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Besuch bei Jamal
Reportage, 17.03.2004
Visiting Jamal
Report, 03/17/2004

Zugegeben, ich hatte nicht gerade erwartet, einem Monster zu begegnen, nach der Lektüre seines Buches und den Beobachtungen, die ich seit längerem gemacht hatte. Dennoch überraschte mich Jamal Karsli, als ich ihm zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, in einem einfachen Reihenhaus irgendwo im Ruhrgebiet, wo er mit seiner Frau und den beiden Kindern lebt. Insgeheim hatte ich wohl ein leichtes Vorurteil und dachte, dieser Mann sei vielleicht arrogant, ein wenig zumindest. Meine Erfahrung mit ihm während dieser sechs Stunden, die er sich großzügigerweise für mich genommen hatte, war allerdings eine ganz andere.

Die Begrüßung war freundlich, da ich ihm auch bereits zu erkennen gegeben hatte, dass ich über die deutsche Presse so weit informiert bin, dass ich ihre Gefühle kenne. Sowieso steht meine Studie „Der Antisemitismusvorwurf in kritischer Betrachtung“ seit Februar im Raum. Wie geht es Jamal Karsli? Es geht ihm ganz gut. Er hätte sich ins Private zurückziehen können an dieser Stelle, so lang die Landtagsbezüge reichen, doch er wählte einen anderen Weg. Gründete eine Partei, die sich insbesondere – aber nicht nur – für die Belange von MigrantInnen einsetzt und für die Menschenrechte. Trinkst du Tee oder Kaffee, fragt er. Was du trinkst. Wir gehen in die Küche, weil ich da rauchen kann, und während er mir von seiner Türkeireise erzählt und ich ihm von meiner Ägyptenreise, stellt er nach und nach den runden Tisch zwischen uns voll mit Knabberkram. Rauchend und fahrig blättere ich durch einen Ordner mit gesammelten Zeitungsartikeln, öffentlichen Briefen und ähnlichem, völlig chaotisch, meinem chronologischen Ordnungssinn widersprechend; hier ein Artikel über das Monster, da ein Artikel über den Menschenrechtler, da wieder Monster, dort ein Foto von ihm mit dem Papst. „Für die einen bin ich ein Verräter, für andere ein Held.“

Admittedly, I did not expect to encounter a monster, after having read his book and after all the observations which I had made for a longer spell of time. And still, Jamal Karsli surprised me when I met him face to face for the first time, in a simple house somewhere in the Ruhr area where he is living together with his wife and the two kids. Somewhere inside of me I did have a slight prejudice and thought this man might be arrogant, a little at least. Yet my experiences with him during these six hours, which he had generously granted me, were completely different.

The first hello was friendly, as I had indicated to him in advance that I am informed about the German press so far that I know their feelings. Besides, my 108 pages study "The Reproach of Antisemitism in critical Reflexion" is online-published since February. How is Jamal Karsli doing? He is doing quite well. He could have withdrawn into privacy at this stage, as long as the provincial parliament salary is paid, but he chose a different way. Founded a party which especially – but not only – supports the concerns of migrants and the human rights. Would you like to drink tea or coffe, he asks. The same that you drink. We move into the kitchen where I can smoke and while he tells me about his visit to Turkey and I tell him about my visit to Egypt, he puts plates with snacks on the round table between us. Smoking and carelessly I turn the pages of a huge file with collected newspaper articles, public letters and similar things, quite chaotic, contradicting my sense of chronological order; here an article about the monster, there an article about the human rights activist, and over there a photo of him with the pope. "For some people I am a treasoner, for others a hero."

Wir trinken Tee aus Gläsern. Ich muss aufs Klo, schon wieder. Er hat „Held“ gesagt. Wenn er das in der Presse sagen würde, so denke ich bei mir und beim Plätschern des Wassers, dann wüsste ich schon, was passieren würde. Heldentum, die Nazis! Man kennt das ja. Neulich habe ich einen von diesen Freaks gelesen, der zu meinem Steckenpferd-Thema „E-Musik und U-Musik“ geschrieben hat. Göbbels habe diese Unterscheidung auch aufheben wollen, wurde da argumentiert, die Liberalisierung dieses Sektors sei also latent, zumindest assoziativ, nazimäßig. Oh, Sie tragen Socken. Wussten Sie nicht, dass die Nazis auch Socken trugen?! Diese Nummer. Dann kommen die Leute und sagen zu sich: Nee, also wenn das irgendwas mit Nazis zu tun haben könnte, dann halte ich mich lieber mal fern.

