„Ohne Gewalt wäre Hitler nicht gestoppt worden.“
Die Größe der Friedensdemonstrationen in Europa und der Welt am vergangenen Wochenende hat selbst die Organisatoren überrascht. Millionen und Millionen. In einigen Ländern waren es die größten Demonstrationen der Geschichte überhaupt! Man kann den Bürgern Europas normalerweise vielleicht Politikverdrossenheit und Ignoranz vorwerfen, an diesem Wochenende jedoch haben sie der Welt ihre Macht gezeigt. Wie schwer wog Fischers Argument, dass man nicht an der öffentlichen Meinung vorbeientscheiden darf, selbst die Amerikaner nicht.
Obwohl die Risse in der EU und in der Nato sich langsam wieder schließen, ist es heute leichter als in der letzten Woche, die beiden grundsätzlichen Positionen in der Irakfrage voneinander zu unterscheiden: Die eine Position sagt, dass Krieg ein Mittel der Diplomatie und der gerechtfertigten Kontrolle ist, die andere sagt, dass es nicht so ist. Das häufigste Argument für die erste Position stammt von 1945 und heißt: Ohne Gewalt wäre Hitler nicht gestoppt worden. (Unkontrollierbare) Gewalt als Gegenkraft zum Bösen wird in dieser Argumentation zu etwas Gutem, wenn es von der richtigen Gruppe ausgeübt wird.
An diesem Argument ist mehreres auszusetzen. So kann es etwa verwendet werden, um jegliche Gewalt zu legitimieren, die gegen einen Feind gerichtet ist. Außerdem gab es nach 1945 keinen Frieden, sondern Hiroshima, Korea, den Kalten Krieg und Vietnam. Da ist verdächtig wenig Selbstkritik im Satz: „Ohne Gewalt wäre Hitler nicht gestoppt worden.“ Das Argument lässt sich nicht von der Hand weisen und muss zur Kenntnis genommen werden, daran aber eine Philosophie aufzuhängen, ist übertrieben.
Es geht den USA nicht so sehr um irgendwelche Massenvernichtungswaffen, sondern um Hegemonie. Das ist schon lange kein Geheimnis mehr. Sie stellen sich mit Sonderrechten über die Staatengemeinschaft und haben es mit ihrem Krieg sehr eilig, obwohl vom Irak jetzt kaum eine Gefahr ausgehen kann. Sie mischen sich – wie zuvor mit zweifelhaftem Ausgang in Afghanistan – massiv in die Angelegenheiten, ja die Regierungen souveräner Staaten ein. Wie es nach einem Krieg im Irak weitergehen soll, wissen sie nicht, dafür paktieren sie wieder mit Leuten, von denen sie lächelnd sagen können: „He is a bastard, but he is our bastard.“ Wer will da noch mitlachen?
Abgesehen von der Irakproblematik, bei der Bush junior sich – meiner Ansicht nach erfolglos – aus dem Schatten seines Vaters zu lösen versucht, geht es hier auch schon um die weiteren Kriege. Nach dem Irak aufzuhören wäre ebenso inkonsequent wie wortbrecherisch, denn den göttlich-amerikanischen Angriff auf Nordkorea und den Iran hat man in der Achse des Bösen ja bereits angekündigt.
- „Solange die damit durchkommen, komme ich auch damit durch.“ -
Gibt es also überhaupt Gründe, diesen dammbrechenden Angriffskrieg zu befürworten? Ja, die gibt es. Die bekannteste Stimme für den Krieg (als letztes Mittel) in Deutschland gehört dem CDU-Politiker Wolfgang Schäuble. Der weist darauf hin, dass er Gewalt (als letztes Mittel natürlich) streng befürwortet. Druck und Gewalt seien die einzige Sprache, die der Diktator verstehe, so lautet eines seiner staubigen Argumente. Die UN-Resolutionen seien vom Irak und von anderen Ländern nicht vollständig umgesetzt worden, so dass man zu Gewalt greifen muss, lautet ein anderes.
Das erste Argument geht von der Annahme aus, dass alle Länder sein müssen wie wir, und wenn nicht, dass sie dann automatisch zum Objekt der Kontrolle werden. Dieser Annahme liegt große Fantasielosigkeit und ein fehlendes Outgroupverhalten zu Grunde. Was das zweite Argument angeht, so weiß ich nicht, was es bringen soll, wenn Herr Schäuble all die UNO-Sünderstaaten militärisch angreifen will. Wie kann er nur daran denken, Israel oder dem Irak derartige Dinge an den Kopf zu werfen?!
