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ESSAY (14)
Der Antisemitismus-Vorwurf in kritischer Betrachtung
Darstellung und Auswertung von Pressequellen
Studie zum Attac-Workshop „Semitismus/Nahost“ am 14./15.02.2004 in Hannover
von Anis Hamadeh, M.A., Kiel im Februar 2004
English Summary
(PDF) (99 S. )

1. Der diskursive Rahmen
1.1 Israel-Szenario – Antisemitismus-Szenario  – Palästina-Szenario
1.2 Scheideweg der Werte

2. Topoi des Semitismus/Nahostkonflikts
2.1 Topoi und Ambivalenz der Nahostberichterstattung
2.2 Kritik an Israel nur bedingt möglich?
2.3 Definition und Relevanz des Antisemitismus
2.4 Der „Neue Antisemitismus“
    2.4.1 Topoi des „Neuer Antisemitismus“-Szenarios
    2.4.2 Aristoteles' Logik
    2.4.3 Gefühle der heterogenen Opfergruppe
2.5 Markierung und Selbstmarkierung
2.6 Der „Arabische/Islamische Antisemitismus“
    2.6.1 Terrorismus-Szenario
    2.6.2 Der Vernichtungs-Topos
    2.6.3 Arabische Wahrnehmung von Juden und Israel
    2.6.4 Im- und Export, Migranten und Islamisten
    2.6.5 Islamfreundliches Deutschland/ Muslime selber Schuld
2.7 Feindbild Islam/Araber
    2.7.1 Islamismus, Fundamentalismus, radikaler
    2.7.2 Feindbild und Islam/Araber
    2.7.3 Weitere Beispiele aus der Presse
2.8 Konsequenzen des Antisemitismusvorwurfs
    2.8.1 Erzieherische Maßnahmen
    2.8.2 Einschränkung von Freiheiten
    2.8.3 Ausschluss von Diskursteilnehmern
    2.8.4 Rechtfertigung von Gewalt
2.9 Die Rechts-Links-Dichotomie / Vergleiche mit der Nazizeit
    2.9.1 Die Rechts/Links-Dichotomie
    2.9.2 Vergleiche mit der Nazizeit
    2.9.3 Das Opfer/Täter-Stereotyp
    2.9.4 Das Problem der Historizität von Szenarien
    2.9.5 Das Problem der Kollektivverantwortung von Gruppen
2.10 Position des Zionismus
    2.10.1 Über Zionismuskritik
    2.10.2 „Ideologie“
2.11 Demokratiekritik
    2.11.1 Übertragung repressiver Strukturen
    2.11.2 Mangelndes Outgroup-Verhalten
    2.11.3 Fazit

3. Attac und der Vorwurf des Antisemitismus
3.1 Die illegalen Siedlungen
3.2 Das Jungle-World-Interview
3.3 Attacpapier „Zu Antisemitismus und Nationalismus“
3.4 Zwei Artikel in „Die Zeit“
3.5 Sonstiges
3.6 Die Erklärung von Aachen

4. Zusammenfassung und Resümee
4.1 Zusammenfassung
4.2 Resümee

Seitenzahlen des Manuskripts: 1. Der diskursive Rahmen 1-5 // 1.1 Israel-Szenario – Antisemitismus-Szenario – Palästina-Szenario 1-3 // 1.2 Scheideweg der Werte 3-5 // 2. Topoi des Semitismus/Nahostkonflikts 6-79 // 2.1 Topoi und Ambivalenz der Nahostberichterstattung 6-9 // 2.2 Kritik an Israel nur bedingt möglich? 10-13 // 2.3 Definition und Relevanz des Antisemitismus 14-18 // 2.4 Der „Neue Antisemitismus“ 19-28 // 2.4.1 Topoi des „Neuer Antisemitismus“-Szenarios 19-22 // 2.4.2 Aristoteles' Logik 22-23 // 2.4.3 Gefühle der heterogenen Opfergruppe 23-25 // 2.5 Markierung und Selbstmarkierung 26-28 // 2.6 Der „Arabische/Islamische Antisemitismus“ 29-38 // 2.6.1 Terrorismus-Szenario 29-30 // 2.6.2 Der Vernichtungs-Topos 30-31 // 2.6.3 Arabische Wahrnehmung von Juden und Israel 31-33 // 2.6.4 Im- und Export, Migranten und Islamisten 33-36 // 2.6.5 Islamfreundliches Deutschland/ Muslime selber Schuld 36-38 // 2.7 Feindbild Islam/Araber 39-48 // 2.7.1 Islamismus, Fundamentalismus, radikaler 39-43 // 2.7.2 Feindbild und Islam/Araber 43-45 // 2.7.3 Weitere Beispiele aus der Presse 46-48 // 2.8 Konsequenzen des Antisemitismusvorwurfs 49-57 // 2.8.1 Erzieherische Maßnahmen 49-50 // 2.8.2 Einschränkung von Freiheiten 50-53 // 2.8.3 Ausschluss von Diskursteilnehmern 53-54 // 2.8.4 Rechtfertigung von Gewalt 54-57 // 2.9 Die Rechts-Links-Dichotomie / Vergleiche mit der Nazizeit 58-69 // 2.9.1 Die Rechts/Links-Dichotomie 58-61 // 2.9.2 Vergleiche mit der Nazizeit 61-64 // 2.9.3 Das Opfer/Täter-Stereotyp 64-65 // 2.9.4 Das Problem der Historizität von Szenarien 66 // 2.9.5 Das Problem der Kollektivverantwortung von Gruppen 67-69 // 2.10 Position des Zionismus 70-79 // 2.10.1 Über Zionismuskritik 70-71 // 2.10.2 „Ideologie“ 71-73 // 2.11 Demokratiekritik 74-79 // 2.11.1 Übertragung repressiver Strukturen 74-76 // 2.11.2 Mangelndes Outgroup-Verhalten 76-77 // 2.11.3 Fazit 78-79 // 3. Attac und der Vorwurf des Antisemitismus 80 – 91 // 3.1 Die illegalen Siedlungen 80-83 // 3.2 Das Jungle-World-Interview 83-85 // 3.3 Attacpapier „Zu Antisemitismus und Nationalismus“ 85-86 // 3.4 Zwei Artikel in „Die Zeit“86-88 // 3.5 Sonstiges 88-89 // 3.6 Die Erklärung von Aachen 89-91 // 4. Zusammenfassung und Resümee 92 – 95 // 4.1 Zusammenfassung 92-93 // 4.2 Resümee 93-95 // 5. English Summary 96-99

 – Teil 1. Der diskursive Rahmen -

Kann es überhaupt notwendig sein, die Ablehnung des Antisemitismus zu hinterfragen? Ist es nicht ein Grundsatz unserer Demokratie, dass antisemitische Tendenzen in aller Schärfe verurteilt und verfolgt werden? Denn wenn es etwas gibt, das insbesondere Deutsche gelernt haben sollten, dann die Tatsache, dass der Mord an sechs Millionen Juden ein Verbrechen war, für das es in seiner systematischen Grausamkeit und modernen Grässlichkeit keinen Vergleich gibt. Der Schock von 1945 sollte genug gewesen sein, um dieses Verständnis herzustellen.

Das ist richtig. Jedoch ist der demokratische Diskurs seit Kant, Hegel und Adorno ein kritischer und es ergeben sich Fragen: Was genau ist eigentlich Antisemitismus und was das Schlimme daran? Immerhin müssen wir wissen, worüber wir sprechen und was da im Einzelnen und Konkreten abgelehnt wird. Wir fragen auch, wer den Begriff definiert und wessen Wertaussagen zu politischen Entscheidungen führen. Und zu welchen. Und aus welchen Gründen. Wir fragen, wie scharf die Verfolgung sein kann und darf, um dem gesellschaftlichen Frieden förderlich zu sein und wie mit Verdächtigen und zu Verfolgenden umgegangen wird bzw. werden soll. Wir fragen nach der Zulässigkeit und dem Sinn und Unsinn von Vergleichen und danach, inwiefern die Antisemitismus-Verfolgung selbst zu einem dualistischen Weltbild führen kann, in dem es stereotyp die Guten gibt und die Bösen. Kurz: Wir fragen hier nach den Nebenwirkungen und Gefahren des Antisemitismus-Vorwurfs.

Es zeigt sich nämlich bei dieser Darstellung und Auswertung von etwa vierhundert aussagekräftigen Pressequellen unter anderem, wie dicht der Semitismusdiskurs mit dem Nahostdiskurs verwoben ist. Auch das Assoziationsfeld von Nazis und Muslimen/Arabern im öffentlichen Diskurs im Kontext mit dem Antisemitismusvorwurf wird hier deutlich, sowie weitere Topoi in der Berichterstattung, der Hintergrund abstrakter Begriffe, kritikfreie Räume und Spiegelvorwürfe.

Anlass für diese Studie ist eine Debatte innerhalb der kritischen Bewegung Attac, die im Jahr 2003 mehrfach Antisemitismusvorwürfen von Innen und von Außen ausgesetzt war und die daher eine systematische Diskussion zum Themenkomplex Antisemitismus/Ideologie/Nahost führt. Beim Attac-Ratschlag in Aachen am 16.-18.10.03 kam es diesbezüglich zu einer ersten Aussprache. Die Möglichkeit einer kritischen Hinterfragung des Antisemitismus und seines Vorwurfs wurde bei dieser Gelegenheit jedoch nicht wahrgenommen bzw. marginalisiert.1 Gehen wir also einen Schritt zurück und betrachten, was das Thema dieser öffentlichen Diskussion eigentlich ist und sein soll. Wo liegen die Konflikte und welche Gruppen sind daran beteiligt? Der vorliegende Beitrag ist der Versuch, die Situation in einem weiteren Rahmen zu Bewusstsein zu bringen, um dabei zu helfen, dass die Konflikte erkannt, benannt und schließlich gelöst werden können.

Bei einem Konflikt geht es immer darum, dass zwei oder mehrere kognitive und emotionale Rahmen miteinander kollidieren. Der Linguist Donald Schön prägte den hilfreichen Begriff des „Frame Restructuring“2, um sich diesem Phänomen zu nähern. Er nannte das Beispiel eines Konflikts zwischen Slum-Bewohnern und einer Stadtverwaltung, die den Slum auflösen wollte. Die Situation stellte sich für die jeweiligen Parteien sehr unterschiedlich dar. Für die einen war der Slum ein Schandfleck, für die anderen ein soziales System. Bei der Aufschlüsselung von einzelnen Rahmen / Frames zeigt sich die Gesamtheit der Situation. Geht man davon aus, dass es eine Art Zufriedenheitsstruktur bei den Akteuren eines Konfliktes gibt, so kann man anstreben, die Rahmen miteinander auf einer übergeordneten Ebene zu einer Synthese zu bringen. Dies nennt Donald Schön „Frame Restructuring“.

Im Fall des Themenkomplexes „Antisemitismus“ ist es vor einer jeglichen Bewertung notwendig, die verschiedenen, ineinander verkeilten Konflikte zu manifestieren und die Akteure dieser Konflikte sowie deren Zufriedenheitsstrukturen im Diskurs anzuerkennen. Hier nämlich beginnt bereits das erste Problem, dass es unterschiedliche Ansichten über die Definition und Relevanz der Themen der Debatte gibt. Bedingung bei allen echten Konfliktlösungen ist, dass Konflikte von allen Beteiligten auch als solche angesehen werden. Es gibt nämlich auch asymmetrische Konflikte, zu deren Merkmalen auch die Meinung gehören kann, dass es gar keinen Konflikt in der von einer der Parteien genannten Weise gibt bzw. dass argumentiert wird, dass es sich bei den Darstellungen einer der Parteien um abgetrennte Phänomene aus ganz anderen und hier nicht hinreichend relevanten Szenarien handelt. Zur Erläuterung dieser Problematik werden im folgenden drei Szenarien vorgestellt, die miteinander in Beziehung stehen und deren unterschiedliche Bewertungen das Konfliktgeflecht illustrieren. Das Szenario des „Neuen Antisemitismus“ steht in mehrlei Hinsicht zwischen den anderen beiden. Siehe dazu den Punkt 2.4. Zum Terrorismus-Szenario siehe Punkt 2.6.1.

Rahmen 1: Israel-Szenario

Der Schutz von Jüdinnen und Juden wurde in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts notwendig, weil Juden (und auch andere Gruppen bzw. als Gruppen identifizierte Leute) massiv verfolgt und in unvorstellbar großer Zahl bis 1945 systematisch ermordet wurden. (Zum Teil darüber hinaus.) Die Nazi-Ideologie, die das hervorbrachte, darf nie wieder relevant und muss im Ansatz gestoppt werden. Diese Ideologie gründet(e) auf Xenophobie, also Fremdenfeindlichkeit, in Gestalt hauptsächlich von Antisemitismus sowie auf einem aggressiven Nationalismus. Um zu verhindern, dass solche schrecklichen Vorkommnisse sich wiederholen, muss stets auf die Gefahren des Antisemitismus und des Nationalismus hingewiesen werden. Damit Juden geschützt leben können, wurde 1948 der Staat Israel gegründet, als einzige Demokratie im Nahen Osten. Es handelt sich dabei für einige auch um einen historisch/religiösen Anspruch. Einige Male schon musste Israel sein Existenzrecht in Kriegen verteidigen. Ein großes Problem in Israel ist der Terrorismus. (Anschluss Terrorismus-Szenario 2.6.1). Nicht alle Juden leben in Israel, es gibt auch deutsche Juden, das sind Deutsche, keine Israelis. Sie können aber Israelis werden und in Israel leben, wenn sie es möchten, vor allem, wenn Gefahr droht. In Deutschland, wo das Übel des Antisemitismus am Stärksten auftrat, ist eine besondere Verantwortung und damit Rücksicht auf die Gefühle der Opfergruppe geboten. In den letzten Jahren nun mehrten sich die Stimmen, die von einem „neuen“ Antisemitismus sprechen. Wieder werden Juden herausgenommen und zum Sündenbock gemacht. Das ist alarmierend und muss gestoppt werden.

Rahmen 2: Der neue Antisemitismus (siehe 2.4)

Es gibt einen neuen Antisemitismus. Er wird auch strukturell genannt, latent, beiläufig, sekundär und anderes. Dahinter stehen Antisemiten und Rechtsradikale, die allerdings heute nicht mehr so auftreten wie früher. Sie relativieren bestehenden Antisemitismus und geben nicht offen zu, dass sie Antisemiten sind. Sie haben gelernt, innerhalb der modernen Medienwelt antisemitische Positionen zu verstecken. So wirken antisemitische, nationalistische und rassistische Muster oft als Teil etablierter Wahrnehmung und Deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Ein typisches Beispiel ist die Personalisierung komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse und Prozesse, die als Wirken 'geheimer Strippenzieher hinter den Kulissen' gedeutet werden. Dies finden wir dann bei den Nazis in der Figur der 'jüdischen Weltverschwörung'. Heute werden 'die geheimen Verschwörer' dann in Form der 'zionistischen Lobby' ausgemacht. Auch gibt es eine Kritik der Spekulation seitens der Nazis, die hauptsächlich mit der Unterscheidung eines 'schaffenden' (deutschen, nationalen, produktiven) Industrie- und eines 'raffenden' ('jüdischen', 'internationalen', 'spekulativen') Finanzkapitals arbeitet. Die Überwindung kapitalistischer Krisenhaftigkeit konnte dann folglich mit der Vernichtung der Juden gleichgesetzt werden. Auch in der Nahost-Debatte versuchen die Rechten, antisemitische Positionen einzubringen, die sie als antizionistische ausgeben. Auch ein Antiamerikanismus macht sich auf diese Weise breit. Die Aufgabe muss also sein, solche Anknüpfungspunkte an rechte Ideologien zu vermeiden und Menschen, die sich ihrer bedienen, zu bestrafen und aus dem Verkehr zu ziehen.

Rahmen 3: Palästina-Szenario

Die Palästinenserinnen und Palästinenser verloren viele ihrer Dörfer 1948 mit der Gründung Israels durch die Zionisten. Das konnten auch die befreundeten Armeen nicht verhindern, ebensowenig wie die Besatzung der Westbank und des Gazastreifens 1967. Obwohl die UNO, das internationale Recht, die Menschenrechte und die Genfer Konventionen seit Jahrzehnten fordern, den Palästinensern ihr Recht zu geben, ist dies nicht geschehen. Die PLO hat inzwischen Israel anerkannt und die Palästinenser haben mehr Zugeständnisse gemacht als je zuvor. Man kann nicht erwarten, dass jeder einzelne Palästinenser zum Pazifisten wird, bevor die Gesamtheit zu ihrem Recht kommt. Statt der Freiheit nimmt die Mauer ihnen jetzt noch mehr Land weg und das Töten der politischen Gegner geht weiter. Die Palästinenser geben aber nicht auf. Immer wieder argumentieren die Zionisten und die Freunde Israels, dass das Existenzrecht der Juden in Israel gesichert werden muss. Dabei hat Israel Atomwaffen. Sehr häufig wird der schwerwiegende Antisemitismus-Vorwurf als Rechtfertigung für israelische Staatsgewalt eingebracht. Man spricht seit einer Weile auch von arabischem Antisemitismus und islamischem. Das Menschenrecht der Palästinenser kommt am Antisemitismusvorwurf nicht vorbei und seine Fürsprecher werden in der Öffentlichkeit marginalisiert und auch aus dem Diskurs gedrängt. Wieder werden Menschen herausgenommen und zum Sündenbock gemacht. Das ist alarmierend und muss gestoppt werden.

- Scheideweg der Werte -

So ungefähr lassen sich drei Rahmen beschreiben, die alle am Phänomen Antisemitismus bzw. Antisemitismus-Vorwurf teilhaben. Sie scheinen, jedes für sich genommen, plausibel, zumindest kohärent. Die Probleme jedoch, die sich aus ihrer Interaktion ergeben, sind mannigfaltig und bilden den Kern der vorliegenden Untersuchung.

Welche Werte liegen unseren Denkrahmen zu Grunde? Betrachten wir einleitend, was Jürgen Habermas am 07.06.02 in der Süddeutschen Zeitung schrieb: „Der Vorwurf des Antisemitismus, gleichviel ob er zurecht oder zu unrecht erhoben wird, bezieht sich auf die Verletzung einer Wertorientierung, die in unserer politischen Kultur inzwischen verankert ist.“ (S. 13) Diese Aussage repräsentiert auch das, was mit den Begriffen des „Sonderverhältnisses“ und des „demokratischen Grundkonsenses“ gemeint ist, die im Verlauf der Debatte von hochrangigen deutschen Politikern betont wurden. Die Begründung für diesen Wert und diese Norm geht aus dem ersten Szenario hervor.

Diese von Habermas so genannte „Wertorientierung“ liegt im ersten der obigen Szenarios begründet und betont das erste und das zweite. Das dritte kommt nicht vor, weil das Hauptaugenmerk auf der Verhinderung eines erneuten Judenhasses und damit einer Wiederholung des Weltkriegstraumas liegt. Aus der Perspektive des dritten, des Palästina-Szenarios besteht hier die Sorge, dass es zu strukturellen Ähnlichkeiten kommen kann zwischen so genannten „Kollateralschäden“, bei denen einige unschuldige Opfer als Preis für erfolgreiche Terrorismusbekämpfung in Kauf genommen werden, und solchen Palästinensern, Arabern, Muslimen, politisch Interessierten, Pazifisten und Menschenrechtlern, die im Falle einer Übertreibung in der Antisemitismus-Bekämpfung mitbetroffen, eigentlich aber gar nicht gemeint sind.

Abgesehen davon ist das Nichtvorhandensein des dritten Szenarios ein Diskursmerkmal, wie dieser Ausschnitt zeigt aus einem Interview mit dem libanesischen Botschafter in den USA, Farid Abboud, auf dem patriotischen US-Fernsehsender Fox. Die Problematik ist im deutschen Diskurs sehr ähnlich: „Fox interviewer (sighing): Mr. Abboud, do you recognize Israel's right to exist ? Abboud: Yes, I recognize PALESTINE'S right to exist !!! Fox interviewer (no words to describe his face): Mr. Ambassador. Please stop this aversion in answering, and answer our specific questions !!! Do you recognize Israel's right to exist or not?! Abboud: Israel already exists, Sir. It does not need my recognition. It is the recognition of Palestine to exist that should be addressed.“ (Fox News, 27.10.03, „Fox Interviews Ambassador Farid Abboud of Lebanon“).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass das dritte Szenario den jüdisch-israelisch-deutschen Diskurs mitbetrifft und nicht außerhalb seiner steht. So ist etwa Moshe Zuckermanns Buch „Zweierlei Israel? Auskünfte eines marxistischen Juden an Thomas Ebermann, Hermann L. Gremliza und Volker Weiß“ (2003) in der Süddeutschen Zeitung wie folgt besprochen worden: „Einig werden sich Zuckermann und seine Gesprächspartner nicht, da sie mit Israel ganz Unterschiedliches verbinden: Der israelische Staatsbürger Zuckermann, der erklärtermaßen gerne in Israel lebt, redet über die israelische Gesellschaft, den Nahost-Konflikt oder die Notwendigkeit, die Besatzung zu beenden. Dabei liefert er den Lesern wunderbar scharfe Analysen zur israelischen Politik. Die Konkret-Publizisten denken dagegen bei Israel an Antisemitismus, völkisches Denken und – letztlich – an Deutschland.“ (SZ 21.07.03, Literatur, Dirk Eckert).

Auch geht es bei der Interaktion um die Frage, inwiefern die Repräsentanten des dritten, des Palästina-Szenarios, die anderen Szenarien anerkennen. Wenn man dabei nicht vergisst, dass Israel Palästina besetzt hält und nicht umgekehrt, wenn man auch berücksichtigt, dass es die Nazis und ihre Verbündeten waren, die mit Hilfe des Antisemitismus den Holocaust angerichtet und zu verantworten haben und nicht die Araber, dann ist es ebenfalls notwendig, über die – und sei sie kritische – Anerkennung des Israel-Szenarios seitens Palästinensern, Arabern und Muslimen zu sprechen. Die Judenverfolgung in Deutschland und Europa hat ja der zionistischen Idee erst die Akzeptanz verschafft, die die Gründung des Staates Israel in dieser Form ermöglicht hat. Es ist auch für Araber und Muslime wichtig, diesen Rahmen zu kennen, weil der politische Gegner dadurch berechenbarer und verständlicher wird. Missverständnisse und einige Provokationen können so umgangen werden. Die Anerkennung des Staates Israels vom palästinensischen Mainstream ist jedenfalls schon vor einer Weile erfolgt, und auch auf saudi-arabischer Seite hat es international beachtete Annäherungen diesbezüglich gegeben. Es muss auf arabischer Seite klar sein, dass das Menschenrecht auch für Juden und Israelis unteilbar ist.

Die Menschheit hat sich in revolutionären Prozessen, die über Jahrhunderte, ja Jahrtausende verliefen, auf einige Werte weitgehend geeinigt. Die wesentliche Errungenschaft der Zivilisation war die zunehmende Gewaltvermeidung im Prozess der Demokratisierung und der Erarbeitung einer Charta der Menschenrechte.
3 Dazu gehören das Selbstbestimmungsrecht von Individuen und Gesellschaften. Das Recht zu leben. Das Recht auf freie Meinungsäußerung. Auf Bildung und Reisefreiheit. Auf Arbeit und Kommunikation. Auf freie Entfaltung. Freie Wissenschaft. Auch wurde die UNO gegründet, um den Frieden zwischen den Ländern zu sichern und um gemeinsame Normen vorzuleben.

Faktisch aber gibt es keine Priorität des Menschenrechts und der UNO4. Zu den Topoi des ersten Szenarios (Topos, Plural Topoi: wiederkehrendes Motiv im Diskurs) gehört zwar das Argument, dass Menschenrechtsverletzungen auch anderswo geschehen. Allerdings ist anderswo nicht die „einzige Demokratie im Nahen Osten“, die es zu verteidigen gilt.5 Auch der Einwand, dass es auch unter den Palästinensern genau so Täter gibt wie unter den Israelis, trifft nicht genau, denn im einen Fall handelt es sich um Staatsgewalt, im anderen nicht. Es ist ein „asymmetrischer Konflikt“, wie Michael Schneider in seinem langen Artikel schreibt: „Seit wann ist Okkupation zu relativieren? Einseitige Wahrnehmung eines ‚asymmetrischen Konflikts'. Auch das deutsch-jüdische Verhältnis blockiert eine Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern“ (Wochenzeitung Freitag, 26.09.03). Siehe auch den Kommentar von Werner Pirker in der jungen Welt vom 29.01.04: „Historische Schuld. Neun Tote bei Vorstoß in den Gazastreifen“.

Das Plädoyer in dieser Studie gilt dem gleichen Maß für alle.

Fußnoten:
1: In der Attac-„Erklärung zu Antisemitismus und zum Nahostkonflikt“ vom 18.10.03 wurde der Begriff „Philosemitismus“ trotz der begründeten Einstufung als „Essential“ im Schlusstext nicht zugelassen. (zurück)
2: Donald Schön (1979), „Generative Metaphor: A Perspective on Problem-Setting in Social History.“ In: Ortony, A. (Hrsg.): Metaphor and Thought. Cambridge, England (zurück)
3: Siehe Statistiken über nicht-militarisierte Staaten, Kriegsdienstverweigerer und Abschaffung der Todesstrafe bei Glenn D. Paige (2002): „Nonkilling Global Political Science“, Xlibris, (S. 42 ff). Direkt-Link zum Downloaden: www.globalnonviolence.org/docs/nonkilling/nonkilling_text.pdf (zurück)
4: Siehe z.B. Ulrich Arnswald im Freitag 35, 22.08.03, „Präventiv-Krieg oder Präemptiv-Krieg? Begriffsverwirrung. Die USA wollen den Feldzug im Irak nutzen, um durch die Macht des Faktischen einen neuen Kriegstyp zu legitimieren“, auch Freitag, 14.02.2003, „'Die Begründungslüge'. Der Zweck und die Mittel. Eine mögliche Irak-Invasion wäre kein 'Präventivkrieg'“ von Ulrich Arnswald, auch taz 21.03.03. (zurück)
5: Siehe z.B. „(...) sei klargestellt: Die Welt braucht Israel. Als das einzige westliche Land des Orients, als die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten.“ (taz 29.11.03, Magazin S. I-II, „Wozu noch nach Israel?“ von Philipp Gessler) oder „Israel ist eine funktionierende Demokratie – die einzige im Krisengebiet Nahost, und als solche wichtig für die Interessen auch Europas.“ (SZ 05.11.03, "Mit der Moralkeule nach Nahost", Stefan Kornelius) (zurück)

 – Teil 2. Topoi im Semitismus/Nahostkonflikt -

Die folgende Quellenanalyse berücksichtigt etwa vierhundert aussagekräftige Zeitungsartikel und öffentliche Äußerungen zum Thema Semitismus/Nahost1, und zwar hauptsächlich aus dem Jahr 2003. Es handelt sich dabei um mehr als eine Stichproben-Analyse, dennoch kann man nicht von einer systematischen Quellenanalyse sprechen, weil die Zeitungen nicht kontinuierlich und erschöpfend ausgewertet wurden. Ein gewisses Spektrum zu erfassen wurde hier für sinnvoller befunden, als sich beispielsweise nur mit einer einzigen Zeitung zu beschäftigen oder einem sehr kurzen Zeitraum. In der Absicht, einen Eindruck vom Diskurs Semitismus/Nahost in der deutschen Öffentlichkeit zu vermitteln, erscheinen im Fließtext häufig ausführliche Zeitungsüberschriften. Dies ist also eine empirische Studie für Leserinnen und Leser und nicht hauptsächlich eine theoretische Analyse. Die Auswahl der Quellen basiert auf der Medienschau Nahost, siehe www.anis-online.de/journalismus/review/medienschau/0.htm2 – mit einigen Ergänzungen. Die taz ist die hier am Häufigsten analysierte deutsche Tageszeitung, mit einem Anteil von etwa einem Viertel, weil sie sich mit dem Themenkomplex statistisch gesehen – so eine Einschätzung aus Erfahrung – am Intensivsten beschäftigt.

Generell lässt sich erkennen, dass es jenseits von Links und Rechts einen Mainstream in der deutschen Presse gibt, der nur von der (linken) jungen Welt in Berlin und der (ebenfalls linken) Wochenzeitung Freitag durchbrochen wird, hin und wieder auch vom Spiegel bzw. Spiegel Online oder der Illustrierten Stern. Als wichtige nicht-deutsche Zeitung wird auch die Neue Zürcher zitiert. Jüdische Zeitungen wie Hagalil und die Jüdische Allgemeine, zum Teil Haaretz und andere, sind ebenfalls hin und wieder zitiert, aber nicht systematisch. Als wichtiges und repräsentatives freies Medium wird häufiger Telepolis zitiert (www.telepolis.de). Rechte Zeitungen wie die Junge Freiheit wurden hier kaum berücksichtigt, weil sie nur sehr selten zitiert werden und damit dem Diskurs aus einer eigenen Perspektive gegenüberstehen. Dies weiter zu untersuchen wäre eine eigene Monografie wert. Redaktionsschluss für die vorliegende Studie war der 29.01.04. Es besteht die Möglichkeit, dass zu einem späteren Zeitpunkt eine erweiterte Fassung und/oder Übersetzung ins Englische vorgenommen wird.

Hauptquellen und Abkürzungen: BILD (Bild-Zeitung), FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), FR (Frankfurter Rundschau), FREITAG (Der Freitag, Wochenzeitung), jW (junge Welt), KN (Kieler Nachrichten), ND (Neues Deutschland), NZZ (Neue Zürcher Zeitung, Schweiz), SPIEGEL (Der Spiegel, Wochenzeitung), SZ (Süddeutsche Zeitung), taz (die tageszeitung), Telepolis (Internet-Zeitung, www.telepolis.de), Tsp (Der Tagesspiegel), WELT (Die Welt), ZEIT (Die Zeit, Wochenzeitung)

2.1 Topoi und Ambivalenz der Nahostberichterstattung

Die Öffentlichkeiten, die den Antisemitismusvorwurf hervorbringen, finden sich zum einen in der Frontal-Öffentlichkeit der Presse, des Radios und Fernsehens und der Parteien, zum anderen in der freien Öffentlichkeit des Internet und der Nichtregierungsorganisationen u.ä. Zum diskursiven Rahmen dieser Öffentlichkeiten gehört ein Set von wiederkehrenden Motiven, das die Gesamtsituation beschreibt, innerhalb derer der Antisemitismusvorwurf hervorgebracht wird. Diese Motive oder Topoi betreffen zum einen den Nahostkonflikt, zum anderen den Diskurs Deutschland/Israel.

Was die Frontal-Öffentlichkeit angeht, so sieht sie in ihrer Arbeit (unter anderem) einen Bildungs-Auftrag, bei dem die Information zur Aufklärung verwendet wird. Im Zusammenhang mit dem Antisemitismusvorwurf ist dies deutlich erkennbar. Gehen wir zurück ins Jahr 1945, so verstehen wir auch, warum die Presse und die Parteien in Deutschland „aufpassen“. Zuvor nämlich war die ebenfalls frontale, jedoch zentral gesteuerte, Vorgänger-Öffentlichkeit kontrolliert und zu weitreichenden politischen Propagandazwecken missbraucht worden.

Bei der Einschätzung der Nahostberichterstattung in der deutschen Presse ist es notwendig, wenn auch oft schwierig, zwischen didaktischen und epistemologischen Topoi zu unterscheiden. Das bedeutet: Manchmal soll ein bestimmtes Bild erzeugt werden (z.B. in Kommentaren), und manchmal entsteht das Bild aufgrund der Mechanismen des Mediums, ohne dass dies mit einer Absicht zu tun haben müsste.3

Ein typisches Beispiel für solche Grenzfälle ist das häufige Motiv, bei dem zuerst der palästinensische „Terror“ und als Reaktion darauf die israelische „Vergeltung“ gemeldet wird. In der Presse erscheint es in dieser Art: „Der Friedensprozess ist nach der zweiten Intifada in eine Sackgasse geraten. Jeder Terrorakt zieht einen militärischen Gegenschlag nach sich.“ (KN 01.04.03, S. 29) Erst der Anschlag, dann die Reaktion: „Selbstmordanschlag und Angriff im Gazastreifen überschatten Friedensplan“ (KN 02.05.03, S. 4). Auch: „Terroranschlag verletzt erneut Waffenruhe“ (KN 16.07.03, S. 4). Auch hier: „Die Anschläge von Dschihad- und Hamas-Terroristen auf israelische Soldaten und Zivilisten, (...) die massive Gegenwehr der Armee, die Hubschrauber- und Panzerangriffe auf vermutete Waffenschmieden und Häuser von Attentätern, bei denen jedes Mal auch Unbeteiligte mit in den Tod gerissen werden.“ (ZEIT Nr.10, 27.02.03, S. 3, Klingst). Dies muss keine gewollte politische Wertung darstellen, denn Terrorakte sind nun einmal Aufhänger für die Nachrichten, auch im Irak, in den USA, in Afghanistan, der Türkei und anderswo. Nicht nur in Israel. Auch werden schwere israelische Angriffe durchaus nicht immer als Reaktionen gewertet, sei es implizit oder direkt. Die alltäglichen Vorgänge der Besatzung allerdings, zu denen auch die Auslöschung menschlichen Lebens gehören kann, werden im Allgemeinen nicht als Anlass für Zorn und Konflikt beschrieben. Das kann bis zu krassen Bewertungen gehen wie: „Israels Militäroperationen wiederum, die sich gegen die Terror-Infrastruktur richten, dienen Hamas als willkommener Vorwand für ihr Morden.“ (SZ 06.03.03, „Die Rückkehr des Terrors“, Schmitz). (Siehe auch Terrorismus-Szenario 2.6.1.)

Auch ist die Besatzung für die Medien keine Nachricht, weil sie nicht neu ist, und fiktive Sätze wie der folgende haben keine Nachrichtenlogik, genauer: keine Schlagzeilen-Logik: „Als Reaktion auf die Ermordung Ihres Ehemanns und einiger Verwandter beging die junge Frau einen Selbstmordanschlag.“ Oder: „Nach jahrelanger Besatzung entlud sich der Zorn und Widerstand der Bevölkerung.“ Vertrauter klingen Sätze wie: „Wenn Israelis nicht mehr das Gefühl haben, sich täglich vor Terror fürchten zu müssen, werden die militärischen Maßnahmen mit der Zeit abnehmen“ (FR 13.09.03, Natan Sznaider). Dies ist ein grundsätzliches Problem und wird im Kontext mit den USA im Irak und in Afghanistan, ganz selten auch im Nahostkonflikt, kritisch diskutiert. Mitchell Plitnick etwa schrieb im ZNet, einem nicht-frontalen alternativen Medium (www.zmag.de), am 28.08.03:

„Was steckt hinter den Schlagzeilen? Beginnen wir mit einem Blick auf das, was die Zeitungen als 'relative Ruhe' bezeichnet haben – mit der Zeit vor dem Jerusalemer Bombenattentat. In jenen 6 Wochen bis zu den Selbstmordbomben am 12. August, denen 2 Israelis zum Opfer fielen, starben 17 Palästinenser durch die Hand israelischer Soldaten, 59 wurden verletzt (siehe: www.fair.org/press-releases/relative-calm.html). Einige würden diese Zeit als 'relative Ruhe' sehen. Schließlich war es eine der ruhigsten 6-Wochen-Perioden innerhalb der letzten 3 Jahre. Doch der entscheidende Punkt in der öffentlichen Darstellung ist ganz eindeutig der: 'relative Ruhe' bedeutet, dass keine Israelis getötet wurden.“ (Artikel „Raketenangriffe und Selbstmordbomber“).

Es handelt sich um ein wiederkehrendes Motiv. Am 15.01.04 schrieb die taz zum Attentat am Grenzübergang Eres im Untertitel: „Nach drei Wochen relativer Ruhe fordert der Selbstmordanschlag eines Palästinensers vier Tote und zehn Verletzte.“ (S. 10, Knaul). Die Besatzung wird als „Ruhe“ bezeichnet, ebenso wie der Mauerbau und die seit einer Weile aggressiver werdende Politik. Bei der Rezeption alternativer Medien wie www.Freace.de oder www.freunde-palaestinas.de, auch www.arendt-art.de/deutsch/palestina/index.html und www.freepalestine.de, bei Gush Shalom und dem International Solidarity Movement (ISM), auch bei der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa und vielen anderen Quellen findet man Informationen, die nicht auf eine „relative Ruhe“ im respektiven Zeitabschnitt hindeuten.

So muss auch das Bild und die Bilder von Israel und (den) Juden in der Presse als Teil einer Ambivalenz zwischen „Spiegel und Konstrukteur der Realität“ 4 betrachtet werden. In Teil 2.5 geht es um solche Bilder und Markierungen und unter Punkt 2.4.3 um die politische Relevanz der Gefühle der heterogenen Opfergruppe.

Ein weiteres typisches Indiz der ambivalenten Berichterstattung ist der Begriff „Hass“. Er wird fast immer im Zusammenhang mit den Gefühlen von Arabern, Muslimen und Antisemiten verwendet5, wie in der SZ-Überschrift über die Palästinenser: „Ein Volk gespeist mit Hass“ (SZ 08.09.03, Schmitz), oder: „Man sagt uns, daß die Araber uns hassen“ (FAZ, 13.01.04, Überschift, S. 38, Gina Thomas), oder in: „'Hass hier nicht akzeptieren'“ (taz 20.11.03, S. 7), auch: „Der Hass auf Juden allgemein ist (...) präsent.“ (WELT 18.11.03, „'Adolf Hitler war in Ordnung.'“), oder: „Antisemitismus-Report. ‚Hass-Atmosphäre' gegen Israel und Juden vermerkt.“ (FR 17.03.03). Oder: „Die Urheber der Anschläge von Istanbul hätten nicht wegen der Mauer gemordet, sondern aus Hass gegen die Juden.“ (FR 18.11.03, „Israel. Elie Wiesel kritisiert Papst-Worte zu Nahost“). In der Bild-Zeitung: „Die perverse Parade in Arafats Palästina. Sie säen Hass in die Herzen der Kinder.“ (03.01.04).

„Im Nahen Osten wird auch mit Begriffen gekämpft“, so lautet eine Überschrift von Susanne Knaul in der taz vom 31.07.03, (S. 12, „Der 'Zaun' ist eine Mauer“). Sie plädiert hier dafür, die Dinge beim Namen zu nennen. Viele Begriffe können in diesem Kontext hinterfragt werden, vom „Terror“6 angefangen, der gegen „Widerstand“ abgegrenzt werden muss, über damit verbundene Begriffe wie „Infiltration“ oder auch die „Liquidierungen“7 und „präventiven Exekutionen“ bis zu Ausdrucksformen verschiedener Tier- und Krankheitsmetaphoriken. Auf der argumentativen Ebene ist es auch interessant zu betrachten, in welchen Zusammenhängen der Begriff „Angst“ verwendet wird, um israelische und andere Handlungen zu rechtfertigen.

Anders sieht es aus, wenn Redaktionen Artikel manipulieren. Dies ist eine andere Qualität. So wurde der Artikel „War of the Worlds“ von Marwan Bishara, Wissenschaftler an der École des Hautes Études en Science Sociales und Dozent an der American University in Paris in der taz/Le Monde diplomatique Nr. 6572 vom 12.10.01 unter dem Titel „Grauzonen einer globalen Welt“ übersetzt (Bodo Schulze). Wie die Friedensaktivistin Marie-Dominique Vernhes präzise analysiert hat, ist die Übersetzung eine Fälschung mit vielen suggestiven und willkürlichen Zusätzen und Auslassungen.8 Während es in der deutschen Presse üblich zu sein scheint, dass die Redaktionen zum Teil ohne Zustimmung oder sogar Wissen der Urheber Texte kürzen und Titel sowie Untertitel allein herstellen, kam es in der Süddeutschen vor, dass in einem Feuilleton-Artikel über Algerien der wertende Begriff „Mob“ ohne Wissen und zum Ärger der Urheberin in den Text gebracht wurde. (SZ 24.07.03, „Der Hass der verlorenen Männer. Wie es in einer heruntergekommenen Erdölstadt in der algerischen Sahara zu einem Pogrom gegen Frauen kam“, Sabine Kebir)9. Zwar gibt es einen Deutschen Presserat, aber er spielt in der Praxis kaum eine wichtige Rolle. Vielleicht könnte aber eine solche Instanz zur Glaubwürdigkeit der deutschen Presse beitragen.

In Deutschland wird also meist aus der Sicht Israels berichtet, weil ein Mitgefühl in der deutschen Öffentlichkeit vorhanden ist. Das ist zunächst einmal nicht falsch. Die Frage ist nur: Aus Sicht von welchem Israel? Ist es das aus dem „Israelischen Tagebuch“ von Anna Faroqhi, in dem sie schreibt: „'Besuch bei Bekannten in Shomron, einer jüdischen Siedlung in den besetzten Gebieten nahe von Tel Aviv. Die Leute, die wir besuchen, sagen, dass sie ohne politische Absichten hier leben. Sie wollen die Ruhe und die Natur genießen. Das Leben mit den Arabern hier ist friedlich. Doch die Ruhe ist eine vorläufige, die Natur durchzogen von Grenzposten und Stacheldrahtzäunen.'“ (taz 09.08.03, S. 14). Hier werden die Palästinenser unter völliger Nichtberücksichtigung des Palästina-Szenarios als schlummernde Gefahr für harmlose Naturfreaks dargestellt. Oder ist es Uri Avnerys derzeitiges Israel:

„Der Protest gegen ein unmoralisches Regime ist ein kategorischer Imperativ. (...) Ist dies nicht ein Schlag gegen die Demokratie? Ganz sicherlich! Aber es ist ein positiver Schlag. Israels Demokratie wird mit jedem Tag der Besatzung schwächer. Wir sind Zeugen einer fortschreitenden Verschlechterung: die Regierung ist Sharons Kindergarten geworden, die Knesset genießt allgemeine Verachtung, der Oberste Gerichtshof ist selbst in weiten Teilen zu einem Instrument der Besatzung geworden, die Medien marschieren im Gleichschritt. Es sind die Verweigerer, die eine moralische Dimension in den öffentlichen Diskurs gebracht haben.“ („Der kategorische Imperativ“, 27.12.03, üb. von Ellen Rohlfs).

Oder ist es dieses Israel, in dem diejenigen Palästinenser für die Wahl Scharons verantwortlich gemacht werden, die nicht mitwählen durften: „Der Versuch der Palästinenser, mit Gewalt einen Staat zu erlangen, hat Israel einen Premierminister beschert, der ohne diese Gewalt nie an die Macht gelangt wäre. Das Nein der Palästinenser zu Ehud Baraks weit reichendem Friedensangebot ist das Fundament für Ariel Scharons Macht.“ (SZ 21.01.03, S. 4, Thorsten Schmitz, „Der doppelte Scharon“). Passend dazu: „Allein kann Israel den Kampf gegen den Terrorismus nicht bewältigen.“ (taz 17.06.03, S. 12, Knaul).

Auch die deutsche Öffentlichkeit ist sich nicht einig, welches Israel unterstützt und beschützt werden soll und wie diese Unterstützung aussehen soll. Die politische Gesamtwertung des Konflikts in der deutschen Öffentlichkeit bleibt daher meistens unentschieden, nach Art der Standard-Aussagen etwa von Joseph Fischer oder auch Kofi Annan. Salomon Korn, der zweite Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hat das vermeintliche Gleichgewicht kürzlich so formuliert: „Letztlich sind beide Seiten gleichzeitig im Recht und im Unrecht.“ (taz 23.09.03, S. 7). Typisch auch: „Dabei müssen die Waffen beider Seiten ruhen – ein einziger Angriff könnte reichen, um das Projekt misslingen zu lassen.“ (taz, 01.07.03, S. 12, Knaul). In der SZ: „Die Palästinenser töten fast jeden Tag und werden fast jeden Tag getötet.“ (SZ 21.01.03, S. 4, Schmitz). Israels Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, formuliert die Balance so: „Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass das israelische Verhalten im Konflikt nicht einziger Maßstab für die europäische Haltung ist.“ (FR 15.07.03, „'Es reicht nicht, wenn Palästinenser nur eine Waffenpause zementieren'“, Interview: Katharina Sperber). Auch Stefan Kornelius kommt zu keiner Lösung und laviert, wobei er die zweifelhafte Ansicht vertritt, Deutschen könnte im Nahostkonflikt eine Schiedsrichterrolle zukommen: „Wer aus der Rolle des Schiedsrichters schlüpft, verliert jeden Einfluss. Konfliktparteien gibt es wahrlich schon genug.“ (SZ 05.11.03, „Mit der Moralkeule nach Nahost“).

Welche Bedeutung hat die halb-didaktische Semitismus/Nahost-Berichterstattung für die Kritik an Israel und den Antisemitismusvorwurf? Dieser Frage wird im nächsten Teil nachgegangen.

