, dann gehört der Zionismus bestimmt dazu. Auch in meiner Heimat Afrika ist der Zionismus umstritten, aber da uns die Israel-Problematik nicht so sehr betrifft wie die anderen Kontinente, reden wir unbefangener über das Thema.
In Deutschland ist das anders. Vielleicht ist es den Deutschen schwergefallen, die Tränen der Schuld zu finden, verstanden aber haben sie sicherlich, dass sie den Juden Unrecht getan haben. Und dass sich – bei all dem – die Juden einen eigenen Staat gewünscht haben, wo sie unbehelligt und unbekümmert leben können, das kann ihnen kaum ein Deutscher verübeln. Kritik an Herzls Zionismus hat es schon früh gegeben, besonders aber nach der Errichtung des Staates Israel 1948, wo die Ziele des Zionismus erreicht waren. Auch schien der zionistische Gedanke an einigen Stellen mit dem Demokratiebegriff und der oft beschworenen Säkularität, also der Trennung von Kirche und Staat, zu kollidieren. Eine unbefangene Zionismuskritik konnte es in Deutschland aber aus historischen Gründen gar nicht geben.
Im Wesentlichen waren es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die Extremisten, die sich eine Zionismuskritik zugetraut haben, und zwar die Linken ebenso wie die Rechten. Das mag auch einer der Gründe sein, warum etwa die Presse sich mit diesem Thema im Allgemeinen so schwer tut: Sobald man den Zionismus kritisiert, erweckt man den Anschein, radikalisiert zu sein, weil eine solche Thematik eher aus diesen Diskursen bekannt ist. Die ganze Thematik gehört einfach nicht zum Mainstream der zu debattierenden Dinge.
Aber das ist wohl die Verantwortung der globalisierten Welt, dass sie sich den zentralen Fragen stellt, auch wenn dabei Konflikte aktiviert werden.
(4) Jens K.: Was Beziehungen angeht, so haben viele Angst davor, dass sie ihnen die Freiheit nehmen. Dabei kann man es auch genau andersherum sehen: Das Alleinsein nimmt einem die Freiheit. Die Freiheit, etwas mit anderen zu erleben, die Freiheit, zu geben und zu nehmen. In unserer Gesellschaft gibt es viele Vorbehalte gegen feste Bindungen. Früher habe ich gedacht, dass es am Geschlechterkampf liegt. Aber heute denke ich, dass der Geschlechterkampf nur ein Ausdruck der allgemeinen Bindungsangst ist, denn auch bei nicht-sexuellen Freundschaften ist sie spürbar.
Es ist bestimmt auch die Furcht, sich zu zeigen, wie man ist. Die Angst, dafür ausgelacht oder schlecht behandelt zu werden. Seine eigenen Selbstzweifel dadurch bestätigt zu finden. Und auch die Angst, dass einem etwas Neues gefallen könnte, denn es würde heißen, dass man vorher all die Jahre etwas verpasst oder falsch gemacht hat. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass der Oberbegriff für die meisten Probleme in unserem Land und in unserer Welt „verlorenes Urvertrauen“ heißt.
Denn wenn wir unser Urvertrauen verloren haben, bedeutet das, dass wir keine tiefe Beziehung zu uns selbst aufbauen können. Dann ist es klar, dass wir auch keine tiefe Beziehung zu jemand anderem aufbauen können. Ob Familienangehöriger, Sexualpartner oder Freund. Das würde auch erklären, warum so viele Vorurteile gegen das Spirituellen herrschen, denn die Religionen und die Popkultur treffen mit ihren Botschaften genau auf diesen Nerv. Sie treffen das kollektive schlechte Gewissen. Deshalb sehe ich heute auch das Establishment anders. Nehmen wir insbesondere das deutsche Establishment: In der Nazizeit gab es durchaus auch einen spirituellen Anspruch, anders hätte diese ganze Vaterlandsnummer nicht funktionieren können. Hitler war ein Idealist. Nicht jeder Idealismus ist gut. Aber jeder hat eine spirituelle Komponente.
Durch den Kriegsverlust und auch durch die fehlende Aufarbeitung hat sich meiner Meinung nach das deutsche Establishment dann von seinem Anspruch auf spirituelle Führung gelöst und sie mit „Höhenflügen“ oder dergleichen gleichgesetzt und verpönt. Die Presse hat ebenfalls weitgehend auf spirituelle Argumentationen oder entsprechende Rubriken verzichtet und stattdessen den Feuilleton ausgebaut. Und die Kirchen verloren an Relevanz, weil ihre spirituelle Argumentationsweise gesellschaftlich nicht mehr so viel Autorität genoss.
Aber auch den anderen westlichen Kulturen ging es so, und ich glaube, dass Elvis' Entwicklung in den Siebzigern ein Indiz dafür ist. Wenn es der amerikanischen Gesellschaft nicht möglich war, Elvis glücklich zu machen, der doch so viel Symbolkraft für sein Land hatte, ein Mann, der manchmal auf der Bühne aus der Bibel vorgelesen und der Khalil Gibran gelesen hat, dann war mit dieser amerikanischen Gesellschaft etwas nicht in Ordnung. Ich denke, dass der Kollektivschock Hitler auch den anderen Nationen etwas über sich selbst gezeigt hat, was zu ähnlichen Resultaten führte wie in Deutschland.
Redaktion in Kiel, 14.03.02
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