Die weiteren Gründe, warum Teile der CDU und jetzt auch der FDP auf der Gewaltschiene fahren, sind innenpolitischer Natur und haben mit den Kindern im Irak nicht das Geringste zu tun. Deutschland sei isoliert, wenn es zu friedlich ist, hieß es gestern in der Fernsehsendung „Report“. Dies – verzeihen Sie mir – ist eines der dümmsten Argumente, die mir in meinem abwechslungsreichen Leben bislang untergekommen sind. Die Amerikaner drohen mit dem Boykott deutscher Waren, war ein weiteres Hauptargument der Gewaltbefürworter. Das heißt im Klartext: Wenn ihr dem Führer nicht in den Krieg folgt, dann wird er euch wirtschaftlich bestrafen. Meine persönliche Antwort auf dieses Argument ist, dass ich damit beginne, das US-Imperium zu boykottieren, das ist eine ganz normale Reaktion. Alles sei von der Friedfertigkeit der Deutschen zerstört worden, meint ein destruktiver Schäuble (und auch Klose).
Angesichts der simplen Forderung nach Nonkilling und Frieden klingt das alles hysterisch überdreht. Es geht Schäuble nämlich weder um den Irak, noch um die USA, es geht ihm darum, das System der Kontrolle zu bewahren: Solange die USA mit ihrem autoritären Verhalten, das schlimmer ist als mein eigenes, durchkommen, solange habe auch ich nichts zu befürchten. Verlieren aber die Amerikaner das Kontrollmonopol, werden auch andere Kontrollmonopole fallen. Davor haben die Konservativen Angst, und zu Recht. Dass sie diese – für sie bestimmt wichtige – Problematik allerdings auf dem Rücken irakischer Kinder austragen, lässt sich nicht – schon sowieso in Deutschland – einfach als Charakterschwäche entschuldigen. Denn ob es Juden sind oder Iraker oder wer auch immer: Die Progressiven unter den Deutschen haben genug davon, Völker und Kulturen auszugrenzen, um damit eigene Gewalt und mangelnde Selbstkritik zu verdecken. Das hatten wir jetzt lange genug!
Das Verhalten des amerikanischen Mainstreams seit dem Elften September deutet auf eine tiefe Identitätskrise, der sich die USA nicht stellen wollen. Sie wollen sie im Krieg vergessen. Dies aber wird die Friedensbewegung nicht zulassen. Die USA können den Irak angreifen, sie können auch andere Länder angreifen, aber sie können damit nicht die Kontrolle über die Welt erhalten, wie Sie vielleicht schon anhand der Existenz eines Essays wie diesem ahnen können.
„Solange die damit durchkommen, komme ich auch damit durch.“ Das ist der Grund für Kriege auf der Welt. Wer so denkt, gibt Schäuble seine Stimme. Patriarchen und Machos, Sados und Masos, Familientyrannen und Gruppenführern, Kontrollfreaks und deren Chargen. All die, die nichts mehr zu sagen haben, wenn Gewalt (als letztes Mittel natürlich) nicht mehr das letzte Wort hat. Dass die Gewalt tatsächlich nicht das letzte Wort hat, wissen wir, denn die Gewalt etwa der Nazizeit war nicht das letzte Wort. Da gab es noch die Nürnberger Prozesse, die Teilung Deutschlands, Yad Vaschem, den Kalten Krieg, die Probleme im Nahen Osten, und viele andere Dinge. Gewalt hat eben nicht das letzte Wort.
Wenn die Menschen aufstehen, wie am letzten Wochenende, dann können keine Kriege geführt werden. Die Öffentlichkeit ist in unserem Internetzeitalter viel mächtiger als früher. Nicht nur die Regierenden haben heute ihre Medien, sondern auch die Friedensbewegung, (die man seit kurzem wieder so nennt). Viel läuft da über die nicht-frontale, nicht kontrollierbare Öffentlichkeit des Internets, wie auch Konstantin Wecker gestern abend bei Beckmann sagte. Vor 60 Jahren war es sehr viel leichter, der Bevölkerung dummes Zeug zu erzählen, denn die Massenmedien waren neu. Es war für die Radiohörer damals schwer, zwischen der Bewusstseinserweiterung durch das Medium und Propaganda zu unterscheiden. Das ist heute anders. Nehmen wir den kläglich gescheiterten Versuch Blairs, den Krieg durch Medienpropaganda herbeizuführern. Das hat ihm viele Spötter eingebracht, und sonst gar nichts.