Fußnoten:
1: „Semitismus/Nahost“ ist vielleicht die genaueste Bezeichnung der Debatte, da sie neben Antisemitismus auch Philosemitismus berücksichtigt. In beiden Fällen geht es um eine wertende Markierung von Juden, im einen Fall ist es eine negative, im anderen eine positive. (zurück)
2: Die Medienschau Nahost ist eine Online-Presseauswertung, nach Datum sortiert. Die meisten der vorliegenden Quellen können dort verifiziert werden. (zurück)
3: Siehe dazu den Essay: „Palästina, Israel und die Bilder“ (06.09.02) unter www.anis-online.de/journalismus/essay/07.htm (zurück)
4: Sabine Schiffer (2004): „Die Darstellung des Islams in der Presse. Eine Auswahl von Techniken und Beispielen.“ Diss. Sprachwissenschaften, Erlangen-Nürnberg. S. 13. – Mit einem Diskurs über den „lange kultivierten Antisemitismus und seine Folgen“ (S. 203 ff). (zurück)
5: Hier auch zwei Gegenbeispiele, in dem der Begriff „Hass“ auf jüdische Siedler bezogen wird: „Der grenzenlose Hass begann lange vor dieser Intifadarunde.“ (taz, 27.08.03, S. 11, Ponger) und indirekt auf die USA und Israel hier: „Seit dem 11. September 2001 scheinen die USA Israels schlechteste Seiten hervorgekehrt und eine klaustrophobe Sicht auf eine Welt voller Hass und Terror verinnerlicht zu haben.“ (Freitag 36, 29.08.03, „Feuer mit Feuer bekämpfen. Irak/Palästina. Größter Feind des Bush-Lagers ist der eigene ideologische Starrsinn“ Ludwig Watzal) (zurück)
6: Siehe z.B. Aljazeera.Net am 12.01.04: „Beirut wants 'terrorism' defined. Lebanese President Emile Lahoud has called for an international definition of terrorism, extending beyond that given to it by the United States.“ by AFP (zurück)
7: Siehe z.B.: „Für die gezielte Liquidierungen von Führern der Islamisten-Organisationen hatte das Sicherheitskabinett erneut grünes Licht gegeben. Dabei muss auch die Entscheidung zur Ermordung Abu Schanabs gefallen sein.“ (taz 22.08.03, S. 10, Anne Ponger) (zurück)
8: Text liegt mir vor.(zurück)
9: Information von der Urheberin (zurück)

2.2 Kritik an Israel nur bedingt möglich?

Elmar Altvater, Mitbegründer der Grünen und Impulsreferent beim Attac-Ratschlag in Aachen, schrieb am 25.10.03 in einer halböffentlichen Attacmail fünf Punkte zum Thema Semitismus/Nahost: „(1) Wegen unserer besonderen Geschichte müssen wir besonders vorsichtig mit unserer Kritik an Israel sein und können deshalb beispielsweise französische Erklärungen nicht einfach übernehmen; (2) das Existenzrecht Israels wird uneingeschränkt anerkannt und verteidigt. (3) Die Palästinenser haben ein Recht auf einen eigenen lebensfähigen Staat. (4) Kritik an der Politik Israels ist ebenso statthaft wie Kritik an den Taten der Palästinenser. Und nun (5): Die besondere Vorsicht kann uns in der Globalisierungs- und Kapitalismuskritik nicht binden, insbesondere nicht durch solche Zuschreibungen wie in der 'Zeit', die selbst in die Nähe des Antisemitismus geraten, wenn der Autor offenbar vermutet, dass sich in der – doch von Medien wie der 'Zeit' erzeugten – öffentlichen Meinung hinter Wall Street und dem Kapitalisten ein Jude verstecke. In dieser Hinsicht ist die linke Aufklärung nicht erst seit Attac wesentlich weiter.“ (Siehe auch Teil 3 und Punkt 2.4.2).

Diese Aussagen haben innerhalb von Attac Kritik ausgelöst, denn die Punkte (1) und (4) scheinen einander zu widersprechen. Wie kann man Palästinenser und Israel gleichermaßen kritisieren, wenn man gleichzeitig besonders vorsichtig mit der Kritik an Israel sein soll? Und sind diese Aussagen von Herrn Altvater repräsentativ? Dazu einige Stellungnahmen aus der Presse, die deutlich machen, wie eng die Themenkomplexe „Kritik an Israel“ und „Antisemitismus“ beieinanderliegen und wie weit die Meinungen auseinandergehen. Da gibt es Beteuerungen der Normalität von Israelkritik wie hier ...

„Das Recht auf Kritik an der israelischen Besatzungspolitik ist unbestritten. Wer behauptet, es sei ein Tabu, diese Kritik zu äußern, verfälscht die Realität. Er benutzt das alte antisemitische Klischee vom Juden, der die öffentliche Meinung kontrolliert. Dabei weiß er, liest er und sieht, dass es das Tabu nicht gibt: Die israelische Politik wird in den deutschen Medien ausgesprochen kritisch begleitet.“ (FR 04.06.02).

Natürlich dürfe Scharon kritisiert werden, schreibt Jan Phillip Reemtsma in der FR vom 01.06.02, und das werde auch mehrheitlich getan.

... und Widerspruch zu dieser These mit dem Hinweis darauf, dass der Antisemitismus-Verdacht bzw. -Vorwurf eine solche Kritik erschwere und zum Teil auch verhindere:

„Wer, gar noch als Deutscher, sei er Politiker, Journalist oder Intellektueller, es wagt, die israelische Politik gegenüber den Palästinensern offen zu kritisieren, wer etwa fordert, die deutschen Waffenexporte nach Israel zu stoppen, der gerät hierzulande sofort unter Antisemitismus-Verdacht.“ (Freitag, 26.09.2003, „Seit wann ist Okkupation zu relativieren?“, Michael Schneider)

„So leicht es einmal war, mit David zu sympathisieren, so schwer fällt es heute vielen, nun Goliath zu unterstützen, vor allem, wenn er so auftritt wie die israelische Armee in den Palästinensergebieten: schwer gepanzert, schwer bewaffnet und übermächtig.“ Und am Schluss: „Eine solche Inflation von Antisemitismusvorwürfen ist jedoch problematisch, nicht nur, weil sie sachlich nicht gerechtfertigt ist, sondern auch, weil sie eben deshalb entsprechend heftige Reaktionen auslöst.“ (NZZ 26.02.03, Ressort Inland, S. 16, „Wachsender Antisemitismus in der Schweiz? Ein Imageproblem des Staates Israel“, Wolfgang Marx, Uni Zürich)

„Die Bewertung israelkritischer Meinungen als 'antisemitisch' ist skandalös – obwohl längst ein zentraler Bestandteil der offiziellen Meinungsproduktion. (...) Noch nie war die Politik einer israelischen Regierung so unpopulär wie die der Scharon-Leute. Und noch nie ist der Antisemitismus-Vorwurf an Gegner der israelischen Unterdrückungspolitik so massiv erhoben worden, wie das gegenwärtig der Fall ist.“ (jW 06.12.03, „Herrschaftsideologie Philosemitismus“, Werner Pirker)

Über den Fall Honderich: „Die Debatte in der FR widerspiegelte den immer unerträglicher werdenden moralischen Konformismus. Es kamen nur Autoren zu Wort, die Brumliks Position teilten – weil eine Gegenposition sich ja nicht mehr auf der Ebene befände, auf der eine Erörterung des Nahost-Konfliktes zulässig sei.“ (jW 09.08.03, Wochenendbeilage, Zivilgesellschaftlicher Diskurs, „Der schwarze Kanal: Wenn Kritik an Israels Besatzungsmacht als 'Judenhaß' denunziert wird“, Pirker)

Die Kritik an Israel beunruhige Juden und Israelis und sie werde auch missbraucht, betonen hingegen recht viele Quellen, wie z.B. die folgenden. Weiteres dazu unter 2.4.3:

„Nicht wenige Sympathisanten Israels und vor allem jüdische Bürger in europäischen Ländern sind (...) beunruhigt. Manche fragen, ob durch die pausenlose Medienpräsenz des Nahostkonflikts und durch die meist wenig vorteilhaften Bilder über die Einsätze schwer bewaffneter Truppen in den besetzten Gebieten nicht mehr oder weniger bewusst antiisraelische Emotionen geschürt, vielleicht sogar pauschale antisemitische Vorurteile verbreitet werden.“ (NZZ 27.12.03, „Kritik an Israel und Antisemitismus“, R.M.)

„Die jüngsten Äußerungen aus London und Paris, die den israelisch-palästinensischen Konflikt und vor allem Israels umstrittene Antiterrormaßnahmen als Hauptursache für den in der arabischen Welt wachsenden Unmut sehen, haben nicht gerade vertrauensbildend gewirkt. Immer stärker macht sich seit der Militäroperation in Dschenin und dem Vorwurf, es habe dort ein Massaker gegeben, in Jerusalem das Gefühl breit, von der Welt nicht verstanden zu werden und auf sich allein gestellt zu sein.“ (taz 10.04.03, S. 12, „Israelis und Palästinenser sind international gefährlich isoliert. Europa muss Vertrauen bilden“, Susanne Knaul)

„Es bildete sich gerade während des letzten Jahres eine Mehrheitsmeinung unter den Juden Europas heraus, die in deutlichem Gegensatz zur Mehrheitsmeinung des restlichen Europa stand: Man mochte mit der amerikanischen Regierung und der Art der Kriegsführung nicht immer einverstanden sein, aber noch weniger einverstanden war man mit dem damit einhergehenden Antiamerikanismus; man mochte die Regierung Sharon nicht lieben, aber noch weniger die um sich greifenden antiisraelischen Sentiments.“ (NZZ 07.06.03, „Kein Adieu. Europa und das Judentum“, Michael Brenner)

„Wenn der Präventivschlag zur Vergeltung wird. Täglich berichten die deutschen Medien über den Nahostkonflikt – und schüren dabei, meinen einige, Antisemitismus“ (FR, 02.07.03, Schlagzeile, Antje Kraschinski)

„Was mich an Herrn Westerwelle und seiner Verteidigungsstrategie stört, ist, dass er offenbar nicht ahnt, wie gefährlich mit diesem Thema gezündelt werden kann. Der Antisemitismus ist eine Art kollektiver Gedächtniskrankheit. Es fehlt so jegliches Sich-Hineindenken in die Ängste der Juden hierzulande.“ (Historiker Julius Schoeps, Spiegel Online 11.06.02)

„Hat der Fall des Demagogen Möllemann nicht schlagend bewiesen, dass Kritik an israelischer Politik lediglich ein Deckmantel für Antisemitismus ist?“ (taz-Beilage des „peace com“, 07.06.02, „Engagement für den Frieden in Israel und Palästina“, Micha Brumlik)

Es gibt daher in der deutschen Öffentlichkeit Bekenntnisse zur Solidarität mit Israel und zur Notwendigkeit einer solchen Solidarität:

„Israel ist kein Staat wie jeder andere, sondern ein Staat, dessen Existenzrecht darauf basiert, wenn nötig als Asyl zu dienen, für all jene, die verfolgt werden, weil sie Juden sind. Solange Antisemitismus existiert, muss auch Israel als Judenstaat existieren.“ (taz, 02.08.03, S. 11, „Israels neues Ehegesetz vertreibt ganze Bevölkerungsgruppen. Praktizierter Rassismus“, Knaul)

„Kai Diekmann, Chefredakteur und Herausgeber der bei Axel Springer erscheinenden Bild-Zeitung, fand gestern Abend beim Medientag der Deutsch-Israelischen Woche in der Handelskammer klare Worte. ‚Wer die Verantwortung aus der Geschichte ernst und annimmt, darf nicht schweigen zum täglichen Terror gegen Israel', betonte er in seinem Vortrag mit dem Thema: ‚Uneingeschränkte Solidarität – Warum Massenmedien politisch sein müssen'. Natürlich, so Diekmann, müsse eine Zeitung ausgewogen berichten. Leider würde in Deutschland aber ein fester Standpunkt oft mit Intoleranz und Rechthaberei, fehlende Grundsätze mit Liberalität und Großmut verwechselt.“ (WELT 21.03.03, „Irak-Konflikt: Solidarität mit Israel und den USA“, gs) , siehe auch BILD 13.12.03, S. 2, „Wie können wir Deutsche Israel helfen, Herr Scharon?“ Exklusiv-Interview mit Israels Ministerpräsidenten, 2. Teil, Kai Diekmann und Sven Gösmann. Darin Zitat Scharon: „Europa muss viel mehr Druck auf die Palästinenser ausüben.“

„Welt am Sonntag: Haben politische Überzeugungen eine Rolle bei Ihrem Engagement im TV-Markt gespielt? Saban: Ich bin kein Wähler in Deutschland. Ich werde mich also in keiner Weise politisch einmischen. Aber ich will sagen, dass grundsätzlich in Europa – und ich beziehe mich hier nicht auf spezielle Sender – der israelisch-arabische Konflikt einseitig dargestellt wird. Extrem einseitig.“ (WamS 10.08.03, „Was haben Sie vor, Herr Saban? Milliardär Haim Saban spricht über seinen Einstieg ins deutsche Fernsehgeschäft (...)“ Interview Christian Bauschke, T. Heuzeroth, U. Porwollik)

„Deutschland muss eine Politik machen, die im Zweifelsfalle für die Belange Israels eintritt.“ (Angela Merkel, WELT 11.12.03, S. 9, Forum, „Dokumentation: Deutschlands geschichtliche und gegenwärtige Verantwortung. Rede von Angela Merkel auf dem 5. Europäisch-Israelischen Dialog“)

„Israel – Das Land steht für Unruhe, Angst, Bedrohung durch Terroranschläge. (...) 'Wir müssen den Israelis zeigen, dass wir hinter ihnen stehen', erklärte die Hamburger DIG-Vorsitzende Waltraut Rubien das Engagement des Vereins, und die Hamburger sollen erfahren, wie es ist mit dem Lachen, dem Leben und dem Lieben im Schatten des Terrors. ‚Wir fragen, wie viel Gewalt eine Gesellschaft ertragen kann.'“ (WELT 14.03.03, „Alltag am Rande des Terrors. Deutsch-Israelische Woche“, gs)

„Solch schonungslose Analyse der israelischen Siedlungspolitik verdient Respekt, aber sie blendet den historischen Kontext der Staatsgründung Israels aus, nämlich die unmittelbar vorausgegangene Ermordung und Verfolgung des europäischen Judentums.“ (www.aufbauonline.com/2003/issue13/5.html, 10.07.03, „Architektur als strategische Waffe. Die Ausstellung 'Territories' in den Berliner Kunst-Werken“, Stefanie Oswalt)

Doch wird von anderer Seite betont, dass auch der Antisemitismusvorwurf missbraucht werden kann und zu einem erheblichen Maße wird:

„Der den Antisemitismus befördernde und keineswegs hemmende philosemitische Diskurs dient ausschließlich dem Zweck, den Imperialismus, als dessen Funktionsträger in Nahost sich der Zionismus vom Beginn seiner Existenz an empfohlen hat und dieser Aufgabe stets mit Bravour nachgekommen ist, zu rehabilitieren.“ (jW 06.12.03, „Herrschaftsideologie Philosemitismus“, Pirker)

„Doch ist er (der Antisemitismus) gelegentlich schwer oder unmöglich zu diagnostizieren, weil manche israelische Regierungen am liebsten jede ausländische Kritik an ihrem Handeln als antisemitisch abtun.“ (ZEIT 06.06.02, S. 24)

„Eine zentrale Frage in der neu aufgeflammten Antisemitismus-Debatte lautet: Wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Kritik am Hardliner-Kurs der Regierung Sharon und antisemitischer Stimmungsmache? Die amerikanische Philosophin Judith Butler, die selber jüdischer Herkunft ist, hat sich vor einigen Monaten in einer vielbeachteten Antwort auf entsprechende Vorwürfe des Harvard-Präsidenten Lawrence Summers entschieden gegen leichtfertige Gleichsetzungen zur Wehr gesetzt. Wenn der Vorwurf des Antisemitismus dafür verwendet werde, die israelische Besetzungspolitik vorbehaltlos zu verteidigen, dann verliere dieser Vorwurf radikal an Glaubwürdigkeit – und zwar auch dort, wo er tatsächlich berechtigt sei, zum Beispiel bei rassistischer Agitation gegen Juden in Europa.“ (NZZ, 27.12.03, „Kritik an Israel und Antisemitismus“, R.M.)

„In Israel (...) herrscht die Meinung vor, daß nicht nur Kritik am Zionismus, nicht nur Kritik an der israelischen Politik, sondern auch Kritik an einzelnen Maßnahmen Israels wie dem Bau des 'Sicherheitswalls' einer im Prinzip 'israelfeindlichen' und damit antisemitischen Haltung entspricht. Das ist eine verheerende, die jüdische Existenz bedrohende Position. (...) Daß die Scharon-Politik den Antisemitismus befördert, hat nicht nur ein Möllemann behauptet. Das hat unlängst auch der Börsenspekulant und Großfinanzier der internationalen Zivilgesellschaft, George Soros, des Antisemitismus sicher unverdächtig, so gesagt.“ (jW 17.11.03, „Sündenböcke. Israel macht Europäer mitverantwortlich“, Pirker)

Über eine Veranstaltung in Berlin mit Konkret-Herausgeber Hermann L.Gremliza und dem Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte der Uni Tel Aviv Moshe Zuckermann berichtet Telepolis am 10.07.03. Man sieht hier deutlich, wie das Argument, dass der palästinensische Widerstand eine Folge der Lebensbedingungen unter der Besatzung ist, zum Antisemitismusvorwurf führen kann, selbst wenn es von Israelis hervorgebracht wird:

„Skeptischer als Zuckermann sieht Gremliza das friedenswillige Potential auf Seiten der Palästinenser. Der bekennende Nichtzionist insistierte darauf, dass der palästinensische Widerstand nicht primär eine Folge von Antisemitismus ist, sondern den unerträglichen Lebensbedingungen unter der palästinensischen [gemeint wohl 'israelischen', A.H.] Besatzung zu erklären ist. Als er dann noch daran erinnerte, dass die Hamas in ihrer Entstehungsphase von den israelischen Behörden gegen die säkulare PLO unterstützt wurde, war bei einigen Hardcore-Antideutschen, die bedingungslose Solidarität mit der israelischen Regierung propagieren, die Geduld zu Ende. Einige rollten ein Transparent mit dem angeblichen Möllemannzitat: 'Man wird doch Israel noch kritisieren können' aus, um die Referenten in die rechte Ecke zu rücken. Ein jüdischer Überlebender des Naziregimes musste mehrere Anläufe machen, um überhaupt Gehör zu finden. So gründlich auch viele Anwesende die Antisemitismustheorien studiert haben mögen, mit der praktischen Umsetzung hapert es denn wohl doch.“ (www.telepolis.de, 10.07.03, „'Zweierlei Israel.' Von der Schwierigkeit einer Verständigung zwischen einem israelischen und einem deutschen Linken“, Peter Nowak)

Wer entscheidet also, wann die Kritik gerechtfertigt ist? Und wer definiert es? Es gibt zahllose Äußerungen dazu, wie die beiden unten, jedoch kommt man damit nicht weit:

„Wenn man jedoch Israel herausgreift und all die anderen beiseite lässt, erweckt man den Eindruck, es gehe nur gegen Israels Politik – und das betrachte ich als antisemitisch. (...) Es ist doch ganz einfach: Wenn ich mein eigenes Kind besonders scharf tadele, heißt das nicht, dass ich es hasse. (...) Wenn jemand allerdings das Kind eines anderen herausgreift und dessen Verhalten immer wieder missbilligt, und wenn er bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Gespräch auf dieses böse Kind bringt, obwohl es sich nicht anders verhält als jedes andere Kind in der Nachbarschaft auch – dann entsteht doch der Eindruck, dass es nicht nur um berechtigte Kritik geht. Die Äußerungen sind also Ausdruck eines ausgesuchten Hasses, der zeigt: Man will dieses Kind einfach nicht akzeptieren.“(Michael Lerner, „Ein historischer Fehler“, taz 28.02.03, S. 12)

Frage: „Wie schaffen Sie es, zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel zu unterscheiden?“ Antwort: „Ich achte darauf, ob die Kritik legitim und begründet ist. Selbst wenn ich anderer Meinung bin. Und da stoßen Sie schon auf die absurdesten Meinungen. Einmal las ich in Frankreich im Nouvel Observateur folgende haarsträubende Geschichte: Die israelische Armee habe eine Einheit, die darauf spezialisiert sei, palästinensische Frauen zu schwängern – mit dem Ziel, dass die Frauen und die Kinder von ihrer eigenen Familie umgebracht werden müssten. So was berichtet eine seriöse Tageszeitung. In diesem Fall könnte ich tatsächlich sagen: Das ist Antisemitismus. Ich könnte aber auch sagen: Hier sind Ex-Kolonialisten voller Schuldgefühle am Werk, die sich noch immer am liebsten selbst bemitleiden. Es kommt auf den Kontext an.“ (FR 25.10.03, „'Sie sagen, ich bin ein antisemitischer Jude.' Der israelische Schriftsteller Etgar Keret über Besserwisser im Nahost-Konflikt, Neonazis in Budapest und sein Leben mit dem Terror“)

Die Ambivalenz der Äußerungen in der Presse zu dem Thema, inwieweit Kritik an Israel geübt werden kann und darf, liegt weitgehend in der Relation zwischen Israel und (den) Juden. Zunächst einmal sind Juden nicht gleich Israelis: „Seltsam, dass jüdische Einwanderer in Deutschland wegen der Politik eines Landes behelligt werden, in dem sie nicht leben – Israel nämlich.“ (Werner Bergmann-Interview von Jan Feddersen zur Antisemitismus-Studie der EU, taz 02.12.03, S. 4). Andererseits ist Israel nach Eigendefinition „der Judenstaat“, und auch Institutionen wie der Zentralrat „der“ Juden in Deutschland stehen in einem solidarischen Verhältnis zum offiziellen Israel. Dass die Repräsentation des Judentums in Deutschland ein Problem darstellt, zeigt diese Meldung: „Noch zu Beginn des Jahres schienen die Fronten verhärtet. Der Staatsvertrag wurde im Vier-Augen-Gespräch zwischen Spiegel und Bundeskanzler Schröder vereinbart, die liberalen Juden waren nicht eingebunden. Rabbiner Uri Regev, der Direktor der Weltunion, kritisierte in zwei Briefen an den Kanzler die 'Diskriminierung' der liberalen Gemeinden durch den Zentralrat. Die Religionsfreiheit sei gefährdet, wenn nur der Zentralrat an der Förderung teilhabe.“ (SZ 18.08.03, „Schwerer Nektar. Das deutsche Judentum steht vor einem Epochenwechsel“, Alexander Kissler). Siehe zum Problem der Markierung Punkt 2.5.

Es besteht ein Konflikt über das Antisemitismus-Szenario, der in der deutschen Presse aus Sicht des Israel-Szenarios bewertet wird, wie hier von Werner Bergmann, der von einer „antisemitisch verzerrten medialen Berichterstattung“ ausgeht, sicher kein Einzelfall:

„Speziell ist der Fall, wenn Israel ins Spiel kommt. Der Antisemitismusvorwurf wird – etwa wenn er vom israelischen Außenminister an die EU gerichtet wird – eher als Instrument zur Abwehr von Kritik wahrgenommen. Die Vorwürfe von Seiten jüdischer Organisationen etwa gegen eine antisemitisch verzerrte mediale Berichterstattung dringen kaum durch, da diese als Interessenpolitik (ab-)gewertet werden. Wer hier mit dem Vorwurf des Antisemitismus dennoch versucht, hier die allgemeine Norm des Anti-Antisemitismus zur Geltung zu bringen, riskiert Widerspruch.“ (taz 12.09.03, S. 12, taz-Debatte ,„Vom Nutzen des Skandals. Der Antisemitismus-Vorwurf prägt, von Walser über Möllemann bis Honderich, die Debatten. Dient das der Aufklärung? Oder regiert hier die Logik des Skandals? (3)“, Werner Bergmann)

Auf der analytischen Ebene kommt der Mainstream-Diskurs aufgrund der unterschiedlichen Einschätzungen des Antisemitismus-Szenarios derzeit kaum weiter als zu vagen Aussagen wie: „Kritik am Zionismus kann legitim sein, und unter bestimmten Umständen ist sie auch nicht antisemitisch“ (Michael Lerner, „Ein historischer Fehler“, taz 28.02.03, S. 12). Oder: „Was aber noch aussteht, ist wohl eine grundsätzlichere Debatte – etwa um die Frage, wo die Grenze zwischen Antizionismus und Antisemitismus verläuft.“ (taz 09.08.03, S. 15, „Eingerichtet im Schützengraben. Der Philosoph Ted Honderich anwortet auf Micha Brumliks Antisemitismus-Vorwurf – und fordert dessen Entlassung“, Stefan Reinecke). Oder auch: „Die Grundfrage, welche Art von Kritik (an Israel) gerechtfertigt sei, ohne Gefahr zu laufen, Antisemit genannt zu werden, bleibt unbeantwortet.“ (jW 16.12.2003, Thema, „Scharons Hexenküche. Eine verwerfliche Studie über Antisemitismus in Europa“, Thomas Immanuel Steinberg).

2.3 Definition und Relevanz des Antisemitismus

1879 entstand der Begriff „Antisemitismus“ in Deutschland und nur wenige Jahre später wurde als Folge der Begriff Zionismus verwendet, wie Uri Avnery („On Anti-Semitism“, 23.11.03) schrieb. Der Zionismus war ursprünglich eine Gegenwehr zum Judenhass, der in Europa grassierte und der zur Gründung des Staates Israels führte. Über den historischen Antisemitismus besteht kein Zweifel. Tausende von Publikationen haben gezeigt, welche Stereotype und Vorstellungen es über Juden bzw. die Juden gegeben hat und wie dies zum Vernichtungswahn geführt hat. Es bleibt die Frage: „Warum ist es trotz Historikerstreit, Goldhagen-Debatte und immer wieder auftretenden Skandalen um die Thematik des Antisemitismus immer noch nicht möglich, differenziert darüber zu reden und vor allem, genau zu definieren, was denn Antisemitismus ist und was nicht?“ (Sabine Schiffer, Freitag 27, 27.06.03, „Unter Generalverdacht. Was wir aus dem Fall Friedman über Rassismus lernen.“)

In ihrer jetzt erscheinenden Dissertation „Die Darstellung des Islams in der Presse“1 resümiert sie in dem Exkurs „Der lange kultivierte Antisemitismus und seine Folgen“, dass es ein dualistisches Denken sei, das jedem Rassismus zu Grunde liegt. Es teilt die Welt in Schwarz und Weiß (S. 207 f). Durch retrospektives, also rückwirkendes Hinterfragen der historischen Situation wissen wir heute, dass die Vorstellung einer Bedrohung durch die bzw. „die“ Juden fiktiv und kognitiv als Feindbild verinnerlicht war. (S. 204) Im Referat über die Geschichte des Feindbilds Jude beschreibt sie den Übergang von frühen Stereotypen zum verwissenschaftlichten Antisemitismus in den Schriften „Entdecktes Judentum“ von Eisenmenger anfang des 18ten Jahrhunderts und Fries' „Über die Gefährdung des Wohlstands und des Charakters der Deutschen“ von 1816. Aus Vorurteilen wurden Schein-Erkenntnisse gemacht, Schiffer zitiert hier Hortzitz' Begriff der „Evidenzsuggestion“ (S. 211 f). Präzise analysiert sie die Mechanismen des öffentlichen Antisemitismus bis zum Ende der Nazizeit, auch anhand von Propagandafilmen wie „Jud süß“ und besonders „Der ewige Jude“ (S. 217 ff). Dass es die Juden den Nichtjuden nicht recht machen konnten, lautet ein Resümee, da ihnen entweder Integtrationsverweigerung oder Parasitentum vorgeworfen werden konnte, je nach dem, ob sie ihre eigene Kultur bewahrten oder nicht. Allerdings gab es immer auch Selbstmarkierungen von jüdischer Seite (S. 214). Der Exkurs endet mit einem Vergleich zwischen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, in dem sie zusammenfassend zeigt, dass es viele Parallelen gibt, wie etwa die ständige sprachliche Markierung der Muslime als Out-Group, Haftbarmachung von Religion für politische Ereignisse, Integrationsforderung, Verstellungsvorwurf, z.B. Schläfer, Heraufbeschwören von Gefahr, Kleintiermetaphorik und insgesamt „eine diffuse Ablehnung ohne Sachkenntnis“ (S. 220 ff). Ihr Schluss-Hinweis sollte gehört werden: „Die Gewalt beginnt bereits mit dem Stereotyp – nicht erst mit der physischen Aktion. Diese Mechanismen der 'Entmenschlichung' a priori zu durchschauen und den (fast) selbststeuernden Prozess zu durchbrechen, bevor historische Ungeheuerlichkeiten uns wieder den sicheren Blick der Retrospektive aufdrängen, wird die Aufgabe dieses Jahrhunderts für die Menschen sein, die aufgrund ihres Zugangs zur Macht den größeren Teil der Verantwortung für die Gestaltung der Welt tragen.“ (S. 223)

Sabine Schiffer betont also die Mechanismen des Rassismus allgemein und zeigt, dass der historische Antisemitismus ein Beispiel dafür ist. Das ist die eine Seite. Es stellt sich andererseits die Frage nach der aktuellen Virulenz des Problems des Rassismus gegen Juden. Die Warnung vor der Gefahr des Antisemitismus ist in deutschen und westlichen Öffentlichkeiten ein häufiges Thema. Es gebe 15 bis 20 Prozent Antisemiten in Deutschland, sagt Salomon Korn vom Zentralrat (taz 23.09.03, S. 7) und fordert mehr Aktivitäten gegen Antisemitismus. Ähnliche Zahlen findet man in unterschiedlichen Quellen. „Überall lauert der Antisemitismus“ meldet die American Jewish Community (ZEIT, 30.05.02, Schlagzeile, S. 8). Vom Anstieg der Bedrohung zeugt auch dieses Zitat: „'Feindselige Einstellungen' gegen Israel und Juden haben sich an Universitäten und in den Medien vermehrt. Das geht aus dem Antisemitismus-Report 2002 hervor, den das ‚Koordinierungsforum zum Kampf gegen Antisemitismus' der israelischen Regierung am Sonntag veröffentlicht hat. (...) Der weltweite Terror von Al Qaeda bedroht laut Bericht vor allem Juden. (...) Die meisten gewalttätigen Attacken auf Juden seien von ‚islamischen Elementen' ausgeführt worden. Es gebe einen direkten Zusammenhang zwischen Vorgängen im israelisch-palästinensischen Konflikt und antijüdischen Attacken.“ (FR 17.03.03, „Antisemitismus-Report. ‚Hass-Atmosphäre' gegen Israel und Juden vermerkt“, kna). Auch: „Verstimmung zwischen EU und Israel. Israel kritisiert wachsenden Antisemitismus. EU verlangt bessere Zusammenarbeit“ von dpa , „Der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon will während eines dreitägigen Besuches in Rom die Lage in Nahost sowie die Gefahr des Antisemitismus mit Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi erörtern.“ (taz 18.11.03, S. 2). Auch hier:

„New Yorks Exbürgermeister leitete die US-Delegation bei der Konferenz über Antisemitismus, die am 19. und 20. Juni im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Wien stattfand. Die OSZE bot das Forum für die erste internationale Konferenz, die sich nur dem Antisemitismus und dessen neuen Erscheinungsformen widmete.“ „So erzählte die Grüne Claudia Roth, Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung und Chefin der deutschen Delegation, nach Jürgen W. Möllemanns antisemitischer Kampagne hätten viele Menschen Angst gehabt, in die Synagoge zu gehen.“ „Der ehemalige polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszweski plädierte für konsequente Erziehung gegen den Antisemitismus.“ (taz 23.06.03, S. 11, „Täglich bis zu zwölf tätliche Angriffe auf Juden. Unter Schirmherrschaft der OSZE diskutieren in Wien 400 Delegierte erstmals zwei Tage über Antisemitismus“, Ralf Leonhard)

„Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) und die frühere französische Präsidentin des Europäischen Parlaments, Simone Veil, haben Europa zum Kampf gegen Antisemitismus aufgerufen. (...)“ „Ganz Europa müsse gegen Antisemitismus kämpfen, sagte Veil, 'welche Form auch immer er annimmt, welchen Vorwandes er sich auch immer bedient'. Auch die Situation im Nahen Osten dürfe in keinem Fall als Entschuldigung für antisemitische Übergriffe gelten.“ (SZ 28.01.04, S. 6, „Thierse ruft zum Kampf gegen Antisemitismus auf“, Bernd Dörries)

Auffällig ist, dass die Situation im Nahen Osten sehr häufig in Verbindung mit dem Antisemitismusvorwurf erscheint, dass „Vorwände“ vermutet werden und dass das Szenario des historischen Antisemitismus, das in der Shoa endete, routinemäßig als Ursprungs-, Vergleichs- und Assoziationsmoment auch für aktuelle Situationen verwendet wird. Die Frage nach der Virulenz des Antisemitismus ist eine der Kernfragen in der Debatte. Sie kann zwar in dieser Studie nicht beantwortet werden, doch ist es hier möglich, einige aussagekräftige und ein Spektrum auslotende Zitate aus der Presse vorzustellen und nach den Werten und Szenarien zu fragen, die ihnen zu Grunde liegen. Eine ganz andere Ansicht über die Virulenz des Antisemitismus vertritt zum Beispiel der Jazz-Saxofonist und Schriftsteller Gilad Atzmon, der 1982 am Libanonkrieg teilgenommen hatte, worauf er zum überzeugten Antizionisten wurde:

„Im Licht einer wachsenden Diskussion, die von israelischen Politikern und zionistischen Schwärmern initiiert wurde, und die den Ausbruch eines neuen Antisemitismus zum Thema hat, bin ich hier, um – so laut ich kann – zu verkündigen: es gibt keinen Antisemitismus mehr. Im Zusammenhang mit der verheerenden Realität, die durch den jüdischen Staat geschaffen wird, ist Antisemitismus durch eine politische Reaktion ersetzt worden. Ich sage nicht, dass jüdische Interessen/ Institutionen nicht verletzt und nicht mutwillig zerstört werden. Ich sage nicht, dass Synagogen nicht angegriffen und jüdische Gräber nicht zertrümmert werden. Ich sage, dass diese Handlungen, die keineswegs legitim sind, eher als politische Antwort gesehen werden sollen denn als rassistisch motivierte Akte oder Verbrechen aus irrationalem Hass. Wenn Israel der Staat des jüdischen Volkes ist, und das jüdische Volk nicht insgesamt gegen die Verbrechen aufsteht, die in seinem Namen begangen werden, dann wird jede jüdische Person, jedes jüdische Symbol ein Objekt israelischer Interessen und wird so ein potentielles terroristisches Ziel. Es liegt nun am jüdischen Volk, sich gegen ihren jüdischen Staat zu erheben und sich selbst von seiner radikalen Nationalbewegung zu trennen.“ („Über Antisemitismus“, 31.12.03, www.gilad.co.uk, üb. Ellen Rohlfs und Günter Schenk)

Auch Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels und Gründungsdirektor des Instituts für Europäische Studien in Herzlia, ist skeptisch und vermutet keinen neuen Antisemitismus (www.netzeitung.de, 08.11.03). In den Yahoo! Nachrichten am 29.10.03 war ein Zitat von Primor im Kontext mit seinem Buch „Terror als Vorwand“: „Es gibt auch Politiker, die Terror als Vorwand für eine Politik nutzen, die mit Terror überhaupt nichts zu tun hat.“ In der Welt am 04.12.03 dann sein Artikel: „Wie antisemitisch ist Europa? Natürlich gibt es Judenhass. Doch nicht jede Kritik an Israel ist gleich antisemitisch.“ Darin:

„Ist Europa antisemitisch? Natürlich gibt es in Europa Antisemiten. Es gibt Leute, die immer noch nach dem Muster mittelalterlicher religiöser Stereotypen Juden hassen. Es gibt Leute, die aus rassistischen Gründen Juden hassen. Es gibt immer noch Nazis. Es gibt Leute, die 'nur' Vorbehalte gegen Juden haben oder mit Juden nicht verkehren wollen. Doch vermehren und verstärken sich diese Tendenzen seit dem Zweiten Weltkrieg? Das bestimmt nicht, im Gegenteil. Diese Tendenzen schrumpfen, auch wenn das sehr langsam geschieht. Abgesehen davon, dass der Antisemitismus tagtäglich auf das Strengste und mit allen verfügbaren Mitteln bekämpft werden muss, geht es letzten Endes um eine Entwicklung, die man nicht willkürlich beflügeln, sondern nur durch geduldige erzieherische Maßnahmen umsetzen kann. Die Tendenz ist aber eindeutig rückläufig.“ „Der Schluss daraus kann nur lauten: Juden wie Israelis (möglichst alle anderen auch) sollen den Antisemitismus bekämpfen. Unabhängig davon sollen die Israelis die Kritik an ihrer Politik ernst nehmen und versuchen, sie so weit wie möglich zu widerlegen. Wer aber 'Antisemitismus' schreit, wo es diesen nicht gibt, gerät in die gleiche Gefahr wie ein Kind, das dauernd 'Feuer' brüllt, obwohl es nicht brennt.“

Ist das allerdings der Schluss, den man ziehen muss? Die Bekämpfung „aufs Strengste“ und „mit allen verfügbaren Mitteln“, unabhängig von der Kritik an Israel? Es bleibt doch die Frage, was Antisemitismus eigentlich auszeichnet. Nach einer Israelreise auf Einladung der Meretz-Partei vom 09.-14.12.03 sagte zum Beispiel der PDS-Politiker Gregor Gysi, dass der Begriff „Antisemitismus“ in Europa auch mit der Assoziation „Solidarität mit dem Schwächeren“ in Verbindung steht:

Frage ND: Wie schätzt das (israelische) Außenministerium die Haltung der EU ein? Antwort: „Sie meinen, dass es in der Europäischen Union insgesamt einen erstarkenden Antisemitismus gebe, was die Beziehungen zu Israel beeinträchtige. Sie würdigten allerdings die Politik von Außenminister Joseph Fischer, ebenso wie dies die Palästinenser taten. Er hat dort einen hohen Stellenwert. Aber insgesamt waren sie gegenüber der EU sehr kritisch. Ich habe darauf hingewiesen, dass es auch meiner Meinung nach in Europa einen Antisemitismus gibt. Andererseits glaube ich, dass das, was in Israel als Antisemitismus wahrgenommen wird, zum Teil nicht Antisemitismus, sondern auch eine der europäischen Kultur entsprechende Tradition der Solidarität mit dem Schwächeren ist. Und die Schwächeren sind in diesem Nahost-Konflikt ganz eindeutig die Palästinenser und nicht Israel.“ (ND 18.12.03, „Mauerbau in Nahost?“ Gregor-Gysi-Interview, Martin Ling)

Vergleiche damit: „In der Tat gibt es das Phänomen der reversed discrimination, der Benachteiligung des eben noch Privilegierten, des reflexhaften Weiterkämpfens gegen Gefahren, die längst gebannt sind, und gegen Feinde, die mittlerweile schon am Boden liegen.“ (ZEIT 30.05.02, S. 33). Auch ein Mitglied der Meretz-Fraktion in der Knesset, Roman Bronfman, äußerte sich kürzlich skeptisch zu den gehäuften Antisemitismusvorwürfen in der israelischen Zeitung Ha'aretz, die in den Jahren 2002 und 2003 nicht selten kritische Artikel dieser Art veröffentlichte, auch von Gideon Levy und anderen.

„Anti-Semitism has always been the Jews' trump card because it is easy to quote some crazy figure from history and seek cover. This time, too, the anti-Semitism card has been pulled from the sleeve of explanations by the Israeli government and its most faithful spokespeople have been sent to wave it. But the time has come for the Israeli public to wake up from the fairy tale being told by its elected government. The rhetoric of the perpetual victim is not a sufficient answer for the question of the timing. Why all of a sudden have all the anti-Semites, or haters of Israel, raised their heads and begun chanting hate slogans? Enough of our whining, 'The whole world is against us.' (...) The time has come to look at the facts and admit the simple but bitter truth – Israel has lost its legitimacy in the eyes of the world and we are guilty for what has happened. This generalization is a bit harsh for me, so I will be more precise – not all of us, but our government. Even though I am absolutely certain that each one of its ministers really wants what is best for the country, the government is mistaken and is bringing calamity upon us. (...) True, the roots of anti-Semitism are planted very deeply in the culture and history of Christian Europe. It is also reasonable to assume that even the ideas of the liberals, who wanted to sever ties with traditional nationalism, will be unable to pull out these roots. But if anti-Semitism was until now found exclusively in the extreme political fringes, Israel's continued policy of the cruel occupation will only encourage and fan the spread of anti-Semitic sentiments. From this, I conclude that if Israel wants to be embraced by the family of nations as a full member, it must learn how to behave according to the accepted rules around the world – rules of ethics, fairness and justice.“ (Ha'aretz 19.11.03, „Fanning the flames of hatred“, Roman Bronfman)

Es ist sichtbar: Zu einer wirklichen Definition von „Antisemitismus“ kann man kaum gelangen, weil es eher darauf ankommt, wer den Vorwurf ausspricht, als darauf, was er inhaltlich aussagt. Auch die Frage, ab wann Israelkritik Antisemitismus ist, muss also offen bleiben. Das sollte zumindest stutzig machen, denn es sind einige Fälle bekannt, in denen der Antisemitismusvorwurf zu weitreichenden Konsequenzen geführt hat. Außerdem wird sich ständig gegen Antisemitismus distanziert. Die Parteien des Deutschen Bundestages etwa haben am 11.12.03 in einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen beschlossen, jede Form von Antisemitismus zu verurteilen (Siehe deutsche Presse 12.12.03, durchgängig). Das ist schon enorm, denn „jede Form von“ ist eine für Politiker und Juristen problematische Wendung, speziell in diesem Zusammenhang. Dr. Wolfram Ender aus Eschershausen schreibt in einem Leserbrief mit der Überschrift „Oberflächlich“:

„Ob mit oder ohne Bundestagsresolution: Es ist eine banale Selbstverständlichkeit, daß Demokraten Antisemitismus verurteilen. Aber haben eigentlich alle Abgeordneten dasselbe verurteilt, das heißt unter dem, was sie verurteilten, dasselbe verstanden? Bevor man etwas verurteilt, sollte man sich auf klare Begriffe einigen. Von einer klaren Antisemitismusdefinition war in der Debatte leider nichts zu hören.“ (FAZ, 05.01.04, S. 29).

Dabei ist „Antisemitismus“ nicht der einzige schwammige Sachverhalt, gegen den sich vehement distanziert wird. Auch „Rechtspopulismus“ gehört dazu. Es sei an Sabine Leutheusser-Schnarrenberger erinnert, die im Verlauf des Falls Möllemann sagte, der Vorstand der FDP werde „sehr klare Positionen“ bestimmen, damit es „keine Zweifel“ mehr in der Zukunft gebe. Es würden „klare Trennlinien zu allem, was sich auch nur Rechtspopulismus nennen kann“ gezogen. (SZ 31.05.02). Da sich niemand selbst so nennen würde, kommt man im Resultat auf: „Alles, was beliebige andere auch nur Rechtspopulismus nennen können.“ Und das ist sehr viel. Eine Distanzierung ist das nicht. Hier geschieht etwas anderes: Es entstehen neue Gruppen durch solche Leute, die einem Bekenntnis-Ritual folgen. Bei unklaren Begriffen wie diesen, die zudem noch als Kampfbegriffe verwendet werden können, ist ein Hinterfragen angebracht.

Viele Gruppen legen solche Bekenntnisse ab, hier als Beispiel der DKR (www.deutscher-koordinierungsrat.de): „Die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wenden sich 'entschieden' gegen 'alle Formen der Judenfeindschaft, religiösen Antijudaismus, rassistischen und politischen Antisemitismus sowie Antizionismus, Rechtsextremismus und seine Menschenverachtung, Diskriminierung von einzelnen und Gruppen aus religiösen, weltanschaulichen, politischen, sozialen und ethnischen Gründen, Intoleranz und Fanatismus.'“ (www.deutscher-koordinierungsrat.de/de/displayItem.php?id=177, gesehen 11.06.03).

