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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Stella: Ich habe die Chronik erst vor einer Woche entdeckt. Ich schreibe aus Israel. Hätte ich es von Anfang an gewusst, hätte ich mich bestimmt auch früher daran beteiligt. Da es in zwei Wochen schon wieder vorbei ist, schreibe ich schnell noch einen langen Beitrag zu ein paar Themen und hole damit die Zeit auf. zunächst ein Wort der Anerkennung: Es ist euch wirklich gelungen, den ganzen Müll unserer Zeit aufzuzeigen und ein paar gute Alternativen zu sehen.

Was mich allerdings ziemlich gewundert hat, waren die familiären Zustände, über die hier öfter berichtet wurde. Zum Teil klingt das ja so, als lebten wir noch in den Fünfziger Jahren. Ich (Jahrgang 1970) bin jedenfalls nicht so aufgewachsen. Mein Vater ist Grafiker, meine Mutter Lehrerin. Als ich in die Pubertät kam, haben sie mich vollständig aufgeklärt. Sie haben mir beigebracht, dass es im Sex wie sonst im Leben auf das Gleichgewicht ankommt, und dass ich im Prinzip alles machen kann, was ich möchte, dass es aber immer wichtig ist, dass man sich wohlfühlt und nichts tut, was jemandem ungerecht schadet.

Wir sind oft verreist, zusammen und getrennt. Als wir noch in Deutschland lebten, flogen meine Eltern einmal für zwei Wochen nach Israel. Da war ich 15. Beim Abschied gaben sie mir fünf Videokassetten und sagten, dass ich darin alles finden würde, was ich wissen müsse. Es handelte sich um verschiedene Arten von erotischen Filmen. Sie haben die Kassetten sorgfältig ausgesucht, denn in ihnen wird die Sexualität so gezeigt, wie sie ist. Diese Informationen haben mir sehr weitergeholfen und mir viel Ärger erspart. Es waren 350 Mark, die gut angelegt waren. Außerdem hatten meine Geschwister auch noch etwas davon. Dad meinte, er hätte es vom Kindergeld bezahlt.

Natürlich haben wir auch so unsere Problemchen, aber wir sind schon eine glückliche Familie. Ich habe noch einen Bruder und eine Schwester. Wir stehen uns alle sehr nah und kümmern uns umeinander, auch heute noch. Ich bin schon stolz auf meine Eltern, wenn ich das hier in der Chronik so lese. Unsere Eltern haben auch zum Beispiel keine Probleme damit, sich vor uns nackt zu zeigen. Sie sind sehr normal mit so etwas. Sie duschen auch meistens zusammen. Insofern war ich relativ früh bereit für die Liebe und habe Erfahrungen gemacht, von denen die allermeisten positiv waren, weil ich gut vorbereitet war und mich auch zu wehren wusste. Heute habe ich selbst zwei Kinder und bin glücklich verheiratet. Viele meiner Freunde haben mich gefragt, ob es das denn wirklich gibt, und ich kann nur sagen: Ja, das gibt es. Das ist für mich das Versprochene Land, von dem es in der Bibel heißt.

Damit komme ich zum zweiten Thema, nämlich Israel. Bei uns ist der Krieg mit den Palästinensern wieder ausgebrochen, und es herrscht eine große Erschütterung im Land. Ich wohne in Tel Aviv. Wir sind alle sehr angespannt. Die meisten Israelis halten zu Scharon und seiner Politik, aber meine Familie und ich nicht. Wir sind gegen Gewalt. Als wir uns gestern alle im Haus meiner Eltern trafen, haben wir lange über den Zionismus gesprochen, weil er mit dem Gelobten Land zu tun hat, und mit der Erlösung für die Juden. Aber Selbstmordattentate sind etwas anderes als das. Und die Unterdrückung der Palästinenser ist auch etwas anderes. Es geht schon zu lange so.

Meine Eltern haben Schuldgefühle, weil sie uns hier hergebracht haben. Sie haben geweint. Wir alle können nicht mit der fürchterlichen Gewalt zurechtkommen, die bei uns herrscht. Wir haben unsere Eltern beruhigt und ihnen gesagt, dass wir ja frei sind, nach Deutschland zurückzugehen, wenn wir wollen.

Ganz spät am Abend haben wir wieder zu uns gefunden. Das war, als wir wieder das Band gespürt haben, das uns verbindet, und das sehr stark ist. Wir hielten uns alle fest und haben lange geschwiegen. Wir lieben einander sehr und wissen jeden Tag zu schätzen, den wir zusammen erleben können, egal wo. Da haben wir gedacht, dass das Gelobte Land nichts anderes sein kann als das.

