Sandra Solms: Ich wusste bereits vor einigen Wochen, dass ich diesen Text hier schreiben würde. Es führt kein Weg daran vorbei. Ich habe damit gewartet, denn ich möchte keine Kommentare zu dem lesen, was ich jetzt erzählen werde. Ich bin mir im Klaren darüber, dass sich mein Leben verändern wird, wenn dieser Beitrag im Netz erscheint. Gleichzeitig werde ich mich darum bemühen, gut zu schreiben, damit ich dieser Chronik gerecht werde, wenn ich schon die vorletzte Nachricht vollständig für mich in Anspruch nehme. Andererseits ist es ein logischer Schluss für dieses Buch, und das hat mich wohl unbewusst auch beeinflusst. Immerhin geht es in der Chronik auch um das BLUESLAND und die Frage, warum es abgebrannt ist. Dieser Fall wird jetzt gelöst. Verantwortlich für die Zerstörung des BLUESLAND und auch für Mos Verletzung bin ich, Sandra Solms.
Wer mich kennt – und das sind einige von denen, die hier geschrieben haben –, der wird mir so etwas nicht zutrauen, und ich würde es mir eigentlich selbst nicht zutrauen, denn es passt überhaupt nicht zu meinem sonstigen Verhalten. Ich will versuchen, mich langsam zum Thema vorzuarbeiten, um verständlich zu machen, wie es dazu kommen konnte, denn es ist wahr: Ihr habt ein Recht darauf, zu verstehen, was damals los war. In den letzten Monaten kamen die Erinnerungen zurück ... Meine derzeitige Verfassung ist sehr aufgewühlt. Ich weiß, dass es nun bald ausgestanden sein wird.
Das BLUESLAND besuchte ich oft, nachdem ich es erst einmal kennen gelernt hatte. Ich mochte die Musik und die Leute. In den 80ern war ich im Schnitt alle zwei Wochen dort. Ach, wo soll ich nur anfangen? Es wird alles so albern klingen. Ich ... ich hatte nie wirklich gewusst, was Liebe ist. Mein Leben war wie verkrustet, die Welt war leer und hatte nicht viel zu bieten. Erst spät, mit 27, habe ich mich zum ersten Mal richtig verliebt. Das war in einem Urlaub in der Türkei, und es endete fürchterlich für mich. Auch ein zweites Mal verliebte ich mich unglücklich. Ich verstand es nicht, und es ging mir für eine Zeit sehr schlecht. Dann im Sommer 1992 geschah es ein drittes Mal: Ich lernte einen Mann kennen, von dem ich völlig eingenommen war. Ich verliebte mich. Es war Gerhard Richter, der Besitzer des BLUESLAND.
Ich kannte Gerhard schon eine Weile, aber ich hatte ihn noch nie so erlebt wie im Sommer 92. Er hatte damals die Open-Air-Veranstaltung in der Heide organisiert, wo die Bands aus dem BLUESLAND spielten. Es war ein Wochenende mit Zelten und Würstchen und einer Menge Spaß, und Gerhard hatte mich gefragt, ob ich bei der Vorbereitung helfen wollte. Es waren Sommerferien, und ich hatte Lust dazu. Also kümmerte ich mich um Teile der Organisation und war auch beim Festival anwesend. Die BULLETS waren leider nicht gekommen, aber sonst waren viele da, und es war eine sehr gute Stimmung. Im Laufe des Festivals lernte ich Gerhard besser kennen ... und verliebte mich in ihn.
Ich nehme an, dass es ihn sehr wundern wird, wenn er das liest, denn ich glaube, er hatte es die ganze Zeit nicht gemerkt. Ich wollte es ihm sagen, ich merkte, dass er mich auch mochte, aber ich habe mich einfach nicht getraut, weil ich noch immer nicht verstanden hatte, warum es vorher immer so fürchterlich schief gegangen war. Ich hatte einfach Angst davor, so etwas noch einmal zu erleben. Andererseits konnte ich meine Gefühle für Gerhard nicht ignorieren, sie wurden stärker, und ich kam dauernd ins BLUESLAND. Selbst mit Mo wollte ich nicht darüber sprechen. Ich war noch nicht so weit.