Was bedeutet das für den Diskurs? Was soll man mit Sätzen tun wie: „Bei Adorno unterliege 'nicht allein jede generelle Aussage über die Juden' dem Verdacht der 'antisemitischen Stereotype', sondern auch alle 'differenzierenden Aussagen', insofern sie vermeintlich jüdische Charakteristika absonderten.“ (SZ 23.09.03, „Typisch Adorno. Kann man nach Auschwitz noch über die Juden reden?“ Volker Breidecker). Es scheint hier ein kritikfreier Raum zu entstehen, mit dem man Antisemitismusvorwürfe jeder Art rechtfertigen kann, auch solche, die z.B. propagandistisch sind, und auch solche, die Projektionen sind oder solche, die aus Überempfindlichkeiten entstehen – die man in unserer Gesellschaft allenorts findet – und die in keinem Verhältnis zur Schwere des Vorwurfs stehen. Die Einschränkung des Diskurses wird von manchen Autoren als Indiz dafür gesehen, dass notwendige Diskussionen – etwa über Terrorismus oder deutsche Geschichte – nicht angemessen geführt werden, wie hier in zwei Beispielen zu den Fällen Honderich und Möllemann:

„Jetzt, nachdem es post festum aus dem Raum des Öffentlichen verbannt wurde, hinterlässt es in der Debatte einen blinden Fleck. Nun kann nicht mehr überprüft werden, um was es wirklich geht. Das ist umso gravierender, als noch nirgends in dieser aufgewühlten Debatte geleistet wurde, die von Honderich vertretene Moraltheorie angemessen zu referieren.“ (Freitag 34, 15.08.03, „Blind. Linksbündig. Ted Honderich und die Verlagspolitik“, Ulrich Müller-Schöll)

„In der Folge der Anschuldigungen und Gegenanschuldigungen, woraus nur Teile in den Medien zitiert wurden und oft in falscher Reihenfolge, hat sich Möllemann dann tatsächlich verrannt. Deutlich wurde aber auch die Massivität dieses Vorwurfs, der ungeprüft geäußert werden kann und innerhalb von kürzester Zeit fleißigen Berichtens bereits zur Wahrheit mutiert. Anstatt sich der Frage zu stellen, ob die Äußerung antisemitisch war, entsteht eine Kampagne, die mehr davon zeugt, wie wund und unverstanden dieser Punkt unserer Geschichte immer noch ist als davon, dass jemand sich politisch inkorrekt verhielt. Das Gleiche wiederholte sich dann beim unglücklichen Flugblatt, das genauso wenig antisemitisch – ja nicht einmal antiisraelisch war – sondern lediglich den berechtigten Anstoß zur Prüfung von Finanzierungsundurchsichtigkeiten gab. In dem Blatt ist keine Rede davon, Israel seine Souveränität abzusprechen und ist damit nicht antiisraelisch. Antisemitisch ist es darum nicht, weil nicht die Juden kritisiert werden, sondern der Politiker Scharon und dessen undifferenzierter Verteidiger Michel Friedmann.“ (Sabine Schiffer, 13.06.03, „Möllemann: Opfer eines deutschen Tabus“, siehe http://mitglied.lycos.de/palestine48/phpBB/viewtopic.php?p= 1068&highlight=&sid=10f24fbf3ac14a55bdfc2e7ed8fd78fc#1068)2

Fußnoten:
1: S. o., Teil 2.1 Anm. 4 (zurück)
2: Eine gute und ausführliche Darstellung von Alexander Boulerian: "Der Fall Jürgen W. Möllemann", www.nachrichten-analysen.de, gesehen 23.06.03. (zurück)
2.4 Der „Neue Antisemitismus“
2.4.1 Topoi des „Neuer Antisemitismus“-Szenarios

Unter Begriffen wie „neuer, latenter, beiläufiger, struktureller, larvierter, sekundärer, chiffrierter etc.“1 Antisemitismus – siehe auch das Szenario in der Einleitung dieser Studie – gibt es die unterschiedlichsten Vorstellungen. Hier einige Definitionen und Beschreibungen aus der Presse:

„An die Stelle des programmatischen ist (...) ein beiläufiger Antisemitismus getreten, der mit Verdacht und Ressentiments arbeitet und sich bisweilen auch als politisches Engagement zu tarnen weiß. (...) Der Fall Honderich ist aber auch ein Lehrstück öffentlicher Debattenkultur, das sich einreiht in die jüngsten Auseinandersetzungen um Äußerungen, Zeitungsartikel und Bücher, die sich zuletzt mit Namen wie Finkelstein, Möllemann, Karsli und Walser verbanden, wie unterschiedlich die jeweilige Sachlage auch immer sein mochte. (...) Die in immer wieder neuer Form auftretenden Irritationen zeigen jedoch, dass die bundesrepublikanische Gesellschaft mit seiner antisemitischen Vorgeschichte längst noch nicht fertig ist.“ (FR 08.08.03, „Der beiläufige Antisemitismus“, Harry Nutt)

„Darf also nur wer aus dem Rassismus der Nazis heraus Juden hasst, schmähen, schädigen und umbringen will, als 'Antisemit' bezeichnet werden?“ (taz /hagalil.com 16.09.03, S. 12, „Antisemitismusvorwurf: ... die Augen fest geschlossen. Dient der Antisemitismusvorwurf der Aufklärung?“, Brumlik)

„Kaum einer will noch Antisemit sein. Das heutige Ressentiment spricht selten von der Rasse oder von einem biologischen Wesen des Juden. Der neue Antisemitismus ist schwer zu fassen, weil dem offenen Judenhass seit Auschwitz der Leichengeruch von Millionen anhaftet. So gibt sich, wer gegen Juden redet, kritisch, verwendet politische Begriffe, wenn auch im ethnischen Sinn, und obgleich Vorwürfe gegen Israel nicht antisemitisch motiviert sein müssen, sind sie es nicht selten. (...) Seit Stalins Ärzteprozessen ist die Chiffre Zionisten längst zu einem Schlagwort und zu einem Code verkommen, mit dem gegen alle Juden gehetzt werden kann.“ (FR 26.08.03, „Importware Judenhass. Antisemitismus und Antizionismus: Eine Begriffsklärung“, Doron Rabinovici)

Wiederkehrendes Motiv bei den neuen Formen des Antisemitismus ist, dass er versteckt ist und sich verleugnet. Siehe auch: „Es ist ein merkwürdiges Phänomen: Der Antisemitismus ist allgegenwärtig, aber es gibt kaum Antisemiten.“ (taz 26.09.03, S. 12, Schapira). Ein typischer Topos auch für Feindbilder, denn es wird ein Verdacht aufgebaut, der durch Argumente oder irgendwie anders nicht wieder abgebaut werden kann. Ähnlich verhält es sich mit der Schläfer-Theorie. Der Feind wird erklärt als nicht erkennbar und starr. „Das Böse“ ist allgegenwärtig:

„Da das Böse bekanntlich 'immer und überall' ist, kann für den Antisemitismus nichts anderes gelten: Selbst da, wo er sich unkenntlich macht, wird irgendeiner ihm die menschenfreundliche Maske von der Fratze reißen. Nur mitunter zieht man eben dann auch an solchen Bärten, die nicht angeklebt sind und überdies an jenen, die einigen Moraldiskursen inzwischen gewachsen sind. Jene Zeiten, in denen Houston Stewart Chamberlain die 'Grundlagen des 19. Jahrhunderts' schrieb und keinen Zweifel daran ließ, was manifester Antisemitismus ist, sind dahin. Das muss kein Grund sein, den larvierten Antisemitismus zu ignorieren. Immerhin wird aber bei solchen 'Klassikern' der Menschenverachtung wie Chamberlains Tiraden deutlich, was Antisemitismus eigentlich ist: Das Judentum wird zu einem überhistorischen Erklärungsprinzip gemacht, das für die Übel und Widrigkeiten der Welt verantwortlich ist, um darin die unbedingte Legitimation seiner Bekämpfung respektive Vernichtung zu finden.“ (Telepolis, 08.08.03, „Antisemitischer Antizionismus im Sommerloch. Ted Honderich rechtfertigt palästinensische Selbstmordattentäter“, Goedart Palm)

Das Genaueste, was man über den „Neuen Antisemitismus“ sagen kann, ist, dass es nicht der Antisemitismus der Nazizeit ist, denn sonst würde er nicht „neu“ genannt. Ebenso kann man festhalten, dass diejenigen, die den Vorwurf aussprechen, bei weitem deutlicher zu erfassen sind als die, gegen die sich der Vorwurf richtet. Auffallend ist auch, dass häufig mit unklaren Argumentationen gearbeitet wird, die den Verdacht der Spiegelkritik auf sich ziehen. Wenn also gesagt wird, dass man den neuen Antisemitismus nicht richtig erkennen kann, dass er mit Verdacht arbeite und sich zu tarnen wisse, dann kann das bisweilen auf den Vorwurf selbst zutreffen. Bei überzeichneten Generalisierungen liegt das nahe, wie hier: „Sie relativieren bestehenden Antisemitismus. Neoantisemiten geben niemals offen zu, dass sie Antisemiten sind. Sie sehen sich als Vertreter der Wahrheit. Sie haben gelernt innerhalb der modernen Medienwelt antisemitische Positionen zu verstecken.“ (alternativ.net, 31.10.03, „Gedanken zur Zeit: Neoantisemiten“, Thilo Pfennig).

Die Unschärfe und Vagheit der Beschreibungen in diesem Szenario ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es so viele Institutionen, Seminare und Arbeitsgruppen gibt, die nach dem Antisemitismus forschen. Da ist zum Beispiel das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, wo Micha Brumlik und Wolfgang Benz forschen und werten: „Der Berliner Antisemitismusforscher Wolfgang Benz hält die ‚verschwörungstheoretischen Rundumschläge' Möllemanns für ‚völlig unbeweisbar'. ‚Diese Behauptungen sind ebenso infam wie töricht', sagte Benz dem Tagesspiegel. Möllemanns antisemitische Tendenzen, erkennbar bereits in seinem Wahlkampf-Flugblatt, würden erneut offenkundig, so Benz.“ (Tsp 12.03.03, „Möllemann: Israel erpresst Westerwelle. Was der NRW-Politiker in seinem Buch ‚Klartext' behauptet, erzürnt nicht nur den FDP-Chef“, S. Feuss und R. von Rimscha). Im Sinne der Spiegelkritik kann man darauf hinweisen, dass auch die Theorie vom „Neuen Antisemitismus“ – und analog für Antiamerikanismus – eine Verschwörungstheorie darstellt, die ebenfalls kaum beweisbar ist, siehe auch: „Verschwörungstheorien, Projektion auf einen Sündenbock, Furcht vor Säkularisierung und Geldkultur: in diesen Aspekten ähnelt der Antiamerikanismus den Mechanismen des Antisemitismus – unabhängig davon, dass dieser Vorwurf in Amerika auf den Konferenzen aller politischen Lager inflationär erhoben wird.“ (SZ 29.07.03, „Wo der Feind steht. Die USA quält die Sorge um den Antiamerikanismus“, Andrian Kreye). Im Kontext mit einer EU-Konferenz über Antisemitismus hieß es in der taz:

„Der jüdische Weltkongress (WJC), der Europäische Jüdische Kongress (EJC) und die EU-Kommission haben ihren Streit um Antisemitismusvorwürfe beigelegt. Der Sondergesandte Israel Singer sprach EU-Kommissionspräsident Romano Prodi am Donnerstag in Brüssel im Namen der beiden einflussreichen jüdischen Organisationen das 'volle Vertrauen' aus.“ (taz 09.01.04, S. 10. Siehe auch SZ 04.11.03, „Europäische Union. Empörung über Umfrage-Ergebnis zu Israel“ und FAZ 06.01.04, S. 2, „Prodi weist Antisemitismus-Vorwürfe scharf zurück“, Michael Stabenow)

Angesichts der Quantität und Bedeutung der Antisemitismus-„Forschungs“-Instanzen merkt auch die junge Welt an, dass der Antisemitismus dort nicht nur untersucht, sondern jedenfalls festgestellt wird:

„Im Frühjahr 2002 gab (Das European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia EUMC in Wien, eine EU-Einrichtung,) dem Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin den Auftrag, Antisemitismus in den 15 Ländern der Europäischen Union, untersuchen – oder besser gesagt: feststellen – zu lassen. Werner Bergmann und Juliane Wetzel koordinierten im Berliner Institut die Erhebungen (...)“ (jW 16.12.03, Thema, „Scharons Hexenküche. Eine verwerfliche Studie über Antisemitismus in Europa“, Steinberg)

Dass etwas gesucht wird, was nicht genau bestimmt werden muss, geht aus dem Topos „Kein Antisemitismus, aber!“ hervor. In den folgenden drei Beispielen wird argumentiert, dass auf eine differenzierte Argumentation verzichtet werden kann, dass es beim Antisemitismusvorwurf um ein Mittel zum Zweck gehen kann, in der Sorge um die politische Kultur dieses Landes:

„Antisemitische Spurenelemente im Sommerloch sind an sich höchst verdächtig. Ist doch zu besorgen, dass ein medienträchtig immergrünes Thema selbst mit einem Spektakelchen die Aufmerksamkeit erzielt, die in der übrigen Jahreszeit durch Ereignisse verdrängt werden könnte. (...) Für die antisemitischen Spurensucher ist Honderich der klassische antisemitische Antizionist. Die Diskurswahrer auf der anderen Seite erklären uns wiederum die sattsam bekannten Unterschiede zwischen Antizionismus, Antisemitismus und der Kritik an der israelischen Siedlungspolitik. Wir möchten das eigentlich nicht mehr hören (...)“ (Telepolis, 08.08.03, „Antisemitischer Antizionismus im Sommerloch. Ted Honderich rechtfertigt palästinensische Selbstmordattentäter“, Goedart Palm)

„Micha Brumlik hat zu Recht Erfolg gehabt, wenn auch mit einem etwas unscharfen Antisemitismus-Vorwurf.“ „Der Treibstoff dieser Affäre ist der Antisemitismus-Vorwurf, der in Deutschland verlässlich alle Alarmglocken schrillen lässt. Ist 'Nach dem Terror' antisemitisch? Nein – zumindest nicht im üblichen Sinne. Es gibt in dem Buch keinen Judenhass und keines der klassischen Ressentiments. Allerdings ist es voller Affekte gegen Israel, die in der forschen Rechtfertigung des Terrors gegen israelische Zivilisten kulminieren. Das ist etwas anderes als Antisemitismus – aber intellektuell nicht weniger blamabel.“ (taz 08.08.03, S. 16, „Moralphilosophie am Tresen. Der Suhrkamp Verlag zieht ein Buch des britisch-kanadischen Philosophen Ted Honderich zurück, nachdem Micha Brumlik ihm Antisemitismus vorgeworfen hat. Es geht dabei um den Nahostkonflikt“, Stefan Reinecke)

„Die bundesrepublikanische Debatte über Antisemitismus krankt an ihrem Schwanken zwischen haltlosem Alarmismus und unbegründeter Verharmlosung. Gewiss: Jemanden als ‚Antisemiten' zu bezeichnen, ist nach Auschwitz einer der moralisch schwerwiegendsten Vorwürfe, obwohl doch manche Antisemiten – wie Möllemann und Walser – gar nicht auf Gaskammern und Vertreibung zielen, sondern nur Stimmung machen und Ressentiments bedienen wollen.“ (...) „Wenn denn schon die Empfindungen der jüdischen Minderheit in Deutschland kaum noch zählen, dann vielleicht doch die Sorge um die politische Kultur dieses Landes. Im Antisemitismus bündeln sich wie in einem Prisma Ethnozentrismus, Demokratieverdrossenheit, Autoritarismus und blinder Egoismus. Wer den Antisemitismus verharmlost, verstärkt die Ausprägung auch dieser Einstellungen.“ (FR 17.06.03, „In der Arena. Missverstandene Pietät wäre das falsche Signal: Denn Jürgen W. Möllemanns Antisemitismus war kein bürgerliches Kavaliersdelikt“, Brumlik)

Besonders das letzte Beispiel ist interessant, weil es von „haltlosem Alarmismus“ spricht, der zumindest einen Teil der Problematik ausmacht, sonst würde er nicht genannt. Man findet hin und wieder Hinweise in der Presse dahingehend, dass sich auch die Opfergruppe (hinsichtlich des Antisemitismus, alt wie neu) über gewisse Übersensibilitäten bewusst, vielleicht halbbewusst ist, wie im FR-Interview mit der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev am 25.01.03.2 Zu diesem Thema auch: „Gasmasken gehören in Israel wieder zum Alltag. Kampfjets kontrollieren permanent den Luftraum – auch wenn die Bedrohung ‚minimal' ist.“ (FR 21.03.03, Inge Günther).

Brumlik – wie gesehen ein maßgeblicher Akteur in diesem Diskurs – gibt hier auch zu, dass der Antisemitsmusvorwurf „einer der moralisch schwerwiegendsten Vorwürfe“ ist, die man überhaupt machen kann. Dabei geht es letztlich um „Stimmungsmache“ und das „Bedienen von Ressentiments“, ein weiterer Topos des Diskurses. Auch dieser Topos ist ein potenzieller Spiegel-Topos, er kann auf den Urheber zurückfallen. Immerhin handelt es sich um Mutmaßungen, die nicht unwidersprochen im Raum stehen, sondern zu einem großen Teil Ansichtssache sind.

In seiner Dankesrede zur Verleihung des Heinz-Galinski-Preises am 26. November 2003 sprach Jan Philipp Reemtsma über Antisemitismus, Hohmann, das Holocaust-Mahnmal und Begriffe wie „Tätervolk“ und „Kollektivschuld“. Reemtsma ist Gründer und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Literaturwissenschaftler und Essayist. Über die Herausforderung des Antisemitismus sagt er, sie sei eine „Mischung aus Konstanz und Variation“. Auch bei ihm ist es letztlich ein „kein Antisemitismus, aber“-Artikel. Tauscht man den Begriff „Antisemitismus/Antisemit“ aus durch „Antisemitismusvorwurf/-Suchender“ und tauscht man „Jude“ gegen „Antisemit“, dann ergibt sich eine Spiegelvariante der Aussage:

„Darin besteht die Stärke des Antisemiten: Seine paranoide Nervosität zeigt ihm, wo es einen anderen sticht, dem er dann erklären kann, was das wieder mit den Juden zu tun hat.“ „Das solche Ereignisse begleitende permanente Gefühl des Unbehagens, das man endlich lossein möchte, ist für die antisemitische Leidenschaft eine ideale Gelegenheit, sich zu engagieren.“ „Lang dauernde Verfolgungsgeschichten produzieren ihre eigenen Rechtfertigungen. Aus der Sorge, es könnte sich irgendwann einmal rächen, was man getan hat, entsteht die Furcht vor dem, der auf Rache sinnt – das Shylock-Schema. Am Ende stabilisieren sich lang dauernde Verfolgungsgeschichten selbst, indem sie ihre eigene Legitimation werden: Irgendwas muss an den Juden doch sein, dass wir sie so andauernd verfolgen. Von dort öffnet sich das historische Feld. Jetzt ist jedes Beispiel, dass irgendwo irgendein Jude irgendetwas getan hat oder an etwas beteiligt war, das man nicht schätzt, ein unwiderleglicher Beleg: Da kann man es wieder einmal sehen.“ (taz/Le Monde diplomatique 12.12.03, „Vom Nutzen eines Tabus“, Jan Philipp Reemtsma)

Dahinter steht aber etwas anderes. Reemtsma verwendet zwar das „Neuer Antisemitismus“-Szenario inklusive Feindbildbegriffen wie „paranoid“, aber er erkennt, dass die wichtigen Fragen tabuisiert wurden/werden und spricht sich deutlich für einen tatsächlichen gesellschaftlichen Dialog aus, der zu Lösungen führt statt zu Verdrängungen. Darin unterscheidet er sich merklich vom Gros der Antisemitismus-Suchenden:

„Oft ist die offizielle Abwehr antisemitischer Äußerungen nichts weiter als eine Bekräftigung eines politischen Tabus. Tabus können nützlich sein, wenn man sonst nichts hat, aber auf lange Sicht bewirken sie keine Einsichten, sondern nur Resistenzen. Warum man eigentlich Hohmann ausschloss, was denn eigentlich an seinen Äußerungen nicht erträglich war – darüber wurde der normale Nachrichtenkonsument seitens der hauptamtlich damit befassten Politikerinnen und Politiker nicht belehrt, höchstens hier und da seitens einiger journalistischer Kommentare.“

Der in Chicago und Oxford lehrende Brian Klug3 kritisiert den Begriff des „Neuen Antisemitismus“ in seinem längeren Essay „The Myth of the New Anti-Semitism“. Im Essay wird argumentiert, dass das „Neue“ im Wesentlichen darin bestehe, dass auch Anti-Zionismus und Kritik an Israel als Antisemitismus bezeichnet werden können. Über das Phänomen schreibt er zuvor:

„A spate of recent articles and books assert the rise of a 'new anti-Semitism.' This is the thrust of 'Graffiti on History's Walls' by Mortimer Zuckerman, the cover story of the November 3, 2003, issue of U.S. News & World Report. In December New York magazine ran a similarly sensationalist cover story, titled 'The Return of Anti-Semitism,' which spoke of 'a groundswell of hate' against Jews and suggested that Jew-hatred was now 'politically correct' in Europe. At least three books recently published in English make the same claim: Never Again? by Abraham Foxman, national director of the Anti-Defamation League; The New Anti-Semitism by feminist Phyllis Chesler; and The Case for Israel by Harvard law professor Alan Dershowitz. Most of the contributors to A New Antisemitism?, edited by Paul Iganski and Barry Kosmin, take a similar view, with varying degrees of emphasis. (...) The authors under review tend to lump all these facts together, along with a wealth of evidence for what they see as an explosion of bias against Israel: in the media, in the United Nations, on college campuses and elsewhere. They conclude that there is a single unified phenomenon, a 'new antiSemitism.' However, while the facts give cause for serious concern, the idea that they add up to a new kind of anti-Semitism is confused. Moreover, this confusion, combined with a McCarthyite tendency to see anti-Semites under every bed, arguably contributes to the climate of hostility toward Jews.“ (The Nation, gesehen Januar 04, siehe www.thenation.com/doc.mhtml%3Fi=20040202&s=klug)

2.4.2 Aristoteles' Logik

Die Logik des Aristoteles (384-324 v.Chr.) veränderte das menschliche Kollektivbewusstsein in Ost und West nachhaltig. In der ersten Analytik legt Aristoteles die Grundzüge seiner Logik dar. Die Verknüpfung zweier Urteile zu einem dritten nennt er „Syllogismus“. Als klassisches Beispiel dafür gilt: „(1) Alle Menschen sind sterblich. (2) Sokrates ist ein Mensch. (3) Also: Sokrates ist sterblich“, wobei die Sätze (1) und (2) Prämissen genannt werden und (3) Conclusio. „Mensch“ ist in diesem Syllogismus der so genannte „Mittelbegriff“, der in der Conclusio herausfällt. (siehe dtv-Atlas zur Philosophie, 5. Aufl. 1991, S. 47).

Folgender Dreisatz hingegen ist kein gültiger Syllogismus: „(1) Nazis kritisieren Israel. (2) Sokrates kritisiert Israel. (3) Also: Sokrates ist ein Nazi.“ Auf diesen Umstand hinzuweisen ist in diesem Diskurs notwendig, weil der Antisemitismusvorwurf häufig in Verbindung steht mit unlogischen Ableitungen. Dabei geht es um den wichtigen Topos der Vereinnahmung von der falschen Seite und der Anknüpfungspunkte zu Rechtsextremen und anderen Antisemiten. Gerade in der Diskussion um und bei Attac ist es immer wieder zu solchen Konstruktionen gekommen. Bei Herrn Möllemann war es auch so. Aber auch in Verknüpfung mit dem israelischen Diskurs kommt der Topos vor wie hier:

„Darüber hinaus wehrt sich der Historiker gegen das Argument, Israel sei einer permanenten existentiellen Bedrohung durch die arabischen Nachbarstaaten ausgesetzt. Dabei habe die israelische Armee in vergangenen Kriegen ihre erdrückende Übermacht hinreichend demonstriert. Weil die Gründung Israels aber mit einer ‚großen Katastrophe des palästinensischen Volkes' einherging, müsse man sich einer besonderen Verantwortung bewusst sein. In der friedlichen Koexistenz mit den Palästinensern, die aber nur für den Preis der Räumung der besetzten Gebiete zu haben ist, sieht Zuckermann die einzige Chance für die Zukunft des Staates. Dass man mit diesen Ansichten in Deutschland leicht von der falschen Seite vereinnahmt wird, liegt auf der Hand ...“ (FR 27.06.03, „Der Optimist. Moshe Zuckermann diskutiert mit ‚Konkret'-Autoren“, Elke Schubert)

„Karsli, der Syrer mit deutschem Pass, und Möllemann, der Deutsche mit arabischer Gesinnung. Das waren Brüder im Geiste, eine Verbindung, explosiv. Sie lösten im Bundestagswahlkampf 2002 mit israel- und judenfeindlichen Äußerungen eine Antisemitismus-Debatte aus. (...) Auf die Frage, ob ihm nicht bewusst sei, dass seine Formulierungen denen von Antisemiten glichen und austauschbar seien, sagt er: 'Ich bin kein Antisemit.'“ (FR 07.08.03, „Nach dem Abseits. Jamal Karsli, der sich selbst als Opfer politischer Korrektheiten versteht, sucht den Weg aus der Versenkung“, Kristian Frigelj)

„Dann bemüht er eine neue Variante der ‚jüdischen Weltverschwörung'. Denn hinter dieser angeblichen Kampagne hat er böse ‚zionistische' Mächte ausgemacht: ‚Das ist ein System.' Nein, er will nicht begreifen, dass er sich mit seinen antiisraelischen Tiraden, die immer wieder in Vergleichen Israels mit Nazi-Deutschland gipfeln, und seinen Ausfällen über die ‚zionistische Lobby' selbst in die Ecke begeben hat, in die er sich zu Unrecht gestellt fühlt. Und dass sich Nazis auf die Schenkel klopfen, wenn er Spiegel als einen kriegstreiberischen ‚Parteigenossen' Schröders bezeichnet, kann er auch nicht nachvollziehen. ‚Parteigenossen' – so nannte die NSDAP ihre Mitglieder. ‚Das wusste ich nicht', sagt Karsli. Und wahrscheinlich stimmt das sogar.“ (taz 03.03.03, S. 8, „Karsli plant Partei“, Pascal Beucker)

Im Falle von Herrn Jamal Karsli wird in der Presse das Bild eines halb-dümmlichen, halb-unbelehrbaren Menschen gezeichnet, was angesichts seiner Selbstreflexion und Argumentation nicht angemessen ist und auch nie wirklich war. Was hier als immer wiederkehrende Tiraden bezeichnet wird, waren eben keine stereotypen Vergleiche Israels mit Nazi-Deutschland, sondern Karslis Verweis auf einen solchen Vergleich des israelischen Journalisten Shraga Elam. Man sieht in den letzten beiden Zitaten auch, wie Zionismus tabuisiert wird. Die Ausdrücke „Syrer mit deutschem Pass“ und „Deutscher mit arabischer Gesinnung“ sind zudem beide diskriminierend.

Kritisch sieht diese und ähnliche willkürliche Argumentationen Robert Misik, wenn er schreibt: „Den Reichen, den Raffgierigen, den Spekulanten die Schuld an vielen Ungerechtigkeiten zuzuschieben ist platt, aber nicht deswegen schon antisemitisch, weil man früher zu alldem noch 'Juden' hinzugefügt hat.“ (taz 06.12.03, S. 11, „Die Logik des Verdachts“).

Das Argument jedenfalls, dass Anknüpfungspunkte an Rechtsradikale und sonstige Antisemiten zu vermeiden bzw. unterbinden sind, hat mit Hilfe der oben erklärten Scheinlogik seit dem Fall Möllemann den Diskurs verschmälert und verschleiert. Solche Anknüpfungspunkte nämlich können alle möglichen Assoziationen darstellen, die mit den Gefühlen der Opfergruppe erklärt werden. Dass die Überschreitung der Grenze zum Absurden dabei keine Rolle spielt, zeigt das Gedankenspiel von Susanne Thaler, (ex-?)FDP, in ihrer Möllemannkritik: „Projekt 18 – stehe das denn nicht in der Neo-Nazi-Sprache für den ersten und achten Buchstaben, für A und H, für Adolf Hitler?“ (SZ, 07.06.02, S. 11). Die Zeitung druckt es, räumt ein: „Es ist ein überspanntes Bild, das sie da zeichnet. Und doch zeigt es...“ ... und dann folgen ganze Absätze.

Als Gegenkritik bleibt hier neben dem Verweis auf Aristoteles die Tatsache, dass, so sehr vom Mainstream der Semitismus/Nahost-Debatte auf Anknüpfpunkte an Rechtsradikalismus und Antisemitismus hingewiesen wird, so wenig er besorgt ist, durch den Antisemitismusvorwurf selbst Anknüpfpunkte zu bieten, etwa an Scharons Fanclub, siehe zum Beispiel die Schlagzeile: „Atomwaffen-Bericht. Israel wirft BBC Antisemitismus vor.“ (Spiegel Online, 29.06.03), oder auch an die Antideutschen, siehe: „Die antideutsche Ideologie“ von Robert Kurz, ISBN: 3-89771-426-4.

2.4.3 Gefühle der heterogenen Opfergruppe

Wie bereits in den Zitaten unter Punkt 2.2 gesehen, wird eine der Hauptbegründungen für die Einschränkung der Kritik an Israel darin gesehen, dass sie Ängste einer Gruppe oder mehrerer Gruppen von Menschen heraufbeschwört, die vermieden werden sollen. „Flurschaden“ nennt das Daniela Weingärtner im Kontext mit dem Scharon-Verfahren in Belgien Anfang 2003: „So wird auch das Scharon-Verfahren trotz des jetzt erreichten juristischen Zwischensieges ergebnislos bleiben. Für dieses magere Ergebnis ist der diplomatische Flurschaden unverhältnismäßig groß.“ (taz 14.02.03, S. 11, „Dialog wäre wichtiger“).

Auch in Zeitungs-Fotos kann man dieses Phänomen manchmal erkennen, bei dem die Gefühle der Opfergruppe besonders hervorgehoben werden, etwa in der SZ am 22.10.03, S. 9, wo die Familie eines getöteten israelischen Soldaten abgebildet ist: Eine Frau weinend an der Brust eines sonnenbebrillten, starken, leidenden Mannes, an dessen anderer Brustseite noch Platz für die Mutter ist. Während das Foto in diesem Fall im Untertitel mit dem Argument verknüpft wurde, dass die Palästinenser erst mit dem Terror aufhören müssen, bevor sie einen Staat bekommen, gibt es auch Beispiele, die eher einem legitimen Wunsch nach Ästhetisierung des Leids als Form des Mitgefühls zu entspringen scheinen, wie das Foto einer schönen jungen Israelin mit einer Kerze in der Hand, die der Ermordung Rabins gedachte (SZ, 03.11.03, S. 6).4

Dass es um subjektive Gefühle einer (wenn auch heterogenen) Gruppe geht, wird selten bestritten. Leider auch selten hinterfragt, denn diese Gruppe ist kaum fassbar. Hier setzt wohl ein, was Jürgen Habermas „Tabuschranken“ und „Ekelschranken“ nennt, die moralischen Verboten gleichsam vorgeschaltet oder sogar ein Ersatz für sie sind und die letztlich ohne Begründungen auskommen (SZ 07.06.02, S. 13, Feuilleton).

Die Gefühle der Palästinenser hingegen werden nicht so stark berücksichtigt. Das liegt nicht nur an der Israel-Solidarität in Deutschland, sondern auch daran, dass Araber und Muslime häufig mit dem Antisemitismusvorwurf in Verdacht und auch Generalverdacht geraten, wie unter Punkt 2.6 und 2.7 belegt wird. Der Konflikt ist offenkundig, und jemand muss ja auch dafür verantwortlich sein. Ein gewisses Maß an Unrecht gegenüber Palästinensern kann also bisweilen „kollateral“ in Kauf genommen werden, das zeigen Sätze wie dieser über das rassistisch genannte neue Ehegesetz in Israel: „Das bislang geltende Gesetz ist ungerecht, aber – im Gegensatz zu der neuen Regelung – zumindest diskutierbar.“ (taz, 02.08.03, S. 11, Knaul). Ungerecht, aber. Die Verletzung der Gefühle jüdischer Deutscher wird im folgenden Zitat als Maßstab der politischen Kultur erkannt:

„Noch schwerer als das mögliche Ausmaß von Gesetzesverstößen aber wiegt die Tatsache, dass sich viele Angehörige einer religiösen Minderheit durch seine politischen Äußerungen verletzt fühlten: jüdische Deutsche. Deren Gefühle müssen auch von jenen respektiert werden, die der Ansicht sind, man habe Möllemann mit dem Vorwurf der antisemitischen Zündelei Unrecht getan.“ (taz 11.06.2003, S. 12 „Staatsakt für Möllemann? Contra“, Bettina Gaus)

Man sollte Frau Gaus hier Recht geben und weiter fragen, wie sich dieser Respekt der Gefühle jüdischer Deutsche und auch der von anderen erwähnten Mitgliedern der heterogenen Opfergruppe gestalten soll. Als Kritiklosigkeit? Was, wenn es ein Kontrolldrama gibt der Art, dass sich der nicht überwundene deutsche Konflikt im Nahostkonflikt fortsetzt? Gehört es nicht zum Respekt, sich auch über den Zusammenhang der Gefühle jüdischer Deutscher und Nicht-Deutscher Gedanken zu machen?

Wenn die Gefühle einer bestimmten Gruppe übermäßig stark berücksichtigt werden, dann führt das im Alltag normalerweise zu Problemen, weil damit das Prinzip der Gleichheit durchbrochen wird. Noch problematischer wird es, wenn diese Gruppe nicht recht fassbar ist und im Grunde jeder dazugezählt werden kann, der das entsprechende Bekenntnis ablegt. Das hat etwas mit Gruppendynamik zu tun, nicht mit einer etwaigen unterstellten Boshaftigkeit oder ähnlichem. Auch spielt sich nicht alles in der Semitismus/Nahost-Debatte auf der bewussten Ebene ab. Niemand sollte derart außerhalb der Kritik stehen oder es sich nur wünschen, denn die Reaktionen der Umwelt sind für jeden von uns prinzipiell ein wichtiges Korrektiv im gesellschaftlichen Zusammenleben. Der israelische Schriftsteller Etgar Keret wählt die mehr Erfolg versprechende Philosophie, von den Sympathie/Antipathie-Gruppen zu abstrahieren und stattdessen die übergeordneten Relationen und Situationen zu beurteilen:

„Die europäischen Linken sind genauso bescheuert, wenn sie sagen: Wir verstehen die Selbstmord-Attentäter, denn das palästinensische Volk hat so sehr gelitten. Auch dieser scheinbar liberale Standpunkt entmenschlicht die Palästinenser: Man spricht ihnen damit ja jede Verantwortung ab. Dahinter steckt für mich das Schuldgefühl der früheren kolonialen Machthaber, die nun denken: Wir können die Leute, die wir früher misshandelt haben, nun nicht so hart kritisieren. So ähnlich verhalten sich manche Deutsche gegenüber Israel: Weil es den Holocaust gegeben hat, dürfen wir das und das nicht mehr sagen. Das ist nicht rücksichtsvoll, sondern wieder eine Diskriminierung: Denn keiner spricht über die Situation, über die Realität.“ (FR 25.10.2003, „'Sie sagen, ich bin ein antisemitischer Jude.' Der israelische Schriftsteller Etgar Keret über Besserwisser im Nahost-Konflikt, Neonazis in Budapest und sein Leben mit dem Terror“ – FR: Von Etgar Keret sind bei Luchterhand erschienen: Gaza Blues. Erzählungen (1996) Pizzeria Kamikaze. Roman. (2000) Der Busfahrer, der Gott sein wollte. Erzählungen (2001). Gerade erschienen ist ein neuer Band mit Kurzgeschichten: Mond im Sonderangebot.)

Fußnoten:
1: Andere Bezeichnungen z.B. „Neuer europäischer Antisemitismus“ s. SZ 17.11.03, Beck; Für Hohmann „verschwiemelte Form von Antisem“ in taz 17.11.03, S. 17, Bax; über Möllemanns „krypto-antisemitische“ Äußerungen siehe Tsp 12.03.03, Meinung, cas), „Philosophischer Judenhass“ im Brief von M. Brumlik an den Suhrkamp-Verlag (FR 05.08.03) (zurück)
2: Siehe dazu die Satire „Faked Frau Shalev-Interview“ unter www.anis-online.de/literatur/faked_interviews/08.htm (zurück)
3: Von Brian Klug siehe auch: „The collective Jew: Israel and the new antisemitism“ in: Patterns of Prejudice, Vol. 37, No. 2, 2003 (zurück)
4: Eine Auswertung von Zeitungsfotos zum Thema Nahost wäre lohnend, denn ein Bild sagt oft mehr als tausend Worte. Dazu gehören schmeichelhafte Farbfotos von Scharon für das Poesie-Album (z.B. KN 26.05.03 und 03.06.03) ebenso wie Darstellungen extremistischer Palästinenser, etwa das Hamas-Foto von der Attentäterin von Eres (12 x 17 cm) , verschleiert und in Kampfdress, bewaffnet, ihr Kind küssend, sich von ihm verabschiedend. Das Kind, barfüßig, mit Islam-Banderole um den Kopf, hält ein schweres Projektil. Die Hamas hat – so im Untertext – das Foto veröffentlicht (und AP und die SZ, siehe SZ 28.01.04, S. 10, „Palästinenser kritisieren Häftlingsaustausch“, Schmitz) (zurück)
2.5 Markierung und Selbstmarkierung

Wie in Teil 2.2 und 2.4.3 angedeutet wurde, liegt die Ambivalenz in der Presse zu dem Thema, inwieweit Kritik an Israel geübt werden kann, weitgehend in der Relation zwischen Israel und (den) Juden, denn es wird in der öffentlichen Praxis selten ein Antisemitismusvorwurf gemacht, ohne dass dies mit dem Nahostkonflikt zu tun hätte. Die Nicht-Fassbarkeit dieser Relation hat zu tun mit Markierungen. Zum einen ist Israel nach Selbstdefinition „der Judenstaat“, ebenso wie es in Deutschland einen Zentralrat „der“ Juden gibt, obwohl sich nicht alle Juden davon repräsentiert fühlen, zum anderen hat nicht jeder Jude automatisch eine Beziehung zu Israel, wie unter 2.2 gesehen. Siehe auch: „Israel spricht nicht im Namen des Judentums und der Zentralrat nicht im Namen aller in Deutschland lebenden Juden“ von Natan Berman, unter www.freunde-palaestinas.de/fp/page/akte2003/002semitismus/060104schrei.html, sowie: „Dass sich jüdische Organisationen in den USA mit Bush so eng assoziiert haben, hat zu einem schmerzhaften Riss durch die jüdische Gemeinde geführt.“ (ZEIT 08.01.04, „Die Angst wächst in Manhattan. Warum viele New Yorker Juden aus ihrem traditionell liberalen in ein neokonservatives Milieu gewechselt sind“, Eva Schweitzer).

Beim Antisemitismus geht es ebenfalls um Markierungen, denn es geht darum, dass Menschen abgelehnt werden, weil sie Juden sind. Dies kann bezogen sein auf die Religion im kultischen, kulturellen oder dogmatischen Bereich, es kann bezogen sein auf den Zionismus im Sinne einer jüdischen Ideologie, und es kann auch bezogen werden auf Israel als Zufluchtstätte der Juden. Je nach dem, bei welchen Gelegenheiten die Mitglieder der heterogenen Opfergruppe einen Antisemitismus spüren und sich also als Juden oder als Freunde Israels oder Vergleichbares angesprochen fühlen, tritt die Markierung ein, von Außen und/oder als Selbstmarkierung. Dabei sei angefügt, dass eine Markierung/Selbstmarkierung grundsätzlich nichts Ungewöhnliches oder Negatives ist, sofern die Verantwortungen klar sind, die sich daraus ergeben. Dies ist aber im Falle Juden/Israel eben nicht gegeben. (Bei Islam/al-Qaida und anderen Relationen auch nicht.)

Sehr deutlich wurde das in der Fernsehdokumentation „Bespuckt, Beleidigt, Boykottiert – ein deutscher Jude gibt auf“ (ARD 04.09.03, 20:15, Sendung „Kontraste“, Anja Dehne). Es ging um den Fall eines Ladenbesitzers, der eine israelische Flagge aus seinem Geschäft hängen ließ und daraufhin Kundschaft verlor. Die Frage ist: Steht die Flagge für das Judentum oder für Israels Besatzung? Gäbe es das dritte Szenario, das Palästina-Szenario, nicht, und wäre Israel wirklich ein normaler Staat und kein militanter expansionistischer Besatzungs- und Kontrollstaat, der häufig genug als Bollwerk der westlichen Demokratie im Feindesland konzeptionalisiert wird, dann könnte man leichter auf Antisemitismus schließen als unter den gegebenen Umständen.

Wichtig ist, festzuhalten, dass in dem Moment, wo ein Antisemitismusvorwurf aufkommt, immer auch eine Selbstmarkierung stattfindet, denn die Identifizierung einer Sache als antisemitisch impliziert die Markierung bereits und benötigt sie. Wenn also der Antisemitismusvorwurf zu Unrecht oder im Zweifel gemacht wird, bleibt als Konstante die Selbstmarkierung:

„Möllemann hätte durchaus vorgehalten werden können, eine Beziehung zwischen Israel-Kritik und Antisemitismus hergestellt und damit das Judentum generell in die Verantwortung für die israelische Politik genommen zu haben. Doch trifft dieser Vorwurf auf die Kritiker seiner 'antisemitischen Ausfälle' noch viel mehr zu. Die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus ist liberaler Konsens in Deutschland. Eben weil der Prozionismus die Identität von Israel und Judentum postuliert, werden israelische Verbrechen von vielen unreflektiert als jüdische wahrgenommen.“ (jW 14.06.03, Wochenendbeilage, „Freier Sündenfall. Der schwarze Kanal: Möllemann, die Medien und der Antisemitismus“, Werner Pirker)

„Schließlich geht es um die Frage, ob die harte Haltung der Regierung Scharon im Nahostkonflikt richtig ist. Der Affekt, jeder Kritik an der israelischen Politik mit dem Vorwurf des Antisemitismus zu begegnen, ist dabei wenig hilfreich. Denn damit setzen Hardliner wie Schalom ihr Land und dessen gegenwärtige Regierung mit dem gesamten Judentum gleich: der gleiche Kurzschluss, dem Antisemiten aller Couleur erliegen.“ (taz 18.11.03, S. 12, „Anschlag in Istanbul: Israel und das Judentum sind nicht identisch. Fataler Vorwurf Antisemitismus“, Daniel Bax)

Wenn auch allgemein unbestritten ist, dass man im Diskurs „die Juden“ kaum sinnvoll sagen kann und wenn auch darauf hingewiesen wird, dass es eine jüdische Identität in diesem Sinne kaum gibt, so sind es doch nicht nur Antisemiten und Zionisten, die eine ebensolche Identifikation herstellen, wie auch hier: „Es scheint, als sei das Jüdische immer weniger chic, unter Globalisierungsgegnern gilt gar das Islamische streckenweise als moralisch besser.“ (Werner Bergmann-Interview von Jan Feddersen zur Antisemitismus-Studie der EU, taz 02.12.03, S. 4). Oder: „Italien ist eins der wenigen Länder, wo Juden und Nichtjuden – zumindest äußerlich und an der Körpersprache – fast nicht zu unterscheiden sind.“ (WELT 11.03.03, „Antisemitische Parolen gegen den Rai-Präsidenten. Neue Töne im Streit um Italiens Fernsehen“, Paul Badde).

Manchmal wird auch die Markierung bzw. der Antisemitismus stillschweigend vorausgesetzt, ohne dass Belege genannt werden: „Gegen die modische Rede vom 'jüdischen Denken' und von 'jüdischer Intelligenz' meldete sich vor ein paar Jahren (...) Ernst H. Gombrich zu Wort“ (SZ 23.09.03, „Typisch Adorno. Kann man nach Auschwitz noch über die Juden reden?“ Volker Breidecker). Auch bei der Studie des American Jewish Committee, bei der 40 Prozent der deutschen Bevölkerung der Aussage zustimmten, „Juden hätten zu viel Einfluss auf das Weltgeschehen“ (s.z.B. taz 26.09.03, S. 12), fragt man sich, warum man der deutschen Bevölkerung eine solche Frage überhaupt stellt, in der Juden markiert sind.