„Wieso eigentlich Verräter?“, frage ich ihn, zurück am Tisch, eine italienische frittierte Süßspeise aus kleinen gelben Kugeln probierend, die seine Frau gemacht hat. „Für einige der Grünen“, antwortet er, ein Cigarillo öffnend, das er aus der Türkei mitgebracht hat. „Eigentlich rauche ich nicht. Manchmal Wasserpfeife, aber dies hier ist eine besondere Sorte.“ Ich seufze. Rauche zu viel. Wird Zeit, die Ersatzbefriedigung durch echte Befriedigung zu ersetzen... Oh ja, einige der Grünen, natürlich. Die habens nötig. Vertrauensfrage... Jugoslawien, Afghanistan, Palästina. Ist schon die Frage, wer sich hier treu geblieben ist, er oder einige der Grünen.

Ich sehe auf Jamal Karsli, der mir schnell das Du angeboten hatte, und muss grinsen. Wieviel Fantasie die doch so nüchterne deutsche Presse entwickeln kann! Wenn man sich überlegt, mit wie viel Energie und Leidenschaft sich da Dutzende, nein Hunderte, vielleicht Tausende Journalisten, Politiker, Fotografen, „Intellektuelle“ und Institutionen betätigt haben, um diesen Mann mit ihren Farben anzumalen und mit Etiketten zu behängen, die so weit entfernt sind von Jamal Karsli, dass man wirklich überlegt, woher diese Monsterbilder eigentlich kommen und was sie anrichten. Diese ganzen Zeitungen, Fernseh- und Radiostationen, Antisemitismus-„Forschungs“-Stellen. Eine unglaubliche Begebenheit. „Für meine Frau war es besonders schlimm. Sie ist Lehrerin und hört auf dem Weg zur Arbeit die Nachrichten. Ungefähr acht Wochen lang war es richtig hart.“ Inzwischen hat die FAZ einen Artikel über ihn gebracht, den er ganz gut fand. Ich lerne Franca kennen, eine schlanke Italienerin, die ihren Mann an Körperlänge um einiges übertrifft. Auch die Kinder kommen, um Guten Tag zu sagen. Sofia und Sami. Er spricht mit ihnen arabisch. Sie italienisch. Untereinander sprechen sie deutsch. Sami sagt zu seiner Mutter einen Satz, in dem das Wort „fumare“ vorkommt, das hatte ich verstanden. Ich kenne das Wort, seit ich Zug fahre. Es stand dort auf einem Schild mit anderen Sprachen zusammen. So ähnlich wie auf der Rasierschaumdose, bloß mit anderem Text. Oder auf dem Stein von Rosetta.

Nach drei Tees und einem Kaffee gehen wir die schmale Wendeltreppe hoch in sein Büro. Ziemliches Chaos, meint er, aber stimmt nicht. Am PC zeigt er mir Fotos von den Reisen nach Israel, Palästina und Ägypten. Hier passt es dann mit dem Chaos, alles ist durcheinander. Einige ziemlich coole Fotos. Mit Amr Moussa, dem Generalsekretär der Arabischen Liga, oder dieses hier, mit Uri Davis und Ilan Pappe, zwei bekannten israelischen Menschenrechtlern (siehe unten). Jede Menge Fotos. Ich zeige Jamal die neue arabische Frontseite von Anis Online und ein paar Links. Mache auch ein paar Bilder.

We are drinking tea out of glasses. I have to go to the loo, again. He said "hero". If he said that in the press, so I think by myself while the water is splashing, then I'd know what would happen. Heroism, the Nazis! We got used to that. Recently, I have read one of those freaks who wrote about my hobby subject of "E-Music and U-Music" (The German differentiation between "ernest/serious" art and "entertaining" art). Goebbels was reported to have supported the abolition of this differentiation, this is how the argumentation went, thus the liberalisation of this sector would be latently, at least associatively, Nazi. Oh, you wear socks. Didn't you know that the Nazis also wore socks?! This number. Then the people come and think to themselves: no, if this could have anything to do with Nazis then I better keep away of that thing.

"And why treasoner?" I ask him, back at the table, tasting an Italian fried sweet made by his wife and consisting of small yellow balls. "For some of the Greens", he replies, opening a cigarillo which he had brought with him from Turkey. "Normally I don't smoke. Sometimes water-pipe, but this here is a special kind." I sigh. Smoke too much. Time to substitute the substitute satisfaction with real satisfaction... Oh yes, some of the Greens, of course. They are the right ones for blaming others. Confidence question (Vertrauensfrage)... Yugoslavia, Afghanistan, Palestine. It is still the question who remained faithful to the own principles, him or some of them Greens.