Anfang September wurde es sehr schlimm, und ich beobachtete, wie ich kaum noch essen wollte. Ich lebte in einer Fantasiewelt, in der er mich liebte und stellte mir vor, er würde anrufen oder vorbeikommen. Aber natürlich passierte das nicht. Eines Abends hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging ins BLUESLAND und wollte mit ihm reden. Wollte es ihm sagen. Ich kam herein und fragte nach ihm. Mo zeigte mit einem Lächeln auf die Tische im hinteren Bereich. Der Laden war etwa halb gefüllt. Ich sah in die Richtung und sah Gerhard, wie er sehr intensiv mit einer Frau sprach, wobei sein Arm auf der Lehne ihres Stuhls lag. Sie lächelte ihn an. Ich wusste sofort Bescheid. Ich hatte die Frau vorher nie gesehen. Sofort machte ich auf dem Absatz kehrt und ging wieder nach Hause.
Die nächsten Tage waren schrecklich. Ich wusste keinen Ausweg mehr, schrieb Briefe, die ich sofort wieder zerriss. Irgendwann ging ich wieder hin. Spät Abends. Gerhard stand bei Mo am Tresen und war gut gelaunt. Er sah mich und begrüßte mich sehr nett. Ich fragte ihn, ob er einen Augenblick Zeit habe, und er wollte gerade Ja sagen, als diese Frau wieder erschien, sich bei ihm einhakte und ihm sagte, dass sie nun aber gehen müssten. Sie zog ihn förmlich aus dem Haus. Er sah mich nur an, zuckte mit den Schultern und meinte lächelnd, dass wir das Gespräch dann wohl leider verschieben müssten. Es ging alles viel zu schnell, ich hatte keine Zeit, um zu reagieren.
Die Situation war also nicht geklärt. Nach zwei Tagen hatte ich Kraft genug, um es noch einmal zu versuchen. Ich musste. Es war spät in der Nacht, eine spontane Aktion. Ich ging nach oben in Gerhards Büro, wo ich ihn vermutete. Ich klopfte, aber nichts geschah. Die Tür war nicht abgeschlossen, also ging ich rein, um auf ihn zu warten. Nach ein paar Minuten entdeckte ich auf dem Schreibtisch einen großen Umschlag mit Geldscheinen, darauf stand: ‚War ein ein Super-Tag für Dich, Boss!' Als ich das sah, bin ich wütend geworden. Ich bin auf alles wütend geworden, die ganze Situation, dass ich meine Würde verliere und nichts dagegen tun kann und alles. Als ich den Umschlag faltete und unter meinem Pullover versteckte, wollte ich das Geld nicht stehlen. Ich wollte Gerhard ärgern, ich wollte seine Aufmerksamkeit. Ich dachte, warum lässt er mich auch warten? Ich war von Sinnen.
Als ich wieder in der Halle stand, sah ich Gerhard aus der Küche kommen. Er hat mich aber nicht gesehen. Dann sah ich wieder diese Frau, und ich sah, wie sie sich küssten. Ich stand fassungslos da und ging dann schnell fort, bevor er mich sehen konnte, denn nun wollte ich nicht mehr mit ihm sprechen. Ich lief durch das Schanzenviertel, stundenlang, durch St. Pauli, zum Hafen. Die Tränen flossen mir ins Gesicht, aber ich achtete nicht darauf. Ich bin fast die ganze Nacht ziellos herumgeirrt.