Ein weiteres Beispiel für die Problematik von Markierung und Selbstmarkierung bietet die Debatte um Michel Friedman. So sagte Paul Spiegel während des Falls Möllemann: „Wenn er Friedman beleidigt, beleidigt er alle Juden.“ (nach FR 08.06.02). Es ist nicht anzunehmen, dass Herr Spiegel alle Juden gefragt hat, ob sie das auch so sehen, jedenfalls kann mit solchen Zuordnungen sehr viel Zweifelhaftes im Namen der Juden als Antisemitismus deklariert werden. Auch in der Jüdischen Gemeinde schien oder scheint Friedman bestimmte Eigenvorstellungen des Judentums verkörpern zu sollen:

„So sagte der Frankfurter Gemeindevorsitzende Salomon Korn der Berliner Zeitung, vor allem die ganz Jungen und die ganz Alten stünden hinter Friedman. Die Jungen, weil sie ihn einfach cool fänden; die Alten, weil sie in ihm einen kämpferischen Juden sähen, der dem Bild des geduckten Juden widerspricht'. Wenn Friedman kritisch gesehen werde, dann vor allem von Vertretern der mittleren Generation.“ (taz 21.06.03, S. 4, „Eine Affäre in Stichworten. Von Staatsanwaltschaft bis Presse: Wie sich die Akteure im Fall des verdächtigten TV-Moderators Michel Friedman winden“, Ralph Bollmann)

Damit wird Michel Friedman zu einem Projektionsfeld. Im Verlauf des Rotlicht-Skandals gab es dann viele, die mutmaßten, dass Friedman aufgrund von Antisemitismus abgelehnt wurde bzw. werde. Dabei wurden auch Spekulationen transportiert wie hier: „Die einen mögen seine aggressive Überheblichkeit nicht, andere lehnen seine konservative Grundhaltung ab, und ganz viele können ihn nicht leiden, weil er Jude ist und trotzdem nicht demütig.“ (taz 21.6.03, S. 1, „Friedman. Justiz betreibt Rufmord“, Bettina Gaus). Eine „Abrechnung mit dem Judentum“ gar sah Claudia Roth von den Grünen: „Claudia Roth, Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, hat sich vor Michel Friedman gestellt. Es dürfe nicht sein, dass die Rotlicht- und Kokain-Vorwürfe zur Abrechnung mit dem Judentum genützt würden.“ (Spiegel Online, 21.06.03, „Affäre Friedman. Roth nennt Debatte ‚heuchlerisch'“). Siehe auch Robin Detje: „Im freien Fall. Antisemitische Anhaftungen. Über die juristischen und medialen Ermittlungen gegen Michel Friedman, den Stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden.“ (ZEIT 26/2003 16.06.03, Medien). Ernst Corinth hat in diesem Fall vermutlich den Vogel abgeschossen, als er darüber sinnierte, dass man so jemanden damals einen hässlichen Juden genannt hätte:

„Begleitet wird dieser Vorgang, bei dem es um den angeblichen Besitz von Kokain geht, schon jetzt vom Applaus vieler Deutscher, für die der Moderator, CDU-Politiker und Rechtsanwalt das verkörpert, was ihre Vorfahren mal mit massenmörderischer Konsequenz einen hässlichen Juden genannt haben. (...) Weil der Medienklassiker ‚Antisemitismusstreit' ohne Stars wie Möllemann und Friedman kaum noch zu inszenieren ist, wird er wohl erst einmal in den Archiven verschwinden. Wer aber glaubt, dass damit auch der Antisemitismus im Land des Holocaust gleich mit verschwinden wird, der sollte jetzt und in den kommenden Tagen mal ganz genau hinhören, wie die Leute, die Nachbarn und Freunde den drohenden Fall Friedmans kommentieren.“ (Telepolis 12.06.2003, „Stürzt nach Möllemann jetzt auch Friedman? Dem Medienklassiker ‚Antisemitismusstreit' gehen langsam die Hauptdarsteller aus“)

Das Bild eines wehrhaften „neuen Juden“, eines emanzipierten und souveränen, gehört zum Repertoire des Zionismus, das zeigt das nächste Zitat. Der Autor betont ein zu Grunde liegendes „Menschenbild“, das er im historischen Zusammenhang sieht:

„Segev geht diversen Strömungen nach, die die israelische Gesellschaft bestimmt haben und die sich durchaus auch jetzt noch nebeneinander finden lassen. Der Zionismus habe, quasi in Konkurrenz mit der Religion, eine säkulare jüdische Identität propagiert; man könne ihn aus seinen europäischen Wurzeln heraus verstehen: Die Vorstellung eines starken, produktiven, wehrhaften 'neuen Juden', eines 'neuen Hebräers' (eines 'neuen Menschen', S. P.) korrespondierte im weitesten Sinne mit einem Menschenbild, das so oder so auch in der Sowjetunion oder im Deutschland der Weimarer Republik formuliert wurde.“ (Freitag 18.07.03, „Ein Land mit mehr als einer Wahrheit. Amerikanisierung. Tom Segevs postzionistische Streitschrift 'Elvis in Jerusalem'“, Sabine Peters)

Bisweilen kommt es vor, dass der Antisemitismusvorwurf selbst antisemitisch ist, er also auf einer Vorstellung vom bösen Juden beruht. Im folgenden Zitat von Michael Lerner wird nahegelegt, dass letztlich „antisemitische Juden“ für den Antisemitismus verantwortlich waren:

„Unglücklicherweise ist es ja oft genug so gewesen, dass ausgerechnet Linke jüdischer Herkunft antisemitische Ideale artikuliert haben. Meist kämpften sie verzweifelt um Anerkennung und wollten so ihre wirklich ‚universalistische' Haltung beweisen. Es waren diese antisemitischen Juden, deretwegen man dem Antisemitismus in der deutschen Arbeiterbewegung der 20er-Jahre nicht den Kampf angesagt hatte. Und genau deshalb wandten sich viele nicht rechtzeitig und energisch genug gegen den antisemitischen Rassismus der Nationalsozialisten.“ (taz 28.02.03, S. 12, „Ein historischer Fehler“, Michael Lerner)

Wenn aber Herr Lerner daher aus dem Diskurs ausgeschlossen werden oder andere Maßnahmen ergriffen werden würden, wäre das doch eher übertrieben. Fraglich auch diese Aussage aus einem oft gelesenen historischen Aufsatz: „Nicht nur Ausmaß, sondern auch Qualität der den Juden zugeschriebenen Macht unterscheidet den Antisemitismus von anderen Formen des Rassismus.“ (Moishe Postone, „Nationalsozialismus und Antisemitismus“, in: Merkur, H. 1/1982). Die Skepsis betrifft hier die Bestätigung des Klischees, dass Juden etwas Besonderes seien. Der Versuch, auf Juden bezogenen Rassismus weiter zu definieren, als dass er eben auf Juden bezogener Rassismus ist, kann schnell zu einer Beteuerung von alten und vielleicht der Schaffung von neuen Mythen führen.

2.6 Der „Arabische/Islamische Antisemitismus“
2.6.1 Terrorismus-Szenario

Ein großes Problem in Israel und in der Welt ist der Terror. Durch die Selbstmordanschläge sterben Zivilisten und Kinder. Die Israelis leben daher in einer großen Angst. Die Terroristen wollen den Staat Israel zerstören und einige streben die Weltherrschaft an. Das Argument der Besatzung wird vorgeschoben, in Wirklichkeit hassen viele die Juden, so wie damals die Nazis. Arafat ist einer der Hauptschuldigen, weil er den Terror verhindern könnte. Es gibt Staaten und Organisationen in der ganzen Welt, die den Terror finanzieren. Sogar Europa schaut zu, ohne den Terror beim Namen zu nennen. Weil der Terror schon so lange andauert und immer schlimmer wird, werden jetzt Präventivmaßnahmen ergriffen. Der neue Sicherheitszaun soll die Terroristen davon abhalten, nach Israel zu kommen und Anschläge zu verüben. Die Armee kontrolliert die Palästinenser stärker und die Terroristen werden gesucht und auf der Straße erschossen. Das ist zwar umstritten, aber irgendwie muss man dem Terror ein Ende setzen. Israel ist zwar nicht ganz unschuldig, aber es will die Palästinenser nicht systematisch auslöschen. Die Palästinenser müssen verstehen, dass Israel sich von ihnen existenziell bedroht fühlt.

Dies ist im Wesentlichen das Szenario, nach dem das offizielle Israel agiert. Es kann aus einer tatsächlichen Bedrohung heraus aktiviert werden, aus einem Bedrohungsgefühl heraus und aus politischem Kalkül. Ein paralleles Szenario gibt es in den USA hinsichtlich des Elften September. Merkmale des Terrorismus-Szenarios sind die Fokussierung auf den Anderen, die Erkennung des Terrorismus als initiativ und als irrational, dementsprechend seine Bekämpfung als vernünftige Reaktion, die Durchwirkung des Israel- und des Antisemitismus-Szenarios und die Rechtfertigung von Gewalt und Repressionen. Ein weiteres Charakteristikum ist die Abwesenheit des Palästina-Szenarios sowie völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Erwägungen.

„Die Terroristen“ werden von der israelischen Regierung als Repräsentanten der Palästinenser konzeptionalisiert, denn die israelischen „Reaktionen“ richten sich häufig gegen Familien, Städte und die gesamte Bevölkerung, wie die Ausgangssperren, Straßenkontrollen, Reiseverbote, die Zerstörung von Häusern, die Landnahme im Zuge des Mauerbaus, einige Gesetze, und vieles mehr. Herr Peled vom israelischen Außenministerium sagte zum Beispiel nach dem Anschlag gegen israelische Zivilisten in Jerusalem am 29.01.04, „die Palästinenser“ hätten den Terroranschlag gemacht (Fernsehnachrichten). Die gesamte palästinensische Gesellschaft wird also zur Verantwortung gezogen, obwohl die Attentäter nicht in Wahlen gewählt worden sind und ihre Taten nicht auf demokratische Weise legitimiert sind.

Dass es auf palästinensischer Seite ebenfalls Ängste gibt, tritt dabei weit in den Hintergrund. Was mag ein Palästinenser fühlen, wenn er in der Presse Sätze liest wie: „Der israelische Regierungschef Scharon ist optimistisch, das 'Palästinenser-Problem' während seiner vierjährigen Amtszeit lösen zu können. Wenn dies jemandem gelingen könne, dann ihm, sagte er.“ (KN 14.07.03, S. 4, „Scharon: Palästinenser-Problem kann in vier Jahren gelöst werden“, dpa) ?

Durch die häufig anzutreffende Ausblendung des Palästina-Szenarios entstehen Erklärungstopoi, die – z.B. als Spiegelkritik – weitere Rückschlüsse auf den kognitiven Rahmen der israelisch-jüdischen Seite zulassen. Irgendjemand muss ja letztlich Schuld haben an diesem Konflikt, der schon jahrzehntelang dauert, und wenn wir es nicht sind, dann müssen es doch die Anderen sein: „Jasir Arafat war lange Terrorist. Er ist korrupt und in seiner Feindschaft zu Israel erstarrt. Mörder lässt er heimlich gewähren. (...) Europa und Amerika, die Palästina mit ihrem Geld unterstützen, müssen Arafat zwingen, ohne Wenn und Aber der Gewalt und dem Terror abzuschwören und sich für den Frieden zu entscheiden.“ (BILD 08.09.03, S. 2, „Zwingt Arafat zum Frieden“, Rafael Seligmann). Die Hauptverantwortung für den Frieden liegt also bei den Anderen:

„Und doch liegt es an den Palästinensern, den Krieg zu beenden, den sie vor mehr als zwei Jahren begonnen haben. Erst, wenn die Terror-Organisationen einen Waffenstillstand erklären, können die USA und die Europäer Druck auf Ariel Scharon ausüben, politische Zugeständnisse zu machen. Eine simple Lektion, die manche auf palästinensischer Seite noch immer nicht gelernt haben.“ (Tsp 06.03.03, „Nichts gelernt. Anschlag in Israel“, clw)

„Die Israelis haben das Vertrauen (in Europa) verloren. Verantwortlich dafür ist die unausgewogene Politik der EU. Manche Europäer haben immer noch ein großes Problem, den Terror beim Namen zu nennen. Es besteht keine moralische Differenzierung zwischen den Maßnahmen, die wir treffen, und dem Terror gegen Zivilisten. Wir sind 50 Prozent des Problems, aber auch 50 Prozent der Lösung. (...) Aber bis zu einem Staat kann es noch Jahre dauern. Der Frieden spaltet, Krieg eint. Arafat scheut genau diese innerpalästinensische Auseinandersetzung. Für den Frieden muss man auch kämpfen. Das tut er nicht.“ (KN 27.02.03, S. 3, Interview mit Botschafter Shimon Stein: „Der Frieden spaltet, der Krieg eint“, Interview Olaf Albrecht)

2.6.2 Der Vernichtungs-Topos

Ein wichtiger Topos im Terrorismus-Szenario ist der Verdacht, dass (die) Palästinenser Israels Existenz zerstören wollen. Dies ist ein Scharnier zum Antisemitismus-Szenario, denn es entsteht eine Vielzahl von Assoziationsmöglichkeiten mit den Nazis, die ja die gesamte jüdische Existenz vernichten wollten. Es kommt hier zu einer Überlappung von Ängsten, die aus dem Trauma des Genozids stammen und solchen, die aus dem Terrorismus bzw. auch dem palästinensischen Widerstand stammen. Im folgenden Beispiel ist es der Interviewer, der den Vernichtungs-Topos bis zur Karikatur treibt und dann in einen monolithischen Rahmen setzt, der mit dem 21sten Jahrhundert nicht viel zu tun hat, jedoch aufzeigt, wie Extreme im Terrorismus-Szenario generalisiert werden:

„Ich frage mich, ob Israel die Wahl hat. Damit meine ich jetzt nicht nur die Selbstmordattentate an sich, sondern den nach wie vor festen Willen der Palästinenser (jedenfalls der tonangebenden militanten), und aller umliegenden Staaten, Israel zum Verschwinden zu bringen. (...) Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum im nahen Osten 'die Zeit keine Wunden heilt', bin ich erst kürzlich auf das Konzept der 'Dhimma' gestoßen, das innerhalb eines islamischen Bezugsrahmens andere Religionen und Kulturen grundsätzlich zwar zu dulden bereit ist, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie als zweitrangig angesehen werden und der Duldung jederzeit verlustig gehen können. Wenn das die Koordinaten sind, kann man ja fast nur verzweifeln, denn dann kann Israel im Grunde tun und lassen, was es will, es wird als 'Dhimma-Renegat' immer der Feind bleiben.“ (Telepolis 25.08.03, „Wahrscheinlich wird es ein Zaun sein, der auch Seelen frisst“ Cheb A. Kammerer-Interview von Marcus Hammerschmitt. Zitate von Hammerschmitt, Kammerer war reflektierter.)

Ähnlich in der Überschrift: „Der kleine harte Kern. Die Harakat al-Dschihad al-Islami gilt als unberechenbar. Ihr Ziel: Vernichtung des ‚zionistischen Gebildes' und ein islamisches Reich.“ (taz, 01.07.03, S. 3, Georg Baltissen). Das Ziel der Vernichtung wird überhöht und der Aspekt der Freiheit Palästinas nicht hinreichend berücksichtigt. An diesem 01.07.03 hat die taz auch einen Artikel über die Al-Aksa-Brigaden gebracht und einen über die „mächtigste palästinensische Terrorgruppe“ Hamas. Über israelische Terrorgruppen findet man in der taz hingegen eher wenig.

Nicht nur die Muslime, auch Teile der amerikanischen Friedensbewegung stellen Israels Existenzrecht nach Meinung einiger in Frage: „Es ist allerdings eines, wenn man Ariel Scharons repressive Maßnahmen gegenüber dem palästinensischen Volk verurteilt. Etwas anderes ist es, wenn man dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht. Und genau das machen Teile von Answer, und mit ihnen Teile der amerikanischen Friedensbewegung.“ (Michael Lerner, „Ein historischer Fehler“, taz 28.02.03, S. 12). Zu diesem Topos gehört das Umkehr-Argument, dass Israel eben nicht die Existenz der Palästinenser zerstören will:

„Israel verteidigt sich gegen permanente terroristische Angriffe. (...) Anders als die extremistischen Palästinenser hat Israel nicht die Auslöschung eines Staates zum Ziel erhoben, anders als Nordkorea vertreibt Israel nicht systematisch Trägerraketen und Atomtechnologie an wen auch immer.“ (SZ 05.11.03, „Mit der Moralkeule nach Nahost“, Stefan Kornelius)

„Die Legitimationsideologie des israelischen Staates gründet nicht auf biologistischen Erklärungen gegen die arabische Bevölkerung. Der Konflikt wurzelt in einem Interessengegensatz: Zwei Nationalbewegungen beanspruchen ein Land.“ (FR 26.08.03, „Importware Judenhass. Antisemitismus und Antizionismus: Eine Begriffsklärung“, Doron Rabinovici)

„Zitat Honderich: 'The Palestinians are right to look back to Fascist Germany and say they are the Jews of the Jews.' Damit zieht der Moralphilosoph einen historisch unzulässigen Vergleich, der dieses überhistorische Prinzip des Antisemitismus zumindest streift, weil die Vorgänge in Israel, wie immer man sie im Einzelnen bewertet, nichts mit der Politik einer totalen Vernichtung zu tun haben.“ (Telepolis, 08.08.03, „Antisemitischer Antizionismus im Sommerloch. Ted Honderich rechtfertigt palästinensische Selbstmordattentäter“, Goedart Palm)

Die Überhöhung des Vernichtungswillens öffnet eine Tür zum Feindbild, weil es keinen Raum mehr lässt für eine Vertrauensbasis, ohne die es keine sinnvollen Verhandlungen geben kann. Zu einem ähnlichen Schluss gelangt das Neue Deutschland, wenn es über den Völkermord-Vorwurf gegen Arafat schreibt:

„Dass Arafat in der Klageschrift allerdings des Völkermordes bezichtigt wird, dürfte dem Anliegen der Betroffenen wohl weniger dienlich sein. Denn die Absicht der gezielten Auslöschung einer ethnischen Gruppe, was dieser Begriff ja beinhaltet, ist wohl weder der palästinensischen noch der israelischen Seite – die ebenfalls immer wieder mit dieser Anschuldigung konfrontiert wird – zu unterstellen. Hunderte Tote auf beiden Seiten allein in den letzten Jahren des Nahostkonflikts sind eine schreckliche Bilanz, aber kein Völkermord.“ (ND 05.03.03, „Kampfbegriff. Völkermord-Vorwurf gegen Arafat.“ Ingolf Bossenz), siehe auch: „Er habe die Macht und die Mittel gehabt, ‚die Terrorakte, Morde und Gewalt zu unterbinden', heißt es in der in Paris erhobenen Klage.“ (taz 05.03.03, S. 10, „Völkermord. Klage gegen Arafat“, dpa)

Andere, alternative Terrorismus-Szenarien sind mit dem obigen nicht kompatibel und finden in der Presse nicht so häufig Gestalt, wie bereits unter Punkt 2.1 erwähnt wurde. So könnten etwa die Analysen zum Begriff „Terrorismus“ von Professor Georg Meggle (Uni Leipzig) stärker zu öffentlichen Diskussionen führen. Auch der Antisemitismusvorwurf gegen Ted Honderich, der ebenfalls das Terrorismus-Szenario untersucht, und gegen sein Buch „Nach dem Terror“, legt nahe, dass die Erforschung der Ursachen von Terror in der Öffentlichkeit nicht wirklich von großem Interesse ist. Dabei sind die Mechanismen der Gewalt hinlänglich bekannt:

„In der israelischen Öffentlichkeit wird die Politik der gezielten Liquidierungen nicht völlig kritiklos hingenommen. (...) 'Es gab noch keinen Disput, der nicht besser durch Dialog gelöst worden wäre', schrieb Yoel Marcus in Haaretz. 'Israels Liquidierungen produzieren vermutlich mehr neue Selbstmordbomber, als dass sie abschrecken.'“ (taz 26.08.03, S. 10, Anne Ponger)

2.6.3 Arabische Wahrnehmung von Juden und Israel

Für Araber ist das Verhältnis Juden/Israelis ein ganz anderes aus ihrer Position als für Europäer oder Deutsche. Einen staatlichen Antisemitismus, wie er in Deutschland zum systematischen Judenmord geführt hat, gab es in der Arabischen Welt nicht. Die Araber und Muslime kennen (die) Juden seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden. Zwar hat es in der Geschichte manchen Konflikt gegeben – auch solche, die noch unbewältigt sind – , doch ist es nie annähernd zu solchen Grausamkeiten gekommen, wie sie die Nazis verübt haben. Die Befreiung der Juden in Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs nahmen Araber und Muslime demnach ganz anders wahr als etwa Europäer. Die Einwanderungen nach Palästina stellten sich für die Palästinenser zum Teil so dar, dass viele ihrer Dörfer zerstört und ihrer Leute vertrieben wurden. Wenn ein Palästinenser also „al-Yahuud“ sagt, „die Juden“, dann hat das ein ganz anderes Assoziationsfeld als in Deutschland. Es meint in erster Linie die Besatzer, dann die Zionisten (was für die meisten Palästinenser keinen realen Unterschied ausmacht), dann die israelische Gesellschaft, dann die weltweiten Sympathisanten dieses Systems. Denn so haben die Palästinenser, Araber und Muslime Juden kennen gelernt und so kennen sie sie auch heute.

Die Gleichsetzung von „Israelis“ mit „Juden“ – wo sie erscheint – hat also im arabischen Kontext eine andere Bedeutung. Wenn diese Gleichsetzung aus dem europäischen Kontext heraus unternommen wird, liegt der Fall anders. Der Gedanke, dass es einen Judenhass in der Arabischen Welt gibt, der aus Europa importiert wurde, ist eine Interpretation, die eine schwer wiegende Unterstellung darstellt, wenn sie die Vorstellung evoziert, dass etwas irrational „Nazihaftes“ dort gesehen wird, wo ein begründeter Widerstand gegen autoritäre israelische Hegemonien vorliegen kann.

„Wie kommt er darauf, dass die Selbstmordattentäter (...) Menschen aus elender Lage befreien wollen und nicht einfach Juden töten?“, fragte die FAZ am 20.10.03 auf S. 35 an die Adresse von Ted Honderich und sein Buch „Nach dem Terror“ (ex-Suhrkamp-Verlag). Ähnlich skeptisch äußert sich Natan Sznaider – er lehrt Soziologie am Academic College of Tel-Aviv-Yafo, Israel und hat bei Suhrkamp „Die Erinnerung im Globalen Zeitalter: Der Holocaust“ veröffentlicht –, wenn er über Selbstmordattentate schreibt: „Sie wissen genau, was sie dazu antreibt. Nicht die schlechte Lebensqualität, wie Honderich so philosophisch traktiert, kein marxistischer Determinismus, der Menschen zu Verzweiflungsaktionen antreibt (so die ersten Kapitel des Honderich-Traktats), sondern schlichter Judenhass.“ (FR 07.08.03, „Schlichter Judenhass. Die linken Gewaltfantasien von Ted Honderich“). Auch in der taz wird die Motivation der Gegenseite gelegentlich als Antisemitismus gewertet: „Selbst die Solidarität mit palästinensischen Selbstmordattentätern, die unterschiedslos Babys wie Überlebende der Schoa in die Luft sprengen, weil sie Juden sind, geriert sich als Solidarität mit den Opfern.“ (taz 26.09.03, S. 12, „Hakennasen statt Hakenkreuze“, Schapira). Der Volksschauspieler Michael Degen1 vergleicht palästinensische Kinder mit der Hitlerjugend:

„Bewusst wird verschwiegen, daß diese Kinder aus politischen, propagandistischen Zwecken vorgeschickt werden. Man ignoriert, daß der Vierzehnjährige, der sich die Sprengstoffladung um den Bauch bindet, seit seinem achten Lebensjahr darauf gedrillt worden ist, genau wie die HJ-Jungs, die mit zehn Jahren die Synagogen angezündet haben. Sicher kommen dann Reaktionen, auch Überreaktionen, die nicht immer gut sind, gerade bei Scharon. Aber man sieht immer erst die Reaktion, nicht die Aktion.“ (Jüdische Allgemeine online, 05.03.03, „Der Philosemitismus geht mir auf den Wecker.“ Ein Gespräch von Daniela Breitbart mit Michael Degen über Gott, die Welt und den Umgang mit dem Judenhass“).

Der Vorwurf des Judenhasses, meist „Antisemitismus“ genannt, an Araber und Muslime wird in der deutschen Presse recht häufig thematisiert. Meist ist es ein Misstrauen, ein Verdacht. Wenn Deutsche einen solchen Verdacht aussprechen, hat es eine besondere Bedeutung, da die Assoziation zur Nazizeit und dem systematischen Judenmord gegeben ist. Friedbert Pflüger (CDU) hat zum Beispiel auf der Solidaritäts-Kundgebung für Israel am 11. Mai 2002 in Hannover gesagt: „Wenn wir eine Zerstörung Israels zulassen würden, wie es von der palästinensischen Seite gewollt ist, dann hätte Hitler nachträglich gesiegt.“ (Salz und Licht, Informationen der Partei bibeltreuer Christen, Nr.2, Juli 2002, „Ist Israels Existenz bedroht?“ www.pbc.de/suli/2_02/existenz.htm). Zwar wird unter Punkt 2.9.2 argumentiert, dass Vergleiche mit der Nazizeit nicht ausgeschlossen werden sollen, doch ist es dann gerade wichtig, präzise zu vergleichen. Generelle Assoziationen des Islam, der Araber oder gar der Palästinenser speziell zum Judenhass der Nazis, so wie oben, sind weder fair noch situativ gerechtfertigt. Auch Überschriften wie: „Der neue Antisemitismus. Sind die Muslime die neuen Deutschen? Matthias Küntzel hat beeindruckendes Material und krause Theorien über den islamischen Antisemitismus zu einer Studie verrührt. Doch so problematisch die theoretische Perspektive des Autors ist, so lesenswert ist seine präzise Darstellung des Problems.“ von Robert Misik in der taz 29.11.03, Seite VII, sind absurd und bewegen sich auf dem Grat des Feindbilds. Zwar wird die These aus der Überschrift negiert, aber ein Rest bleibt immer: „Dass aber auch importierte Stereotype ein ziemlich erschreckendes Eigenleben beginnen können, wird man nach Lektüre von Matthias Küntzels Buch nur schwer bestreiten können.“ Das hier besprochene Buch heißt übrigens „Djihad und Judenhass. Über den neuen antijüdischen Krieg“ (2003). Siehe auch die Überschrift in der Welt am 18.11.03, „'Adolf Hitler war in Ordnung.'“ „Antisemitismus gehört in der arabischen Welt zum Alltag – Selbstkritik am Judenhass findet man selten.“

„Es gibt einen mörderischen Judenhass, der aus den Taten islamistischer Terroristen spricht“, sagt auch der Deutsche Daniel Bax (taz 17.11.03, S. 17) und man fragt sich schon, woher diese Sicherheit stammt, mit der pauschale Aussagen wie diese in die Öffentlichkeit transportiert werden. Ob hier vielleicht eine Erleichterung gesehen wird, eine Relativierung der Nazis, denn andere sind auch so. Araber. Muslime. Nicht wir, die Deutschen, wir haben es gelernt. Warum haben die Palästinenser, Araber und Muslime nichts aus unseren Fehlern gelernt, etc..

Die israelische Regierung profitiert von solchen Szenarien und Anknüpfungspunkten. So hat Israels Minister Natan Scharanski die umstrittene EU-Studie zum Antisemitismus in Europa gelobt: „Die Erhebung zeige eine klare Verbindung zwischen der Größe von Muslim-Gemeinschaften und Angriffen gegen Juden.“ (taz 06.12.03, S. 7, ap). Selbst das Töten von Menschen von der Regierung wird damit gerechtfertigt („Einstellung der antiisraelischen Hetze“), ohne dass die Presse dies weiter kommentiert: „Scharon knüpft ein Ende der 'präventiven' Exekutionen nicht nur an eine Gewalteinstellung, sondern zudem an die Zerschlagung der Infrastruktur der militanten Opposition sowie die Einstellung der antiisraelischen Hetze.“ (taz, 11.09.03, S. 13, „Ein Schritt weiter weg vom Frieden“, Knaul).

2.6.4 Im- und Export, Migranten und Islamisten

Versuchen wir, das Szenario anhand des Topos „Arabischer/Islamischer Antisemitismus ist Import aus Europa“ und anderer, z.B. „Der Elfte September war antisemitisch“, weiter zu bestimmen:

„Schon die Anschläge vom 11. September 2001 trugen eine unterschwellig antisemitische Handschrift, richteten sie sich mit dem World Trade Center in New York doch gegen ein Symbol dessen, was nach antisemitischer Logik seit jeher als Zentrale des globalen Weltjudentums gilt. Dieses Feindbild, das aus der Mottenkiste des alteuropäischen Antisemitismus stammt, hat im Gedankengebäude radikaler Islamisten eine neue Heimat gefunden, wo es neue, böse Blüten treibt – ein Import aus jenem Westen, gegen den er sich wendet. Im Nahen Osten verbindet sich die Aggression gegen die empfundene Übermacht des Westens mit dem Schreckgespenst der 'jüdischen Weltverschwörung'.“ (taz 17.11.03, S. 17, „Am Abgrund der Geschichte. Mit dem Anschlag von Istanbul appellieren islamistische Terroristen einmal mehr an einen latenten Antisemitismus in der muslimischen Welt. Doch sie entfremden sich damit von ihren Gesellschaften“, Daniel Bax)

Einen ganzen Artikel – und nicht nur einen, s.u. – war es auch der Zeit wert, als Teil 6 der Serie „Der Islam und der Westen“ unter dem Titel: „Der importierte Hass. Antisemitismus ist in der arabischen Welt weit verbreitet. Dabei widerspricht er islamischer Tradition.“ Das Szenario „Arabischer/Islamischer Antisemitismus“ verdichtet sich hier wieder mit Rekurs auf die Nazis:

„Islamisten und Neonazis eint der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung. Der ‚Antizionismus' radikaler Muslime unterscheidet sich in Wahrheit kaum von der NS-Ideologie. (...) Erst im 20. Jahrhundert lernten Muslime, die Juden als Feinde zu sehen – mit Nachhilfe aus Europa. (...) Seit dem 11. September warnen viele vor dem 'Feindbild Islam'. Aber das antisemitische Motiv der Anschläge geht in der Diskussion völlig unter.“ (Bassam Tibi, ZEIT 09.02.03)

Dieses Szenario hat eine geografische und eine historische Dimension, die das Allumfassen des Terrorismus und Antisemitismus ausdrücken. Hier zwei Beispiele für die geografische Dimension:

„Im radikalislamistischen Terror äußert sich von Indonesien über Marokko und Frankreich bis nach Israel ein mörderisches Weltbild, das davon ausgeht, dass alle Juden Zionisten sind, alle Zionisten aber Imperialisten, Kolonialisten und Rassisten – alle Juden mehr oder minder wie die Nazis sind. Schließlich kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Anschlag auf das WTC ein – mindestens auch – judenfeindlich motiviertes Verbrechen gewesen ist.“ (Brumlik, taz /hagalil.com 16.09.03, S. 12, „Antisemitismusvorwurf: ... die Augen fest geschlossen. Dient der Antisemitismusvorwurf der Aufklärung? Oder regiert hier die Logik des Skandals? Gelassenheit bei Angriffen auf Juden ist jedenfalls völlig fehl am Platz“)

„Der Hass auf Juden allgemein ist von Ägypten über Saudi-Arabien bis in die arabischen Golfstaaten nicht nur im Internet oder an den Grenzen präsent. Ob im Fernsehen, in Moscheen oder den Kaffeehäusern – überall wird gegen Israel und seine Politik gewettert.“ (WELT 18.11.03, „'Adolf Hitler war in Ordnung.' Antisemitismus gehört in der arabischen Welt zum Alltag – Selbstkritik am Judenhass findet man selten“, Christiane Buck)

Im letzten Zitat ist es die Journalistin, die „Juden“ mit „Israel“ gleichsetzt. In der historischen Dimension des „Arabischen/Islamischen Antisemitismus“ wird die Vorstellung verfestigt, dass Palästinenser, Araber und Muslime auch schon früher anfällig für Judenhass/Nationalsozialismus waren, wie in dieser Überschrift von Matthias Küntzel in der taz am 12.04.03: „Ein deutsches Schweigen. Die Vorfahren der islamischen Hamas arbeiteten gern mit den Nazis zusammen. Ein Umstand, den die deutsche Linke in ihrer Nahostsolidarität gerne ausblendet“. Auch: „Der Mufti und die Nazis. In seinem Buch ‚Djihad und Judenhass' macht Matthias Küntzel die Bedeutung des Antisemitismus für die Ideologie der Islamisten deutlich. In den Dreißigerjahren unterhielten die ‚Muslimbrüder' mehr als freundliche Beziehungen zu den Nazis.“ (Netzzeitung 07.04.03, Daniel Kilpert).

Nicht nur Import aus Europa, auch die Zusammenarbeit zwischen Islamisten und Rechtsextremen konstituiert die Assoziation, dass Antisemitismus heutzutage bei Arabern und Muslimen zu suchen ist. Die Topoi „Radikale Muslime verbinden sich mit rechten Extremisten“ sowie „Die Gefahr versteckt sich in seriösen Gewändern“, hebt Bundestagspräsident Thierse hervor: „Gewalttätige Angriffe auf jüdische Einrichtungen seien traurige Realität. Zudem bilde sich eine 'unheilvolle Allianz' von radikalen Muslimen und rechten Extremisten. Thierse betonte auch, dass die rechtsextreme Szene in 'seriöse Gewänder' schlüpfe. So sei es eine schlimme Behauptung, Deutschland werde wegen seiner Geschichte bis heute ausgenutzt.“ (taz 12.12.2003, S. 2, „Bundestag gegen Antisemitismus“). Siehe auch diesen Teil einer Schlagzeile: „Ergebnis: Nicht nur Rechtsextremisten, auch Muslime üben Gewalt gegen Juden aus.“ (taz 02.12.03, S. 4, Werner Bergmann-Interview von Jan Feddersen zur Antisemitismus-Studie der EU). Tatsächlich wird nicht nur radikalen Islamisten, sondern auch arabischen Migranten in der deutschen Presse häufiger vorgeworfen, irgendwie mit dem Holocaust in Verbindung zu stehen:

„Eine erstaunliche Entwicklung: Sechs Jahrzehnte nach dem Holocaust scheint es für Juden in Deutschland wieder No-go-Areas zu geben: einmal mehr avancieren Juden zu 'Sündenböcken', wie es Juliane Wetzel sieht. Und Übergriffe muslimischer Migrantenkinder auf Juden in den vergangenen Jahren auch in Deutschland scheinen dieser Sichtweise Recht zu geben (siehe Kasten). Deniz Yücel kritisiert, dass auch manche Linke und Globalisierungskritiker das Problem bei Muslimen gern verdrängten: 'Man toleriert Islamismus und Antisemitismus als Teil der kulturellen Identität' – wenn man nicht gar selbst antisemitische Ansichten habe. Verhüllt als Antizionismus.“ (taz 02.12.03, S. 4, „Wenn die Kippa wem nicht passt. Eine Studie der EU zeigt, dass Juden in Europa zunehmend von jungen Arabern bedroht werden“, Jan Feddersen und Philipp Gessler)

Ähnlich im folgenden Beispiel. Der Nahostkonflikt würde an französischen Schulen für Antisemitismus sorgen. „Heranwachsende maghrebinischer Herkunft“ seien dafür verantwortlich zu machen, wie es am Ende des Artikels heißt, aus dem diese Zitate stammen. Gleichzeitig zeigt der Artikel, dass hier Ausnahmen ausgewählt wurden, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Man beachte die Wendung: „Mit dem Vorwurf geschockt, Juden würden palästinensische Kinder töten“, die schön zeigt, wie Kritik an der Besatzung durch den Antisemitismusvorwurf tabuisiert wird:

„Die Lage sei noch nicht dramatisch, aber (...). Anstoß für die Warnungen des Erziehungsministers ist der Fall eines elfjährigen jüdischen Schülers. An einer Mittelschule im 20. Pariser Arrondissement war der Junge von seinen arabischstämmigen Mitschülern als 'Dreckjude' beschimpft und mit dem Vorwurf geschockt worden, Juden würden palästinensische Kinder töten. Als sich der Junge gegen die Anschuldigungen zur Wehr setzte, verprügelten ihn die Schüler. Seine Eltern entschieden sich daraufhin, ihn auf eine jüdische Privatschule zu schicken. Nach Mitteilung des Rats der jüdischen Institutionen in Frankreich haben sich auch andere jüdische Familien entschlossen, ihre Kinder von öffentlichen Schulen zu nehmen. (...) Zwar sind solche Fälle nach Erkenntnissen des Erziehungsministeriums eher die Ausnahme.“ (FR 07.03.03, „Der Nahost-Konflikt schürt den Hass in französischen Schulen. In Pariser Problemvierteln häufen sich Übergriffe auf jüdische Jugendliche / Antisemitismus dringt in den Alltag vor“, Hans-Hagen Bremer)

Junge Muslime und Araber und Türken sind aber nicht nur eine Gefahr für Juden, sondern zum Beispiel auch für Schwule. Bei solchen Artikeln – auch über die schwache Bildung in den arabischen Ländern – ist eine begleitende Selbstkritik angebracht, denn wenn man sich beispielsweise in der Schwulenszene umhören würde, wie es denn mit der Integration im Lande so aussieht, kann man nicht davon ausgehen, dass die Gefahr der Muslime so in den Vordergrund rücken würde:

„39 Prozent der Gewaltakte wurden von jungen Männern verübt, die im weitesten Sinne dem muslimischen Kulturkreis zuzurechnen sind, egal ob sie einen deutschen Pass haben oder einen der Türkei. Die öffentliche Gefahr für Schwule geht extrem von Jugendlichen türkischer oder, generell, islamischer Prägung aus.“ (taz 8.11.03, S. 17, „Was guckst du? Bist du schwul? Ein hoher Prozentsatz der Gewalt gegen Schwule wird von Menschen aus dem islamischen Kulturkreis verübt. Das Problem wird tabuisiert, seine Thematisierung ist politisch nicht korrekt. Stattdessen wird gefragt: Sind die Angegriffenen zu offen mit ihrer sexuellen Identität umgegangen?“ Jan Feddersen)

Siehe auch: „Der Islam, das Gegenteil. Eine neue Studie des Innenministeriums warnt vor der Gewaltbereitschaft junger Muslime in Deutschland“ (SZ 05.01.04, Alexander Kissler). Neben dem Import von Antisemitismus aus Europa gibt es auch einen Export vom Nahen Osten nach Europa, wie in der Überschrift eines Kommentars in der FR: „Die arabischen Wurzeln. Halbinsel exportierte gewaltbereiten Islamismus.“ (FR 04.03.03, Karl Grobe), oder auf Migranten bezogen: „Jugendliche Muslime, die ja häufig vor allem arabischsprachige Medien nutzen, übertragen den Nahostkonflikt auf Europa.“ (Werner Bergmann-Interview von Jan Feddersen zur Antisemitismus-Studie der EU, taz 02.12.03, S. 4). Letztlich steht damit der gesamte Nahe und Mittlere Osten unter Verdacht. Man vermutet in dem Fremden eine „religiös verschlüsselte Metaphorik“ und suggeriert im Titel, in aufklärerischer Weise ein Tabu zu brechen, auch das ein wiederkehrendes Motiv:

„Die Studie macht deutlich, dass dieser islamistische Judenhass keineswegs bloß eine Reaktion auf die israelische Besatzung in Palästina ist. Er gründet oft auf einer fest gefügten antisemitischen Weltanschauung, wie sie in arabischen Propagandapublikationen, in Zeitungen, auf Hörkassetten und durch das Internet über ganz Europa verbreitet werden. (...) Wer kann schon arabischen Predigten folgen, die viele Muslims in Europa in Moscheen hören, wer die arabischen und türkischen Bücher und Zeitungen verstehen, die sie täglich lesen? Wer kann die religiös verschlüsselte Metaphorik entziffern, der sich extremistische Gruppen bedienen?“ (ZEIT 51/03, S. 7, „Bloß nicht zu laut sagen. Der islamische Extremismus in Europa nimmt zu. Das schadet auch den Muslimen“, Richard Herzinger, über die Studie des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung)

„Muslime in Sorge“, schreibt die FR am 08.12.03 (Ursula Rüssmann), denn solche Verdächtigungen kann man nur schwerlich entkräften, vor allem, wenn man z.B. mit der Besatzung Palästinas nicht einverstanden ist. In dem Artikel distanzieren sich Nadeem Elyas (Zentralrat der Muslime in Deutschland) und Ali Kizilkaya (Islamrat Deutschland) nach Veröffentlichung einer Wiener Studie vom Antisemitismus. Nachdem deutlich wurde, dass der Antisemitismusvorwurf fast unbegrenzt gemacht werden kann, können Zweifel und Angst, einmal gestreut, unabhängig von jedweden Gegenargumenten oder Versuchen von vertrauensbildenden Handlungen zu der Vorstellung führen, dass Islamisten/Radikale/Muslime etc. jederzeit antisemitisch aktivierbar sind, sei es als Schläfer, als Frustrierte, als Verrückte etc.. Am Schluss des Artikels heißt es dahingehend: „Zugleich hätten die Verbände zunehmend mit latentem Antisemitismus an der Basis zu kämpfen. 'Da wächst was von unten', warnt Jürgen Micksch, Vorsitzender des Rats. Im jüdischen Bereich hätten sich zugleich 'sehr starke Ängste' entwickelt, die den Dialog mit Muslimen erschweren.“ Sehr starke Ängste im jüdischen Bereich, das durchgängige und nicht hinterfragbare Argument.

Des Antisemitismus, aber auch des Terrorismus wird der Islam in dieser Weise verdächtigt. Es liegt eine Erwartungshaltung vor, ein Angstbild, das sich erfüllen „soll“. Der Fokus des Szenarios liegt auf dem Extrem und nicht auf dem Aufbau konstruktiver Dialogmomente mit einem moderaten muslimischen Mainstream, dessen Existenz nicht in dieses Bild passen würde und der also nicht als Gesprächspartner erkannt wird. Eher wird eine Doppelmoral beim Anderen vermutet, da, wo man sich nicht sicher ist. Sehr deutlich in den folgenden zwei Meldungen:

„Islamische Extremisten in Deutschland haben nach Angaben des bayerischen Innenministers Günter Beckstein bisher 'überraschend ruhig und still' auf den Irak-Krieg reagiert. Der Verfassungsschutz habe 'eher eine Reduzierung der Aktivitäten festgestellt', sagte Beckstein am Montag in München. (...) Doch bei aufwühlenden Bildern von zivilen Kriegsopfern könne die Lage blitzschnell umschlagen, warnte Beckstein. Bei einem türkischen Einmarsch in Nordirak könnte auch die kurdische PKK/Kadek wieder militant werden.“ (FR 25.03.03, „Verfassungsschutz: Islamisten bislang 'überraschend still'“, ap)

„Nach den Feststellungen der Nachrichtendienste verfolgen die fundamentalistischen Organisationen eine Doppelstrategie: In der Öffentlichkeit präsentierten sie sich gesetzestreu, tolerant und dialogbereit. In Wahrheit aber, so Hessens Innenminister Volker Bouffier (CDU), ‚streben sie eine totalitäre islamistische Gesellschaft an, die sämtliche Werte unserer Ordnung außer Kraft setzen soll'. Auf diesem Weg nutzten die Islamisten ‚massiv Einbürgerungen', bekräftigt der Minister Erkenntnisse des hessischen Verfassungsschutzes, die sich mit denen anderer Landesämter decken.“ (WELT 05.06.03, „Fanatiker bemühen sich verstärkt um Einbürgerung“, Peter Scherer)

2.6.5 Islamfreundliches Deutschland/ Muslime selber Schuld

Ein ganz anderes Bild von der Virulenz des Feindbilds Islam als die vorliegende Studie zeichnet Eberhard Seidel in der taz am 10.03.03 auf Seite 15: „Wenn Selbstkritik offene Türen einrennt. Der Kampf der Kulturen fällt aus: Die Deutschen sind seit dem 11. September 2001 islamfreundlicher und aufgeklärter als ihre europäischen Nachbarn. Der Dialog der Kulturen hat dennoch ein Problem: Wir machen immer nur den Westen für den desolaten Zustand der arabischen Welt verantwortlich.“ Demnach gibt es gar kein Feindbild Islam. Auch wird hier wieder „mit etwas bösem Willen“ der Antisemitismusvorwurf an jemanden gerichtet, der sich für Palästina einsetzt:

„Im Gegensatz zu Großbritannien, Italien und den Niederlanden fehlt in Deutschland jeder Ansatz von antiarabischer und antiislamistischer Kampfbereitschaft. (...) In keinem anderen westeuropäischen Land wurden nach dem 11. September so wenig antiislamische Übergriffe registriert wie in Deutschland. Der Duisburger Diskursanalytiker Siegfried Jäger, dessen wachem Auge kein rassistischer Beitrag in den Medien entgeht, widerspricht der ‚Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit' (EUMC), die in ihrem jüngsten Bericht behauptet: Die Fremdenfeindlichkeit habe nach dem 11. September wegen der verstärkten Angst vor dem Islam zugenommen. (...) Seit dem 11. September 2001 ist die Berichterstattung über Einwanderer und den Islam in Deutschland weniger dramatisierend als in der Zeit davor, es wird seltener ein Feindbild Islam konstruiert. Diese Einschätzung basiert auf der Auswertung von mehr als 1.000 Artikeln aus Bild, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frankfurter Rundschau und Focus. (...) Warum erhält Küng Beifall auf offener Szene, wenn er mit hohem moralischem Tremolo die palästinensischen Opfer des Nahostkonflikts beklagt, aber kein Wort des Mitgefühls für die israelischen übrig hat? Mit etwas bösem Willen kann man in all diese Reaktionen einen geschickt verkleideten Antisemitismus hineininterpretieren. (...) Offensichtlich ist es einfacher, den Westen für den desolaten Zustand der arabischen Welt verantwortlich zu machen, als zu sagen: Die Menschen in den arabischen Ländern werden von einem verkommenen Haufen von Despoten regiert und drangsaliert.“

Ähnlich am 20.01.04. In Seidels und Michael Kiefers Anschuldigungen sieht man, wie Muslime mit Nazis verglichen werden („islamisierter Antisemitismus“), weil eine Ähnlichkeit durch vermeintliche Judenablehnung (und nicht etwa Ablehnung von Besatzern und deren Spezis) gesehen wird. Die strikte Trennung zwischen dem Israel/Antisemitismus-Szenario und dem Palästina-Szenario erschwert die Sicht auf die Gesamtsituation. Während der ferne Mahatir, arabische Politiker und Geistliche und die ganze zweite Intifada bemüht werden, um politische Situationen zu deuten und zu erklären, fällt kein Wort über die Besatzung, die sogar mehr Grund zur Wut bietet und darüber, dass dies auf die unkritischen Israel-Unterstützer auch in Deutschland zurückfällt:

„Die zahlreichen rassistischen Gewalttaten der letzten fünfzehn Jahre galten, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen Muslimen und deren Organisationen als solche.“ „Die These, Antiislamismus ersetze Antisemitismus, geht in der Regel mit der Bereitschaft einher, Handlungen und Äußerungen von Muslimen – und seien sie auch noch so verwerflich – mit einer großen Duldsamkeit und Toleranz zur Kenntnis zu nehmen. Wie das funktioniert, lässt sich unter anderem in einem Interview mit Navid Kermani zum 'Islamischen Antijudaismus' nachlesen (taz, 26. 11. 03). (...) Die Ausführungen Mahathirs, die eine jüdische Weltverschwörung konstruieren, lassen kein relativierendes Aber zu. (...) Selbst hohe sunnitische Würdenträger vertreten in Bezug auf den Palästinakonflikt seit Jahren Positionen, die mit Antisemitismen durchsetzt sind. Bekannt ist vor allem Scheich Mohammed Sayyid Tantawi (...)“ „Antisemitische Deutungsmuster haben sich seit Beginn der zweiten Intifada unter Muslimen epidemisch verbreitet. Wer Zweifel hegt, dem sei die im Jahr 2002 erschienene Studie 'Muslim Antisemitism – A Clear and Present Danger' von Robert Wistrich, dem Autor des Standardwerkes 'Der antisemitische Wahn', empfohlen. Auch in Westeuropa hat der Antisemitismus unter den Muslimen erheblich an Boden gewonnen, wie die in der kürzlich veröffentlichten Studie der Europäischen Beobachtungsstelle für Rassismus (EUMC) aufgelisteten Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen belegen. Von vergleichbaren Angriffen europäischer Juden auf Muslime ist bislang noch nichts zu hören gewesen. Angesichts dieser Entwicklungen ist die These, der Antiislamismus habe den Antisemitismus ersetzt, verantwortungslos, da sie reale Gefährdungslagen verschleiert. Deutschland braucht keinen ideologisierten Wettbewerb von Minderheitengruppen, sondern nüchterne Analysen zum deutschen und islamisierten Antisemitismus sowie zum Ausmaß und Gefährdungspotenzial der Islamfeindlichkeit.“ (taz 20.01.04, S. 12, „Kein Vergleich. Die These, der Antisemitismus sei durch einen neuen Antiislamismus abgelöst worden, ist nicht belegbar und verantwortungslos. Sie verschleiert die wahren Gefährdungslagen“, Michael Kiefer / Eberhard Seidel – Seidel war bis 2002 Leiter des taz-Inlandressorts. Von ihm erschien kürzlich „Die schwierige Balance zwischen Islamkritik und Islamphobie“, Michael Kiefer ist Islamwissenschaftler in Düsseldorf. Von ihm erschien 2002: „Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften“)

Bezeichnend Sätze wie: „Antisemitische Deutungsmuster haben sich seit Beginn der zweiten Intifada unter Muslimen epidemisch verbreitet“ mit der für Feindbilder typischen Krankheitsmetaphorik (auch das Wort „Wahn“ ist typisch), der in verbrämter Form nichts anderes sagt, als dass sich großer Unmut über die Besatzung zeigte. Eine Binsenweisheit, die hier als Antisemitismus verkauft wird. Die „reale Gefährdungslage“ geht daher eher von Seidel und Kiefer aus, die ständig Antisemitismus rufen und damit das Gespräch beenden. Sie begünstigen und erhalten die Angst- und Ausgrenzgesellschaft, denn Lösungen zu einem sozialen Frieden gibt es hier nicht außer der vollständigen Unterordnung unter die Obrigkeit der Antisemitismusrufer. Und darunter haben wir alle zu leiden, nicht nur die Muslime. Eine erwähnenswerte These zu den Ursachen des muslimischen Antisemitismus stellen ergänzend Werner Bergmann und die taz auf, wenn sie sich fragen: „taz: Neiden viele Muslime Juden die erfolgreiche Ankunft in der Bürgerlichkeit? Bergmann: Das könnte eine Rolle spielen.“ (taz 02.12.03, S. 4, Werner Bergmann-Interview von Jan Feddersen zur Antisemitismus-Studie der EU).