I look at Jamal Karsli, who quickly had offered me the informal "Du", and I have to grin. How much fantasy the sober German press can develop! When you consider how much energy and passion had been spent by dozens, no hundreds, maybe thousands of journalists, politicians, photographers, "intellectuals", and institutions in order to paint this man with their colors and to attach labels to him which are so far away from Jamal Karsli that one really wonders where these monster images come from and what harm they do. All those newspapers, TV and radio stations, antisemitism "research" institutions. An unbelievable proceeding. "It had been especially bad for my wife. She is a teacher and listens to the news on her way to work. For about eight weeks it had been really hard." In the meantime, the Frankfurter Allgemeine Zeitung, one of Germany's biggest newspapers, had published an article about him which he found quite OK. I meet Franca, a slim Italian who surpasses her husband in body height. The children also pop in to say hello. Sofia and Sami. He speaks with them in Arabic. She in Italian. With each other they speak German. Sami says a sentence to his mother in which the word "fumare" occurs, I understood that. I have known the word ever since I am riding trains. It was there on a sign, together with other languages. A bit like on the razor foam can, only with different text. Or on the Rosetta stone.

After three glasses of tea and a cup of coffee we climb the narrow winding stairs up to his study. Rather chaotic, he murmurs, but it isn't. At the computer he shows me pictures from his last journeys to Israel, Palestine, and Egypt. Here it is true, chaotic, everything mixed together. Some real cool photos. With Amr Moussa, the General Secretary of the Arab League, or this one here, with Uri Davis and Ilan Pappe, two known Israeli human rights activists (see below). Lots of photos. I show Jamal the new Arabic front page of Anis Online and a couple of links. Take some pictures, too.

„Wenn es ein Problem gibt, muss man darüber reden“, sagt er. „Es nützt nichts, die Tür zuzumachen und den Dialog zu beenden.“ Ich denke ebenso. Einige denken so. Wahrscheinlich liegt hier auch das Problem. Wir leben in einer Gesellschaft, die Konflikt-Diskussionen vermeiden möchte, nicht in einer Streitkultur. Dafür setze auch ich mich ein, dass Konfliktparteien offen miteinander umgehen und sich nicht gegenseitig ausschließen, denn nur so kommen wir zu dem gesellschaftlichen Frieden, den wir vermissen. Alles andere bringt nix. Zum Beispiel könnten sich die Attac-Leute mit der FDP an einen Tisch setzen, um zu streiten. Aber da rümpft der Mainstream dann die Nase, obwohl die Debatte sehr effektiv sein könnte.

Wieder klingelt das Handy. Mal redet er arabisch, mal deutsch, mal türkisch. „Hast du eigentlich die Interviews und Treffen in der Türkei alle auf Türkisch gemacht?“ frage ich ihn. „Meistens ja. Aber die ganz offiziellen Sachen habe ich auf Deutsch gemacht. Die Türken legen übrigens sehr viel Wert auf Protokoll. Ich brauche das eigentlich nicht. Aber es lief ganz gut. Ich bin als Vorsitzender der FAKT-Partei gereist und habe mit Menschenrechtlern, Politikern und Journalisten gesprochen.“ Es wird Abend. Ich möchte nicht länger seine Zeit in Anspruch nehmen, habe viel gehört und einige sehr interessante Stunden verbracht. „Wir könnten noch mal kurz zum türkischen Restaurant um die Ecke“, sagt Jamal. Okay, klar. Der Abend war noch nicht zuende.

Mit dem Hut und dem Mantel sieht er anders aus, denke ich beim Herausgehen. Wir fahren ein paar Minuten in seinem Volvo. Kommen bei einem türkischen Imbiss-Restaurant an und setzen uns, nachdem der Wirt ihn begrüßt und ihm die Hürriyet von heute gezeigt hat, in der etwas über ihn steht. Die meiste Zeit erzählt Jamal dann von seiner Zeit im Petitionsausschuss. Er hat wirklich etwas bewegen können. Viele arabische, türkische und andere Familien hätten ohne ihn große Probleme gehabt. Jamal Karsli hat nicht resigniert. Er ist auch nicht verbittert. Enttäuscht schon, aber er macht weiter. Felicia Langer hat den Klappentext zu seinem Buch „Maulkorb für Deutschland“ geschrieben, in dem er seine Sicht der Dinge darlegt und viele Quellentexte einbezieht.