(2) Enno: Da hat der liebe Onkel Solms ja mal wieder zugelangt. Der will es wohl wirklich wissen. Aber was er da über die Meinungsfreiheit gesagt hat, kann ich nun wirklich nicht teilen. Was soll denn das heißen, dass Ozzy andere Leute in Skandale verwickelt? Die verwickeln sich doch selbst in Skandale! Ozzy ist zwar sehr direkt, manchmal sogar überraschend erstaunlich, aber doch sachlich. Leidenschaftlich wohl, aber doch nicht so, dass es die Würde von irgendjemandem herabsetzt, der sich nicht selbst herabsetzen würde. Einige der Sachen, über die Ozzy redet, sind ziemlich schlimm, aber da kann er ja nichts für, nur weil er darüber redet! Und wenn hier schon die Grenzen der Meinungsfreiheit wären, dann dürfte morgen keine Zeitung mehr erscheinen, denn was machen die denn anderes? Hat irgendjemand den SPIEGEL verklagt, als er Herrn Scharping auf dem Titelblatt hatte? Und kann man nicht hier viel eher sagen, dass Leute in ihrer Würde herabgesetzt werden oder in Skandale verwickelt? Also lieber Onkel Solms! Der Typ mit dem neuen Auto war übrigens Guido A.

(3) Marion: Maria hat uns in der letzten Nachricht auf die Schuldfrage zurückgebracht, die wir noch weiter untersuchen wollten. Woher weiß man zum Beispiel, ob Schuldgefühle gerechtfertigt sind oder nicht? Im Film CLOCKWORK ORANGE von Stanley Kubrick (1971), nach einem Buch – ich glaube – von Anthony Burgess geht es um Schuld und Schuldgefühle. Der Held Alex ist zunächst ein grausames Schwein, dann erfährt er dieselbe Grausamkeit am eigenen Leib und versteht sie endlich. Am Ende geht es um den Aspekt der Koppelung von Schmerz und Vergnügen, zum Beispiel durch frühkindliche Erfahrungen, die in Folgesituationen ein Leben lang die Grenzen zwischen richtigem und falschem Verhalten verwischen können.

Denn wenn wir tatsächlich von Schuld sprechen, dann muss es so etwas wie ein richtiges Verhalten geben. Auch die Wissenschaft der Situation sagt ja, dass die Situation eine anzustrebende und zu haltende Harmonie innehat. Da wir hier nicht abstrakt, sondern sehr konkret denken, gelangen wir zu der Konsequenz, dass es verschiedene Rollen in einer gegebenen Situation gibt, von denen einige zu Schuld führen, wenn man sie einnnimmt, und damit die Situation sozusagen verunreinigen, während andere der Situation gerecht werden oder sie sogar erweitern und den Zustand der Unschuld bewahren.

Aber wie soll ich mich verhalten, wenn ich meine Schuld erkenne? Die Eitelkeit überwinden, und die Sache vor mir selbst zugeben. Na gut. Und sonst? Wenn ich dem, an dem ich mich schuldig gemacht habe, meine Schuld eingestehe und herumknirsche, ist das die Lösung? Liefere ich mich dann nicht aus, und bausche ich dann nicht eine Sache auf, die mir doch nur schadet? Ich denke, wenn man eine Schuld in sich erkennt, die man einem anderen getan hat, dann sollte man versuchen, ihn nachträglich zufriedenzustellen durch irgendetwas. So dass man weiß, man hat dem anderen die Energie so gut es ging zurückgegeben, die man ihm oder ihr genommen hat. Manchmal geht das nicht, manchmal will die oder der andere es auch nicht.

In einer Gesellschaft, die mit so vielen Geheimnissen lebt, haben wir verlernt, mit Schuld umzugehen. Schuld gehört nämlich ebenfalls zu den Tabuthemen. Natürlich, das offizielle Deutschland würde niemals sagen, dass Schuld ein Tabuthema sei und auf die berühmte deutsche Vergangenheitsbewältigung verweisen, vielleicht sogar noch auf die Gerichts-Soaps im Fernsehen. Aber das familiäre Deutschland weiß, dass es da solche Schweigebereiche gibt, die sich durch demonstrative Kranzniederlegungen nicht ganz verdecken lassen.