Die palästinensische Autorin Ghada Karmi (Exeter Universität) weist in der SZ am 13.01.04 hin auf „Eine gefährliche Obsession. Der arabische Verfolgungswahn“. In diesem Artikel nennt sie arabisch-muslimische Verschwörungstheorien, die sich zum Beispiel auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ beziehen, aber auch auf die Briten und die Amerikaner. „Viele Araber sind von der Verschwörungstheorie notorisch abhängig“, schreibt Karmi und gibt eine Reihe von Beispielen, bei denen sie sich auf Gäste ihres Elternhauses bezieht und Formulierungen verwendet wie „munkeln“ und „Es hieß“ und „man“ und „wird behauptet“ und „Die Verschwörungsanhänger waren auch der Ansicht...“ und „Die Verschwörungstheorie besagte außerdem...“. Karmi spricht von einer „selbstzerstörerischen Bigotterie“ und verweist, wie unten zu sehen, auf „Hirngespinste“, die „mit den arabischen Niederlagen und der Machtlosigkeit“ zu erklären seien:

„Das Problematische an diesen Theorien ist, dass sie oberflächlich gesehen durchaus Plausibilitätsgründe gibt. (...) In der Tat haben sich im Westen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens äußerst kritisch über den Islam geäußert. Die derben anti-muslimischen Bemerkungen von William Boykin, einem hoch dekorierten amerikanischen General, wurden ohne mit der Wimper zu zucken hingenommen.“ „Geht man von den ursprünglichen historischen Voraussetzungen aus, lässt sich nachvollziehen, wie eine entsprechende Kombination von Tatsachen unweigerlich zu dem Schluss führt, es gebe tatsächlich eine Verschwörung gegen den Islam. Je mehr die amerikanischisraelische Achse die arabische Welt vereinnahmt, desto stärker setzen sich Vorstellungen von einer anti-islamischen Verschwörung fest. Doch selbst wenn sie prima facie überzeugend wirken, wäre es ein großer Irrtum, ihnen Glauben zu schenken. Am ehesten sind diese Hirngespinste mit den arabischen Niederlagen und der Machtlosigkeit zu erklären. Sie sind Ausdruck eines defensiven Rückzugs von der Wirklichkeit – darum sind sie aber nicht weniger gefährlich. Sie lähmen das analytische Denken, verschleiern die wahren Ursachen für die Unterlegenheit der Araber und füttern den arabisch-muslimischen Antisemitismus. Die Hauptfrage, derer sich die arabische Welt heute annehmen muss, ist, wie sie dieses gefährliche Abgleiten in den Verfolgungswahn und diese selbstzerstörerische, religiöse Bigotterie in den Griff bekommen kann. Denn die vorrangige Aufgabe ist, die israelische Besatzung und den Drang der neo-konservativen US-Regierung nach Hegemonie im Nahen Osten anzugehen. Beides hat mit Religion wenig zu tun, auch wenn sich die Akteure ihrer Symbole bedienen.“ (Deutsch von Alexandra Senfft)

Über ihrem Unmut hinsichtlich arabischer Verschwörungstheorien gegen den Islam nimmt Ghada Karmi tatsächliche Aggressionen gegen Muslime „ohne mit der Wimper zu zucken“ hin. Während sie auf Seiten des Ostens von „religiöser Bigotterie“ spricht, heißt es einen Atemzug später für die westliche Seite: „hat mit Religion wenig zu tun, auch wenn sich die Akteure ihrer Symbole bedienen.“ Die „vorrangige Aufgabe“ ist also nicht, „die israelische Besatzung und den Drang der neo-konservativen US-Regierung nach Hegemonie im Nahen Osten anzugehen“, wie Karmi in Kürze schreibt, sondern die arabisch-muslimische „Bigotterie“ anzugehen, wovon der gesamte Artikel handelt. Die Proportionen stimmen hier nicht ganz. Man muss auch keine Verschwörungstheorien gegen den Islam bemühen, um sich ein Bild von der politischen Lage zu machen. Verschwörungstheorien jedenfalls – zumal private – stehen in keinem Verhältnis zu Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des internationalen Rechts. Man könnte übrigens nach der Lektüre von Ghada Karmi fast denken, die Araber und Muslime hätten sich irgendwie verschworen...

Fußnoten:
1: Bei Herrn Degen ist dennoch deutlich, dass er nicht aus Böswilligkeit spricht, sondern eben aus diesen Szenarios heraus. Siehe als Beleg diese Kritik: „Dieser Philosemitismus geht mir auf den Wecker. Er ist unwahr und heuchlerisch. Der einzige, dem diese Heuchelei zuwider wurde und der dann explodiert ist, war Walser.“ (Jüdische Allgemeine online, 05.03.03, „'Der Philosemitismus geht mir auf den Wecker.' Ein Gespräch (von Daniela Breitbart) mit Michael Degen über Gott, die Welt und den Umgang mit dem Judenhaß“) (zurück)

2.7 Feindbild Islam / Araber
2.7.1 Islamismus, Fundamentalismus, radikaler

Wie oben gesehen gibt es von vielen Seiten Übertragungen von Eigenschaften der Nazis auf Palästinenser, Araber und Muslime, mit allen Assoziationen, die das mit sich bringt. Es ist ein Feindbild, das so entstehen kann. Damit wird keineswegs geleugnet, dass es gefährliche Tendenzen in der Islamischen Welt gibt. Auch Muslime berichten davon. Im Falle einer Häufung von Feindbild-Darstellungen aber kann man sich schwerlich eine fundierte Meinung bilden. Es gibt viele Quellen, in denen der Feind im Extrem des Islam und der arabischen Gesellschaften gesehen wird, er wird fixiert und es wird sich an ihm abreagiert, wie hier:

„Islamischer Fundamentalismus ist Feindseligkeit bis zum Anschlag.“ Und: „...muss gefragt werden, woher die Feindseligkeit gegen Israel rührt und was sich dahinter verbirgt.“ Und: „Heute ist der Islamismus die einzige weltweite Kraft, die den Suchenden eine umfassende ideologische Begründung anbietet.“ Und: „Niemand will, soll, darf mehr Antisemit sein. Also wird man Antizionist.“ Und: „Es ist zynisch und gefährlich, wenn nicht einmal wir Deutschen ein Bewusstsein entwickeln können für die Angst vieler Juden, vieler Israelis, ausgelöscht zu werden (...).“ Und: „Der Historiker Léon Poliakov hat wohl Recht, wenn er sagt, eine bestimmte Form der Kritik am Staat Israel sei antisemitisch, weil andere Maßstäbe an das israelische Volk gelegt würden als an andere Völker. Man verlangt etwas von den Juden, was sich durch die Geschichte seit eh und je als falsch erwiesen hat: dass die Opfer aus ihrem Leid lernen.“ Und am Schluss: „Es ist unheimlich, dass nicht Ahnungslosigkeit, Ignoranz, Zynismus und die neue Feindseligkeit Diskursthema Nummer eins in unserem Lande sind.“ (DIE ZEIT 36, 28.08.03, „Feindseligkeit. Weshalb Ted Honderichs Buch 'Nach dem Terror' nicht hätte erscheinen dürfen und weshalb unsere Reaktion auf den israelisch-palästinensischen Konflikt ignorant ist“, Ulla Berkéwicz)

Der Feind entsteht durch Extrapolation von Extremen, die selten spezifiziert oder gar analysiert werden und die häufig deutlich mit Nazi-Attributen belegt werden wie der Ergreifung der Weltherrschaft, dem Judenhass, der Ablehnung des Libertären und allen Eigenschaften, mit denen man auch Nazis charakterisiert. Auch Totalitarismus wie hier: „Europäisch-Israelischer Dialog: Licht in Nahost. Auf dem 5. Europäisch-Israelischen Dialog diskutieren Politiker und Sicherheitsexperten offen über die islamistische Gefahr, eine neue Form des Totalitarismus“ (WELT 08.12.03, S. 3).

„Die radikalen Islamisten hetzen nicht gegen den Neoliberalismus, sondern gegen das Libertäre. Der amerikanische Präsident ist für sie zwar ein Kriegsgegner, doch jede Frau, die selbstbestimmt leben will, ist für sie ein gleichsam natürlicher Feind. Jeder emanzipierte, aufgeklärte oder säkulare Muslim gilt ihnen als Knecht Satans. (...) Die islamistische Rage beschränkt sich nicht auf Israel. Der europäische Judenhass wurde in den Orient importiert.“ (FR 26.08.03, „Importware Judenhass. Antisemitismus und Antizionismus: Eine Begriffsklärung“, Doron Rabinovici. Schriftsteller und Historiker in Wien, zuletzt ist erschienen „Credo und Credit. Einmischungen“, Suhrkamp 2001)

„Der radikale Islamismus aber ist etwas ganz anderes. Ihn schuf Hassan al-Banna in Ägypten, der 1928 die Muslim-Bruderschaft gründete. (...) So wenig wie Hitler in Mein Kampf spricht Qutb deutlich aus, was mit ihnen zu geschehen habe. Aber die Schlussfolgerung ist klar – es gelte, die Juden zu vernichten, wo es eben geht. (...)“ „Was will der radikale Islamismus? Erstens nichts weniger als die Weltherrschaft. (...) Zweitens fordert der Islamismus die Abschaffung des Staates und seiner gesetzlichen Normen. Gott ist für ihn der alleinige Gesetzgeber (...) Drittens will der radikale Islamismus die Vernichtung der Juden und an erster Stelle Israels. (...) Wir müssen uns keine Illusionen darüber machen, dass jede radikale, universelle, apokalyptische Utopie absolut mörderisch ist. (...) Schließlich der Massenmord, der im radikalen Islamismus bisher nur angestrebt ist, in den anderen Fällen aber verwirklicht wurde. (...) Anders als Nationalsozialismus und Kommunismus ist der radikale Islamismus keine zentral organisierte Bewegung. Er ist nicht mit einem bestimmten Land verbunden, und mit Ausnahme von bin Laden hat er auch keine charismatische Führerpersönlichkeit hervorgebracht. Er operiert in einer Vielzahl von Gruppen, die miteinander eng kooperieren, auf ideologischer Basis. (...) Gewiss heizt der Nahostkonflikt den radikalen Islamismus und seinen Judenhass an. Allerdings wurde die genozidal antisemitische Linie des Islamismus durch seinen Vordenker Qutb bereits 1950 festgelegt. (...)“ „Wer glaubt, dass ein israelisch-palästinensischer Kompromiss den radikalen Islamismus zufrieden stellen würde, der irrt. (...) Ein naiver Pazifismus eignet sich zur Durchsetzung eines solchen Entwicklungsprogramms nicht. Es muss klar sein: Wo Beweise vorliegen, ist die Anwendung militärischer Gewalt gegen Terroristen unausweichlich. (...)“ „Der erste Schritt im Kampf gegen den radikalen Islamismus ist aber die Erkenntnis, dass die zivilisierte Welt in großer Gefahr schwebt – Globalisierungsfreunde wie Globalisierungsgegner, Linke wie Rechte, Sozialdemokraten, Liberale und Konservative sollten sich darin einig sein. (...)“ „Heute wird das Verständnis für die Motive der Terroristen damit begründet, dass man es sich nicht mit dem Islam verderben dürfe.“ (ZEIT 32/2003, 31.07.03, „Der dritte Totalitarismus. Radikale Islamisten kämpfen um die Weltherrschaft. Das haben sie mit Hitler und Stalin gemein“, Yehuda Bauer)

Die „Reaktion“ auf solchen Terrorismus ist hier letztlich also Gewalt. Zu den Konsequenzen des Antisemitismusvorwurfs siehe Punkt 2.8. Ein Paradebeispiel für die Abgrenzung vom islamischen Anderen ist der lange Artikel „Die Freiheit, die in der Unterwerfung liegt.“ von Robert Misik in der taz am 27.01.04 (S. 17-18) mit dem großen Foto einer Hand, die einen geöffneten Taschen-Koran in die Kamera hält. Es handelt sich um eine Art Festschrift zum Gedenken an den ägypischen Islamisten Sayyid Qutb. In der Argumentation wird ein Scheinverständnis für die Denkweise mancher Islamisten entwickelt, denn es heißt im Untertitel: „Seine Doktrin überrascht durch das antiautoritäre Freiheitspathos, mit der sie sich als Alternative zu Kommerz, Götzendienst und innerer Leere präsentiert.“ Tiefe Einblicke in die enttäuschte westliche Seele sind hier möglich, viel tiefere als die in Sayyid Qutbs Gedankenwelt. Nach der Lektüre fühlt man sich bereit, den Wert der Freiheit etwas herunterzustufen, denn was von Misik als mögliche Folgen antiautoritärer Freiheit gezeigt wird, möchten der Leser und die Leserin sicherlich nicht. Misik schließt mit der Bemerkung, dass Qutb zwar nicht den islamistischen Mainstream repräsentiere, aber:

„Alle Spielarten des islamischen Fundamentalismus speisen sich aus demselben Unbehagen: aus dem Gefühl einer seltsamen islamischen Größe und Moral, die mit der Realität, der Rückständigkeit und Abhängigkeit der islamischen Gesellschaften nur schwer in Einklang zu bringen ist. Ihre Gedanken haben, auch wenn die militanten Dschihad-Gruppen isoliert bleiben, eine Streuwirkung über den engen Kreis der Fundamentalisten hinaus. Und sie zeichnen sich durch eine antijüdische Militanz aus, wie sie gerade in muslimischen Gesellschaften jahrhundertelang unbekannt war. Viel ist in diesem islamistischen Diskurs plötzlich von der 'Heimtücke der Juden', dem 'verräterischen Volk', die Rede. Prinzipiell judenfeindliche Stellen finden sich schon im Koran. Dort heißt es in einer Sure sogar, die Juden stammen von Affen und Schweinen ab. Doch dies hat jahrhundertelang keine große Rolle gespielt im Verhältnis der Religionen. Erst im letzten Jahrhundert hat der moderne Islamismus die antijüdischen Traditionen revitalisiert und mit dem modernen Antisemitismus und Antizionismus vermengt. 'Der erbitterte Krieg, den die Juden gegen den Islam angezettelt haben', tobe seit 14 Jahrhunderten, behauptete Sayyid Qutb plötzlich. 'Die Juden waren es, die die Polytheisten aufhetzten.' Im islamistischen Diskurs werden die Juden als Volk mit sklavischem Charakter angesehen. Sie seien Speichellecker, wenn sie schwach, dafür aber brutal und arrogant, sobald sie mächtig sind. Nur wenige Muslime werden mit jedem einzelnen Argument von Leuten wie Qutb übereinstimmen. Aber viele dürften wohl einige seiner Schlüsse teilen und gewissermaßen den Klang der Argumentationsreihe eingängig finden. Qutbs Buch 'Meilensteine' hat einen eigenen Ton, einen faszinierenden Rhythmus. Man sollte es lesen, um die Resonanzen zu verstehen, die es ausgelöst hat und immer noch auslöst.“

Misik erklärt den Leserinnen und Lesern also, was Muslime wahrscheinlich denken, nämlich Anti-Jüdisches. Dass Juden im Koran von Affen und Schweinen abstammen, wurde nicht belegt. Dass das Buch eines so dargestellten Mannes auch noch zur Lektüre empfohlen wird, aus Gründen der Faszination, rundet den Artikel passend ab. Eine solche Religionskritik ist nur für den Islam möglich bzw. üblich, nicht etwa für das Christentum oder das Judentum1, wie auch das Beispiel von Ghada Karmi im vorigen Abschnitt zeigte und andere. Dort wurde argumentiert, dass es sich um die Vereinnahmung von Symbolen handelt, nicht wirklich um die Religion. Deshalb kritisiert man dort nicht die Religion. Beim Islam aber schon. Etwas nüchterner und differenzierter sieht die Terror-Problematik Norbert Jessen, wenn er schreibt:

„Vermutungen über eine fundamentalistische Internationale zwischen Bagdad und Gaza sind noch verfrüht. In der chaotischen Lage der palästinensischen Autonomie ist auch ein ganz lokaler menschlicher Kurzschluss möglich, bewaffnete Zellen schießen ohne Vorabsprache mit der eigenen Führung – die Kontrolle von ‚Eigeninitiativen' ist ein Problem. Radikale Elemente, stärker beeinflusst von iranischen Ideologen, sind ebenfalls am Werk.“ (WELT 16.10.03, Jessen)

Das Verbreiten von Feindbildern betrifft auch den bekannten israelischen Schriftsteller Amos Oz. Sein Feindbild ist ausgeprägt, wie man am Vokabular, an der Metaphorik und den Überzeichnungen sieht. Da ist auch keine Selbstkritik. Als gäbe es keine Ursachen des Terrors, als hätte das Problem nur etwas mit einer ideologischen Religion des Gegners zu tun. Er distanziert sich zwar anfangs von Gewalt, spricht aber von „Absperrungen und Blockaden“, die einen positiven Zweck hätten und spricht auch von „gründlicher Behandlung der Terror-Infrastrukturen“. Die Einstellung zur Gewalt bleibt ambivalent:

„Die Gläubigen werden also aufgefordert, einen Präventivschlag zu führen und alle diese Feinde aus der Welt zu entfernen. (...) Der paranoide Islam ist derzeit der größte Feind der moslemischen Zivilisation. (...) Diese Krankheit kann nicht mit Gewalt bekämpft werden. Sie muss geheilt werden. Der Islam, der wahnsinnig geworden ist, kann nur vom gemäßigten und vernünftigen Islam geheilt werden. (...) Die Lava des Terrors, die unter der Oberfläche gebrodelt hat, (bricht) allmählich aus. (...) Eine solche Menge von operativen Selbstmördern kann schon als Terrorwelle bezeichnet werden. Auch wenn der Anschlag in Jerusalem verhindert worden wäre, hätte diese Welle gestoppt werden müssen. Die PA hat es nicht getan, also hätte es die IDF tun müssen. Die Absperrungen und Blockaden, die gestern verhängt wurden, sind ein erster Schritt zu einer Abkühlung der Lava. Der nächste Schritt muss eine geregelte und gründliche Behandlung der Terror-Infrastrukturen sein...“ (Jedioth achronoth/ hagalil.com , 22.08.03, „Die palästinensische Strasse: Mit der Kraft der Mäßigung. Der paranoide Islam wertet das 'Moderne', den 'Westen', die 'Juden', die 'Großmacht' und sogar die 'internationale Gemeinschaft' als gemeine, anti-islamische Verschwörung“, Amos Oz)

Ein Feindbild ist eine individuelle oder gesellschaftliche Klischee-Vorstellung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie einen Feind im Mittelpunkt des politischen Bewusstseins hat. Auf mehr oder weniger dualistische Weise wird die Welt eingeteilt in Gut und Böse, bzw. in Ingroup und Outgroup. Der Feind erscheint oft depersonalisiert und unmenschlich. Er wird stereotyp dargestellt und dient als Projektionsfläche für die Dinge, die man an sich selbst nicht anerkennen mag und am Feind in übersteigerter Form identifizieren und so bei sich selbst verdrängen kann. Die Notwendigkeit der Manifestation scheint Ähnlichkeiten mit der Beichte zu haben. Man könnte von einer Spiegel-Manifestation sprechen oder einer Alibi-Manifestation. Das Ich und die Ingroup stehen hier jenseits der Kritik, bis auf Alibi-Einzelfälle. Solche Alibis gibt es auch beim Feind, um (sich selbst) von der Existenz des Feindbilds abzulenken. Siehe dazu: „Feindliche Übernahme. Natürlich gibt es anständige Muslime, nur sind sie die Ausnahme. Das zumindest suggerieren Medien wie etwa 'Der Spiegel'. Ein offener Brief an den Herausgeber“ von Navid Kermani (taz 09.10.03, S. 12). Der Islam wird häufig als 'das Andere' wahrgenommen, auch im Artikel: „Warum der politische Islamismus erfolgreich ist. Der Friedensforscher Bruno Schoch nimmt die technologische Rückständigkeit, die autoritären Systeme und die Unterdrückung von Frauen in der arabischen Welt in den Blick“ (FR 11.09.03).

Ein Beispiel für Vereinnahmung muslimischer Akteure in der deutschen Öffentlichkeit ist ein Beitrag des TV-Magazins Aspekte (ZDF) am 08.02.03, in dem mit einer „Tabu“-Enthüllung über den Koran aufgewartet wurde: Er sei in Wirklichkeit weder von Gott noch von Muhammad, wurde da mit Hilfe von verfremdeten Stimmen in abgedunkelten Räumen angedeutet, sondern eine Art Cover-Version der Bibel für Araber. Da im Koran selbst dauernd steht, dass der Islam im Kern nichts anderes ist als Judentum und Christentum, ist diese Enthüllung einigermaßen belanglos. Dass aber der in den Niederlanden forschende ägyptische Professor Nasr Abu Zayd – ohne sein Wissen – dafür herhalten musste, in diesem Kontext als Islamkritiker aufzutreten, war nicht gerechtfertigt. Zu Abu Zayd siehe zum Beispiel seinen Artikel in der ZEIT 02/2004, „Kant. 'Licht der Himmel und der Erde.' Die große Tradition islamischer Aufklärung geht nicht auf den westlichen Rationalismus zurück. Sie gründet in der Auslegung des Korans und muss immer wieder gegen Dogmatiker verteidigt werden“.

Es sei darauf hingewiesen, dass es zweifellos auch gute Beispiele in der Presse gibt, in denen über den Islam und die Muslime gesprochen wird, ohne dass darin Feindbilder zum Tragen kommen, z.B. Georg Brunold in der Zeit 19/2003, 02.05.03, „Allah ist mit den Wählern. Es ist eine Legende des Westens, dass der Islam sich nicht mit Demokratie verträgt. Aber freier Volkswille allein macht aus dem Irak noch keinen modernen Staat.“ Sehr konstruktiv auch Michael Kläsgen: „Ein sanfter, forscher Umgang mit dem Unbehagen. Das Beispiel Gouda zeigt, wie in den Niederlanden Einheimische und Zugewanderte Probleme bekamen – und wie man sie lösen kann“ (SZ 28.01.04, S. 3). Für solche Feindbilder allerdings, die es in der deutschen Presse gibt (und nicht selten gibt), kann das nur bedingt eine Kompensation darstellen, denn die Verbreitung von Feindbildern ist kein Kavaliersdelikt. Das gilt für alle Seiten, denn natürlich gibt es auch unter Muslimen und Arabern Feindbilder, bedauerlicherweise sogar eine ganze Menge. Auch gibt es zweifellos hinsichtlich Arabern und Muslimen im In- und Ausland berechtigte Sorgen, so wie es auch hinsichtlich Deutschen, Amerikanern oder Israelis, Christen und Juden, berechtigte Sorgen im In- und Ausland gibt.

Wenn also zum Beispiel ein Zeitungsredakteur davon berichtet, wie er den Psychoterror islamistischer Organisationen am eigenen Leib erfahren hat, dann ist das ganz sicher ein Punkt, der weiterverfolgt werden muss und nicht hingenommen werden kann. So wie bei Eberhard Seidel im taz-Kommentar „Im Namen Gottes. Im ‚Dialog mit dem Islam' hat sich ein bedenklicher Kulturrelativismus entwickelt. Das System der Einschüchterung von Kritikern durch Islamisten wird hingenommen.“ (20.05.03, S. 12, siehe dazu den Leserbrief von Anis Hamadeh am 22.05.03). Kritik muss zu allen Seiten hin möglich sein. Dies spielt sich auf einer ganz anderen Ebene ab als das Feindbild.2 Auf das Vorhandensein eines Feindbilds lassen allerdings Vorstellungen von „tausenden verwirrter junger Männer und Frauen“ schließen, wie in dieser aufschlussreichen Passage von selbigem Eberhard Seidel:

„Eines ist sicher: Es wird hierzulande weitere spektakuläre Gewaltdelikte im Namen des Islam geben. Sie müssen nicht immer so glimpflich verlaufen wie die von vergangener Woche. Denn in Deutschland gibt es tausende verwirrter junger Männer und Frauen, die in einem Milieu sozialisiert werden, das die weltweite Opferrolle des Islam seit Zeiten variantenreich beklagt. (...) Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen den Feindbildkonstruktionen der politischen Mitte und den Opfergruppen, die sich rechte Jugendliche wählen. (...) Die großen islamischen Verbände täten gut daran, diese Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen und zu bedenken, was ihre Opferdiskurse und Feindbildkonstruktionen bei ‚ihren' Jugendlichen auslösen können. (...) Wer die Welt so schlicht und einseitig interpretiert, der begünstigt Hass und Gewalt.“ (taz 05.05.03, S. 13, „Verzweifelt und verführbar. Busentführungen: Die unberechenbare, spontane Gewalt frustierter junger Muslime stellt die Innenpolitik vor ebenso große Herausforderungen wie der islamistische Terror“, Seidel)

Der Begriff des „Opferdiskurses“ (auch: Opferrhetorik) unter Muslimen, der hier zum Vorwurf gemacht wird, weist ebenso auf Feindbildkonstruktionen wie die Verknüpfung von „Islam“ und „Rechts“. Als Indikator reicht es, jeweils „Islam/Muslime“ gegen „Judentum/Juden“ auszuwechseln, denn alle Teile der Gesellschaft haben ihren Opferdiskurs und beklagen sich, das ist nichts Islam-Spezifisches. Manche sehen sich sogar als Opfer, weil sie einen Angriffskrieg befürworten: „Anat Carmel-Kagan von der Jewish Agency meint, (...) während des Irakkriegs habe man in Europa erleben können, wie eine Antisemitismuswelle über den alten Kontinent geschwappt sei: 'Der Krieg war gegen uns.' Da sei es fast schon wieder üblich geworden zu sagen: 'Israel und die Juden sind an allem schuld.'“ (taz 29.11.03, Magazin S. I-II, „Wozu noch nach Israel?“, Philipp Gessler). Oder hier: „Nicht der Antisemit verstößt gegen das Tabu, wohl aber der Kritiker, der ihn als solchen bezeichnet. Wer, zumal aus jüdischer Position, diesen Vorwurf erhebt, läuft Gefahr, sich zu diskreditieren, sich außerhalb des akzeptierten Diskursraums zu begeben.“ (taz 26.09.03, S. 12, Schapira).

Auch „Rechts“ gibt es überall, wird doch sogar die israelische Regierung in der Presse als rechts und sogar als rechtsextrem eingeschätzt (siehe unten 2.9.1). Im Verlauf desselben Artikels zeigt Seidel ein zweites, alternatives Szenario aus seinem Repertoir, in dem real die andere Seite gezeigt wird... allerdings in der Vergangenheitsform, als wäre das alles nicht mehr aktuell. So wirkt der Schlusssatz schablonenhaft und unglaubwürdig:

„Gleichzeitig waren in Deutschland nur wenige bereit, sich mit ihrem Leid zu beschäftigen, für das der heutige Ministerpräsident Israels, Ariel Scharon, eine Mitverantwortung trägt. Viele hatten Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus. Solche Verhältnisse können Menschen in die Verzweiflung treiben. Im Kampf um ein Stück Selbstwertgefühl blieb vielen palästinensischen Jugendlichen nur die Wahl zwischen Kriminalität und islamistischen Ideologien. Letztere sorgen heute immerhin für Schlagzeilen, wenn sie Brandsätze auf Synagogen werfen oder Busse entführen. Das Glück eines gesellschaftlichen Ein- oder gar Aufstiegs war nur wenigen beschieden. Die deutsche Gesellschaft muss sich als Antwort auf die Bus-Entführungen etwas anderes einfallen lassen als den Ruf nach schneller Abschiebung.“

Einseitig wird die Darstellung, wenn durch Reizwörter wie „radikal-islamistisch, rechtsextremistisch, antisemitisch“ ein geschlossenes assoziatives Feld aufgebaut wird, das eine Schwarz-Weiß-Denkweise begünstigt und in Vergessenheit geraten lässt, dass erstens „der“ Islam nicht prinzipiell etwas Starres ist und dass es zweitens auch andere Gruppen in unserer Gesellschaft gibt, von denen Gefahren ausgehen mögen. Dadurch, dass der Antisemitismusverdacht als Indikator für Zu-weit-Gehen gebraucht wird (wie unten), kann prinzipiell bei jüdischen oder israelischen Gruppen nicht dasselbe Maß an Kritik wirksam werden:

„Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der verzerrten Medienaufmerksamkeit auf diesem Gebiet, dass die Aktivitäten radikal-islamistischer Organisationen erst dann Beachtung finden, wenn ihre rechtsextremistischen und antisemitischen Einstellungen unübersehbar werden. Erst dieser Verstoss gegen die dominierende Norm politischer Korrektheit löst kritische Recherchen aus, während zum Beispiel die weitverbreitete Praxis der Mehrfachheiraten islamischer Männer achselzuckend zur Kenntnis genommen wird.“ (NZZ 16.05.03, „Deutsche Medien und der radikale Islamismus“, Heribert Seifert)

Durch solche stereotypisierten Darstellungen wird es schwierig, sich ein tatsächliches Bild von der Gefahr gewalttätiger muslimischer Gruppen zu machen. Dass solche Gruppen in der allgemein gewalttätiger gewordenen Welt existieren und auch Zulauf bekommen, wird hier nicht bestritten. Dass aber Araber und Muslime ganz allgemein mit solchen Gruppen und Extremen assoziiert werden, führt zu einer Deklassierung, denn es gibt gesellschaftliche Spannungen, und bei fehlendem sozialem Dialog werden diese Spannungen auf die gesellschaftlich Schwächsten geschoben. Das ist keine neue Erkenntnis, sondern ein bekanntes Phänomen. Araber und Muslime bekommen von Außen eine bestimmte Rolle zugewiesen, wie im folgenden Beispiel aus Chicago. Ray Hanania ist ein palästinensisch-amerikanischer Journalist (und Comedian, siehe www.hanania.com):

„Hanania spricht sehr schnell, redet sich alles von der Seele. 'In dem Vorort, wo wir wohnen, gibt es 16 Highschools mit 7000 Schülern, davon sind 600 arabischer Herkunft. Aber 90 Prozent der Kinder, die von der Schule fliegen, sind Araber.' Er und andere Eltern hatten eine Kampagne initiiert, einen Araber in die Schulaufsicht zu wählen, aber vergebens. 'Wenn das System dich nicht will, kannst du nicht Teil des Systems sein.' Hananias 15-jährige Tochter ist in der Schule so lange verprügelt worden, bis sie versucht hatte, sich umzubringen. 'Als ich mich beschwert habe, sagte der Direktor, sie sei selber schuld.' Dabei ist Hanania Amerikaner. Er kommt aus einer christlichen palästinensischen Familie und ist mit einer jüdischen Frau verheiratet. Der jüngste Sohn ist ein jüdisches Waisenkind aus Russland, das sie vor wenigen Monaten adoptiert haben. 'Muslimische Einwanderer haben überhaupt keinen Schutz', sagt er. (...) Auch Ray Hanania hadert mit dem Fernsehen, mit den Medien. 'Es gibt in den USA nur 140 arabischstämmige Journalisten, und davon arbeitet die Hälfte für ethnische Nachbarschaftsblätter. Die andere Hälfte schreibt bunte Stücke, so dass sich Weiße nicht bedroht fühlten.' Die Schwarzen würden zwar auch mies behandelt, aber für die existiere wenigstens ein positives Gegenbild, Martin Luther King, Jackie Robinson, Will Smith. Und die Lateinamerikaner hätten ihre eigenen Sender und Zeitungen. 'Für uns ist das Internet der einzige Platz, wo wir Redefreiheit haben.' (...) Seit neuestem gibt es auf NBC (...) eine Serie, in der ein arabischstämmiger Schauspieler eine Hauptrolle hat, neben Whoopy Goldberg. Allerdings spielt er einen Iraner, der sich dazu noch dauernd von den Arabern distanziert. 'Aber einen echten Araber, der womöglich noch symphatisch ist, den würde das Publikum nicht akzeptieren', sagt Hanania. Er lehnt sich zurück, erschöpft und traurig. 'Ich fühle mich in diesem Land wie ein Vampir: Ich habe kein Bild im Spiegel. Wir Menschen brauchen Beweise, Reflexionen, dass wir existieren, aber wenn ich in den Spiegel der amerikanischen Gesellschaft blicke, sehe ich mich nicht.'“ (FR 29.01.04, „Spiegel ohne Spiegelbild. Die arabischstämmigen Menschen führen in Chicago ein schweres Leben“, Eva Schweitzer/Metropole Chicago rtr)

2.7.2 Feindbild und Islam/Araber

Ein guter Essay zum Thema Feindbild findet sich unter www.politische-bildung-brandenburg.de/programm/veranstaltungen/2003/april2vortrag.htm (04.11.03). Darin grenzt die Autorin Sybil Wagener das Feindbild gegen das Stereotyp ab, die beide Vorstellungsklischees seien: „Der Unterschied besteht in der Dynamik. Ein Stereotyp ist kraftlos, durch Wiederholung abgenutzt, eine Schablone. (Latin lover, dumme Blondine). Ein Feindbild hingegen ist voll negativer Energie, eine Büchse der Pandora, die kein Unheil anrichtet, solange sie geschlossen ist, doch wenn man sie öffnet, ergießen sich aus ihr alle Übel der Welt.“

Von Sybil Wagener liegt die Pionierstudie „Feindbilder“ (1999) vor, die in der FAZ gelobt wurde. In der Amazon-Kurzbeschreibung heißt es: „Voraussetzung aller kollektiven Gewaltausbrüche sind wahnhafte Vorurteile. Denn das Feindbild schafft den Feind. So wird aus dem anderen 'der Jude', 'der Asylant', 'der Kommunist', 'der Terrorist'. Sybil Wagener fragt nicht nur nach der Entstehung von Feindbildern, sie beschreibt auch ihre Funktion in verschiedenen historischen Epochen und gesellschaftlichen Bereichen. Dabei zeigt sich: Feindbilder sind ein Versuch, das Böse auszutreiben. Doch dieses Böse ist in uns selbst.“

In der Frankfurter Rundschau war ein Artikel, der dieses Phänomen der Spiegelkritik im Zusammenhang mit der Nahost-Problematik unter der Überschrift „Spiegelstadium der Gewalt“ thematisiert:

„Militärisch hergestellte und/oder erzwungene Sicherheit ist unvereinbar mit dem anderen Ziel, einem zivilgesellschaftlichen Frieden. (...) Wir haben es mit dem Paradox zu tun, dass Israel – dem Selbstverständnis nach doch eine Insel der Rechtsstaatlichkeit und Modernität – sich in fundamentalistischer Manier legitimiert und insofern genau das tut, was es doch glaubt, der arabischen Seite vorwerfen zu können. Verfolgt man diese Logik nur konsequent weiter, erscheinen die Palästinenser in dem, was ihnen von israelischer Seite her unterstellt wird (sie seien fundamentalistisch, vormodern etc.), als die mehr oder weniger uneingestandene Wahrheit Israels. Diese Wahrheit zu erkennen, hieße in der Tat zu begreifen, dass die Palästinenser die Existenz Israels nicht zuletzt deswegen in Frage stellen, weil mit ihnen die eigene uneingestandene, nach Maßgabe des israelischen Selbstverständnisses unmögliche Frage eine politische Gestalt angenommen hat: In den Palästinensern begegnet sich die israelische Gesellschaft auf unheimliche Weise selbst.“ (FR 11.03.03, „Spiegelstadium der Gewalt. Die Schwäche Ariel Scharons bedroht die Existenz Israels“, Slavoj Zizek)

Über das Feindbild Islam gibt es viele Aufsätze und Statements, zum Beispiel die islamwissenschaftliche Aufsatzsammlung „Feindbild Islam“ (1993, Hrsg. Jochen Hippler, Andrea Lueg) und etwas neuer, der kurze Aufsatz „Feindbild Islam. Wie Medien und Politik am selben Bild stricken.“ (Riza Baran, Die Brücke – Forum für antirassistische Politik und Kultur, Juli/August 1997, im Netz bei Jungle World). Siehe auch den Kommentar: „Wann ist 'Araber' zum Schimpfwort verkommen?“ von Robert Fisk, ZNet 06.11.03, (www.zmag.de/article/article.php?print=true&id=901, nicht mehr online 2006). Robert Fisk ist als Reporter für 'The Independent' tätig. Er ist Autor des Buchs 'Pity the Nation'. Ein Beitrag von ihm ist im CounterPunch-Buch 'The Politics of Anti-Semitism' (2003). Auch: „Arab bashing“ von Paul J. Balles unter www.redress.btinternet.co.uk/pjballes16.htm und: „Wider die islamophobe Propaganda. Islam und Internet, Teil 3“ (Telepolis, 12.01.04, Thomas Pany) unter www.telepolis.de/deutsch/special/ost/16500/1.html. Die Sekundärliteratur nach dem Elften September kann an dieser Stelle allerdings nicht systematisch recherchiert werden, außerhalb der Quellen, die hier behandelt sind. Einen Eindruck davon, wie lange das Thema „Feindbild Islam“ bereits relevant ist, bietet dieses Zitat:

„Drei Jahre lang hat Claudio Lange mit Unterstützung der Reemtsma-Stiftung für Kultur und Wissenschaft zwischen 1989 und 1992 romanische Kirchen im Mittelmeerraum besucht und rund 2.000 Zeugnisse fotografiert. Er fand ganze Figurenensembles, in denen Muslime in erniedrigender Weise dargestellt werden. Rund 40 dieser Dokumente sind nun in Berlin im Museum für Islamische Kunst ausgestellt. 'Islam in Kathedralen – Bilder des Antichristen in der romanischen Skulptur', so der Titel der Ausstellung, ist der Nachweis, dass nicht nur der Antijudaismus, sondern auch der Antiislamismus eine jahrhundertalte Tradition in der christlichen Kirche hat. (...) Dieser Kirchenschmuck ist nach Langes Theorie für Westeuropa eine Medienrevolution gewesen, deren Bedeutung für die moderne und zeitgenössische Identität Europas bis heute unterschätzt werde. Er stellte den Islam als perverse und besiegbare Form eines religiösen Irrtums dar und sollte die Bevölkerung auf den Kreuzzug gegen den Islam einstimmen.“ (taz 04.08.03, S. 14, „Islam in Kathedralen“, Seidel)

Die Klischees und Stereotype, die im Zusammenhang mit dem Islam als „dem Anderen“ in der Öffentlichkeit aktuell sind, sind in den folgenden beiden Ausschnitten gut zusammengefasst:

„Muslim möchte ich in Deutschland nicht sein. Die Sprache der Bilder, beim Spiegel beginnend und nicht dort endend. Muslime, das sind anonyme Rücken, eine betende Masse am Boden, gesichtslos. Zeigt sich ein Gesicht, ist es verzerrt in Fanatismus. Oder maskiert. Ansonsten: drängende Menschenmengen, fliegende Fäuste, bluttriefende Selbstgeißelung. Kindersoldaten. Sogar Mitgefühl bedient sich der Optik des Grusels: Um zu verstehen, dass Muslime an Unbildung und Unterdrückung leiden, blicken wir von unten in einen zahnlosen Mund. Muslime sind 'Gotteskrieger', das kann man nicht oft genug schreiben, und wenn sie wieder einmal als betende Masse am Boden liegen, verkörpern sie einmal mehr 'die Macht des Propheten'. Was immer das sein mag, es klingt gefährlich, kein Lamm Gottes, kuschelweich. Die Texte seien differenzierter als Fotos und Schlagzeilen? Warum wählt man dann diese Bilder? Welches Bedürfnis befriedigen sie? Gibt es ein Bedürfnis, den Islam so zu sehen: als eine abstoßende, hässliche, gewalttätige, Angst machende Religion?“ (FR 19.09.03, „Wer ist nicht alles Islamkenner. Über Versuche in Deutschland, Angst vor Moslems und ihrer Religion zu schüren“, Charlotte Wiedemann)

„Nun hat sich mit Mario Vargas Llosa ein weiterer Schriftsteller aufgemacht, um den politischen Islam aus der Nähe kennenzulernen. Der Agnostiker – mit katholischem Hintergrund – ist in die irakischen Schiitengebiete gereist, in deren heilige Städte, nach Nadschaf und Kerbela (F.A.Z. vom 13. August). Aber während Naipaul beobachtet, zuhört und dann vielleicht urteilt, macht sich Vargas Llosa nicht von Vorurteilen über den Islam frei. In seinem Zugang zeigt sich exemplarisch die Schwierigkeit, sich von westlicher Warte aus der islamischen Kultur zu nähern. Vargas Llosa findet, was er gesucht hatte: 'tiefstes Mittelalter', versklavte Frauen, eine Verbindung von Armut und abgründiger Religiosität, die politischem Mißbrauch Tür und Tor öffnet. Und einen undurchsichtigen Ajatollah, dem er nicht glaubt. Die emotionale Grundstimmung von Vargas Llosas Reise sind Mißtrauen und Furcht. Sein Text ist durchzogen von einer Lexik der Beklemmung, Beunruhigung und Angst. Wiederholt hebt er hervor, wie sehr er seine Umgebung als feindselig empfindet. Alles scheint sich gegen ihn zu richten: die Menschen auf dem Basar, die Belehrungen des Moscheehüters über den schiitischen Imam Ali, und selbst die Aufforderung, vor dem Eintritt in die Moschee Schuhe und Strümpfe auszuziehen, schreibt er dem 'angespannten Klima' zu.“ (FAZ 21.08.03, S. 31, „Unter Gläubigen. Von den Schwierigkeiten des Mario Vargas Llosa mit dem Islam“, Christiane Hoffmann)

Hinweise auf ein Feindbild Islam in Israel und bei Juden in den USA oder anderswo außerhalb des deutschen Diskurses gibt es in der deutschen Presse neben der Übernahme des Terrorismusszenarios in Überschriften wie: „Araberschnüffeln. Unter dem Sicherheitsvorwand nimmt die Segregation bedrohliche Ausmaße an“ (jW 30.05.03, Wolfgang Freund) oder auch: „'Araber ins Krematorium'. Die israelischen Siedler in den besetzten Gebieten führen ihren eigenen Krieg“ (WELT 31.07.03, Eva Eusterhus). Auch das Polemische: „We owe Arabs nothing.“ Robert Kilroy-Silk, Express on Sunday, 04.01.04.