"When there is a problem, then people have to talk about it", he says. "There is no point in closing the door and ending the dialogue." I think the same. Some people think the same. Probably this is what the problem is about. We live in a society which seeks to avoid conflict discussions, not in a Streitkultur. This is what I also call for, that conflict parties openly deal with each other and that they don't exclude each other, for this is the only way how we can reach the social peace that we are missing. Everything else is no use. For example, the Attac folks could sit at one table with the liberal party in order to discuss things. But here the mainstream sneers, although the debate could well be effective.

Again the cell-phone rings. Sometimes he talks in Arabic, sometimes in German, sometimes in Turkish. "When you were in Turkey, did you do all the interviews and encounters in Turkish?" I ask him. "Mostly yes. But the top official things I did in German. The Turks, by the way, are very concerned about the protocol. I don't really need that. But it went quite well. I traveled as the head of the FAKT Party and spoke with human rights activists, politicians, and journalists." Evening falls. I do not want to take his time any longer, I heard a lot and spent some very interesting hours. "We could drop by the Turkish restaurant around the corner", Jamal says. OK, sure. The evening was not over yet.

With the hat and the coat he looks different, I think while we leave the house. We drive some minutes in his Volvo. Arrive at a Turkish diner restaurant and sit down, after the owner has said hello to him and shown him the Turkish newspaper Hürriyet from today, in which there is something written about him. Then Jamal mostly talks about his time in the petition committee. He really had been able to move something. Many Arab, Turkish and other families would have faced major problems without him. Jamal Karsli did not resign. Has not grown bitter, either. A bit disappointed he is, but he continues. Felicia Langer has written a short introduction to his book "Muzzle for Germany", in which he explains and analyses his own perceptions of what happened, considering many sources.

Während wir auf den Grillteller warten, will ich wissen, ob er schon immer Politiker gewesen ist, zum Beispiel als Kind schon. Er lächelt. „Ja, in der Tat. Ich habe eine große Familie in Syrien. Ich bin der jüngste Sohn der ersten von zwei Frauen meines Vaters und habe elf Geschwister und Halbgeschwister. Die Kinder der zweiten Frau, besonders die Mädchen, habe ich manchmal in Schutz genommen, wenn es mir so vorkam, dass sie nicht gleichwertig behandelt wurden.“ Ich frage mich, wie der Westen mit dem Osten ins Reine kommen möchte, wenn auf Leute wie Jamal Karsli nicht zugegangen wird. Eine Absage an den Frieden im Land und in der Welt wäre das doch. Denn die Meinung Jamal Karslis trifft in vielem die Meinung eines erheblichen Teils der Bevölkerung im Im- und Ausland. Auch darin, dass die Besatzung Palästinas nicht zum Existenzrecht Israels gehört und auch nie gehört hat. Man kann nicht einfach alle Leute rauswerfen, die das Menschenrecht der PalästinenserInnen ernst nehmen, ob das dem Zentralrat nun gefällt oder nicht.

Über Jamal Karsli gibt es viele Legenden. Dass er etwas mit Nazis zu tun hat ist großer Quatsch. Im Gegenteil, Nazis sind definiert durch Ausländerfeindlichkeit, sie liegen also weit entfernt von dem, wofür Karsli in den letzten zwanzig Jahren gekämpft hat. Mit Islamisten hat er auch nichts zu tun, insofern seine Politik nicht vom Islam bestimmt ist, wiewohl er Muslim ist und dazu steht. Ähnlich wie ich ist Jamal bereit, mit Gruppen zu sprechen, für die das nicht gilt. Ähnlich wie sich unser Außenminister nicht scheut, auch mit rechtsradikalen Israelis zu sprechen. Denn am Schlimmsten ist es für die Gesellschaft, wenn Gruppen oder Individuen von der Kommunikation und der Demokratie ausgeschlossen werden.

Als ich die siebzig Kilometer zurückfahre, in Dads Auto, zu meinen Eltern, hat sich etwas verändert. Es war Samstag, der 13. März 2004.