- Was soll man mit dem Irak tun? -
Was aber soll man mit dem Irak tun? Das ist die Frage, die übrig zu bleiben scheint. Doch ist diese Frage nicht sauber. Sie beinhaltet nämlich drei Voraussetzungen, die von außen in die Situation gebracht wurden: „soll“, „man“ und „Irak“. Warum nämlich soll irgendjemand etwas tun sollen? Wegen der Mikroben? Offiziell ja, aber das glaubt, wie gesagt, sowieso keiner. Wegen des Terrorismus oder anderem? Davon sagt die UNO nichts. Das Sollen verweist bereits auf Zwanghaftes und auf Kontrolle und ist etwas ganz anderes als: „Was können wir denn tun?“
Das zweite Wort, „man“, impliziert eine In-Group, die mit der Out-Group nicht kommuniziert. Dies ist ein wesentlicher Teil des Problems in der Irak-Debatte, denn würde es eine solche Kommunikation geben, wäre die Frage, was man denn im Irak tun solle, bereits zur Hälfte beantwortet. Dem „man“ aber liegt ein Lagerdenken zu Grunde, also in der Konsequenz ein Feind. Dies scheint im Falle des Irak übertrieben.
Das dritte Wort, „Irak“, verschweigt andere Länder. Es verschweigt nicht die von Bush als „böse“ bezeichneten Länder, die kann man darin hören, doch es fehlen die anderen Länder, die ihre Schwierigkeiten mit der UNO haben, und es fehlt der Blick in den Spiegel.
- Die Welt im Umbruch -
Die Arabische Welt weiß, dass es politische und kulturelle Veränderungen geben wird. Und ich habe den Eindruck, als wollte sie auch Veränderungen, denn glücklich, glücklich sind die Araber nicht. Auch die Richtung der Veränderung kann man abschätzen: Es wird in Richtung Demokratisierung, Pluralismus und Liberalisierung gehen, auch wenn der qatarische Fernsehsender al-Dschazira den zweifelhaften Fernsehprediger Youssef al-Qarabawi von der Glorie des Selbstmordattentats schwadronieren lässt.
Es wird in Richtung Demokratie gehen, weil dies ein globales Phänomen ist. Die Menschenrechte und vor allem
Gewaltenteilung und Meinungfreiheit sind überlegene Strukturen, da gibt es keinen Zweifel. Auch die Trennung zwischen Staatlichem und den traditionellen religiösen Institutionen ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die sich aufgrund ihres praktischen Erfolges durchgesetzt hat. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, bis auch die arabischen Länder und Israel Abschied von der Idee eines Gottesstaates nehmen.
Gleichzeitig ist die westliche Welt an einem Punkt angelangt, wo sie die spirituelle Kraft des Glaubens wiederfinden muss, um moralisch nicht zugrunde zu gehen. Der jetzige Widerspruch zwischen Okzident und Orient wird zur Ausdifferenzierung der Glaubensextreme auf beiden Seiten führen. Dass die USA den Mentalitätswandel in der Arabischen Welt durch ihren Druck katalysieren, ist zwar richtig, ist aber keine Rechtfertigung für diese unkreative und an die Steinzeit erinnernde Art des Drucks. Dass die Massaker des Elften September wiederum Amerikas Druck katalysiert haben, ist auch richtig, ebenso wie die Tatsache, dass diese Massaker in einem Zusammenhang stehen mit politischen Strategien der USA, die – unabhängig vom Elften September – als ungerecht bezeichnet werden können.
In diesem Sinne sind also beide im Wandel begriffen, Orient und Okzident. Für den Westen geht es darum, den Zweiten Weltkrieg endlich zu verstehen, dass die Nazis nämlich keine Außerirdischen waren, sondern Leute wie du und ich und die Amerikaner. Dass wir den autoritären Staat eben noch nicht überwunden haben und ihn gar nicht im Orient zu suchen brauchen, wo es ihn natürlich auch gibt.
- Kritik am Osten und am Westen -
Die Regierung im Irak ist eine Diktatur, unter der viele Menschen seit langem leiden. Dass Saddam ein Mann des Krieges ist, ist bekannt, auch wenn er derzeit an einem Krieg überhaupt nicht interessiert ist. Die prinzipielle Kritik der Amerikaner ist nicht unbegründet. Auch von der irakischen und der arabischen Bevölkerung wird das so gesehen. Schon lange. Und nicht nur, was den Irak angeht.