Solche Feindbilder z.B. der illegalen israelischen Siedler werden teilweise in deutschen Medien weiterverbreitet. So in dem Radio-Beitrag „Vom Terror getroffen – Besuch bei der jüdischen Familie Cohen im Gaza-Streifen“ (NDR-Info 27.07.03, 13h 05, „Echo der Welt“, Carsten Kühntopp3). Dort wurde aus der Perspektive illegaler Siedler berichtet, unter vollständiger Ausblendung der politischen Dimension der Siedlungen, und auf das Leid der Siedler fokussiert. Da dieses Leid eine Ursache haben muss, endete der Bericht mit den Worten: „Nugas Tochter Techila hat noch immer Schmerzen, die Prothesen wollen einfach nicht passen. Wenn Techila sich etwas wünschen könnte, was wäre das?“ Darauf die Kleine fröhlich: „Dass die Araber nicht da sind, sagt Techila, die Araber sollen nichts Böses tun, aber am Besten wäre es, wenn sie nicht da wären, meint sie.“ Den Palästinensern wird hier dreifach Unrecht getan: Ihr Leiden ist dieser Öffentlichkeit gleichgültig, die israelischen Täter (Regierung, Armee, Siedler u.a.) kommen billig davon und: Die Palästinenser dienen als Sündenbock, indem ihnen die stereotype Rolle des Juden-Schmerz-Zufügers zugeteilt wird.

Erwähnung finden sollte auch die umstrittene Institution „Memri“, über die Brian Whitaker vom Guardian einen kritischen Bericht geschrieben hat. Dazu auch in der Zeitschrift Zenith 4/2002: „Absichten statt Einsichen. Das Medieninstitut Memri bietet kostenlos Übersetzungen aus der nahöstlichen Presse an. Kritiker werfen der Organisation vor, anti-arabische Propaganda zu verbreiten“, Christian Meier.

2.7.3 Weitere Beispiele aus der Presse

Was die jüngste Geschichte angeht, so ist einer der schwersten Fälle von Feindbild Islam/Araber eine Plakat-Kampagne der Deutsche Steinkohle AG: „Ein Motiv der Anzeigenserie in Illustrierten und Zeitungen zeigt eine Szene aus der 'Unruhezone Nahost' (DSK): Zwei junge Araber sitzen auf einem Motorrad, einer bedient eine Panzerfaust. Der Kohlekonzern untertitelt das Agenturfoto: 'Wird hier gerade über unsere Energieversorgung entschieden?'“ (taz 20.10.03, Wirtschaft S. 9, „Angst vor Panzerfaust des Nahen Ostens. Deutsche Steinkohle AG startet millionenschwere Kampagne: Nur heimische Kohle sei sichere Energie“, Martin Teigeler). Dazu zwei Stimmen der Steinkohle AG: „'Wir wollen Betroffenheit erzeugen', erklärt DSK-Chef Bernd Tönjes.“ Und: „'Wir tragen alles mit, was das Unternehmen zukunftsfähig macht', sagt Brunebarbe.“ Um klar zu erkennen, warum dieses Plakat rassistisch ist, reicht es, sich vorzustellen, dass zwei als solche erkennbare Israelis mit dieser Panzerfaust herumballern. In diesem Falle wäre das Ende der deutschen Steinkohle zweifellos und zu Recht immens beschleunigt worden. Aber es sind die Anderen, deshalb kann auch die taz es schließlich mit Humor nehmen. Man beachte, dass der Tatbestand in der Beurteilung nicht mehr erscheint: „Reiner Priggen, energiepolitischer Sprecher der NRW-Grünen, schlägt die DSK deshalb für den Deutschen Comedy-Preis vor: 'Wer angesichts der Tatsache, dass die Hälfte der Zechen geschlossen wird, von 400 Jahren Steinkohle spricht, hat Humor.'“

Bedenklich auch dieser Gedanke des deutschen Innenministers: „Islamismus. Schily fordert Kampf gegen ‚Kultur des Todes'. Der islamistische Terror, glaubt Innenminister Otto Schily, könne auf lange Sicht nur durch eine ‚geistig-kulturelle Auseinandersetzung' besiegt werden. Der Westen müsse seine Grundwerte der islamistischen ‚Kultur des Todes' entgegensetzen.“ (Spiegel Online 31.05.03). Eine Definition von „Islamismus“ gibt es nicht, darunter fallen prinzipiell gewalttätige Strömungen ebenso wie pazifistische. Die geistig-kulturelle Auseinandersetzung, die hier eingefordert wird, wird durch solche Begriffe und Zuweisungen genau verhindert. Was bleibt, ist die Forderung nach „Kampf“. Wenn solche stark wertenden Allgemeinurteile abgegeben werden, lohnt es sich stets zu überlegen, inwieweit der Urheber sich selbst gemeint haben könnte. Ein ähnlicher Kulturkampf findet sich in der Weihnachtsausgabe des Spiegel 2001: „Der Glaube der Ungläubigen. Welche Werte hat der Westen. Intellektuelle treten im Kampf gegen den islamischen Terror mit neuem Selbstbewusstsein für die Werte der freien Welt ein.“

Auch der Fall des Heckenschützen in Washington führte gelegentlich zu grob rassistischen Äußerungen, wie in der Hamburger Morgenpost (Mopo), der zweitgrößten Boulevard-Zeitung in Deutschland. Am 24.10.02 titelte sie auf der Frontseite in großen Buchstaben: „Washington: Heckenschütze ist ein Muslim – Muhammad der Sniper“ (und darunter: „Moskau: Gotteskrieger überfallen Musical“). Die Markierung des Islam war hier durch den situativen Zusammenhang nicht gegeben. Vielleicht war der Heckenschütze Elvis-Fan, aber was hätte das mit der Tat zu tun gehabt? Was, wenn er Jude gewesen wäre, hätte die Mopo dann auch die Religionszugehörigkeit markiert? Natürlich nicht. Im Zweifel sollte man sich vorstellen, dass die eigene Gruppe solche Markierungen erfährt, dann versteht man schon, was Rassismus ist. Wenn zum Beispiel Professor Bassam Tibi schreibt: „Die Islamisierung der Welt ist ein fester Bestandteil islamischer Weltanschauung“ (ZEIT, 30.05.02, S. 9), dann ist das so ein Fall.

Der Kopftuchstreit um die Lehrerin Fereshta Ludin zeigte an einigen Stellen, welche gesellschaftlichen Ängste gegenüber dem Islam in der deutschen Gesellschaft vorherrschen. Vor allem ist es die Sorge, dass die Religion ins politische Leben eingreift, also das Säkularismus-Problem. Dies ist eine wichtige gesellschaftliche Frage der Zeit. Im Kontext mit der Außenpolitik von George Bush oder auch der Politik von Ariel Scharon wird die Säkularismus-Frage zwar thematisiert, aber nicht wirklich diskutiert. Der Groll, der im Kontext mit dem politischen Aspekt von Religionen offenbar von Teilen der Öffentlichkeit verspürt wird, kann sich an der Outgroup Muslime unbeschwerter formulieren. Als Frau Ludin im taz-Interview sagte: „Man geht mit unterschiedlichen Maßstäben heran“, da antwortete die taz: „Vielleicht aus gutem Grund? Der Islam greift besonders stark ins politische Leben, mit der Scharia sogar ins Rechtssystem ein.“ Die letzte Frage der taz in diesem Interview ist: „Sind Sie stur?“ (taz 22.09.03, S. 5, „'Ohne Kopftuch bin ich nackt'“ Fereshta-Ludin-Interview, Heide Östreich und Edith Kresta).

Bereits 1978 hat Edward Said in seinem umfangreichen Standard-Werk „Orientalism“ die wesentlichen Mechanismen kultureller Gewalt im Sinne Johan Galtungs hinsichtlich des westlichen Konstrukts des „Orients“ dargestellt, im Rahmen einer Literaturkritik. Die Debatte um das Feindbild Islam ist lang. Gesellschaftlich gesehen – und da reicht die Lektüre des Spiegel und der Bildzeitung – hat sich nichts verändert. Im Gegenteil, seit dem Elften September scheint das Feindbild Islam an Anhängerschaft gewonnen zu haben, weil es ja ohne den Islam den Elften September oder auch Bin Laden nicht gegeben hätte, wie mancher Stammtischphilosoph denkt. Nicht hinterfragbare Begriffe wie „Antiamerikanismus“ lassen keine wirkliche Diskussion zu. Die Gründe für den Elften September (und die Folgen!) werden im Mainstream nur von einer Richtung aus untersucht, so wie hier: „Nine-Eleven war nämlich nur der Höhepunkt einer sich seit mehr als zehn Jahren verschärfenden antiamerikanischen Kampagne islamischer Fundamentalisten.“ (SZ, 20.01.04, S. 11, „Die USA im Tiefschlaf. Wie der 11. September 2001 passieren konnte“, Rezension von Gerald Posners „Why America Slept“, Stephan Bierling, Uni Regensburg). Die Gründe für den Elften September werden nach wie vor nicht hinlänglich diskutiert, weil dies mit Selbstkritik verbunden wäre. Stattdessen hat sich eine Rubrik „Verschwörungstheorien“ gebildet, in die alles gestellt wird, was der Presse nicht gefällt, was aber ungefährlich und spinnerig genug ist, um veröffentlicht werden zu können. Dazu ein präzises Zitat, das man ohne weiteres auch auf die vorliegende Debatte übertragen kann, von Ludwig-Sigurt Dankwart aus dem nicht-frontalen Medium Telepolis:

„Journalisten, die das Undenkbare tun, nämlich den unausgesprochenen Konsens der Berichterstattung über den 'neuen Terrorismus' durch unvoreingenommenes Herangehen an die Fakten zu verlassen, werden im bekannten deutschen Stil ausgegrenzt, beleidigt und zerstört. (...) Was würde eigentlich passieren, wenn ein Chefredakteur S zur Abwechslung mal auf die andere, die böse, die inoffizielle Linie der bösen verrückten Verschwörungstheoretiker umschwenken würde? Ganz gleich welche Fakten seinem Sinneswandel zugrunde liegen würden, muss man über die Folgen weder reden, noch grübeln, noch spekulieren. Das wäre das Ende, das sofortige bedingungslose Aus seiner Karriere, seines Einkommens, seines Hauses und seines gegenwärtigen Lebensplanes. Das Aus für Kanzleramtsempfänge, Katja-Riemann-Premieren und VIP-Skiwochenenden.“ (www.telepolis.de, 10.09.03, „Mein Freund, der Chefredakteur. 9/11: Man braucht keine Verschwörungstheorie, um den Konsens in der deutschen Medienlandschaft zu erklären“)

Es gibt Ansätze, den Terrorismus (sowie auch militärische Staatsgewalt) zu erforschen, ohne die Argumentation dabei auf Hass und Bosheit des Gegners zu stützen. Ted Honderich hat da durchaus brauchbare Ansätze und Diskussionspunkte, bessere noch scheint der britische Philosoph Gerald Cohen zu bieten, siehe FR 01.11.03, S. 11, „Kritik der Terrorkritik. Der britische Philosoph Gerald Cohen zu Gast am Einstein Forum“ von Thomas Schramme. Die Diskussion um die Ursachen von Terrorismus und Staatsgewalt, die zu RAF-Zeiten in Deutschland geführt wurde – man denke auch an Willy Brandts Konfrontationsbereitschaft – wird heute nicht gern geführt. Nach dem Elften September und im Zuge des anschließenden Afghanistan-Feldzugs der USA war diese Debatte für einige Wochen in der deutschen Presse aktuell, dann schlief sie ein. Im folgenden Beispiel zeigt sich, dass es ein Opfer-Täter-Stereotyp gibt (siehe dazu unten, 2.9.3), das eine Diskussion im weiteren öffentlichen Rahmen behindert. Ein dualistisches Weltbild liegt zu Grunde, in dem nur entweder „der Westen“ Täter sein kann oder der „islamistische Faschismus“:

„Honderich, so Habermas, will den Blick auf den 'auf den Entstehungskontext des Verbrechens vom 11. 9. lenken' – aber genau das tut er nicht. Dann würde es gelten zu zeigen, wie aus Jungakademikern aus Saudi-Arabien durchgeknallte Killer werden, und zu analysieren, was man hilfsweise 'islamistischen Faschismus' nennen kann. Aber all das interessiert hier nicht – denn dann müsste das Bild vom Westen als Täter, von Bin Laden als bewusstlosem Rächer der Opfer überprüft werden. Und dieser Luftzug von Wirklichkeit würde das ganze philosophische Kartenhaus zum Einsturz bringen.“ (taz 08.08.03, S. 16, „Moralphilosophie am Tresen. Der Suhrkamp Verlag zieht ein Buch des britisch-kanadischen Philosophen Ted Honderich zurück, nachdem Micha Brumlik ihm Antisemitismus vorgeworfen hat. Es geht dabei um den Nahostkonflikt“, Stefan Reinecke)

„Die liberalen Muslime müssen Flagge zeigen“, sagt daher die Islamwissenschaftlerin Prof. Spuler-Stegemann. „Die Muslime in Deutschland sollten einen klaren Trennungsstrich zum antisemitischen Islamismus ziehen“ (taz 22.11.03, S. 12, Interview Ulrike Winkelmann). Warum sollten die Muslime in Deutschland das tun, wenn sie nicht unter Generalverdacht stehen würden?

Ganz bestimmt gibt es Kräfte auf arabisch-islamischer Seite, die gegen den Frieden arbeiten. Dass es jedoch keine fortschrittlichen muslimischen und arabischen Kräfte gibt, ist eine Illusion, die völlig unnötig durch angstvolle Fokussierung auf extreme Extreme und den daraus resultierenden Stereotypen entsteht. Der syrische Schriftsteller Elias Khoury schreibt dazu:

„Wir brauchen nicht die Hilfe von Regierungen, sondern die Unterstützung und Solidarität der Zivilgesellschaft in den europäischen Staaten für unseren schwierigen Kampf für Demokratie und Menschenrechte. Wir wollen gehört und verstanden werden. Vor einem Monat wurde zum Beispiel der syrische Oppositionelle Riad Turk freigelassen, der 17 Jahre im Gefängnis verbracht hat. Er ist unser Nelson Mandela, aber kaum jemand schreibt über ihn. Es gibt eine riesige kulturelle Bewegung in der arabischen Welt, die im Westen nicht wahrgenommen wird.“ (taz, 23.04.03, S. 6, „Beginn einer Welle von Kriegen“, Interview mit dem syrischen Schriftsteller Elias Khoury, Katrin Schneider)

Fußnoten:
1: Es gibt auch Stimmen, die sagen, dass das Judentum dem Islam mehr als wohlwollend gegenübersteht und immer stand, obwohl die Muslime es nicht vergolten hätten. Eine interessante Theorie. So erwähnt Bassam Tibi als Herausgeber einer Festschrift für den umstrittenen Professor der Islamwissenschaft Bernard Lewis den in Tel Aviv lebenden Israeli Martin Kramer, der auf die Tatsache hinweist, „dass die außergewöhnlich hohe Wertschätzung des Islam ausschließlich auf den Forschungsergebnissen jüdischer Gelehrter basiert. (...) Jüdische Islamwissenschaftler wollten den Islam stets in ein besseres Licht rücken, weil sie angesichts des europäischen Antisemitismus Halt in einer orientalischen Identität suchten.“ (Bassam Tibi, ZEIT 09.02.03, Serie „Der Islam und der Westen“, Teil 6, „Der importierte Hass. Antisemitismus ist in der arabischen Welt weit verbreitet. Dabei widerspricht er islamischer Tradition.“) (zurück)
2: Siehe dazu das Prinzip der begleitenden Selbstkritik im Essay „Der muslimische Aberglaube“ (Unterpunkt: „Die Legitimationsfalle“ ff.) unter www.anis-online.de/journalismus/essay/04.htm. (zurück)
3: Carsten Kühntopp leitet seit April 2001 das ARD-Hörfunkstudio Tel Aviv. Er arbeitet für mehrere öffentlich-rechtliche Radiosender. (zurück)

2.8 Konsequenzen des Antisemitismusvorwurfs

Die Ächtung des Antisemitismus – in all seiner Vagheit – in der Gesellschaft ist also deutlich. Ebenso die öffentliche Forderung nach seiner Bekämpfung. Zum Beispiel auch von der Europa-Abgeordneten Ilka Schröder: „Antisemitismus – ob so offen gegen Juden gerichtet oder verkleidet in einer scheinbar neutralen Israel-Kritik – ist immer zu bekämpfen. (...) Wer wie die EU Palästina-Solidarität sät, wird Antisemitismus ernten.“ (www.ilka.org, Presseerklärung, Brüssel, 07.11.03). Wie aber bekämpft man ihn eigentlich?

Aus dem hier vorliegenden Quellenmaterial lassen sich vier Maßnahmen erkennen: Zum einen didaktische Maßnahmen, also zum Beispiel Antisemitismus-Artikel in der Presse und Distanzierungen in der Politik, wie oben gesehen. Zum anderen Einschränkungen von Freiheiten der Medien, der Meinungsfreiheit und anderem. Dann gibt es die Maßnahme, die Beschuldigten auszuschließen, sei es aus einer Partei oder gesellschaftlich. Walser, Finkelstein, Möllemann, Karsli, Harmsen, Honderich, Hohmann. Eine weitere Option scheint im öffentlichen Mainstream die Akzeptanz von Ansichten der heterogenen Opfergruppe hinsichtlich militärischer Staatsgewalt zu sein. Es gibt auch noch weitere Konsequenzen des Antisemitismusvorwurfs, die über das Thema hinauswirken und repressive Strukturen auf anderen Gebieten weiterverwenden, siehe Punkt 2.11.1.

Was zwar als Topos vorkommt, nicht aber wirklich zu den Konsequenzen des Antisemitismusvorwurfs gehört, ist der Dialog. Denn mit Antisemiten redet man nicht, sie sind – einmal identifiziert – „die Anderen“. Es geht um Bekämpfung, nicht um Verständigung. Das Wort „Verständigung“ hat im Diskurs keine zentrale Rolle. Man kann also zwischen didaktischen und repressiven Maßnahmen unterscheiden, das einzige erkennbare Ziel der Antisemitismusbekämpfung ist aber immer, „den Antisemitismus“ zu kontrollieren und durch äußere Einwirkung so weit wie möglich aus der Welt zu schaffen, strukturell ähnlich der Strategie von George W. Bush, den Nahen und Mittleren Osten vom „Bösen“ zu „befreien“.

2.8.1 Erzieherische Maßnahmen

Die aufklärerische Aufgabe der Presse nach Überwindung der Gleichschaltung der Medien während der Nazizeit wurde zu Beginn der Studie bereits erwähnt, ebenso wie die Häufigkeit von Antisemitismus-Artikeln in der deutschen Presse belegt wurde. Auch Avi Primor wurde unter Punkt 2.3 dahingehend zitiert, dass es letzten Endes um eine Entwicklung gehe, „die man nicht willkürlich beflügeln, sondern nur durch geduldige erzieherische Maßnahmen umsetzen kann.“ (Welt 04.12.03).

Darüber hinaus gibt es zahllose Vereinigungen, die in diesem didaktischen Feld tätig sind, wie z.B. D-A-S-H (http://d-a-s-h.org). D-A-S-H ist ein Projekt des Instituts für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, München und des Zentrums für Medien und Kommunikation der Universität Leipzig. Es wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Aktionsprogramms ENTIMON, „Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“, und vom Programm Jugend der Europäischen Gemeinschaft. Ebenso gibt es eine Internet-Seite www.klick-nach-rechts.de, die u.a. vom selben Bundesministerium unterstützt wird. „Gefördert im Rahmen des Aktionsprogramms 'Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus'“. Die dort veröffentlichten Texte, z.B. von Karl Pfeifer, sind allerdings zum Teil geeignet zur Verbreitung von Feindbildern. Es werden unter anderem Personen verunglimpft, die sich für Palästinas Freiheit einsetzen.

Die didaktische Antisemitismusbekämpfung findet auch in der deutschen Fernseh-Unterhaltung statt, z.B. im Schimanski-Krimi „Das Geheimnis des Golem“ (ARD, 11.01.04). Schimanski wird dort des Mordes an dem in seiner Wohnung tot aufgefundenen jüdischen Diamantenhändler Rosenfeldt verdächtigt: „'Gemeinsam mit Schimanski tauchen wir in die fantastische, für die meisten Leute unbekannte jüdische Kultur ein. Wir werden mit Schimanski mit unseren Vorurteilen, Berührungsängsten und Schuldgefühlen konfrontiert', so Produzentin Sonja Goslicki.“ (http://horstschimanski.info/home.html, gesehen 18.01.04). Oder im Tatort „Der Schächter“ (SWR, 07.12.03):

Jakob Leeb, der in Strassburgs jüdischer Gemeinde das Amt des Schächters bekleidet, ist zur Sommerfrische in Konstanz, wo er vor der Vertreibung seiner Familie Kindheitsjahre verbracht hat. Auf dem Campingplatz in Jakobs Vorgarten wird plötzlich ein toter Junge gefunden: „Und sofort gibt es zahlreiche Stimmen, die in dem Schächter den Täter sehen: Ist der Junge nicht durch einen Messerschnitt am Hals getötet worden, der verdächtig dem Schnitt ähnelt, mit dem Schächter ihre Tiere töten? Staatsanwalt Bux setzt sich an die Spitze derer, die Jakob für den Schuldigen halten. Weder die Frage nach einem Motiv noch der auffällige Fundort im Leebschen Garten können Bux von seiner Meinung abbringen. In ihm sind tief sitzende antisemitische Reflexe geweckt, die ihm den Fall in seiner Auflösung ganz einfach erscheinen lassen. Das alte Gerede über Juden, die zur Zubereitung von ungesäuertem Brot das Blut christlicher Kinder brauchen, dient ihm als passendes Mordmotiv...“ (www.daserste.de/tatort/sendung.asp?datum=07.12.2003)

Dass die Aufklärung auch mit romantisierten Vorstellungen über Israel zu tun hat, schreibt die Zeit am 06.06.02 auf Seite 24: „Mithilfe Hunderter Strafprozesse, Zeitungsberichte und früh auch durch die Schulen wurde das Wissen über die Wirklichkeit der Lager, über die Massenexekutionen, die Gaskammern verbreitet. Das ging einher mit einer romantisierenden Aufklärung über Israel, dem Aufbau dort und der Zukunft des Landes.“ Im deutschen Fernsehen werden solche Vorstellungen z.B. bei historischen Rückblenden zur Gründung Israels kenntlich. Das Schiff Exodus, die Kibbuzim, der Pioniergeist, die Wehrhaftigkeit, Urbarmachung von Land, Freiheit, das ist der Mythos, der auch heute noch beschworen wird. Die andere Hälfte, also das Palästina-Szenario, Deir Yasin, und die mehr als 400 zerstörten Dörfer, gehört nicht zu diesem Mythos, stört ihn auch, und spielt also weit im Hintergrund.

Auch die Anschlusspunkte an Scharons Politik und an den Zionismus werden bei dieser Aufklärung seltener hinterfragt, denn es geht um „die Rechten“ und die „Neuen Rechten“ und den „neuen Antisemitismus“. Dass weiterhin im Zusammenhang mit dieser Aufklärung vielerlei repressive Maßnahmen gefordert und durchgesetzt werden, wird ebenfalls im öffentlichen Mainstream derzeit nicht als größeres Problem gewichtet. Auch die Tatsache, dass diese Aufklärer sich in einer ungeklärten Machtposition befinden können, die sich weit über das Thema hinaus erstrecken kann, wurde bislang nicht weit analysiert.

2.8.2 Einschränkung von Freiheiten

Im Fall Ted Honderich war es so, dass sein Buch „Nach dem Terror“ letztlich wegen Herrn Brumliks Missfallen vom Suhrkamp-Verlag vom Markt genommen wurde. (Es erscheinent jetzt im Abraham-Melzer-Verlag, siehe dazu www.semit.net). Abraham Melzer selbst erinnerte in einem Kommentar zum Fall Honderich daran, dass schon einmal in Deutschland Bücher verboten wurden. Esther Schapira hingegen, Ressortleiterin der Abteilung Zeitgeschichte beim Fernsehen des Hessischen Rundfunks, plädierte dafür, weitere unbequeme Schriften zu verbieten: „Suhrkamp mag Ted Honderichs Buch vom Markt genommen haben, Piper aber verkauft Andreas von Bülows Verschwörungshetze munter und erfolgreich weiter und verdient so an der Brunnenvergiftungslegende von der Verantwortung der Juden für den Anschlag auf das World Trade Center.“ (taz 26.09.03, S. 12, „Hakennasen statt Hakenkreuze. Dient der Antisemitismusvorwurf der Aufklärung? Oder regiert die Logik des Skandals? Rätselhaft ist bloß, dass es Judenhass gibt, aber offenbar keinen, der Juden hasst (5)“). Gunnar Decker schreibt im Neuen Deutschland hingegen von einem „auffälligen Unwillen, das verstehen zu wollen, was gemeint ist“:

„So schrieb die 'New York Times': 'Wie können wir Grausamkeiten gegen andere bewerten? Gibt es eine Maßeinheit dafür? Gibt es überhaupt noch einen Unterschied zwischen Krieg und Frieden? Um ins Zentrum dieser Fragen zu gelangen, kann man nichts besseres machen, als 'Nach dem Terror' von Ted Honderich zu lesen.' Das sollen wir aber nicht mehr dürfen. Dass uns jemand vor Büchern 'beschützt', weil er darin Meinungen entdeckt, die für ihn inakzeptabel sind, ist eine schwer erträgliche Vorstellung. Sie erinnert an einiges, was wir aus dem vormundschaftlichen Staat DDR gewohnt waren. Dazu gehört das Herausreißen von einzelnen Sätzen aus dem Sinn-Kontext. Überhaupt ein auffälliger Unwille, das verstehen zu wollen, was gemeint ist.“ Und: „'Ich für meinen Teil habe keinen ernsthaften Zweifel, um den prominenten Fall zu nehmen, daß die Palästinenser mit ihrem Terrorismus gegen die Israelis ein moralisches Recht ausgeübt haben.' Das ist der Satz, der den Stoff für einen Skandal abgeben soll. Natürlich existiert kein moralisches Recht auf Terrorismus. Aber schon sieht die 'Neue Zürcher Zeitung' einen 'Antisemitismus der smarten Art', der 'seine grundsätzliche Abneigung gegen das Jüdische hinter scheinbar plausiblen Argumenten' verstecke. Was damit gemeint ist, wird deutlich, wenn dann davon die Rede ist, dass es sich 'bei einer von einem starken demokratisch-aufklärerischen Impuls getragenen amerikanischen Interessenpolitik möglicherweise um einen Fortschritt im Sinne gar der Linken handeln könnte'. Und die Linke erkennt das nicht, blind wie sie nun mal ist. Das ist also das Generalthema der Angriffe auf Honderich, der ungeschickt genug war, sich angreifbar zu machen. Wir sollen endlich Amerikas kriegerische Interessenpolitik als Fortschritt begrüßen!“ (ND 09.08.03, „Ruf nach dem Zensor. Vorwurf Antisemitismus: Streit um Ted Honderichs Buch 'Nach dem Terror'“, Gunnar Decker)

Auf den Aspekt der Angstgesellschaft verweist in diesem Zusammenhang auch Rafael Seligmann, 1947 in Israel geboren, der seit 1957 in Deutschland lebt. Der promovierte Politologe und Publizist schrieb viele Romane über jüdisches Leben in Deutschland, u. a. „Rubinsteins Versteigerung“ und „Der Musterjude“:

„Die Indizierung von Honderichs Buch ist ein Symptom der Unnormalität im deutsch-jüdischen Verhältnis. Suhrkamp hatte den Essay aufgrund einer Empfehlung von Jürgen Habermas und einer eigenständigen Expertise veröffentlicht. Kürzlich hat der Verlag das Buch vom Markt genommen, nicht weil er von dessen antisemitischem Inhalt überzeugt war, sondern aus schierer Angst. Suhrkamp möchte nicht als 'antisemitisch' gelten. Doch Antisemitismus lässt sich nicht mit Feigheit niederringen. Im Gegenteil. Zivilcourage ist Grundlage für die Bekämpfung aller Vorurteile.“ (taz, 29.08.03, S. 12 „Die endlose Suche nach Normalität. Der Antisemitismus-Vorwurf prägt, von Walser über Möllemann bis Honderich, die Debatten. Dient das der Aufklärung? Oder regiert hier die Logik des Skandals? (1)“)

Es gibt also im Kontext mit Ted Honderich und dem Antisemitismusvorwurf Versuche von Medienzensur in Deutschland. Das betrifft aber nicht Deutschland allein. So geht das einschlägige Institut „ADL“ von einem Antisemitismus in europäischen Medien aus. In der jungen Welt wird der ironische Schluss nahegelegt, dass Zeitungsleser im Grunde per se antisemitisch sind:

„Zur Frage, ob die Medien in Europa im Untersuchungszeitraum den Antisemitismus verstärkt hätten, verweist der Berliner Bericht erneut auf ADL-Erkenntnisse. Jene Europäer, welche die Ereignisse im Nahen Osten intensiv in den Medien verfolgt hätten, hätten auch stärker mit den Palästinensern sympathisiert. Kurz und grad: Wer in Europa viel Zeitung liest oder Fernsehen guckt, ist auch für die Palästinenser, also gegen Israel, also antisemitisch. Daher sind auch die europäischen Medien antisemitisch.“ (jW 16.12.03, Thema, „Scharons Hexenküche“, Steinberg)

Mit der Unterstellung, dass hinter der Kritik an Israel ein Antisemitismus stehe, werden auch Demonstrationsverbote und andere repressive Maßnahmen angestrebt, wie in dieser Schlagzeile zu sehen: „Protest gegen Islamisten-Aufmarsch. Am 'Al-Quds-Tag' wird auch in Berlin wieder gegen die 'zionistische Besatzungsmacht' Israel demonstriert. Nun gibt es erstmals breite Kritik an dem Ritual. Prominente wie Lea Rosh und Cem Özdemir warnen vor 'aggressivem Antisemitismus'“ (taz 19.11.03, S. 7, Andreas Spannbauer). Im Extrem klingt das so: „Kein Fußbreit den Islamisten! Bahamas Redaktion: Aufruf zur Kundgebung gegen den antisemitischen Aufmarsch zum 'Al Quds-Tag' in Berlin, 22.11.03 'Antisemitismus und Antizionismus sind heute wieder eins geworden, wer die Juden meint, spricht von Israel, weil das politisch korrekt ist; (...) Gegen den kritischen Dialog mit dem Islamismus! (...) Solidarität mit Israel!'“ (www.juedische.at /Bahamas, 17.11.03).

Die Frage der Medienzensur in Israel thematisierte die NZZ am 27.12.03 („Kritik an Israel und Antisemitismus“): „Wer die Politik der israelischen Regierung kritisiert, kann sich praktisch immer auf entsprechende Meinungen und Informationen in der israelischen Presse berufen. Einige Sympathisanten Israels halten diese im Vergleich zu den meisten arabischen Ländern sehr weitgehende Medienfreiheit für problematisch, weil damit ein allzu kritisches oder rundweg negatives Bild von den israelischen Realitäten begünstigt werde.“ ZDF-Korrespondent Alexander von Sobeck meint dazu:

„Einige elektronische Medien, dazu gehören BBC, CNN, auch das ZDF, werden von israelischer Seite als zu Palästinenser-freundlich angesehen. Häufig kommt dann auch der Vorwurf des Antisemitismus, allerdings eher aus Europa. Es gibt genug Hinweise darauf, dass die Einschränkung der Pressefreiheit in Israel Methode hat. Man führt einen Krieg und empfindet es auch so. Im Krieg gelten andere Spielregeln als in einer rechtsstaatlichen Demokratie. Und wir Journalisten hängen zwischen Baum und Borke, wenn wir über beide Seiten versuchen, ausgewogen zu berichten. In Israel herrscht die Haltung vor, wer nicht für uns ist ist gegen uns. Deshalb wohl auch diese zunehmenden Repressionen gegen die Medien. Dazu kommt eine nachvollziehbare kollektive Paranoia, mit der Israel versucht, mehr schlecht als recht umzugehen. Man weiß zu wenig über die Lebenswirklichkeit des anderen.“ „IBA, die Israeli Broadcasting Authority, ist ein Regierungsfernsehen. Der oberste Mann in den Kontrollorganen ist Ariel Scharon selber. IBA liegt ziemlich auf Regierungslinie. Aber es gibt in Israel eine ganze Reihe sehr kritischer und mutiger Journalisten.“ (Kölner Stadt-Anzeiger 12.07.03, „'Da wird die politische Keule geschwungen.' Die israelische Regierung boykottiert die BBC. Rüdiger Heimlich sprach mit ZDF-Korrespondent Alexander von Sobeck über die Pressefreiheit in Israel.“)

Neben den Repressionen in den Medien gibt es in Deutschland Fälle, in denen versucht wird, kritische Informationsveranstaltungen über den Nahostkonflikt zu verhindern und Solidaritätsbekundungen mit dem palästinensischen Widerstand pauschal als antisemitisch abzustempeln. Etwa der Fall in Bremen, von dem Rüdiger Göbel am 19.07.03 schrieb. Kein Einzelfall. In dem Artikel wird berichtet von „Denunziation, Einschüchterung und bisweilen auch körperlichem Gewalteinsatz“. Auch ein Vorfall an der Uni Hannover wird erwähnt sowie ein Linguistik-Professor an der Uni Hamburg: „Seine Unterstützung des Aufrufs britischer und israelischer Hochschuldozenten, Israel ob seiner Besatzungspolitik auf kultureller und wissenschaftlicher Ebene zu isolieren, wurde der Einfachheit halber umgemünzt in die denunziatorisch-griffige Parole 'Forscht nicht beim Juden!'“. Weiter heißt es:

„Nach der Protestaktion einer Handvoll antinationaler Aktivisten und der Initiative 'Solidarität mit Israel' wurde die Veranstaltungsreihe, darunter die Vorführung des Filmes 'Jenin, Jenin', im Haus kurzfristig untersagt. Das Bizarre: Die Einordnung des Streifens durch die Israel-Solidaritätsaktivisten erinnert fatal an Goebbelssche Diktion: '›Jenin, Jenin‹ weist keinen kinematographischen Wert auf. Es ist ein aufrührerischer Streifen der übelsten Sorte, ein total einseitiger, massiver Vorwurf in aufhetzerischer Absicht, der zu purem Haß aufwiegelt', hieß es in ihrem in Bremen verteilten Flugblatt.“ (jW 19.07.03, „Bedauerliche Zensur in Bremen. 'Villa Ichon' sagt nach Protesten Palästina-Veranstaltungen ab. Fotoausstellung nur noch ohne Begleittexte“, Rüdiger Göbel)

Dass die Politik Israels in ihrer derzeitigen gewalttätigen und außerhalb des Völkerrechts stehenden Form auch in Deutschland autoritäre Strukturen fördert, zeigt auch dieses Beispiel:

„Die 1989 gegründete Antifa AG der Uni hatte sich wiederholt in diversen Veröffentlichungen mit dem palästinensischen Widerstand solidarisiert, Zionismus als 'rassistische Ideologie' kritisiert und israelkritische Karikaturen (...) veröffentlicht. Die Antragsteller werfen der Gruppe deshalb 'strukturellen Antisemitismus', 'Verharmlosung der Verbrechen der Nationalsozialisten' sowie 'Entsorgung der Nazivergangenheit' vor. (...) Die Jusos, die mittlerweile den AstA in Hannover dominieren, stießen sich zwar nicht vordringlich an der Israelkritik der Gruppe, wollten aber die gute Gelegenheit nutzen, um eine linke 'Altlast' loszuwerden.“ (jW 17.07.03, „Flügelkämpfe an der Uni in Hannover. Die Antifa AG erhält keine Unterstützung des AStA mehr“, Werner Langhoff)

In Schweden hat der israelische Botschafter eine Stockholmer Kunstinstallation durch physische Eigeneinwirkung ruiniert. Grund war, dass das Objekt das Bild einer lächelnden palästinensischen Selbstmordattentäterin zeigte. „Bei dem wütenden Tobsuchtsanfall bleibt es jedoch nicht“, berichtet Spiegel Online am 18.01.04: „Wie ein Sprecher des Außenministeriums in Stockholm mitteilte, hat das israelische Außenministerium in Tel Aviv den Boykott einer Ende des Monats in der schwedischen Hauptstadt geplanten Regierungskonferenz über die Verhinderung von Völkermord angedroht, falls das Kunstwerk nicht völlig aus dem Historischen Museum entfernt werde. An der Konferenz vom 26. bis 28. Januar will auch UN-Generalsekretär Kofi Annan teilnehmen.“

Hier zeigt sich eine interessante Parallele zu dem Vorfall der Verhüllung des Guernica-Wandbildes im Hauptsitzungssaal der UNO. Das folgende Zitat zeigt, wie auch Teile der Medien Kriege rechtfertigen:

„Die Ächtung von Friedenspropaganda, ausgesprochen von einem deutschen Fernsehintendanten, entspricht exakt dem Geist, der die Verhüllung des Guernica-Wandbildes im Hauptsitzungssaal der UNO gebot, weil sich US-Außenminister Powell in seiner Kriegsrede von Picassos Anklage gegen den Krieg nicht brüskieren lassen wollte.“ Und: „Neben dem Antiamerikanismus, dem eine Seelenverwandtschaft mit dem Antisemitismus unterstellt wird, sieht sich nun auch die Friedenspropaganda dem Vorwurf politischer Unkorrektheit ausgesetzt. Denn in ihrem Getöse, klagt Peter Voss, sei weitgehend untergegangen, ‚was dieser Krieg auch war: eine Geiselbefreiung'.“ (jW 26.04.03, Wochenendbeilage: „Amoralische Friedenspropaganda. Der schwarze Kanal: Journalisten-Kontroverse um kritischen Journalismus“, Pirker)

Ein Fall von Forderung repressiver Gesetze ist aus Ungarn bekannt. Dort sollte öffentlich geäußerter Judenhass mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Für Beleidigungen sollte es bis zu zwei Jahren geben. Nachdem das Gesetz im Parlament mit knapper Mehrheit gebilligt wurde, verweigerte Präsident Ferenc Madl die Unterzeichnung mit der Begründung, es könne „die Freiheit zu einem größeren Ausmaß einschränken als es verfassungsmäßig erlaubt sei.“ (Siehe Focal Point Publications, 25.12.03, „Hungarian President Refuses to Sign Legislation Outlawing Criticism of Jews“, Jeff Hook, www.fpp.co.uk/online/03/12/Hungary_FreeSpeech.html, auch ChristianNewsToday.com, 24.12.03, Stefan J. Bos). Wie dort berichtet wird, hatte die Föderation Ungarischer Jüdischer Gemeinschaften bereits 1999 auf ein Gesetz gedrängt, in dem es als Verbrechen angesehen wird, wenn jemand behauptet, dass weniger als sechs Millionen Juden in den deutschen Todeslagern ermordet wurden. Aus den Artikeln geht nicht klar hervor, ob es sich um ein allgemeines Antirassismus-Gesetz handelt oder tatsächlich ein Antisemitismus-Gesetz, Anlass jedenfalls waren antisemitische Äußerungen, die sicherlich verwerflich waren. Nur: Wohin soll das alles führen?