While we are waiting for the mixed grill plate I want to know if he has always been a politician, maybe even as a child. He smiles. "Yes, indeed. I have a big family in Syria. I am the youngest son of the first of two wifes of my father's and have eleven siblings and half-siblings. Sometimes I had protected the children of the second wife, especially the girls, whenever I felt that they were not treated equally." I wonder how the West wants to get to peace with the East if people like Jamal Karsli are not approached. This would be a rejection of peace in the country and in the world. For the opinion of Jamal Karsli in many things represents the opinion of a considerable part of the population here and abroad. This also holds true for the occupation of Palestine which does not belong to the right of existance of Israel and never did. One cannot just throw out all the people who take the human right of the Palestinians seriously, whether the Central Council of the Jews in Germany is pleased by that or not.

There are lots of legends about Jamal Karsli. That he has something to do with Nazis is big nonsense. On the contrary, Nazis are defined by their hostility towards foreigners, therefore they are far away from the things which Karsli has been fighting for in the last twenty years. He also has nothing to do with Islamists, inasfar as his policy is not determined by Islam. Still he is a Muslim and does not hide this fact. Similar to me Jamal is ready to talk with groups which are different in this respect. Similar to the way that our foreign minister is not embarrassed to speak with right-wing radical Israelis. For the worst thing for society is when groups or individuals are excluded from communication and from democracy.

As I drive back the seventy kilometers to my parents, in Dad's car, something has changed. It was Saturday, the 13th of March, 2004.


Visiting the ruins in Jenin, 2002

With Uri Davis and Ilan Pappe in Israel, 2002

With the General Secretary of the Arab League, Amr Moussa
Interview
„Integration
fängt im Kopf an“
Interview mit Jamal Karsli (23.11.2004)

Als einziger muslimischer Abgeordneter des Düsseldorfer Landtags nahmen Sie am Wochenende an der Demonstration in Köln teil, bei der sich Muslime vom Terror distanzierten. Wie war Ihr Eindruck von der Veranstaltung?
Jamal Karsli: Diese Demonstration war gut und begrüßenswert. Es war vor allem ein wichtiges Signal dafür, dass es völlig falsch ist, alle Muslime über einen Kamm zu scheren. 25.000 Menschen haben daran teilgenommen und gezeigt, dass der Islam eine friedliche Religion ist, und dass Terror von Muslimen und Nicht-Muslimen gleichermaßen verurteilt wird. Es war vor allem wichtig, dass die Initiative von den Muslimen ausging und dass sich zahlreiche unterschiedliche Gruppen und gesellschaftliche Akteure daran beteiligten. Die Demonstration hat gezeigt, dass die Integrationsbereitschaft der Muslime vorhanden ist und alle ein harmonisches Miteinander anstreben.

Es scheint Leute zu geben, die nicht wissen, dass es deutsche Muslime gibt. Muslime, die Deutsche sind. So ähnlich wie deutsche Juden manchmal gefragt werden, wann sie „nach Hause“ nach Israel fahren. Was ist Ihre Position in der so genannten Frage der Integration von Muslimen und der der Integration von Migranten?
Jamal Karsli: Integration fängt im Kopf an und ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Wir müssen alle daran arbeiten, dass sich das Bild, das sich noch viele Menschen von den Muslimen oder vom Islam als Religion machen, ändert. Wir müssen dies tun, wenn wir nicht einen Keil in unsere Gesellschaft treiben wollen. Aber Integration ist keine Einbahnstraße: Die Integrationswilligkeit muss auf beiden Seiten vorhanden sein: bei der Gesellschaft und bei den Migranten. Der Islam ist per se eine friedliche Religion und Teil dieser Gesellschaft. Das müssen wir unterstützen und fördern. Wir müssen aber auch von den Muslimen fordern, dass sie sich an der Integration beteiligen, dass sie den Willen haben, sich in die gesellschaftlichen Strukturen integrieren zu lassen. Es muss sich auch in den Köpfen der Menschen und vor allem der Politiker festsetzen, dass eine Investition in die Integration eine Investition in die Zukunft ist. Wenn wir in Zukunft muslimischen Kindern einen Religionsunterricht anbieten wollen, der von Lehrerinnen geführt wird, die an deutschen Universitäten islamische Theologie gelernt haben, ist es egal, ob die Lehrerinnen Kopftuch tragen oder nicht. Wir müssen einfach die Voraussetzungen schaffen, damit die Menschen sich integrieren können. Warum geben wir nicht mehr Mittel für die Übersetzung von muslimischen Büchern aus? Wir müssen in die Fakultäten der Unis investieren, die sich mit dem Islam befassen. Wenn wir jetzt nicht darin investieren, werden wir dies in der Zukunft bereuen. Wir haben 40 Jahre damit gewartet. Wir sollten einfach anfangen.