Das Menschenbild, das ich aus dem Mainstream dieser Chronik entnehmen kann, ist das Ideal eines sich zunehmend sensibilisierenden pazifistischen Weltbürgers. Bei erhöhter Sensibilisierung kommt es einerseits zu erhöhter Energie, andererseits auch zu Dingen wie erhöhtem Schuldbewusstsein. Es bedarf einer Kultur, die es ermöglicht, Schuld und Schuldgefühle abzulassen. Mark hat das getan, indem er aus der Anonymität heraus in einer Gruppe darüber gesprochen hat. Einiges von dem, was er schreibt, mag schlimm klingen, aber wir können davon ausgehen, dass es ihm besser geht, jetzt, wo er es aufgeschrieben hat. Er wird mehrmals nachlesen, was er da geschrieben hat, konfrontiert sich dadurch mit seiner Situation und wird nach vorne gebracht. Daran denkt bloß kaum einer beim Lesen. Man vergisst, dass einer, der etwas geschrieben hat, sich bereits über das Geschriebene wegentwickelt, sich katapultiert hat.

Es wurde bereits über die Beichte gesprochen. Auch bestimmte Details des fiesen ersten Beitrags von Conan Bukowski waren eine Art Beichte. Wenn die Kirchen die Funktion der Beichte nicht mehr erfüllen können, dann heißt das ja nicht, dass diese Funktion überflüssig geworden wäre. Sie wird nur verdrängt. Auch das begünstigt die autoritäre Gesellschaft, siehe selbigen Conan.

Schuld und Schuldgefühle sind sehr reale und sehr wirkungsvolle Bestandteile unseres Alltags. Wie sonst könnte man sich erklären, dass etwa ein Täter normalerweise zum Tatort zurückkommt? Etwas in ihm drängt, die Last der Schuld abzuwerfen und sich davon zu befreien, um schlafen zu können, um atmen zu können. Das Unterbewusstsein. Deshalb halte ich es auch für sehr gut möglich, dass der oder die BLUESLAND-Brandstifter hier in der Chronik geschrieben haben. Nach all den Jahren der Geheimniskrämerei muss oder müssen er oder sie ein großes Bedürfnis danach haben, die Sache endlich hinter sich bringen zu können. Dass sie beispielsweise Mo erklären können, dass es ihr Fehler gewesen war, dass er seit der Katastrophe im Rollstuhl sitzen muss. Sie ihn um Verzeihung bitten können. Oder die anderen. Also falls ihr Verantwortlichen das hier lest: Wir wollen alle gerne verstehen, warum es dazu kommen musste.

(4) Conan Bukowski: Vielen Dank, Carl, für deine netten Worte. Stattdessen könntest du ruhig anerkennen, was ich für die Chronik leiste, auch wenn ich manchmal hier zensiert werde. Ich meine, was nützt euch der ganze Gewaltdiskurs, wenn niemand die Sicht des Gewalttäters vertritt? Wenn ihr mich nicht verstehen könnt, dann leidet ihr ja mehr darunter als ich. Ihr wollt doch verstehen, wie Leute wie ich denken. Also seid froh, dass ich so offen darüber spreche und euch sage, was das eigentlich ist, das ihr so verachtet.

Es ist ja so, dass man eine gewisse Kraft und Fähigkeit braucht, um es überhaupt ertragen zu können, wenn ein anderer leidet. Bei den Gewalttätern gibt es doch mehrere Gruppen: Es gibt die, die Gewalt ausüben, weil sie ihre Triebe oder Emotionen nicht unter Kontrolle haben. Die sind unerzogener Abschaum. Es gibt solche, die so abgestumpft sind, dass sie nicht viel empfinden, wenn sie Gewalt verüben. Die sind nicht besser. Und es gibt die, die trotz der Gewalttätigkeit ihre Sensibilität nicht verloren haben, und die sich genau vorstellen können, wie ihre Opfer fühlen.

Nehmen wir den typischen Fall, wie er im Krieg in bestimmten Situationen vorkommt: Man ist sich einig darüber, dass eine feindliche Person getötet werden soll. Eine unangenehme Aufgabe. Wer traut sich, die Person zu erschießen? Einer muss es tun. Wer hat die Nerven für so etwas? Das kann nicht jeder. Ich gehöre zu denen, die so etwas können, wenn es sein muss. So stelle ich es mir bei hohen Politikern vor. Sie kommen in Situationen, wo sie einfach Nerven zeigen müssen. Zum Beispiel habe ich sehr viel Respekt vor der Politik unseres Außenministers. Wenn es einen Krieg in der Welt gibt, der nicht zu vermeiden ist, dann macht er nicht viel Theater, sondern er tut, was zu tun ist.

Redaktion in Kiel, 12.03.02

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