2.8.3 Ausschluss von Diskursteilnehmern

Durchgängiges Motiv beim Ausschließen von abweichenden Diskursteilnehmern ist, dass die Fälle nicht wirklich analytisch betrachtet werden, sondern dass die Aussprache bestimmter Reizbegriffe wie „Tätervolk“ oder „zionistische Lobby“ ausreichen, um aus dem Diskurs ausgeschlossen zu werden. Dabei stellen sich vier Fragen, nämlich: Was sind dies für Begriffe, warum beenden sie den Diskurs, was ist das für eine Gruppe, die für den Ausschluss sorgt, und wohin führen diese Mechanismen? Es ist zu beachten, dass die genannten Ex-Diskurs-Mitglieder nicht deshalb öffentlich verurteilt wurden, weil sie gegen Gesetze verstoßen hätten. Keiner von ihnen hat die deutsche Schuld oder den Holocaust geleugnet. Dennoch sprach Superminister Wolfgang Clement im Zusammenhang mit Herrn Karsli von „politischer Hygiene“ (z.B. WELT 07.06.02, S. 9), was ziemlich so klingt wie „Rassenhygiene“, ein Kampfbegriff der Nazis. Auch stand und steht keiner von ihnen einer rechtsradikalen Partei nahe oder ähnliches. Für die Reizbegriffe und ihre Ursachen siehe den nächsten Teil 2.9., für Gruppenverhalten siehe Teil 2.11. Dass es sich bei den Ausgrenzungen um eine repressive Maßnahme handelt, legt Daniel Bax im folgenden nahe. Er plädiert stattdessen implizit darauf, Ambivalenzen auszuhalten:

„Im Fall Möllemann (...) scheint dessen Versuch, an antisemitischen Ressentiments zu rühren, so schwer zu wiegen, dass er noch nach dem Tod ausgeschlossen wird. Spätestens damit wird Antisemitismus als Tabu erkennbar, zu einer Art bundesrepublikanischem Grundkonsens, dessen Bruch schwerer wiegt als manch anderes Vergehen. Schwer vorstellbar, dass Möllemann allein wegen seiner finanziellen Fehltritte so geächtet worden wäre. Oder für Ausfälle gegen türkische Migranten. Das ist Ausdruck einer Verdrängung: Statt die Ambivalenzen auszuhalten, die Möllemanns Tod ausgelöst hat, hoffen alle nur, dass bald Gras über ‚diese Sache' wächst.“ (taz 14.06.2003, S. 14, „Möllemann ist der Sündenbock für Westerwelles Populismus. Der alte Affe Antisemitismus“, Daniel Bax)

Der Vorwurf des Antisemitismus und des rechten Nationalismus scheint hier und da zu verdecken, dass auf Dinge aufmerksam gemacht wird, die gesellschaftlich lange zu Unrecht tabu gewesen sind, dass also Judenhass, und sei er latent, nicht zu den einzigen Gründen gehört, die den Konflikt konstituieren. Der Popmusiker Heinz Rudolf Kunze über Martin Walser:

„Ich fand allerdings die Anregungen, die Walser gegeben hat, sehr sinnvoll, und ein großer Teil der Kritik, die er einstecken musste, war unberechtigt. Wenn man wie ich fast alles kennt, was der Mann geschrieben hat, kann man ihm nicht unterstellen, dass er mit Antisemitismus oder rechtem Nationalismus kokettiert. Aber er hat es mutig auf sich genommen, auf Dinge aufmerksam zu machen, die in Deutschland jahrzehntelang tabu waren.“ (KN 10.04.03, S. 32, „Rückendeckung für Martin Walser“, Heinz-Rudolf-Kunze-Interview von Jörg Meyer)

Dass der Antisemitismusvorwurf, wenn er vehement genug von den bekannten Diskursteilnehmern hervorgebracht wird, zu gesellschaftlicher Ächtung führen kann, wird von deutschen Gerichten nicht besonders ernst genommen1:

„Es sei nicht entscheidend, ob die Äußerungen Spiegels und Friedmans ‚unangemessen und möglicherweise sogar bewusst übertrieben oder vertretbar oder gänzlich falsch' seien. Es komme auch nicht darauf an, ob das Gericht oder irgendjemand sonst sie für ‚überzeugend, berechtigt, plausibel oder fundiert' halte. Allein entscheidend sei die Frage, ob Friedman und Spiegel ‚die äußerste Grenze zur Diffamierung' überschritten hätten. Das war hier nicht der Fall, urteilte die 12. Zivilkammer. (Az.: 12 O 486/O2 und 12 O 633/O2)“ (FR 13.03.03, „Spiegels Kritik an Karsli rechtens. Gericht: Vorwurf des Antisemitismus war keine Diffamierung“)

Von Jamal Karsli gibt es seit Dezember 2003 die zweite, überarbeitete und ergänzte Auflage des Buches: „Maulkorb für Deutschland – Fakten, Analyse, Aufklärung zur Antisemitismusdebatte“. Felicia Langer, israelische Menschenrechtsanwältin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises, sagt über dieses Buch: „Das Buch 'Maulkorb für Deutschland' ist eine Art Anatomie der Verleumdung und der Hetzkampagne, der Unterdrückung von Meinungen und ein Beleg dafür, wie man jede Kritik an Israels völkerrechtswidrigem Verhalten im Keim erstickt, in dem man sie als Antisemitismus diffamiert. Die politische und gesellschaftliche Demontage und Ausschaltung des Kritikers sind obligatorisch, um ein abschreckendes Beispiel zu statuieren, unter dem Motto: 'Wehe denjenigen, die es wagen!...' Empörend, manchmal auch traurig, aber nicht entmutigend, weil der 'Fall Karsli' als Beweis dient, dass man allem zum Trotz, nicht jeden mundtot machen kann. Eine wichtige Lektüre!“ (Klappentext)

2.8.4 Rechtfertigung von Gewalt

Auch Kriege werden relativ, wenn man auf Ängste fixiert ist bzw. sich mit Leuten solidarisiert, die es sind. Im Artikel: „Die Hoffnung der Verzweiflung. Israel sieht sich von Europa isoliert und erwartet den nächsten Golfkrieg als Befreiungsschlag. Ein Besuch in der Wagenburg“ von Thomas Lackmann (Tsp 19.02.03, Kultur) wird Verständnis aufgebracht für schwere Gewalt:

„Von einem Irakkrieg erwarten sich die Israelis, jenseits aller rationalen Risikoabwägung, den Befreiungsschlag. 'Nach dem Opferfest kommt der Moment der Wahrheit.' Sie hoffen, dass durch die Beseitigung des Diktators, der ihre Auslöschung propagiert und ausprobiert hat, die Karten in der Region neu gemischt werden. Sie begreifen, vom Stress der existenziellen 'Er oder Ich'-Erfahrung erschöpft, den Krieg als 'Schlüssel zum Übergang'. Die deutschen Besucher kennen existenzielle 'Er oder Ich'-Erfahrungen nur vom Hörensagen.“

Die Ängste von Israelis werden also auch genannt, um Gewalt zu rechtfertigen. Anders gesagt: Sie können zu Gewalt führen. Vergleiche das unter 2.7 genannte: „Wo Beweise vorliegen, ist die Anwendung militärischer Gewalt gegen Terroristen unausweichlich.“ (ZEIT 32/2003, 31.07.03, „Der dritte Totalitarismus“, Bauer). Deutlich wurde das auch bei der Bewertung des Angriffskrieges gegen den Irak, wie hier in zwei Artikeln des Tagesspiegel aus Berlin:

„Hier wird erklärt, warum Israels Haltung zum Irak-Krieg so paradox erscheinen muss. Warum das besonders verwundbare Land zugleich der kräftigste Befürworter des US-Kurses ist. Warum Saddams entschiedenster Gegner in der Region zugleich jener Staat ist, der sich äußerste Zurückhaltung auferlegt hat. Warum das Land, das B- und C-Waffen am meisten fürchtet, sich wünscht, dass es endlich losgeht. (...) Israel geht es um multiple Terrorabwehr.“ Dann eine Ausmalung des befürchteten Szenarios: „Saddam, der nichts mehr zu verlieren hat, will als jener in die Geschichte eingehen, der so viele Juden wie möglich mit ins Verderben reißt; er greift Israel mit Massenvernichtungswaffen an; Israel schlägt nuklear zurück. (...) Kein Kompromiss käme in Frage, wenn es um die Glaubwürdigkeit von Israels Abschreckung geht. (...) Also muss Israels Drohung glaubhaft bleiben. (...) Griffe nun Saddam an und bliebe dies ohne Folgen (...) Unsere Reaktion auf einen irakischen Angriff mit Massenvernichtungswaffen würde Regeln dafür aufstellen, was man uns gegenüber ungestraft tun darf. (...) Die Abschreckung bleibe ‚Israels wichtigstes Pfund'. (...) In Tel Aviv weiß man, dass ein Interessenkonflikt mit den Amerikanern droht. Während die den Irak rasch wieder aufbauen wollen, müsste Israel ihn gegebenenfalls zerstören.“ (Tsp 01.03.03, „Gegen jeden Terror“, Robert von Rimscha)

„Es wird auch nur ungern wahrgenommen, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland vorsichtig Verständnis für Amerikas Militärschlag äußert. Und warum. Zentralratspräsident Paul Spiegel ist kein Kriegseiferer. Er gehört zu den wenigen Prominenten, die immer wieder vor Rassismus und Rechtsextremismus warnen. Die Juden in Deutschland leben in permanenter Angst vor Anschlägen rechter und islamistischer Fanatiker. (...) Auch die friedlichen Muslime schweigen. Sie lassen zu, dass im Namen ihrer Religion schwere Verbrechen propagiert, geplant und verübt werden.“ (Tsp 22.03.03, „Mein lieber Schurke. Warum die von Islamisten ausgehende Terrorgefahr wenig Beachtung findet“, Frank Jansen)

Auch: „US-Erfolge in Irak beruhigen die Israelis. Militär hält Angriffe Bagdads dennoch für möglich.“ (FR 25.03.03, Inge Günther). Und:

„Die christlichen Kirchen und der Zentralrat der Moslems lehnen den Waffengang entschieden ab, der Zentralrat der Juden verteidigt ihn.“ „Demgegenüber betrachtet Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, den Krieg als notwendig. 'Bei allem Schrecklichen darf nicht vergessen werden, dass es um die Beseitigung der jahrzehntelangen Diktatur geht', erklärt Spiegel.“ (WELT 22.03.03, „Irak-Krieg spaltet Religionsgemeinschaften. Streit zwischen Christen und Juden – EKD-Präses Kock spricht von Angriffskrieg – Paul Spiegel: Militärschlag ist notwendig“, Gernot Facius)

Im SPIEGEL Nr. 49/01 ist ein Leserbrief des bekannten Journalisten, Erzählers und Bundesverdienstkreuzträgers Ralph Giordano. Er macht dort die Aussage: „Pazifismus in einer nichtpazifistischen Welt ist keine Alternative, sondern nur ihre Vorspiegelung. Tatsächlich zementiert er Terrorherrschaft und Menschenrechtsverletzungen. Mit anderen Worten, meine Herren Kanzlerberater: Pazifismus in einer nichtpazifistischen Welt läuft objektiv auf Täterschutz hinaus.“ Vergleiche damit den in letzter Zeit häufiger zitierten Satz von Hermann Göring 1946 in Nürnberg: „Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr.“ Dagegen sagt der Geschäftsführer des Netzwerks Friedenskooperative Manfred Stenner, und damit spricht er für viele Diskursteilnehmerinnen und -Teilnehmer:

„'Die Diffamierung der Friedensdemonstranten – egal von welcher Seite – ist in dieser heiklen Situation ein Beitrag zur Kriegslogik.' Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik sei immer schon auch eine Bewegung gegen Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus gewesen. Auch ein Sprecher des Friedensratschlag Kassel erklärte am Dienstag übereinstimmend: ‚Rechtsradikale sind Feinde der Friedensbewegung'. Für die Vorwürfe aus dem offenen Brief (NB: von Ilka Schröder, Rosh, Giordano) gebe es ‚keinerlei Belege'.“ (jW 19.02.03, „'Ein Beitrag zur Kriegslogik', Friedenskooperative weist Vorwurf antisemitischer und antiamerikanischer Tendenzen zurück.“)

Die Wehrhaftigkeit betont Michael Degen als Konsequenz des Antisemitismus und nennt Paul Spiegel und Michel Friedman als repräsentative Vorbilder:

Auf die Frage: „Wie sollen sich die Juden in Deutschland heute angesichts des wachsenden Antisemitismus verhalten?“, antwortet Degen: „Man muß sich auf jeden Fall wehren. Paul Spiegel und Michel Friedman sind dafür repräsentative Vorbilder, aber auch andere, deren Wehrhaftigkeit nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Man muß sich dafür einsetzen, den Menschen ihre Vorurteile – seien es rassische, religiöse oder andere – zu nehmen.“ (Michael Degen, Jüdische Allgemeine online, 05.03.03, „'Der Philosemitismus geht mir auf den Wecker.' Ein Gespräch von Daniela Breitbart mit Michael Degen über Gott, die Welt und den Umgang mit dem Judenhaß“)

Welche erschreckenden Ausmaße solche Szenarien annehmen können, zeigt ein Artikel der Frankfurter Rundschau, wo vom „Triumph des liberalen Imperialismus“ durch Kriege geschwärmt wird:

„Nun haben die Amerikaner mit ihrem Sieg die nahöstliche Welt ein Stück sicherer gemacht. Israelis können jetzt endlich ihre Gasmasken entsorgen. (...) Der Völkerrechtsfundamentalismus deutscher und französischer Politiker und Intellektueller, die fast schon darauf hofften, dass die Amerikaner den Krieg verlieren würden, und das Verbrennen israelischer Fahnen auf Friedensdemonstrationen haben vielen Israelis wieder mal klar gemacht, dass es mit deutscher Solidarität mit Israel nicht sehr weit her sein kann. (...) Die USA und Großbritannien haben wieder gezeigt, dass sie bereit sind, die Last für eine kosmopolitische Menschenrechtspolitik zu tragen, notfalls auch mit Gewalt. Und Freiheit kann ansteckend wirken. Auch Nachbarn Israels werden jetzt gelernt haben, dass der Konflikt mit Israel und den USA auf Dauer auch gegen ihre eigenen Interessen ist. (...) Auch Israelis wollen von den Amerikanern befreit werden, wollen in den Straßen tanzen, ohne die Sorge, von Terroristen in die Luft gesprengt zu werden. US-Marines und die Rückkehr britischer Soldaten in den Nahen Osten könnten das neue Sicherheitsgefühl verstärken. (...) Nicht nur von der Nachkriegsordnung in Irak, auch von der Verwirklichung des Nahostfahrplans wird abhängen, ob der nicht ‚legale' Krieg Legitimität gewinnen wird. Freiheit in Nahost wird auch Freiheit für die Palästinenser heißen müssen. Wenn im Gefolge des Sieges über den Irak ein unabhängiges Palästina entsteht, das in politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Irak und Israel steht, wird das ein Triumph des liberalen Imperialismus sein, dem sich nicht einmal mehr die deutschen Schwarzseher entziehen können.“ (FR, 12.04.03, Feuilleton S. 9, „Ansteckend. Friedenschancen in Nahost“, Natan Sznaider)

Schließlich zwei noch extremere Fälle vom Rand der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Der erste betrifft Dr. Saul Zadka, Leiter des Fachbereichs für Medien und Kommunikation am Israel Valley College. In seinem Artikel „Europa – der verlorene Kontinent. Polemik: Ein israelischer Journalist erwägt wegen der EU-Hilfen für Palästinenser den Einsatz von Atomwaffen“ schreibt er unter anderem: „Ich behaupte hier, mehr im Ernst als im Spaß, daß der Tag kommen wird, an dem Israel Ziele in Europa angreifen muß.“ (Quelle siehe unten.) Solche Stimmen können entstehen, wenn man bestimmten Gruppen Sonderrechte gibt. Gewalt ist in Israel so normal, dass ein solcher Artikel in der Zeitung Ma'ariv überhaupt erscheinen konnte. Wenigstens hat man ihn für diese Gewaltandrohung gefeuert:

Zadka: „Leider gibt es in Europa eine traditionelle Feindseligkeit gegenüber Israel. Ich habe ja ausgeführt, worin sie sich dokumentiert. / Frage: Können Sie sich vorstellen, wie es in europäischen Ohren klingt, wenn Sie uns mit einem Angriff, zumal mit Atomwaffen, drohen? Deutschland etwa hat keine Atombomben, ist in dieser Hinsicht Israel also ausgeliefert. Zadka: Nun, der Freund unseres Feindes ist eben unser Feind. Allerdings geht es mir ganz und gar nicht darum, Ihnen zu drohen, im Sinne von Muskeln spielen zu lassen. Ich spreche von einer Situation, in der Israel mit dem Rücken zur Wand steht. Meine 'Drohungen' sollen genau genommen das Gegenteil dessen sein, was eine Drohung eigentlich ist. Ich will damit nicht zur Eskalation beitragen, sondern die Notbremse ziehen. Ich will warnen, damit wir umsteuern, bevor es zur Eskalation kommt. Frage: Deeskalation durch Drohung? Zadka: Ja, die Drohung als Mittel der Provokation. Hätte ich nur einen weiteren nachdenklichen Artikel geschrieben, hätte doch niemand aufgehorcht.“ (Junge Freiheit 07.06.03, „'Drohung als Mittel der Provokation.' Interview: Saul Zadka nimmt Stellung zu seinen Vorwürfen gegen Europa und zu den Reaktionen auf seine Kolumne in Ma'ariv“, Moritz Schwarz)

Um Anknüpfungspunkte an rechte Ideologien geht es häufig im Antisemitismusvorwurf, so wie er heute im Diskurs üblich ist. Dass der Antisemitismusvorwurf seinerseits Anknüpfungspunkte an ideologisches Denken bieten könnte, daran denkt kaum jemand. Jedoch sind auf der Basis von Israelsolidarität Polemiken möglich, die man sich bei anderen Gruppen in der Gesellschaft nicht vorstellen kann. Aus einem (folgenlosen) Flugblatt der Initiative Verteidigt Israel Kiel, verteilt am 12.03.03 in der „Pumpe“ anlässlich der (zunächst abgesagten) Vorführung des Films „Jenin, Jenin“ von Mohammad Bakri, Kiel, 19h, Titel: „Antisemitische Hetzpropaganda im kommunalen kino (koki)“:

„'Die Israelis sollen verstehen, warum sich junge Menschen in die Luft jagen,' sagt Bakri dazu. Es geht also um die Legitimation des Judenmordes.“ „Antisemitismus (ist) in Deutschland Tötungsbereitschaft im Wartestand.“ „Dass sie die Notwendigkeit leugnen, sich gegen den antisemitischen Terror mit allerhärtester Gewalt zu verteidigen, bestätigt nur einmal mehr, dass in Deutschland die Vernunft und der Realitätssinn in permanenter Abwesenheit sind.“ „Der deutsche Wahn ist selbst durch das faschistische Kollektiv der Palästinenser nicht mehr zu toppen, welchem es ausschließlich darum geht, so viele Juden wie möglich zu ermorden.“ Nachdem der Film „antisemitische Mordpropaganda“ genannt wird, in den „nur Israelhasser“ gehen, wird gefordert, ihn zu verbieten oder sonst die „Pumpe“ zu schließen. Schließlich wird mit einer Kontonummer zu einer Kampagne „Waffen für Israel“ aufgerufen. Auf der entsprechenden Internetseite, die neben der Adresse Postfach 4144, 24040 Kiel erscheint: www.verteidigt-israel.de, und die auf der Frontseite die israelische Botschaft verlinkt hatte oder hat, findet man Aussagen wie: „Wir solidarisieren uns mit dem Staat Israel, ohne Wenn und Aber.“ Der Elfte September sei antisemitisch gewesen. Und: „Das deutsche Volk als das zu brandmarken, was es ist: ein mörderisches Kollektiv im Wartestand.“ www.verteidigt-israel.de/Antisemitismusstreit.htm, dort auch: „Eine Kritik am Antisemitismus fordert die Zerschlagung eines deutschen Staates, aber auch jeglicher anderen Staaten mit Ausnahme von Israel.“ „Diese Gleichgültigkeit gegenüber Auschwitz – und auch heute gegenüber der Faschisierung der Welt – lässt den Pazifismus kenntlich werden als objektiven Befürworter des Antisemitismus.“ in dem Beitrag: „Einleitung zur Veranstaltung 'Krieg für Frieden – Zu Irak, Iran und Syrien' der Initiative Verteidigt Israel Kiel“ (www.verteidigt-israel.de/Pazifismus%20und%20Massenmord.htm). Dort auch: „Der Krieg gegen den Terror ist vor allem ein Krieg gegen den Antisemitismus. Denn nichts anderes ist dieser Terror, als eine Form des antisemitischen Vernichtungswahns. Er gehört gnadenlos bekämpft und es ist klar, dass dabei Menschen sterben.“

Fußnoten:
1: In einer Pressemitteilung vom 14.01.04 zeigt sich Karsli allerdings zufrieden damit, dass das Oberlandesgericht das Urteil in der Antisemitismus-Klage gegen Michel Friedman und Paul Spiegel bestätigt hat: „Das Oberlandesgericht hat sich intensiv mit dem Fall beschäftigt und es sich nicht einfach gemacht. Es hat mit der Bestätigung des Landgerichtsurteils ebenfalls unterstrichen, dass ich kein Antisemit bin und dass die Äußerungen von Friedman und Spiegel in der Lage waren mich zu diskreditieren. Nun habe ich auch von einem zweiten Gericht bestätigt bekommen, worum es mir eigentlich ging. Die Aussagen von Michel Friedman und Paul Spiegel waren falsch und unangemessen. Das Gericht sieht lediglich keine juristische Handhabe, ihnen solche Aussagen zu verbieten. Meine Ziele habe ich jedoch erreicht und mir ist Genugtuung und Gerechtigkeit widerfahren. Deshalb habe ich meine Berufung zurückgezogen.“ (zurück)

2.9 Die Links-Rechts-Dichotomie / Vergleiche mit der Nazizeit
2.9.1 Die Rechts/Links-Dichotomie

Unbestritten und eine banale Selbstverständlichkeit für jeden Demokraten ist die Ablehnung des Rechtsradikalen. Wie beim Antisemitismus jedoch müssen wir auch hier fragen, was genau damit gemeint ist, und auch, wie groß die gesellschaftliche Gefahr wirklich ist. Andernfalls lauert die Gegengefahr, dass aus Verallgemeinerungen Feindbilder und Verdrängungen werden. In einem Artikel in der Welt wurde darauf hingewiesen, dass unter der Oberfläche des Begriffs „Rechtsradikalismus“ zum Beispiel die Gewalt-Diskussion steht: „Studie: Jugendgewalt gilt viel zu häufig als Rechtsradikalismus. Höchstens sechs Prozent der Jugendlichen denken nach einer Untersuchung der Freien Universität Berlin umfassend rechtsradikal – Bedrohliche Gewaltbereitschaft aber weit verbreitet.“ (08.12.03, S. 4, Sven Felix Kellerhoff). Im Artikel wurden aus den 6 Prozent dann noch 2 Prozent.

Im Diskurs haben wir es mit verschiedenen Begriffen von hoher Abstraktion zu tun, zum Beispiel „Antisemitismus“ und „Rechtsextremismus“, „Islamismus“ und „Zionismus“, oder auch „Terrorismus“. Die Gefahr solcher Begriffe liegt in der Vagheit der Werte, die damit verteidigt bzw. angegriffen werden. Auf der analytischen Ebene scheint es daher geboten, sich von solchen Begriffen zu lösen und stattdessen präzisere zu verwenden. Der Begriff „Gewalt“, obwohl selbst eine Definitionsfrage, ist präziser. Auch die Vorstellungen über Menschenrechte sind brauchbar und dafür wurden sie ja auch entwickelt.

Beim Begriff „Rechts“ liegt eine wesentliche Schwierigkeit darin, dass die Ablehnung des Rechten per Definition eine Aufwertung des Linken ist, dass sie also teilweise auf Lagerdenken und somit Gruppen beruht und nicht allein auf Situationen.1 Ein weiteres, damit verbundenes Problem ist die historische Dimension des Begriffs. Ebenso wie beim Antisemitismus haben wir es auch beim Rechten bzw. Rechtsextremen im Ursprung mit historischen Konstellationen und Situationen zu tun. Die oben gezeigte assoziative Wolke von Islam/Arabern/Nazis/Rechtsextremen ist voller Belege dafür, wie Charakteristika historischer Gruppen mehr oder weniger unreflektiert auf den heutigen Diskurs übertragen werden. (Siehe auch unten 2.9.3).

Ein weiterer zentraler Kritikpunkt am Diskurs ist, dass die Abstraktion und Inhaltsleere mancher Begrifflichkeiten die realen historischen Verhältnisse verflachen lassen und damit durch Verdrängung die Geschichte in gewisser Weise leugnen. Das führt zu Dingen wie der „Außerirdischen-Theorie“: In der Frankfurter Rundschau vom 26.01.02 findet man anlässlich des Holocaust-Gedenktages den Artikel: „Wenn sich junge Enkel alte Nazis als Außerirdische vorstellen“ von Matthias Arning. Im Gespräch mit der FR mahnt der Sozialpsychologe Professor Harald Welzer, „über neue Formen der Vermittlung von Geschichte nachzudenken“, denn es gebe einen großen Unterschied zwischen dem offiziellen und dem familiären Deutschland. Den Großvätern würde von der Enkelgeneration eher eine „anti-nationalsozialistische Grundhaltungen“ zugeschrieben. Welzer: „Wenn die Großväter in absehbarer Zeit alle weg sind, fehlt es an lebendigen Korrektiven“, was zur Tendenz führe, „ein Bild von der Vergangenheit zu zeichnen, in der die Nazis die Anderen waren“. Arning: „Das erinnert an Sichtweisen aus den 50er Jahren der alten Bundesrepublik, die den Nationalsozialismus als ein plötzlich über Deutschland hineinbrechendes und ebenso plötzlich wieder verschwundenes Phänomen verstanden wissen wollten: Mit diesem Blick auf die Geschichte, sagt Welzer, 'ist das klassische Bild von den Außerirdischen wieder präsent'.“

In seinen Betrachtungen „Die Welt im Notizbuch“ (Eichborn 2000) äußert sich der polnische Auslandskorrespondent Ryszard Kapuscinski, der seit den 50er Jahren in Asien und im Mittleren Osten, später auch in Lateinamerika und Afrika Reportagen schrieb, über Werte, die jenseits der Dichotomie Rechts/Links liegen: „Heute gibt es weder Linke noch Rechte, es gibt nur Menschen mit offener, liberaler, aufnahmebereiter, zukunftsorientierter Mentalität, und Menschen mit verschlossener, sektiererischer, engstirniger, vergangenheitsbezogener Mentalität.“ (S. 66 f). Im Kontext des Semitismus/Nahost-Diskurses zeigt das folgende Beispiel die Relativität der Dichotomie „Links/Rechts“. Rechts und Links werden erkennbar als Zuordnung zu Gruppen. Dazwischen liegen Werte wie „pluralistisch, weltoffen“:

„Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass eine vor zehn Jahren herrschende optimistische Grundstimmung unter Europas Juden in Besorgnis umgekippt ist. Diese wird zudem dadurch genährt, dass einige Repräsentanten jüdischen Lebens in ihrer Verzweiflung der Versuchung durch falsche Freunde nicht widerstehen. Können Juden heute wirklich eine italienische Regierung, die eine ehemals faschistische Partei in ihren Reihen zählt, als Verbündete akzeptieren, nur weil diese die Araber als noch grössere Bedrohung denn Israel begreift? (...) Das politische Dilemma der europäischen Juden ist allerdings vielfältig: Mit einem grossen Teil der Linken kann man immer weniger, weil er Amerika verteufelt und in Israel den eigentlichen Gefahrenherd im Nahen Osten wittert; mit den Rechten darf man nicht, weil sie nicht für das liberale, weltoffene Europa stehen, das einen klaren Schlussstrich unter jene nationalstaatliche Vergangenheit zieht, die nicht nur für Juden genug Unheil gebracht hat. Mit den Muslimen möchte man einerseits, weil sie heute eine ebenso über ganz Europa verstreute nichtchristliche Minderheit darstellen, und kann man andererseits doch nicht so richtig, weil sich in ihre antizionistischen Äusserungen zunehmend mehr antisemitische Elemente einschleichen. Mit Israel wiederum muss man, weil jeder Jude weiss, dass dieser Staat nicht nur eine historische Notwendigkeit, sondern gleichzeitig einen letzten Zufluchtsort darstellt – und doch fällt es so manchem schwer, sich mit der jetzigen Regierungspolitik zu identifizieren. (...) Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser zahlreichen inneren Konflikte scheint sich langsam eine leise Stimme unter europäischen Juden Gehör zu verschaffen: Sie will einem pluralistischen, weltoffenen Europa vermitteln, dass in seiner Mitte eine seit Jahrhunderten im ganzen Kontinent beheimatete Minderheit lebt; sie will den amerikanischen Juden signalisieren, dass das mancherorts befürchtete Szenario, eine neue 'Kristallnacht' stehe in Paris oder Berlin bevor, unbegründete Hysterie ist.“ (NZZ 07.06.03, „Kein Adieu. Europa und das Judentum“, Michael Brenner)

Wie zum Beispiel soll man es einordnen, wenn in der Jüdischen Allgemeinen ein Streitgespräch stattfindet zum Thema: „Mord oder Mizwa: Darf Israel potentielle Attentäter liquidieren? Pro: Töten um des Lebens willen – Contra: Akt der Barbarei“ (05.11.03, Forum, Yuval Cherlow vs. Michael Lerner). Geht es da um Rechts und Links? Wohl kaum. Der gesamte Semitismus/Nahostkonflikt zeigt deutlich, dass Linke und Rechte sich hier nicht gegeneinander abgrenzen können, dass die Fronten woanders verlaufen und nicht angemessen von den Begriffen repräsentiert werden, die im Diskurs verwendet werden.

Noch dazu ist die Ablehnung des Rechten zwar vehement, aber keineswegs konsequent. Wenn es nämlich wirklich „die Rechten“ wären, die so stark bekämpft werden, warum ist die deutsche Politik und Öffentlichkeit dann so nachsichtig mit der israelischen Regierung und nicht krass dagegen? Immerhin schrieb die FR: „Die gerade von Ariel Scharon etablierte Koalition aus konservativem Likud, Nationalreligiösen und Nationalisten mit der radikalsäkularen Schinui-Partei als liberalem Aushängeschild ist die extremste rechtsorientierte Regierung in der Geschichte Israels, eine Betonbastion gegen Post-Krieg-Friedensinitiativen.“ (FR 05.03.03, „Sehnsucht nach dem Machtwort“, Inge Günther). Über Schalom und dessen Chef Scharon hieß es in der taz: „Politisch steht er eher rechts von seinem Chef.“ (taz 04.03.03, S. 13, „Qualifikation: Loyal gegenüber Scharon. Der neue israelische Außenminister Silvan Schalom verfügt über keine Erfahrung auf dem internationalen Parkett“, Knaul). Norbert Jessen nennt die Nationalreligiösen Partei (NRP) eine „extrem rechte und siedlernahe Partei“ (WELT 24.02.03). Auch die folgenden beiden Beiträge belegen diese Wahrnehmung:

„Die NRP gilt als siedlerfreundliche Partei, die die Besiedlung von Westjordanland und Gaza-Streifen unter Hinweis auf die Bibel legitimiert. Ihr Vorsitzender Effi Eitam sagte am Sonntag, er habe mit Scharon eine Vereinbarung über weiteren Siedlungsbau erzielt. Eitam ist ein messianisch-religiöser Brigade-General der Reserve, der voraussichtlich Wohnungsbau- Minister im Kabinett wird. In jüngster Zeit hatte er mit seinen Ansichten Aufsehen erregt. Eitam bezeichnete Palästinenser und arabische Israelis als ‚Krebs in unserem Land' und spricht sich für einen ‚Transfer' der Palästinenser nach Jordanien aus. (...) Der bisherige Oppositionsführer Jossi Sarid von der linken Meretz- Partei hatte Eitam als Rassisten bezeichnet, der arabische Knesset-Abgeordnete Achmed Tibi als ‚Teufel' und als ‚kleinen Haider'. Eitam soll in der ersten Intifada den Befehl erteilt haben, Palästinensern Arme und Beine zu brechen.“ (SZ 24.02.03, „Regierungsbildung in Israel. Scharon holt National-Religiöse ins Kabinett“, Schmitz)

„Israel's Tourism Minister on Monday repeated calls for 'liquidating the Palestinian question,' by expelling or killing all non-Jews in Palestine. The Israeli state-run radio quoted Beny Elon as saying that Palestinians in particular and non-Jews in general ought to be stripped of their national rights in the area west of the River Jordan. Elon, who represents the far-right and Nazi-like party 'National Union,' suggested that the only solution to the Palestinian problem was the 'merciless expulsion' of non-Jews to Jordan. In a recent visit to the United States, Elon reportedly called for a strategic alliance between Christianity and Judaism aimed at 'annihilating Islam.' Elon's repugnant statements received little coverage in the US but were widely circulated in Israel.“ (Islamic Association for Palestine, IAP News, 02.06.03, „Israel's Tourism Minister repeats calls for exterminating or/and expelling non-Jews“)

Nicht nur, dass die deutsche Öffentlichkeit nachsichtig ist, sie scheint teilweise selbst keine Alternative zum harten Durchgreifen der Rechten in Israel zu sehen und diese also moralisch, ja aktiv zu unterstützen: „Es wird Israel schwer fallen, sich angesichts der hohen Opferzahl militärisch zurückzuhalten.“ (taz 21.08.03, S. 11, Anne Ponger), oder auch: „Deshalb besteht Israel darauf, Einzelaktionen in 'Terrorenklaven' wie Nablus und Dschenin fortzusetzen.“ (taz, 16.08.03, S. 9, Ponger). Am 12.12.03 stellte Susanne Knaul an den hier bereits öfter erwähnten Natan Sznaider gerichtet fest: „Herr Sznaider, Sie hatten kurz nach dem Wahlsieg des Likud im März 2001 analysiert, dass eine rechtsgerichtete Regierung eher den Frieden bringen wird als die Arbeitspartei.“ (taz, S. 12). Wie zur Bestätigung schreibt die taz am 15.01.04: „Attentat am Grenzübergang Eres. Nach drei Wochen relativer Ruhe fordert der Selbstmordanschlag einer Palästinenserin vier Tote und zehn Verletzte. Zuvor hatte Ministerpräsident Scharon einen einseitigen Abzug aus dem Gaza-Streifen in Aussicht gestellt und dafür Kritik geerntet.“ (S. 10, Knaul). Im folgenden Zitat aus dem Text des Artikels geht hervor, dass diese Kritik von den Rechten kam, nach deren Urteil man gegen die Terroristen letztlich nur auf die harte Tour etwas erreiche. Warum beruft sich Frau Knaul hier betont und unkritisch auf die extremen Rechten? Was hat denn die Opposition gesagt, oder ist Mofaz hier die Opposition? Man kann folgendes als eine redaktionelle Vereinnahmung der Rechten interpretieren, also genau das, wogegen in Deutschland und speziell beim Antisemitismusvorwurf und sowieso bei der taz ständig gewettert wird:

„Politiker aus dem rechtsnationalen Lager schlossen auf eine Verbindung zwischen der Gewalt und jüngsten Stellungnahmen von Premierminister Ariel Scharon, der diese Woche vor Soldaten seine Hoffnung kundtat, dass sie 'nicht mehr in Gaza sitzen müssen, sondern freie Zeit für wichtigere Dinge bekommen'. Damit stellte er nicht zum ersten Mal einen einseitigen Abzug in Aussicht, dennoch war Scharon selten so konkret. Für die Siedler des Gaza-Streifens sei Land im Negew vorgesehen. 'Die Infrastruktur für die Räumung ist vorbereitet', meinte er und erzürnte damit seine Koalitionsfreunde. Für den Abgeordneten Arie Eldad (Nationale Einheit) ist das Selbstmordattentat der Preis für Scharons Ankündigungen. 'Der Anschlag zielt auf nichts anderes ab, als diesen Prozess zu beschleunigen.' Verteidigungsminister Schaul Mofas wies die Kritik zurück. Die Zahl der versuchten Anschläge sei nie zurückgegangen, meinte er und begründete die Tatsache, dass dennoch weniger stattfanden, mit der Errichtung der Trennanlagen und Militäroperationen in den Palästinensergebieten.“

Wenn es aber nicht die Rechten sind, um die es geht, worum geht es dann? Da gibt es den Begriff der „rechten Gewalt“. Ist der überhaupt noch gültig? Immerhin gibt es viele Initiativen, die sich gegen „rechte Gewalt“ einsetzen, wie im folgenden Beispiel zu sehen:

„Der Verein ‚Gesicht Zeigen!' wurde im August 2000 von Uwe-Karsten Heye, dem ehemaligen Regierungssprecher, Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, und dessen Vize Michel Friedman gegründet. Seitdem sind etliche Plakat- oder Kinokampagnen gegen rechte Gewalt und Fremdenfeindlichkeit entstanden sowie ein Handbuch für Zivilcourage. Über tausend Verbände, Organisationen oder Einzelpersonen machen inzwischen bei ‚Gesicht Zeigen!' mit; 45 Städte und Gemeinden haben sich der Aktion weltoffenes Deutschland angeschlossen.“ (ND 18.03.03, „Fremdenhass: ‚Gesicht Zeigen!' startete Aktionswoche gegen Rassismus. 150 Veranstaltungen bundesweit, die Toleranz und Zivilcourage anmahnen“, Anja Probe)

Wenn es nicht wirklich um die Rechten geht, dann könnte es sich auf der Tiefenebene um den Versuch handeln, eine Art Schlussstrich zu ziehen, indem bestimmte Teile der Geschichte durch unscharfe Begriffe verdeckt und tabuisiert werden. Jürgen Möllemann hatte wohl diesen Nerv getroffen, denn ein Spiegel-Cover von Ende Mai 2002 zeigte im Hintergrund einen großen Hitler und im Vordergrund eine Flamme. Titel des Bildes: „Das Spiel mit dem Feuer. Wieviel Vergangenheit verträgt die Gegenwart?“ Hier wird also nahegelegt, dass die Gegenwart nur ein begrenztes Maß an Vergangenheit „verträgt“, und dass der Rest also tabu ist. Wie ein Amulett hat das Bild Hitlers die Diskussion aus der Öffentlichkeit verbannt.

Eine parallele diffuse Ablehnung – wahrscheinlich ist es dieselbe –, wie sie beim Antisemitismusvorwurf erscheint, gibt es für das Rechts-Sein. Dem (eher linken) Musiker Joachim Witt, der engagiert dafür eintritt, dass, wie er auf seiner Homepage einmal schrieb, „alle Menschen – grenzübergreifend – für einander da sein müssen“, wurde in einer Rezension zu einer Rio-Reiser-Tribute-LP, an der er mitgewirkt hat, vorgeworfen, „Affinitäten zur rechten Ästhetik“ zu haben und „Anleihen an die Bildersprache der Propagandafilme der 30er und 40er Jahre“ zu machen. (jW 16.08.03 Feuilleton, s.a. 10.11.03). Bereits der Top-Ten-Hit „Die Flut“ (1998) aus dem Album „Bayreuth eins“ hat aus denselben Gründen Reaktionen hervorgerufen. Man kann dies nur als Überreaktion werten. Abgesehen davon ist sehr fraglich, ob eine Ästhetik in sich politisch sein kann oder ob sie nicht z.B. zu Gewaltzwecken instrumentalisiert wird. (Aber bestimmt nicht von Joachim Witt.) Das hat nichts mit der Musik zu tun, die mag man mögen oder nicht. Gesellschaftlich sind solche Unterstellungen und Verdächtigungen wichtig, da sie eben nicht auf die Bewältigung der tiefer liegenden Konflikte aus sind, sondern auf deren Verdrängung. Bereits an der Oberfläche schwammiger Begriffe findet die Ablehnung und damit die Beendigung der Diskussion statt. Unter dieser Oberfläche verbergen sich zum Beispiel Fragen wie die nach dem Verhältnis von Romantik und Nationalismus. Darüber könnte man diskutieren, warum nicht? Weil man seinen Nationalismus-Begriff spezifizieren und reflektieren müsste?

2.9.2 Vergleiche mit der Nazizeit

Vergleiche mit den Nazis, mit Hitler und Hitlerdeutschland kommen häufig vor, wenn es um Muslime und Araber geht, das haben die obigen Beispiele gezeigt. Werden jedoch Hitler und die Nazis etc. mit US-amerikanischen oder israelischen Personen und Politiken verglichen, dann drohen dieselben Konsequenzen wie beim Antisemitismusvorwurf, nämlich Ächtung und Ausschluss. Hannsheinz Bauer (SPD), das einzige noch lebende Mitglied des Parlamentarischen Rates, der 1948/49 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auf den Weg gebracht hat, äußerte sich dazu sehr präzise in seinem Aufsatz „Wen darf man mit wem vergleichen?“:

„Wenn wir Deutsche, vor allem wir Alten, mit dem Finger auf die USA zeigen, setzen wir uns sofort dem Verdacht aus, von unserer eigenen geschichtlichen Verantwortung ablenken zu wollen. Doch gerade nach den deutschen Verbrechen der Nazizeit sind die allgemein gültigen Kriterien der Menschenrechte und des Völkerrechts formuliert worden, die in der UN-Charta stehen. An diesen Kriterien ist das Handeln heutiger Regierungen zu messen. Deswegen wehre ich mich dagegen, dass manche Zeitgenossen, auch Amtspersonen, jeden Vergleich als Majestätsbeleidigung und Staatsvergehen zurückweisen – wie im Fall der Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, die kurzerhand aus dem Amt gejagt wurde. Mich kann keiner daran hindern, den gegenwärtigen US- und den einstigen NS-Führer zu vergleichen. Wer sich an die UN-Charta, an die Leitlinien des Völkerrechts, der Allgemeinen Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit auch im demokratischen Innenleben der Staaten gebunden fühlt, kann auf die Handlungen des Präsidenten Bush nicht anders reagieren, als sie als Verstöße gegen elementare Normen anzuprangern und vor allem junge Menschen darauf hinzuweisen, wie solches autoritäres Gebaren den Weg in die Diktatur ebnen kann. Es gibt nicht nur Affinitäten, sondern Analogien zur Praxis Hitlers.“ (Ossietzky 10/2003 „Wen darf man mit wem vergleichen?“ Hannsheinz Bauer, www.sopos.org/ossietzky/ausgabe.php3?id=35)

Dieses „autoritäre Gebaren“, wie Bauer es nennt, gilt es zu erkennen und abzulehnen. Das ist eine nachvollziehbare Konsequenz aus der Erfahrung der Nazidiktatur. Und das bedeutet Priorität des Menschenrechts und des internationalen Rechts sowie Toleranz gegenüber anderen. Es bedeutet Skepsis gegenüber autoritären, expansionistischen und militarisierten Gesellschaften. Es bedeutet Ablehnung dualistischer Einteilungen der Welt in die Guten und die Bösen. Im frontal-öffentlichen Diskurs wird der Vergleich zwischen Hitler und Bush sowie zwischen Hitler und Scharon sowie zwischen den Nazis und den Amerikanern oder Israelis mit der Unterstellung und dem Verdacht des Antisemitismus bzw. des Antiamerikanismus und des Infragestellens von Israels Existenzrecht tabuisiert, wie hier:

„In diesen Bereich gehört die 'Scharon gleich Hitler'-Formel oder auch die Anklage an Israel, sich wie Nazis zu benehmen. Das war gut gemeint von den einen, die damit die an Serbien erprobte Symbolik auf Israel übertrugen, es gab aber auch den anderen die Möglichkeit, die Spielräume des Antisemitismus auszuloten. Diese Experimente jedoch – in denen es auch um den Test geht, ob sich antiisraelische und antisemitische Äußerungen in die klingende Münze von Wählerstimmen umsetzen lassen – können für Juden in Deutschland nicht anders denn als erneute Bedrohung ihrer Existenz verstanden werden.“ (FR 10.06.02, „Israel, der Antisemitismus und die internationale Moral“, Sznaider)

Wenn Vergleiche mit einer Sache nicht gemacht werden dürfen, dann bedeutet das, dass solche Tatbestände, die das Vergleichsmoment ausmachen, aus dem Diskurs verbannt werden, sich der Kritik entziehen und also wiedergeschehen können. Die Zensur von Büchern und Filmen gehört dazu, wie im bereits genannten Beispiel der „Goebbelsschen Diktion: '›Jenin, Jenin‹ weist keinen kinematographischen Wert auf. Es ist ein aufrührerischer Streifen der übelsten Sorte, ein total einseitiger, massiver Vorwurf in aufhetzerischer Absicht, der zu purem Haß aufwiegelt', hieß es in ihrem in Bremen verteilten Flugblatt.“ (jW 19.07.03, Göbel)

Besonders Vergleiche zwischen Israel und Nazideutschland gelten in der deutschen Frontal-Öffentlichkeit weitgehend als tabu. Jamal Karsli musste gehen, weil er auf einen ähnlich wie im obigen Beispiel begründeten Vergleich von Shraga Elam hinwies. Was steckt dahinter? Wenn etwa Michel Friedman sagt: „Mit der Behauptung des weltweiten Einflusses einer jüdischen zionistischen Lobby ‚sind wir wirklich mitten im Dritten Reich'“ (13.03.03, FR, SZ, WELT, Tsp), wie lautet das Argument? Dass es keine zionistische Lobby geben kann, weil die Nazis davon gesprochen haben? (Siehe Abschnitt 2.4.2, Aristoteles' Logik). Es geht um den Reiz (die Wahrnehmung), nicht um das Argument. Auch im folgenden Zitat wird das Tabu deutlich. Alexandra Senfft gibt Finkelstein erst Recht, dann endet sie im Fazit damit, dass sein Vergleich vom Thema ablenkt. Eine Verdrängung:

„Er holt weit aus, um die israelische Besetzung Palästinas mit der amerikanischen Ausrottung der Indianer in eine kolonialistische Tradition zu stellen. Seine Vergleichsmanie verleitet ihn vor allem aber dazu, unablässig das israelische Verhalten mit den Nazis und die Situation der Palästinenser mit den Juden unter Hitler gleichzustellen. Das Warschauer Getto dient ihm zur Beschreibung der heutigen Situation der Palästinenser. Tatsächlich war es ein israelischer Offizier, der laut der israelischen Tageszeitung Ha'aretz 2002 gesagt hatte, das Militär müsse bei der Niederschlagung des palästinensischen Aufstands von anderen bewaffneten Konflikten und sogar davon lernen, wie die SS den jüdischen Aufstand im Warschauer Getto niedergeschlagen habe. (...) Nüchterne Fakten, die für sich selbst sprechen, scheinen da aussichtsreicher als Vergleiche, die vom eigentlichen Thema ablenken.“ (FR 10.11.03, „Menschlichkeit in Prozenten. Norman G. Finkelstein ergreift so einseitig Partei für die Palästinenser, dass er die Gegenargumente gleich mit auf den Plan ruft“, Alexandra Senfft)

Hier ist ein konkretes Beispiel dafür, welche Art von Fragen mit dem Tabu verdrängt werden. Auch der Titel macht deutlich, dass Israelkritik in Deutschland nicht erwünscht ist:

„'Ist die religiöse Lüge vom auserwählten Volk der Juden möglicherweise schuld an der israelischen Palästinapolitik?', will ein Rentner mit weißem Hemd und randloser Brille wissen. 'Was ist das für ein Judengott, der ein solches Vorgehen in den besetzten Gebieten erlaubt?' Jamal Karsli stottert. Zu 'religiösen Fragen' will er sich nicht äußern.“ (taz 25.06.03, S. 7, „Möllemann ist tot, Karsli hat noch viel vor“, Judith Weber)

Die Frage nach dem Sinn und Unsinn von Vergleichen stellt sich offenbar auch in Israel: „Israeli former leftist minister, Sholamit Aloni, said on Friday Israeli assassinations of Palestinians are similar to the Nazi courts in Germany against Jews.“ (IPC News/ WAFA, 13.11.03). Auf ähnliche Parallelen weist auch der israelische Journalist Shraga Elam häufiger hin, der kürzlich das Buch „Hitlers Fälscher“ veröffentlichte, in dem unter anderem belegt wird, dass es auch zwischen Israelis und Nazis Verbindungen gegeben hat (siehe Badische Neueste Nachrichten 08.02.03, S. 27). Bei einer stereotypen Rollenverteilung ist es nicht möglich, differenziert und angemessen über die Geschichte zu sprechen. Vergleiche mögen vielleicht unangebracht sein, unangenehm sein, aber sie sind nie so schlimm wie Menschenrechtsverletzungen.

Wenn das Augenmerk auf den Vergleich gerichtet wird, treten wichtige andere Fakten in den Hintergrund. Als z.B. acht Gesandte des Internationalen Schriftstellerparlaments im März 2002 nach Ramallah fuhren, um den Palästinensern ihre Solidarität auszudrücken, sagte der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago, der „Geist von Auschwitz“ schwebe über der Stadt. Und: „Dieser Ort wird in ein Konzentrationslager verwandelt.“ (z.B. 18-h-Nachrichten Deutschlandfunk 27.03.02). Das kam allgemein nicht gut an und hat allen Seiten geschadet. Die Wut auf Saramago wurde in der öffentlichen Meinung unverhältnismäßig viel größer als die Wut über die Besatzung. In diesem Fall war der Vergleich im Wesentlichen unnötig. Er wurde in der Presse, vor allem der israelischen, routinemäßig auch als antisemitisch gewertet.