Zur Außenpolitik: Die meisten Bush-Wähler denken, dass Saddam etwas mit al-Qaida zu tun hat. Sie haben auch Herrn Bush gewählt, obwohl der sie über Massenvernichtungsmittel belogen hat und obwohl er einen Krieg ausgerufen hat („We are at war“). Wie schätzen Sie die Zukunft der USA ein?
Jamal Karsli: Ich werde und kann mir kein Urteil über die Zukunft der Vereinigten Staaten von Amerika erlauben. Die Entscheidung für die Wahl George Bushs zum Präsidenten hat das amerikanische Volk getroffen. Und es ist ja auch gut, dass die Menschen ihren freien Willen bekunden, denjenigen zu ihrem Präsidenten zu wählen, von dem sie meinen, dass er sie und ihre Interessen am besten vertreten kann. Ob Amerikas Schicksal daran hängt, ist noch eine andere Frage.
Es wurde gelogen, das stimmt. Es wurde gelogen, dass sich die Balken biegen: Aus zwei ehemaligen Verbündeten der USA, Sadam Hussein und Osama Bin Laden wurden Erzfeinde gemacht. Zur besseren Abschreckung hat man die beiden auch noch unter einem Dach, El Kaida, zusammengefasst und eine ganze Religion unter Generalverdacht gestellt. Und alles um nationale, wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Dafür wurde das eigene Volk und die internationale Staatengemeinschaft belogen. Aber dennoch hat die Mehrheit der amerikanischen Wähler George W. Bush wiedergewählt. Den Umstand kann man bedauern oder nicht, aber so kann Demokratie nun mal auch sein.

Was sagen Sie zur Lage im Irak? Und Iran?
Jamal Karsli: Die Lage in Irak wird Tag für Tag undurchsichtiger. Die Grenzlinie zwischen Widerstand gegen die amerikanische Besatzung und reinem Terror wird mehr und mehr verwischt. Meine Befürchtung ist, dass die Situation auf einen Bürgerkrieg hinausläuft, der für alle Beteiligten eine Katastrophe wäre. Man sollte alles daran setzen, dass dies nicht geschieht. Deswegen knüpfe ich meine Hoffnungen an die Konferenz von Sharm-al-Sheikh. Grundlage der Verhandlungen muss jedoch sein, dass alle Bevölkerungsgruppen an den Plänen für die Zukunft des Iraks beteiligt werden. Es darf keine Gruppe außen vor bleiben, sonst ist nichts gewonnen und die Besatzung wäre im Nachhinein legitimiert. Die Umsetzung des Plans muss dann nach Abzug der Amerikaner durch die Vereinten Nationen garantiert und kontrolliert werden.
Was den Iran betrifft, freut es mich, dass man nun zu einer Einigung im Streit über die Produktion waffenfähigen Urans gekommen ist. Nur die Drohgebärden von George Bush sind beunruhigend. Bush spielt mit dem Feuer und mit welcher Unbedachtheit er das tut, macht mir Angst. Nach den Lügen, die die amerikanische Administration über den Irak verbreitet hat, um ihr nationales Interesse durchzusetzen, ist das Vertrauen in die amerikanische Sichtweise gestört. Deutschland und die EU tun gut daran, auch weiterhin auf diplomatischem Wege den Konflikt zu entschärfen.

Michel Friedman schrieb in dem Artikel „Adieu Arafat, für mich sind Sie ein Mörder“ am 12.11.04 in der Bildzeitung zum Tode Arafats, dass dieser „nichts anderes als ein Verbrecher“ war. Er schrieb dort auch: „Ich weiß, daß das israelische und palästinensische Volk diesen Frieden erträumten. Die einzigen wirklichen und unumstößlichen Voraussetzungen: Kein Terror! Statt Gewalt Frieden! Statt antisemitischer Hetze Respekt!“ Er sei ein Mörder, ruft Friedman ihm nach, und mit der zweiten Intifada „versündigten Sie sich endgültig an der palästinensischen Sache.“ Glauben Sie, dass angesichts des Niveaus seiner Aussagen Palästinenser für Herrn Friedman so etwas wie ein Ersatz sein könnten? Hat das etwas mit deutscher Geschichte zu tun? Wie schätzen Sie das ein?
Jamal Karsli: Ich möchte mit einer Gegenfrage antworten: Wie viele Premierminister Israels wurden in der Vergangenheit von der internationalen Staatengemeinschaft als Kriegsverbrecher gesucht und auch in Abwesenheit angeklagt? Warum redet Herr Friedman nicht einmal darüber? Was mich an den Äußerungen Friedmans besonders stört ist, dass niemand in der Öffentlichkeit darauf reagiert hat. Immerhin war Arafat ebenso wie Perez und Rabin Friedensnobelpreisträger. Wenn jemand den Frieden in Palästina will, dann zieht er nicht in der Öffentlichkeit über einen Mann her, der eine Symbolfigur für diejenigen darstellt, die versuchen, Israel die Hölle heiß zu machen. Damit wird nur Öl aufs Feuer geschüttet. Dabei missbraucht Friedman noch die deutsche Geschichte und verhindert Aufklärung und Diskussion. Aber das scheint die deutsche Öffentlichkeit nicht zu stören, sonst wäre ein Aufschrei zu hören gewesen.