Sechs arabische Länder habe ich bislang gesehen: den Irak, Ägypten, Palästina, die Vereinigten Emirate, Tunesien und Marokko. In all diesen Ländern hat es weder eine Reformation noch eine Jugendbewegung oder andere Emanzipation gegeben, außer nationaler Emanzipation durch die Souveränität. Diese Phänomene aber sind keine westlichen, sondern es sind zivilisatorische Phänomene. Seit Jahrzehnten (oder sind es schon Jahrhunderte) fragen sich die Araber, warum sie hinterherhinken, wo sie doch einst so eine große Macht waren. Angesichts der jetzigen Ohnmachtsgefühle kann das leicht zu einer generellen Emanzipationsbewegung führen, zumal die Widersprüche zwischen den Regierungen und den Bürgern so stark sind wie selten. Hier liegt eine große Chance für die Zukunft der Arabischen Welt.
Einer der Gründe, warum Saddam sich an der Macht hat halten können, ist sein kompromissloser Antizionismus. Hätte Israel nicht diese internationalen Sonderrechte, hätte es ein Saddam sehr viel schwerer. Jedoch muss man den arabischen Regierungen und auch den Bevölkerungen in der Tat zur Last legen, hinsichtlich von Terrortaten und gewalttätigen islamistischen Strömungen zu gleichgültig zu sein. Gewalttätige Gruppen können nur in einem sozialen Umfeld gedeihen, in einem Umfeld von Wegkuckern und heimlichen Komplizen. Und sie gedeihen da, wo das doppelte Maß gilt.
Nein, ohne die Meinungsfreiheit und die Gewaltenteilung werden die Araber und die Muslime keinen Erfolg haben können. Selbst für den Islam kann eine solche Demokratisierung zu einer spirituellen Renaissance führen, die der arabischen Psyche nur gut tun kann. Der Versuch jedoch, die Werte und Normen des siebten Jahrhunderts neu zu etablieren, muss in Frage gestellt werden, wenn er beinhaltet, den zivilisatorisch höheren Gewaltanteil sozialen Verhaltens dieses siebten Jahrhunderts ebenfalls neu zu etablieren.
In den Suren des Koran ist unleugbar viel von Gewalt und der Androhung von Gewalt und Bestrafung die Rede. Es muss klar sein, dass dies nicht die Art und Weise ist, in der man im 21sten Jahrhundert miteinander kommuniziert, sondern dass es ein historischer Text ist, den man eben nicht für jede Frage heranziehen kann und sollte. Die muslimischen Väter nämlich, die sich an diesem Gott des Lohns und der Strafe orientieren und nicht am Gott der Barmherzigkeit (ar-Rahmaan ar-Rahiim), vielleicht weil die Bestrafungsszenen im Koran so lebhaft sind, werden dies auf ihre Kinder übertragen und auch sie mit 'schmerzhafter Strafe' ('adhaab aliim) bedenken. Auch wenn es im Islam keine Kirche gibt wie im Christentum, gilt auch in den islamischen Ländern, dass die Repressionskraft einer mittelalterlichen Religion gesellschaftlich voll ausgenutzt wird in der Errichtung autoritärer Systeme in Familie, Erziehungswesen und Staat.
Dass es aber nur unzureichende progressive Kräfte in den arabischen Ländern gibt, ist ein westliches Märchen. Tatsache ist, dass progressive arabische Kräfte im Westen derzeit gar nicht gefragt sind, weil sie zu israelkritisch sind. Nehmen wir einen der wichtigsten Meinungsführer heraus, den libanesischen Anwalt Chibli Mallat, dem sich viele arabische Intellektuelle angeschlossen haben und dessen „Blaupause für Demokratie“ sehr konstruktiv ist, da sie für die Stärkung der inneren Oppositionen plädiert, für Pluralismus und gegen die vorherrschenden autoritären Strukturen z.B. im Irak, in Saudi-Arabien, selbst in Ägypten, auch in Palästina, tja, und eben auch in Israel. Denn dort gibt es nun einmal auch Unrecht und eine sehr autoritäre Gesellschaft.
Es gibt genügend Gesprächspartner im Nahen Osten und genügend kluge Köpfe. Viele sind selbstkritisch genug, um ehrliche Veränderungen in Gang zu bringen. All diese Leute Antisemiten zu nennen (wie es getan wird), weil sie für Israel dieselben Pflichten fordern, ist schlicht unseriös. Wenn jedenfalls unter solchen Umständen der Kulturkonflikt weitergeführt wird, hat der Westen ihn schon verloren.
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