Von da an war ich nicht mehr normal. Meine Liebe war in Hass umgeschlagen, und ich wollte alles zerstören, was mich an die Vergangenheit erinnerte. Ich wollte jemandem Weh tun. Jemand sollte dafür büßen, dass ich mich so schlecht fühlte. Dann fiel mir auf, dass niemand gesehen hatte, dass ich das Geld nahm. Ich zählte die Scheine, und es waren etwa 10.000 Mark. Ich hatte noch nie so viel Geld gesehen. Und da stand ich nun, mit diesen schweren Gefühlen und dem ganzen Geld. Es ging alles so schnell ... Ich nahm für mich eine neue Identität an, sah mich als eine Art Geheimagentin, die einen Plan auszuführen hat. Es war verrückt. Jeden Tag ging ich nun ins BLUESLAND, um auf „Zeichen“ zu warten. Dann hörte ich Torsten und Guido, die an einem der Tische saßen und darüber sprachen, wie pleite sie waren, und dass es ihnen so schlecht gehe, dass sie für Geld so ziemlich alles machen würden.
Ich habe sie dann herausgefordert und gesagt, dass ich das nicht glaube. Aber sie schienen wirklich genau die Richtigen zu sein. Ich sagte ihnen, dass sie eine Menge Geld verdienen können, wenn sie ein Geheimnis bewahren können. Jeder 5000 Mark. Als ich das gesagt hatte, fingen ihre Augen an zu leuchten. Ich sagte ihnen, dass es nicht ungefährlich sei und auf jeden Fall verboten. Das hat sie noch mehr interessiert. Dann gingen wir woandershin, und ich erzählte ihnen von meinem Plan, das BLUESLAND abzubrennen. Ich war wirklich sehr geschickt, denn ich stellte mich an wie eine Frau, die eine Autopanne hat und nicht weiter weiß. Außerdem erzählte ich ihnen, dass Gerhard mich betrogen hat. Ich tat das solange, bis sie bereit waren. Ich merkte, dass sie mir alles glauben wollten, zum einen wegen der Kohle, zum anderen aber auch, weil ich sehr bestimmt aufgetreten bin.
Weil ich nicht wusste, wo das Feuer zu zünden war und wie, kamen sie sofort mit Vorschlägen und bewiesen mir ihren Sachverstand in Werkstoffkunde und Architektur. Ich hatte sie anscheinend dazu angeregt, mir ihre Männlichkeit zu beweisen. Sie dachten sich die Geschichte mit dem Loch durch die Wand aus, um unbemerkt ins Gebäude zu kommen. Ich gab jedem von ihnen 1000 Mark im Voraus, um sie abzulenken. Sie sollten nicht zu viel darüber nachdenken, was sie da taten. Nach wenigen Tagen war alles bereit. Das Loch durch die Kellerwand schlugen sie in der Nacht zuvor. Es war durch ein Gebüsch versteckt und würde für ein paar Tage unbemerkt bleiben. Und wenn nicht, war es für uns nicht sehr gefährlich.
Am zehnten September war es dann soweit. Ich hielt mich ganz heraus und blieb zu Hause. Wir waren übereingekommen, dass ich das restliche Geld in einen bestimmten Briefkasten lege, sobald ich in den Nachrichten gehört habe, dass es passiert ist. Guido hat mir später erzählt, dass er in der Abstellkammer war, wo der Brand starten sollte. Er hatte sich mit Torsten den Abend über im BLUESLAND aufgehalten, um den richtigen Augenblick abzupassen. Das war schon ganz schön gewagt, aber wir waren sowieso ziemlich durchgeknallt in diesen Tagen. Ich hatte sie angesteckt. Es lief fast glatt, wie sie mir kurz nach der Tat am Telefon erzählten, bis auf die Sache mit dem Liebespaar (was ich natürlich gleich wieder als ein Zeichen deutete): Sie wollten gerade das Feuer zünden, als zwei Leute die Treppe herunterkamen, die Ewigkeiten auf der Toilette verbrachten. ‚Meine Arbeiter' brauchten Zeit, um das Benzin unten zu fluten. Die beiden hatten mehr als fünfzig Liter im Abstellraum versteckt.