Bundeskanzler Schröder hat am Sonnabend im Jüdischen Museum Berlin darüber gesprochen, dass eine Demokratie keine Parallelgesellschaften dulden dürfe. Würden Sie sagen, dass er damit die Verkäufer von U-Booten in Krisengebiete meinte und Sympathisanten gewählter Regierungen, die sich außerhalb des Völkerrechts und des Menschenrechts bewegen? Ist die politisch-ökonomische Kaste gemeint? Oder die Presse? Was denken Sie?
Jamal Karsli: Natürlich müssen wir Parallelgesellschaften verhindern, egal welche. Doch der Kanzler hat ein paar Tatsachen miteinander vermischt. Denn hier werden Opfer zu Tätern gemacht. Die Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, um hier zu arbeiten, wurden jahrzehntelang als Gastarbeiter angesehen, die irgendwann wieder nach Hause gehen. Mittlerweile leben hier 3,5 Millionen Muslime (ca. 200.000 deutschstämmig), die hier die dritte Religionsgemeinschaft bilden und Teil unserer Gesellschaft sind. Die Integration dieser Menschen in die Gesellschaft wurde über 40 Jahre lang verschleppt. Nun macht man diesen Menschen den Vorwurf, sich nicht integriert zu haben und Parallelgesellschaften aufgebaut zu haben. Das ist kein guter Stil. Statt zu lamentieren sollte man jetzt schleunigst beginnen die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Integration nicht noch weiter verschleppt wird. Das, was wir heute für die Integration machen können, sollten wir tun, damit wir es später nicht bedauern, dass wir die Chance verpasst haben.

(Die Fragen stellte Anis)

Jamal Karsli ist deutscher Politiker mit syrischen Wurzeln.

"Integration
starts in the Mind"

Interview with Jamal Karsli (Nov. 23, 2004)

As the only Muslim legislator of the Duesseldorf federal Parliament you participated in a rally in Cologne on which Muslims demonstrated against terror this weekend. What was your impression of the gathering?
Jamal Karsli: This demonstration was good and to be appreciated. Most of all, it was an important signal for the fact that it is completely wrong to stereotype Muslims. 25.000 have participated and showed that Islam is a peaceful religion and terror is condemned by Muslims and non-Muslims in the same way. It was primarily important that the initiative came from the Muslims and that numerous and divers groups and social actors participated in it. The demonstration showed that the readiness for integration is there in the Muslims and that all strain after a togetherness in harmony.


There seem to be people who do not know about the existance of German Muslims. Muslims who are Germans. A bit like German Jews when they are sometimes asked when they want to go "back home" to Israel. What is your position in the issue of the so-called integration of Muslims and the one of the integration of migrants?
Jamal Karsli: Integration starts in the mind and is a social task. We all must work for the image, which many people still have of Muslims or of Islam as a religion, to change. We must do that if we don't want to drive a wedge into society. But integration is not a one-way street: the will for integration must be present on both sides, the society and the migrants. Islam per se is a peaceful religion and part of this society. We have to support and promote that. But we also have to demand from the Muslims to participate in the integration, that they have the will to be integrated in the social structures. It has to be established in the minds of the people and most of all the politicians that an investment in integration is an investment in the future. When in the future we want to offer religion lessons to Muslim children, given by female teachers who learned Islamic theology at German universities, then it does not matter if those teachers wear head-scarfs or not. We just have to prepare the necessary presuppositions for the people to integrate themselves. Why do we not spend more means on the translation of Muslim books? We got to invest in the faculties of the universities which are concerned with Islam. If we do not invest in it now we will regret it in the future. We have waited for 40 years. We should just start.




For foreign politics: most of the Bush voters think that Saddam has something to do with al-Qaida. They also voted Mister Bush although he had lied to them about weapons of mass destruction and although he declared a war ("We are at war"). How do you assess the future of the USA?
Jamal Karsli: I will not and cannot allow myself a judgement on the future of the United States of America. The decision for the election of George Bush to be president has met the American people. And it is a good thing that the people have declared their free will to elect the one for president who they suppose to be the best representative for them and their interests. Whether or not America's fate is dependent on that is another question.
There were lies, this is true. There were really heavy lies: two ex-allies of the USA, Sadam Hussein and Osama Bin Laden, were made arch-enemies. For better deterrance they have also put them together under one roof and put a whole religion under general suspicion. And all that in order to bring through economic interests. For this the own people and the international community of states was lied at. But despite this the majority of the American voters re-elected George W. Bush. This is a circumstance one can regret or not, but this is how democracy can be.




What do you say regarding the situation in Iraq? And Iran?
Jamal Karsli: The situation in Iraq is getting more and more obscure every day. The border-line between resistance against the American occupation and pure terror is being wiped away more and more. My fear is that the situation tapers off to a civil war which would be a catastrophe for all the involved. One should do everything for this to not happen. Therefore I set my hopes in the Sharm al-Sheikh conference. Yet, basis of the negotiations must be that all the population groups are partners in the plans for the future of Iraq. No group must be excluded, otherwise nothing would be won and the occupation would be justified a posteriori. After the departure of the Americans the implementation of the plan must be guaranteed and controlled by the United Nations.
Concerning Iran I appreciate that people have reached an agreement in the conflict about the production of uranium capable of being transformed into arms. Only the gestures of threat by George Bush are troubling. Bush is playing with fire and the degree of his carelessness is what is frightening me. After the lies the American administration has spread about Iraq in order to push forward its national interest the confidence in the American point-of-view is disturbed. Germany and the EC are well advised to continue de-escalations of the conflict in a diplomatic way.


Michel Friedman (German talkshow host) wrote in the article "Adieu Arafat, for me you are a killer" on Nov. 12, 2004 in the German tabloid "Bild" on the occasion of Arafat's death that the latter was "nothing but a criminal". He also wrote there: "I know that the Israeli and the Palestinian peoples have been dreaming of this peace. The only real and irrefutable premise: no terror! Peace instead of violence! Respect instead of anti-Semitic agitation!" He would be a killer, Friedman shouts to him, and with the second Intifada "you ultimately sinned against the Palestinian cause." Do you think that - in view of the level of his utterances - Palestinians for Herr Friedman could be something like a substitute? Might it have anything to do with German history? How do you assess that?
Jamal Karsli: I would like to answer with a counter-question: how many Prime Ministers of Israel have in the past been wanted as war criminals by the international community of states and also accused in absence? Why doesn't Herr Friedman talk about this for a change? What disturbs me most of all about the utterances by Friedman is that nobody in the public has reacted on that. After all, Arafat was a bearer of the Nobel Peace Prize just like Perez and Rabin. If somebody wants peace in Palestine he will not publically slander a man who is a symbolic figure for those who try to terrify Israel. This is only pouring oil on the flames. Besides Friedman is abusing the German history and preventing awareness and discussion. But this does not seem to bother the German public, otherwise a scream would have been heard.



Federal Chancelor Schröder on Saturday in the Jewish Museum in Berlin said that a democracy must not tolerate parallel societies. Would you say that he meant the sellers of submarines into regions of crisis and sympathizers with elected governments moving beyond international law and the human rights? Did he talk about the political-economic caste? Or the press? What do you think?
Jamal Karsli: Of course we have to prevent parallel societes to come into being, no matter which. But the chancelor mixed up a couple of facts. For here victims are being turned to perpetrators. The people, who left their homelands in order to work here, had for decades been regarded as guest workers ("Gastarbeiter") who would return back home some time. Meanwhile, 3.5 million Muslims live here (ca. 200.000 of German origin) who constitute the third religious community here and who are part of our society. The integration of these people in the society has been delayed for forty years. Now these people are accused of not having integrated and of having built parallel societies. This is no good style. Instead of lamenting one should now with the utmost dispatch start to prepare the presuppositions for integration not to be delayed any further. What we can do today for integration we should do so that we do not have to be sorry for having missed the chance.



(Questions and translation by Anis)

Jamal Karsli is a German politician with Syrian roots.

 
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