Irgendwann machten sie es dann, und es funktionierte. Ich hörte es in den Spätnachrichten und legte das Geld wie verabredet in den Briefkasten. Seitdem hatte ich nie wieder etwas mit den Beiden zu tun oder überhaupt mit jemandem aus dem BLUESLAND. Das war aber niemandem aufgefallen, nicht einmal der Polizei. Mein Vater, der an den Ermittlungen beteiligt war, fragte mich natürlich, ob ich etwas wüsste. Aber ich sagte ihm natürlich nichts.
Am Tag nach dem Brand kam die Ernüchterung. Ich sah die Bilder im Fernsehen, und ich hörte das von Mo. Innerhalb von wenigen Stunden kam es mir so vor, als taute ich auf. Ich weinte viel, was nicht weiter auffiel, weil viele Leute wegen des BLUESLANDs weinten. Erst da merkte ich, wie sehr ich mich in die Sache mit Gerhard hineingesteigert hatte, und dass es ein ganz großer Fehler war, was ich gemacht hatte. Ich sah das besonders, als Gerhard den Schaden hatte und mir nicht mehr überlegen war. Es war wie ein Alptraum, in den hinein ich aufgewacht war. Schuldgefühle. Ich hatte noch niemals solche Schuldgefühle gespürt. Ich wollte mich jemandem anvertrauen, aber da war niemand. Dass ich zu Guido und Torsten nicht gehen konnte, wusste ich instinktiv. Das Rollenverhältnis war auseinandergefallen, und es gab zwischen uns nichts mehr.
Eine Woche verging, dann noch eine. Das Ereignis rückte in die Ferne. Da niemand wusste, dass ich es war, geschah etwas Seltsames: Ich konnte mir selbst einreden, dass ich nichts mit der Sache zu tun hatte. Und je mehr Zeit verging, desto sicherer wurde ich mir, dass das alles nur ein Traum war, und dass ich so etwas niemals tun könnte. So habe ich in den letzten Jahren fast gar nicht mehr darüber nachgedacht. Außer ein paar Albträumen hier und da hat es auch funktioniert. Dachte ich. Ich war mir so sicher, dass mir niemand etwas nachweisen kann, dass ich sogar erfreut war, als ich das mit der Chronik gehört hatte. Und obwohl die Leute dort gesagt haben, dass sie den Fall aufklären wollen, war ich mir sicher, dass sie mir nichts konnten. Wie gesagt, ich redete es mir über Jahre selbst ein, dass ich es nicht war, und mein ganzes anderes Leben wies auch darauf hin, dass ich es nicht war.
Aber als das zweite Buch der Chronik begann, da merkte ich langsam, dass ich nicht darum herum komme. Dass viele Dinge erst dann heilen können, wenn die Tat aufgeklärt ist. Mo wird besser schlafen können, wenn er weiß, dass ich sehr oft an ihn gedacht und auch viel deshalb geweint habe. Gerhard ... nun, ich weiß es nicht. Es ist mir immer noch peinlich.
Wenn ihr das lest, werde ich mich bereits bei der Polizei gemeldet haben. Ich bin jetzt bereit, meine Strafe anzunehmen, und ich bin ehrlich gesagt froh, dass es endlich raus ist. Ich hoffe, dass euer Urteil über mich nicht zu hart ausfallen wird. Ich habe in meinem ganzen Leben danach nichts Kriminelles getan und davor auch nicht. Und da ich nicht vorhabe, mich noch einmal zu verlieben, werde ich auch in Zukunft nichts Kriminelles tun.
Ich weiß, ihr plädiert für die Liebe und für Vertrauen. Aber ich muss zugeben, dass ich das nicht habe lernen können. Ich habe zu viele Fehler gemacht. Ich möchte nicht noch einmal solche Fehler machen. Bitte verzeiht mir.
Redaktion in Kiel, 24.03.02
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