Ähnlich der jüngere Fall um die britische Abgeordnete Oona King bei einer Palästinareise im Juni 2003. Sie verglich Gaza mit dem Warschauer Ghetto. Im Guardian wurde dies zurückgewiesen und all die „massiven Zerstörungen, die Tötungen von Zivilisten, die Belagerungen und Absperrungen“, die nicht einmal dementiert werden, geraten unverhältnismäßig weit in den Hintergrund:

„There is no doubt that King's motives are different. And yet, the comparison she made achieves the opposite of what she intended. After all, one compares in order to warn, in order to stop the deterioration. But one cannot effect change if one misdiagnoses reality. King concluded from her visit to Gaza that the massive destruction, the killing of civilians, the sieges and the closures are not perpetrated in order to provide Israel and Israelis with security.“ (The Guardian, 12.06.03, „Israel can halt this now. Oona King in Gaza“)

Ein anderer internationaler Fall von 2002 ist der des brasilianischen Zeichners und Fotografen Latuff2 und seine „I am Palestinian“-Cartoon-Serie. In einer Presseerklärung vom 26.08.02 nimmt die AKdH (Aktion Kinder des Holocaust, Schweiz, http://www.akdh.ch) Stellung zur Einstellung eines Strafverfahrens, welches sie gegen Latuff und seine Veröffentlichungen bei Indymedia.org geführt hatte. Es ging um eine Zeichnung, die einen Jungen aus dem Warschauer Ghetto mit dem Davidstern zeigt. In der Sprechblase steht: „I am Palestinian“. Diese Zeichnung steht im Kontext mit mehreren ähnlichen Cartoons, in denen ein Schwarzer, ein Indianer und andere jeweils in einer Unterdrückungssituation gezeigt werden. Alle sagen: „I am Palestinian.“ Bestimmt gefällt es einigen Leuten nicht, wenn solche Zeichnungen entstehen, aber die Politik der Besatzung gefällt auch einigen Leuten nicht, und die ist wohl schlimmer. Latuff hat einige Zeichnungen, in denen militante Regierungen mit Nazis verglichen werden. Er tut das aus seiner politischen Überzeugung heraus, Kolonialismus, Imperialismus und Diskriminierung mit den Mitteln der Kunst zu bekämpfen. Über wen soll man sich jetzt mehr aufregen, über Latuff oder über Scharon?

Wie aber steht es mit Demonstrationen, wenn einige Demonstranten rassistische Plakate haben oder sich Gewaltgruppen darunter mischen? Diese Frage ist sehr notwendig und soll keineswegs unter den Tisch gekehrt werden. Bei der Zusammenarbeit im Sinne einer politischen Unterstützung von gewalttätigen Gruppen hört der Spaß auf, das ist gesellschaftlicher Konsens und soll es auch bleiben. Diese Frage ist aber nicht neu, sondern seit den 60er Jahren ein Standard-Thema. Wegen dieser Gefahr repressiv zu reagieren, kann dem gesellschaftlichen Frieden nicht nutzen, weil sich die Ventile anderswo finden. Es gibt eine Verantwortung von Gruppen, bei denen z.B. Gewalttäter mitmarschieren, dennoch ist es nicht angemessen, wegen einzelner Äußerungen das Recht auf freie Meinungsäußerung mit dem Vorwurf des Vergleichs und des Antisemitismus' kollektiv zu beschneiden wie hier in einer jüdischen Kritik an den Friedensdemos, Schlussabsatz:

„(Der Münchener Historiker Michael) Wolffsohn sagte, er habe ein Foto von einem Plakat auf der Friedensdemo gesehen, auf dem es hieß: 'USA – 3. Reich / Ihr seid euch so gleich'. Er gehöre zwar nicht zu denen, die schnell 'Antisemitismus' schrien. Hier aber sei es schon 'lange nach den Anfängen', denen man wehren solle. Brenner (Alexander Brenner, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde zu Berlin, A.H.) betonte, dass sicherlich '70 Prozent' der Demonstranten 'gutmeinende Bürger' gewesen seien. Angesichts verschiedener Plakate habe er aber ein 'ungutes Gefühl'.“ (taz 20.02.03, S. 7, „Kleiner Krieg unter Friedliebenden“, Philipp Gessler)

Bei dem Vorwurf des Vergleichs mit der Nazizeit handelt es sich also strukturell um ein ähnliches Phänomen wie beim Antisemitismusvorwurf. In beiden Fällen ist es von entscheidender Wichtigkeit, wer den Vorwurf ausspricht und gegen wen der Vergleich gerichtet ist. So entsteht außerhalb der Rechtsprechung eine Gruppe von nicht hinterfragbaren Bestrafern und eine von Bestraften.

2.9.3 Das Opfer/Täter-Stereotyp

Das Tabu des Rechten, das eine Diskussion erschwert bzw. verhindert, beinhaltet ein Opfer/Täter-Stereotyp. Auch im Fall Hohmann zeigte sich das. Das Argument der Relativierung der Nazizeit, das auf Relativierung des Holocaust hinausläuft, wird häufig im Diskurs genannt. So hier:

„Wenn Juden selbst Täter sind, wird der europäischen Verantwortung für die Shoah etwas von ihrer Ausschließlichkeit genommen“ (ZEIT 51, 11.12.2003, S. 43, Feuilleton, „Altes Gift im neuen Europa. Laut einer Umfrage gibt es einen europäischen Antisemitismus. Wieder einmal sollen die Juden an allem schuld sein“, Leon de Winter)

Auch in der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen spielt es eine wichtige Rolle, denn auch dort wurden – zum Beispiel von Seiten polnischer Opfer – Vorwürfe laut, es handele sich um eine Relativierung deutscher Schuld, weil die Opferschaft der Deutschen betont würde. Die Gefahr solcher Vorwürfe besteht darin, dass historische Opfer verallgemeinert und stereotypisiert werden, ebenso wie die Täter. Stereotype aber sind immer zu hinterfragen und können nie die Ultima Ratio sein. Im Übergang zum Feindbild kann das so aussehen:

„Statt sich einen klaren Begriff des Islamismus zu erarbeiten, führen europäische Intellektuelle gespenstische Diskurse, die Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern machen. (...) Warum fällt es vielen so schwer, den totalitären Gehalt der islamistischen Bewegungen ähnlich klar und kritisch zu sehen, wie sie es beim Faschismus und Rechtsextremismus inzwischen gelernt haben? Warum sind die Reaktionen auf beide Herausforderungen so unterschiedlich, obgleich der islamistische Terror seit mehr als zehn Jahren auch den Westen heimsucht? (...) Die Rechtsextremisten in Deutschland dürften dies alles mit Interesse zur Kenntnis nehmen.“ (taz 02.12.03, S. 12, „Die Blindheit der Europäer. Der totalitäre Gehalt des Islamismus ist offenbar. Dass westliche Intellektuelle ihn und seine Protagonisten nur in Opferrollen wahrnehmen wollen, hat dramatische Folgen“, Seidel)

Die andere Seite ist die Verdrängung. Dadurch, dass die Rollenzuweisungen von Tätern und Opfern erstarren, wird die Diskussion darüber überflüssig, ja störend:

„So wie Guido Knopp in seinen Doku-Soaps Hitlerjungen und Wehrmachtssoldaten als 'Überlebende des Zweiten Weltkrieges' neben Überlebenden des Holocaust zu Wort kommen lässt und jeden Reichsjugendführer zum 'Zeitzeugen' adelt, so stehen in diesem Programm Vorträge über den Holocaust neben Stalingraderinnerungen. (...) Spätestens 1990 begann man in Deutschland zu begreifen, dass man sich auf diese veränderte Wahrnehmung des Holocaust beziehen muss und auch mit Gewinn beziehen kann. Statt nur monoton immer wieder einen Schlussstrich zu verlangen, begann man sehr eigenwillige deutsche Lehren aus dem Holocaust zu ziehen und dabei stolz auf den Standortvorteil zu verweisen. Kein Tag vergeht seither, an dem nicht über deutsche Opfer, deutsches Leid zu lesen ist. Nicht um Täter geht es, sondern um Opfer.“ (taz, 14.08.03, S. 12, „Die Lust am eigenen Leid. Die deutschen Täter und ihre Nachfahren wollen endlich Teil der globalen Opfergemeinde sein. Dazu klinken sie sich in den internationalen Versöhnungsdiskurs ein“, Natan Sznaider und Günther Jacob)

Dies ist ein wichtiger Diskussionspunkt. Wenn in einer Dokumentation Wehrmachtssoldaten neben Überlebenden des Holocaust zu Wort kommen, dann ist das ein Teil der Aufarbeitung. Zeitzeuge zu sein adelt niemanden. Auch mit einem Schlussstrich hat das nichts zu tun, im Gegenteil, die Konzeptionalisierung von Tätern als diskursunwürdig bedeutet einen Schlussstrich. Die Gefahr eines dualistischen Weltbilds ist eben auch gegeben, wenn es zu stereotypen Zuweisungen von Schuld und Opferschaft kommt, speziell, wenn sie noch den historischen Zusammenhang verlassen. Dass Juden nach wie vor Wut auf Deutsche haben, ist hingegen verständlich und normal. Unnormal ist eher, dass der öffentliche Diskurs diese Gefühle unterdrückt. Die Werte-Verwirrung, die aus dem Opfer-Täter-Stereotyp hervorgeht, ist auch in Hinsicht auf den Irakkrieg relevant gewesen:

„Gerade deshalb ist die Massivität der Kriegsberichterstattung so verstörend. Sie erinnert mit ihren tagelangen Dauersendungen, Talkrunden und Bildwiederholungen leicht an den 11. September, aber man möchte nicht an den 11. September denken. Vielleicht vor allem, weil man den Anschlag auf das World Trade Center aus der Perspektive der Opfer erlebt hat. Jetzt geniert man sich zu Recht, etwas für die Opfer ähnlich Furchtbares in erster Linie aus der Perspektive der Täter zu sehen. Und dieser Krieg wird uns beinahe ausschließlich aus dieser Sicht präsentiert.“ (FR 24.03.03, „Muss man gesehen haben. Das Fernsehen erliegt bei der Kriegsberichterstattung der Faszination der Macht“, Markus Brauck)

Es gibt durchaus auch israelische und jüdische Stimmen, die der Ansicht sind, dass starre Rollenzuweisungen kontraproduktiv sind und den Frieden verhindern, wie anlässlich der Ausfälle des israelischen Botschafters in Schweden bei einer Vernissage zu sehen war. Es gibt keine ultimative Opferrolle, sagt Dror Feiler:

„Künstler Dror Feiler, 53, ist selbst Israeli, geboren in Tel Aviv. Er lebt seit 1973 in Schweden: 'Hätte Mazel wenigstens den Text gelesen', sagte er, 'hätte er vielleicht verstehen können, dass seine Interpretation völlig falsch war.'“ Auf einer Texttafel wird als möglicher Hintergrund des Attentats auf die vorangegangene Erschießung von Bruder und Cousin durch israelische Soldaten verwiesen und Dschadarats Tod ebenso beklagt, wie den der Menschen, die durch ihre Tat getötet wurden. Feilers Position: „Wir Juden müssen endlich verstehen, dass wir die ultimative Opferrolle nicht gepachtet haben. Der Gedanke hinter der Installation war ein Aufruf zur Versöhnung.“ (taz 19.01.04, S. 16, „Diplomatischer Wutanfall. Empörung in Schweden und Beifall aus Israels Außenministerium: Bei einer Vernissage in Stockholm zerstört Israels Botschafter Zvi Mazel eine angeblich den Massenmord glorifizierende Installation“, Reinhard Wolff)

Eine Gefahr des Opfer-Täter-Stereotyps ist die Konsequenz, dass in den Gruppen der als Opfer identifizierten Seiten Personen auftreten können, die – häufig in Form von für Feindbilder typischer Spiegelkritik – mit Hilfe des Täter-Stereotyps jede mögliche eigene Schuld in jedem möglichen anderen Zusammenhang relativieren und aus dem Szenario drängen. So Ralph Peters, Offizier a. D. des amerikanischen Heeres. Er veröffentlichte sechzehn Bücher, darunter Romane, Aufsatzsammlungen und Werke über Strategie. Das Wall Street Journal nannte ihn den „Tom Clancy des denkenden Menschen“. Sein jüngstes Buch hat den Titel „Beyond Terror: Strategy in a Changing World“. Die FAZ druckte seine Polemik „Hitler war wenigstens ehrlich. Ihr widert uns an: Die Amerikaner sind mit den Deutschen fertig.“ Daraus einige Ausschnitte:

„Als die Empörung sich legte, erkannten wir, daß es bei all diesen Nazivergleichen gar nicht um uns ging, sondern um euch, um eure Schuld und eure Flucht vor der Verantwortung. (...) Doch was ist mit dem Vorwurf, die Amerikaner seien die neuen Nazis? Ich glaube, ich weiß, unter welcher Krankheit ihr leidet. (...) Diese jungen Deutschen griffen das Massaker in My Lai mit einem Eifer auf, der mich in Erstaunen versetzte. Für sie hoben die zweihundert Toten von My Lai Auschwitz und Treblinka auf, sechs Millionen ermordete Juden, Zigeuner, Homosexuelle und Regimegegner. Die Botschaft lautete: ‚Siehst du, ihr Amerikaner seid ebenso schlimm, wie wir Deutschen waren – und vielleicht noch schlimmer.' (...) Jetzt, wo Deutschlands Juden seit langem abgeschlachtet oder vertrieben sind (zum größten Nutzen Amerikas, vielen Dank), greift ihr bei jeder Gelegenheit Israel an, unterstützt jede palästinensische Forderung, so absurd sie auch sein mag, und erfindet israelische Greueltaten. Für die Amerikaner kämpfen die Israelis um ihre Existenz, gegen Leute, die sie ausrotten wollen. Ihr empfindet die Israelis als Vorwurf an eure eigene Vergangenheit und schlagt auf sie ein. Clausewitz ist kein Führer mehr für euer nationales Verhalten. Heute müssen wir Sigmund Freud konsultieren. Einen Juden, natürlich. (...) Auch die Israelis sind tatsächlich von euren gewählten Politikern Nazis genannt worden. ‚Nazi' scheint euer Lieblingsschimpfwort zu sein. Manchmal klingt das für uns so, als wäre jeder, der kein Deutscher ist, heute ein Nazi. Abgesehen natürlich von Arabern, die Juden ermorden. (...) Ist es ein Wunder, daß wir eure Rhetorik abstoßend finden? Hitler war wenigstens aufrichtig in seiner Bigotterie.“ (FAZ 15.05.03, S. 31, „Hitler war wenigstens ehrlich. Ihr widert uns an: Die Amerikaner sind mit den Deutschen fertig“, Ralph Peters)

Der Opferschaft der Toten des Holocaust kann man nicht gerecht werden, wenn man die Menschen in Schubladen steckt, die man nie aufzumachen gedenkt. Eine solch unnatürliche Verklärung und somit Gesichtslosigkeit und Entfernung hat niemand von all den Millionen verdient.

2.9.4 Das Problem der Historizität von Szenarien

Über den historischen Antisemitismus besteht kein Zweifel. In den Pressezitaten dieser Studie finden sich allerdings viele Belege für Elemente, die mit dem Antisemitismus-Szenario des Holocaust und mit den Umständen von Israels Staatsgründung heutige Realitäten bezeichnen. Es ist manchmal, als würde der Zweite Weltkrieg in den Köpfen noch andauern. Als hätte es keine Aufarbeitung gegeben, als würde man in den alten Konstellationen verharren und darauf bestehen, dass alles noch so ist wie es war. Nur in neuem Gewand. Und versteckt. Dabei hat zweifellos das Kriegsende 1945 einen Schock und eine große Bewusstseinsveränderung in der deutschen Bevölkerung ausgelöst. Das Bewusstsein, geirrt zu haben und die Erkenntnis, dass „die Juden“ nicht die Ursache für alles Übel der Welt sind, hat sich in Deutschland durchaus durchgesetzt, auch wenn dies nicht bedeutet, dass es keinen Rassismus und keine Diskriminierung mehr gibt in diesem Land, sei es gegen Juden, Türken, Muslime oder Arme, Kranke, Reiche, Gesunde, Alte, Junge, Frauen oder Männer. Jedoch leben wir heute in einer anderen Zeit. Indem wir die mit historischen Gruppen verbundenen Begrifflichkeiten und Argumentationen weiterverwenden, laufen wir Gefahr, uns niemals aus dem Trauma der Nazizeit zu lösen. Damit sind nicht nur Deutsche gemeint, sondern eigentlich alle Menschen auf der Welt.

Einen Schlussstrich bedeutet das nicht, im Gegenteil. Das Tabu ist der Schlussstrich. Es kann aber angesichts der vielen sinnlos Ermordeten keinen Schlussstrich geben. Es wird ewig der Vorwurf bleiben, dass eine Gesellschaft zu einem solchen Wahn fähig war. Es bedeutet vielmehr, dass man den Toten endlich Frieden gibt, indem man aufhört, Opfer und Täter zu stereotypisieren und zu überhöhen, sodass niemand mehr heranreicht, um trauern, verstehen, verarbeiten, diskutieren oder schweigen zu können. Dies ist das Problem der Historizität des Antisemitismus-Szenarios. Es liegt ein Trauma zu Grunde, und zum Wesen des Traumas gehört es, dass schreckliche erlebte Dinge im Geiste bei bestimmten Reizen potenziell immer wieder durchlebt werden können. Das Szenario brennt sich ein, kann nicht mehr vergessen werden, muss erst bewältigt werden.

Es ist daher kein Wunder, wenn zum Beispiel der Friedensaktivist Uri Avnery noch immer an die aggressive antisemitische Stimmung denken muss, die er 1933 hinter sich ließ, als seine Familie und er von Westfalen aus nach Palästina auswanderten. In seinem Artikel „On Anti-Semitism“ (23.11.03) schrieb er darüber. Wenn ihn aber diese Erfahrungen zu dem Fazit bringen: „Die Palästinenser haben viele Feinde – aber keiner ist so gefährlich wie der Antisemitismus“, dann muss zur Entlastung der Palästinenser die Anmerkung erlaubt sein, dass eine Projektion von Ängsten hier zumindest im Bereich des Möglichen ist. Um eine bewusste Repression handelt es sich nicht bei Uri Avnery, denn er sucht in seinen vielen Artikeln den Frieden und spricht geradeheraus, was er meint. Das brachte und bringt ihm weltweit Anerkennung ein. Er schreibt auch selbst, dass der Vorwurf des Antisemitismus nicht benutzt werden dürfe, um jede Kritik am Staat Israel zu unterbinden. Das wird aber getan. Uri hätte wahrscheinlich der Jungen Freiheit kein Interview gegeben, wenn er Grund gehabt hätte, dem Diskurs in Deutschland so fundamental zu misstrauen.3 Daher bleibt fraglich, ob Uri in der Position ist, den Palästinensern zu erzählen, wer ihr größter Feind ist, in einer Weise, die die ganze Welt hören kann, denn solche Aussagen können zu self-fulfilling prophecies werden, wenn sie von vielen Leuten geglaubt werden. Empirische Evidenz für eine solche Gefahr bot der Artikel jedenfalls nicht.4

2.9.5 Das Problem der Kollektivverantwortung von Gruppen

Eine der wichtigsten Fragen des Diskurses ist die nach der Kollektivverantwortung und -schuld von Gruppen und überhaupt nach der Kollektivität. Sind „die Palästinenser“ verantwortlich für den Terror, sind „die Israelis“ oder gar „die Juden“ verantwortlich für die Besatzung und die staatlich angeordneten Ermordungen von politischen Gegnern? Der von Hohmann aufgebrachte Begriff des „Tätervolks“ machte deutlich, dass es hier auf verschiedenen Seiten Empfindlichkeiten gibt. Deutlich wird das hier bei Jan Philipp Reemtsma, auch wenn bzw. weil nicht ganz klar wird, was er eigentlich meint:

„Dass hiermit etwas wie ein Wiederaufleben der Kollektivschuldthese gegeben sei, mutmaßen manche, die vergessen, dass es diese These, jedenfalls in der Form, in der sie sie zurückweisen, nie ernsthaft gegeben hat. […] Tatsächlich besteht die Kritik an der wohlfeilen, weil wenig bedeutenden Rede vom Land und den Kindern der Täter zu Recht. […] Die Abwehr des nicht erhobenen Kollektivschuldvorwurfs deckte von Anfang an die Leerstelle einer wirklichen – d. h. folgenreichen – Debatte um Schuld und Grade der Schuld, die nie stattfand. Vielleicht ist es unrealistisch, anzunehmen, dass sie hätte stattfinden können. Aber das tut nichts zur Sache. Jedenfalls ist die Leerstelle folgenreich. Sie beschert hilflose Redeweisen wie die genannten, die das meist aufrichtige, aber dennoch unklare Gefühl, irgendetwas wieder einrenken zu müssen, transportieren.“ (taz/Le Monde diplomatique 12.12.03, „Vom Nutzen eines Tabus“, Jan Philipp Reemtsma)

Der Begriff des „Tätervolks“ ist deshalb schlecht, weil „Volk“ eine historisch-kulturelle Ebene hat, so dass der Vorwurf sich an eine historisch starre Identität richtet, die es nicht gab oder gibt. Das ist der Grund. „Tätervolk“ ist zum Unwort des Jahres 2003 gewählt worden. Bei der Begründung der Ablehnung dieses Begriffes ist es wichtig, nicht davon abzulenken, dass es natürlich kollektive Verantwortungen gibt. „Tätergeneration“ klingt schon plausibler, weil es eine bestimmte Generation war, die die Naziideologie getragen hat. Hat aber die ganze Generation Schuld? So ganz stimmt das nicht.

Und wie ist es mit Israel? Unter 2.3 wurde Gilad Atzmon zitiert, der deutlich eine Verantwortung auch der Juden gegenüber Israel betonte, insofern sich Israel als den „Judenstaat“ selbst definiert und somit im Namen der Juden handelt. Dass die Debatte zu diesem Thema nicht gern geführt wird, liegt auch daran, dass man implizit seine eigenen Verantwortlichkeiten hinterfragen muss, und in dieser Hinsicht gibt sich die Gesellschaft eher verschlossen, sei es in Deutschland, in Israel, in Palästina, den USA oder anderswo.

Aus diesem Grunde scheint es mir an dieser Stelle logisch, wenn ich exkursiv die Verantwortlichkeiten schildere, die ich als Diskursbeteiligter und als Demokrat für mich selbst sehe. So halte ich es für wesentlich, dass die aufgeklärteren und Frieden stiftenden Diskursteilnehmer positiv auf die Extreme in ihren eigenen Gruppen einwirken, weil die Verständigung innerhalb von Gruppen – die es immer gibt, auch wenn man kein Lagerdenken verfolgt – besser ist als von außerhalb. Konkret ist es schon ein paar Mal vorgekommen, dass ich mit antijüdischem Material und auch mit dumpfen Vergleichen der Israelis oder Juden mit den Nazis konfrontiert worden bin. Einiges toleriere ich, wie ich auch einiges Antiislamische toleriere. Anderes toleriere ich nicht.

Im Dezember 2003 schickte mir jemand eine Power-Point-Präsentation mit Fotos von schrecklich verstümmelten Leichen aus Nablus mit der Bitte, es zu verbreiten. Leider wurde am Schluss der Präsentation geschrieben, Israel sei nicht genauso, sondern sogar schlimmer als die Nazis. Ich habe darauf geantwortet, dass dieser Vergleich in erster Linie unnötig ist und die ansonsten legitime Botschaft verdirbt. Es war für mich erkennbar, dass es sich nicht um Antisemitismus handelte – die Mail kam aus England und war von einer Palästinenserin -, sondern um Wut über die schrecklich verstümmelten Leichen aus Nablus. Ich habe die Bilder gesehen. Meine pointierte Kritik ist in diesem Fall angenommen worden. Ähnlich war es, als ich einmal bei einer arabischen Nachrichtenagentur „palästinensischer Holocaust“ gelesen habe. Ich habe eine Mail geschickt, dass so nicht die Leute erreichen werden können, die erreicht werden sollen. In vielen Fällen ist es eine Frage des Registers. Ich kann mich auch nicht davon freisprechen, hier selbst schon Fehler gemacht zu haben.

Aber es gab auch den Fall einer Kölner Gruppe von Kinderschützern, die in meinem Online-Forum einen Aufruf zur Wiedereinführung der Todesstrafe postete, mit der Begründung, dass Kinderschändung schlimm sei und dass ich das doch wohl auch so sehen würde. Ich löschte diesen Beitrag und erklärte den Betroffenen, dass ich Pazifist bin und gegen die Todesstrafe. Wer hier Parallelen zur Antisemitismusdebatte sieht, erkennt auch, dass es um gesellschaftliche Repression unter dem Vorwand des Schützens geht, versteht vielleicht, warum jemand an diesen Dingen nicht teilnehmen möchte.

Es ist kein besonders angenehmes Gefühl, wenn man in die Nähe davon gerät, „den Islam“ in Schutz zu nehmen. Ich kenne die arabisch-muslimischen Gesellschaften ganz gut und auch den autoritären Charakter eines überflüssigen Patriarchats hüben wie drüben. Meine Kritik zu diesem Thema liegt vor.5 Ich habe keine Lust, Islamisten zu verteidigen, die Gewalt predigen oder auch nur an Gewalt glauben. Aber die anderen, die pazifistischen Islamisten, für die sehe ich mich in der Verantwortung. Vor allem für die einfachen Gläubigen. Und für den offenen Diskurs als solchen. Wenn Menschen ausgegrenzt werden, halte ich das immer für problematisch. Von Natur aus bin ich tolerant, außer wenn es um Gewalt und Unrecht geht. Gleichzeitig versuche ich nach Kräften, moderate und pazifistische Strömungen und Personen besonders aus dem Nahen und Mittleren Osten zu unterstützen, aber auch weltweit. Auch als Deutscher sehe ich eine Verantwortung für mein Land. Daher habe ich einen differenzierten Nationalismusbegriff und sehe eine Gefahr auch darin, dass durch generelle Ablehnung landesbezogener Identität eigene Verantwortungen zu Gunsten des Dschungelgesetzes vernachlässigt werden können.

Was etwa Gruppen wie Hamas oder al-Aksa angeht, so bin ich als Pazifist skeptisch. Für Terroranschläge auf Zivilisten gibt es keine Entschuldigung, und sie sind sowieso auch gegen die eigenen Interessen dieser Gruppen, was bedeutet, dass diese Gruppen nicht besonders schlau sind. Wenn es gegen das Militär geht, kann ich es nicht verurteilen, denn das Militär hat in Palästina nichts zu suchen. Es ist aggressiv und ungerecht. Für falsch hingegen halte ich es in jedem Falle, zu gewaltsamem Widerstand aufzurufen. Umso mehr sind die Möglichkeiten des gewaltlosen Widerstands auszuschöpfen. Die Siedler haben in Palästina auch nichts verloren und müssen sich im Klaren darüber sein, dass sie sich durch ihre eigenen ungesetzlichen Handlungen in Gefahr begeben und negative Gefühle auf sich ziehen.

Was „die Rechten“ angeht, so ist mir bislang noch kaum einer begegnet. Bei all diesen Darstellungen in der Presse fällt es mir schwer, das einzuschätzen. Es gibt Neonazi-Gruppen, aber inwieweit sind sie wirklich politisch wichtig und inwieweit werden sie wichtig geschrieben? Ich sehe das viel konkreter. Mein Großvater war Soldat im Krieg. Ich weiß nicht, was er gemacht hat und er hätte die interessanten Sachen auch nicht erzählt. Dass ich aber mit meiner Familie Kämpfe hatte, hat damit zu tun. Ich schrieb 1998 den Rock'n'Roll-Song „Opa ist ein Terrorist“ und heute bin ich durch damit. Ich weiß nicht, ob ich ihn noch einmal wiedersehe. Ich habe ihn konfrontiert und er weiß Bescheid. Ich muss ihn weder leugnen noch schwarz-weiß sehen, wie ich andere auch nicht leugnen oder schwarz-weiß sehen muss.

Ebenso ist es mit der Einschätzung der islamistischen Gefahr. Ich weiß einfach nicht, wie ich mir ein Bild machen soll, wenn ich merke, dass es Feindbilder gibt. Deshalb bewerte ich Gruppen grundsätzlich nach Gewalt/Gewaltlosigkeit. Aus alternativen Medien und meiner Umgebung bekomme ich Informationen, die mich oft zweifeln lassen, wem ich glauben kann. Selbst bei Statistiken bin ich mir inzwischen nicht mehr sicher. Ich würde schon gern wissen, was in muslimischen Kreisen los ist und ob es tatsächlich eine Radikalisierung gibt und wo und bei wem. Angesichts der gesehenen Szenarien allerdings ist es schwer, sich ein Bild zu machen.

Aus meinen Erfahrungen mit Gruppen verschiedener Art und Größe und auch aus eigenen Fehlern weiß ich, wie schnell Sündenböcke entstehen und auch, wie sich autoritäre und hemmende Strukturen übertragen. Oft werden repressive Maßnahmen mit dem Wunsch nach größtmöglichem Konsens begründet („Konsensgesellschaft“). Es gibt eine Teilnahmslosigkeit in Gruppen und den starken Wunsch, Verantwortungen abzugeben. Wenn also Diskursteilnehmer angegriffen werden, dann sehen die anderen meistens weg und fühlen sich nicht verantwortlich. Auch beim Antisemitismusvorwurf müssen sich Diskursteilnehmer offenbar gefallen lassen, als Rassisten beschimpft zu werden, selbst wenn sie sich gegen jede Art der Diskriminierung aussprechen. Damit werden Machtkonstellationen geschaffen, die mit den eigentlichen Sachverhalten wenig zu tun haben.

Diese Mechanismen schätze ich als überwiegend unbewusst ein. Bei umstrittenen Themen findet das Unbewusste Gründe, um Personen abzulehnen, die die Themen aufbringen, sei es direkt oder durch Assoziation oder auch durch vermeintliche Assoziation. Oft geschieht das durch die Fixierung auf ein stereotypisiertes Extrem des Anderen. Rollenzuweisungen finden statt, Etikettierungen, Schubladen, die das Thema beenden. Dies geschieht nicht nur bei der Definition von Begriffen wie „Terror“ oder „Antisemitismus“, sondern auf allen Ebenen der Gesellschaft, von der Familie als Keimzelle angefangen bis zum Fernsehdiskurs. Eine allgemeine (neurotische) Überempfindlichkeit begünstigt das Spiel des Schwarzen Peters. Durchgängiges Merkmal dabei ist die mangelnde Bereitschaft, sich selbst – sei es als Individuum oder als Gruppe – in der Rolle des Agens und Verursachers wahrzunehmen.

Was den Rassismusvorwurf angeht, so sehe ich auch den differenziert. Zum einen gibt es verschiedene Formen, und gewalttätige Übergriffe sind sicherlich schwerer zu werten als z.B. Worte, die als Beleidigung aufgefasst werden könn(t)en. Hier wird allgemein zu wenig unterschieden. Den Diskursausschluss als Konsequenz für Rassismus halte ich in den meisten Fällen für problematisch, weil der Rassist sich durch die Bestrafung in seinen negativen Gefühlen bestätigt fühlt und das Problem also bleibt bzw. schlimmer wird. Eine Offenlegung und Diskussion der betreffenden Fälle scheint mir hingegen der konstruktivere Weg zu sein, um gesellschaftliche Konflikte zu lösen. Das ist natürlich Arbeit.

Nach meiner Einschätzung wird die Kollektivverantwortung von Gruppen allgemein unterschätzt, auch in der Presse. Natürlich gibt es eine Presse- und eine Meinungsfreiheit, aber es gibt keine Freiheit dahingehend, dass die wirklichen gesellschaftlichen Probleme wie die Aufarbeitung der Nazizeit und die fehlende Solidarität auf hohe Kosten der Schwächsten verdrängt werden. Wie die Geschichte zeigt, dauert es zwar allgemein eine Weile, bis sich ein gesellschaftliches Bewusstsein über Diskriminierungen aus der eigenen Gruppe durchsetzen kann – siehe z.B. USA und Südafrika, aber auch Nazideutschland, die Frauenbewegung, die Gender-Bewegung und andere –, aber irgendwann geschieht dies doch.

Fußnoten:
1: Siehe dazu den Essay „Rechtspopulismus“ (01.06.02) unter www.anis-online.de/journalismus/essay/05.htm (zurück)
2: Siehe Palestine Chronicle 27.09.02, „Latuff at Indymedia“, Anis Hamadeh, http://palestinechronicle.com/article.php?story=2002092700153681 (zurück)
3: Ich fragte Uri in einer Mail, warum er der Jungen Freiheit ein Interview gegeben hat und er antwortete, dass er nicht gewusst hatte, wer das war. Er wurde halt gefragt und hat geantwortet. Wenn es in Deutschland heute noch das Antisemitismusszenario geben würde wie früher, dann wäre ein solch lockerer – und meiner Ansicht nach durchaus progressiver – Umgang mit der Öffentlichkeit nicht zu erwarten gewesen. (zurück)
4: In Kenntnis der vorliegenden Kritik schrieb Uri Avnery den Artikel „On truth and abuse of antisemitism & the little racist in each of us“, 17.01.04, deutsch siehe www.telepolis.de/deutsch/inhalt/co/16557/1.html, doch scheint das noch nicht das letzte Wort gewesen zu sein. (zurück)
5: Siehe Essay 4: „Der muslimische Aberglaube“ (31.05.02) unter www.anis-online.de/journalismus/essay/04.htm, Neue Blätter (20), „'Warum bleiben wir zurück, während sie vorankommen?' Araber und Muslime im neuen Jahrhundert“ (24.08.03) unter www.anis-online.de/journalismus/neueblaetter.htm#13, auch in „Rock'n'Roll. Nachricht von Ozzy Balou“ und verstreut. (zurück)

2.10 Position des Zionismus
2.10.1 Über Zionismuskritik

„Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel ausgerufen, der zionistische Traum erfüllt“, schrieb die taz am 29.11.03 lakonisch (S. II, „Was ist Zionismus?“, Philipp Gessler). In der Tat haben einige Juden und Israelis den Zionismus nach der israelischen Staatsgründung für abgeschlossen erachtet. Andere erklärten, dass der Zionismus fortan der Wahrung und Erhaltung des zionistischen Traums dienen sollte. In der deutschen Prese wird relativ selten über den Zionismus berichtet, was vielleicht daran liegt, dass er umstritten ist. Einige Zitate können verdeutlichen, wie die drei Szenarien aus der Einleitung der vorliegenden Studie zu einer Synthese kommen können, und dass die Aufarbeitung des Zionismus dabei eine wichtige Rolle spielt. Zunächst der Publizist und Historiker Tom Segev:

„Heute ist Israel eine Nuklearmacht, ungefährdet in seiner Existenz. (...) Im Zionismus gab es kein Bewusstsein, dass Frauenrechte oder dass die Existenz von Minderheiten ein Problem sein könnten – denn wir waren ja ein Kollektiv, in dem alle gleich waren, wir waren alle Kibbuzim, alle Sozialisten.(...) Die Israelis sagten Anfang der 90er zu Rabin: Geh – und mach Frieden mit Hitler -, denn das war Arafat lange in den Augen vieler Israelis gewesen.(...) Nur ganz wenige Israelis haben verstanden, dass Oslo für die überwiegende Mehrheit der Palästinenser überhaupt keine Verbesserung bedeutete. (...) In Wirklichkeit gab es eine endlose Kette handwerklicher, politischer Fehler – bis hin zu Baraks napoleonischer Idee, Arafat einen Friedensvertrag aufzuzwingen. Aber: Das Prinzip von Oslo war richtig. (...) Ich glaube nicht, dass die meisten Israelis sich bewusst sind, dass der Zionismus ein Unrecht war. Aber es gibt ein gewachsenes Bewusstsein, dass er einen hohen Preis gekostet hat, dass er viel Unglück hervorgebracht hat. (...) Die Logik der Eskalation zu durchbrechen, ist notwendiger als alles andere – notwendiger noch, als dass die Israelis lernen, die Nakba anzuerkennen. (...) Aber es ist keine Zeit für Ratio, sondern für Hass, Wut, auch Rassismus. Sie müssen nur die ‚Araber raus'-Graffiti in Jerusalem anschauen. Der Terror hat uns in die Wagenburgmentalität zurückgeworfen, das Bewusstsein, dass alle Welt gegen uns ist. Eigentlich verschwenden wir damit unsere Zeit. Denn gesellschaftlich sind wir schon weiter. Wenn Arafat, Scharon und Bush endlich verschwunden sind, dann wird das wieder sichtbar werden.“ (taz 20.03.03, S. 15, „Israel ist amerikanischer denn je. Früher definierte sich Israel als zionistisches Kollektiv. Hat sich das Selbstbild angesichts des nahenden Kriegs im Irak und der angespannten Situation gegenüber den Palästinensern verändert?“ Tsafrir Cohen und Stefan Reinecke im Gespräch mit dem Publizisten und Historiker Tom Segev)

Kritik am Zionismus gibt es schon lange, sowohl bei Juden als auch bei Nichtjuden.1 Dass der Zionismus heute in einer Krise steckt, zeigt auch Abraham Burgs harsche Kritik. Er war Israels Knessetpräsident von 1999 bis 2003 und früherer Vorsitzender der jüdischen Agentur von Israel, heute Labor-Mitglied in der Knesset. Sein Artikel: „Eine gescheiterte israelische Gesellschaft stürzt zusammen, während ihre Führer schweigen“ beginnt mit:

„Die zionistische Revolution hat immer auf zwei Pfeilern geruht: einem gerechten/ geraden Weg und einer ethischen Führung. Keiner von beiden funktioniert mehr. Die heutige israelische Nation stützt sich auf ein Gebilde von Korruption und auf Fundamente der Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Als solche liegt das Ende schon an unserer Türschwelle. Es ist sehr gut möglich, dass unsere Generation die letzte zionistische sein wird. Es mag hier einen jüdischen Staat geben, aber er wird anders sein, ungewohnt und hässlich.“ Und endet mit: „Israels Freunde im Ausland – jüdische ebenso wie nicht-jüdische, Präsidenten und Ministerpräsidenten, Rabbiner und Laien – sollten wohl überlegt entscheiden. Sie sollten ihren Einfluss ausüben und Israel helfen, die Road Map zu erfüllen als Beitrag unserer nationalen Erfüllung, 'ein Licht unter den Völkern' zu sein und eine Gesellschaft des Friedens, der Gerechtigkeit und der Gleichberechtigung.“ (ZNet Deutschland / Yedioth Aharanot , 29.08.03, „Eine gescheiterte israelische Gesellschaft stürzt zusammen, während ihre Führer schweigen“, Avraham Burg)

Einen ausführlichen und guten Überblick über die Geschichte des Zionismus bieten zwei Artikel aus ak – analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis Nr. 330, 06.05.1991: „Anmerkungen zur Geschichte des Staates Israel (Teil 1)“ und Teil 2 in Nr. 331, 03.06.1991. Über die historischen Einwände der Antizionisten wird im ersten Teil unter anderem die Sorge geäußert, dass der „Zionismus dem Antisemitismus neuen Stoff liefern würde“:

„Ihre Kritik richtete sich in erster Linie gegen die grundsätzliche These des Zionismus, wonach alle Juden der ganzen Welt eine heimatlose Nationalität darstellen, die (vor allem aufgrund des unaufhebbaren Antisemitismus ihrer Umgebung) nicht in der Lage sei, sich in den Ländern, wo sie lebt, zu integrieren, und die daher ein Heimatland in Palästina brauche. Das, so die Kritiker, müsse zwangsläufig dazu führen, daß die Juden überall noch stärker als Fremde abgestempelt würden und daß ihr harterkämpfter Status als Bürger und Staatsangehörige wieder aufs Spiel gesetzt würde. Ein weiterer Einwand lautete: Für die Juden in aller Welt sei die Forderung nach gleichen politischen und religiösen Rechten lebenswichtig. Daher wäre es ein großer Schaden für die Juden, wenn in Palästina für die jüdischen Siedler privilegierte Rechte gegenüber der arabischen Bevölkerungsmehrheit gefordert würden. Insgesamt kam diese Kritik selbstverständlich nicht von 'links', sondern von liberalen oder auch konservativen jüdischen Bürgerlichen, die sich vom Absolutheitsanspruch und den praktischen Implikationen der zionistischen Weltanschauung in ihrer wohleingerichteten Existenz bedroht sahen, und die fürchteten, daß der Zionismus dem Antisemitismus neuen Stoff liefern würde.“

Dazu meint der Journalist Knut Mellenthin2: „Ein wichtiger Hintergrund ist, dass Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, die Forderung nach einem 'Judenstaat' unter anderem damit gerechtfertigt hatte, dass sofort nach Gründung eines solchen Staates der Antisemitismus weltweit zu Ende gehen würde. Jede heutige Klage über das Fortbestehen des Antisemitismus beinhaltet also das Eingeständnis, dass ein zentrales Argument für die Errichtung eines 'Judenstaats' auf einem riesigen Irrtum – ich würde sogar sagen: auf einer Lüge, weil das Ergebnis vorhersehbar war – beruhte. Interessant ist nebenbei, dass Herzl einen eigenen Abschnitt seiner programmatischen Streitschrift den 'Gründen des Antisemitismus' widmete. Im Gegensatz zur heute zum Credo erhobenen Theorie, die Antisemitismus als Geisteskrankheit ohne realen Bezzug zu jüdischem Verhalten postuliert – und jeden Zweifel an diesem Credo per se als antisemitisch brandmarkt – ging Herzl sehr wohl davon aus, dass Antisemitismus zum Teil auch ein Reflex auf jüdisches Verhalten ist.“

In seinem bekannten Essay „Antizionismus ist nicht Antisemitismus“ betont auch der in Strasbourg geborene Michel Warschawski, Leiter des Alternative Information Center in Jerusalem und Autor zahlreicher Veröffentlichungen in hebräischer und arabischer Sprache, dass der Antisemitismusverdacht im Kontext mit einer Kritiklosigkeit gegenüber dem Zionismus Gefahren birgt:

Endet mit: „Sich von der Erpressung mit dem Antisemitismusverdacht abschrecken zu lassen, zu schweigen, um sich nicht der Anklage auszusetzen, man leiste 'dem Antisemitismus Vorschub' oder sei gar 'unbewusst antisemitisch', kann letztlich nur den wirklichen Antisemiten zugute kommen oder zumindest die identitäre und kommunitaristische Verwirrung fördern. Die wirkliche antirassistische und antikolonialistische Linke braucht nicht erst zu beweisen, dass sie im Kampf gegen die antisemitische Pest steht. Sie wird diesen Kampf desto wirksamer fortführen, je klarer und unzweideutiger sie zu den Kriegsverbrechen Israels und zu seiner Kolonisierungspolitik Stellung bezieht.“ (Sozialistische Zeitung, September 2002)

2.10.2 „Ideologie“

Scharfe und zum Teil krasse Ablehnungen des Zionismus findet man in vielen arabischen Quellen, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden kann. Dass es dabei auf arabisch/muslimischer Seite auch Feindbilder gibt, sei erneut erwähnt. Richtig ist aber auch, dass ein Antisemitismus- oder ein Islamismus-Verdacht die Beklagten in die Defensive bringt, wie hier: „'Ich war nie ein Muslimbruder'. Nadeem Elyas, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, wehrt sich gegen Islamismus-Verdacht. Laut NRW-Verfassungsschutz soll er ein Repräsentant der islamistischen Muslimbruderschaft sein. Jetzt kämpft Elyas um sein Ansehen als Dialogpartner“ (taz 04.08.03, S. 8, Yassin Musharbash), während man sich ähnliches bei einem Vertreter extremer zionistischer Gruppen im heutigen Diskurs kaum vorstellen kann.

Der Zionismus wird in Pressequellen als Ideologie gekennzeichnet. Die Kritik im folgenden Beispiel weist auf den ideologischen Charakter des Zionismus hin und kann als Abwandlung des Palästina-Szenarios aus der Einleitung gelesen werden:

„Israel's original sin is Zionism, the ideology that a Jewish State should replace the former Palestine. At the root of the problem is Zionism's exclusivist structure whereby only Jews are treated as first-class citizens. In order to create and consolidate a Jewish State in 1948, Zionists expelled 750,000 Palestinians from their homeland and never allowed them or their descendants to return. In addition, Israeli forces destroyed over 400 Palestinian villages and perpetrated about three dozen massacres. In 1967, the Israelis forced another 350,000 Palestinians to flee the West Bank and Gaza as well as 147,000 Syrians from the Golan Heights. Since 1967 Israel has placed the entire Palestinian population of the Territories under military occupation.“ (The Link, Volume 36, Issue 3, July – August 2003, „In the Beginning, There Was Terror“, Ronald Bleier)

Als ideologisch wird der Zionismus auch hier beschrieben: „Der jüdisch geprägte Staat braucht die Zuwanderung jüdischer Menschen auch aus ideologischen Gründen dringend.“ (taz 29.11.03, Magazin S. I-II, „Wozu noch nach Israel?“, Gessler) und das wird auch näher erläutert: „Die aus dem Zionismus abgeleitete offensive Politik der Rückgewinnung von Land steht zudem im Brennpunkt des Nahostkonflikts. Kann Israel es sich leisten, auf den Zionismus zu verzichten? (...) Nur mit Moral und gewaltfrei ist Zionismus auf Dauer lebensfähig. An beiden aber gebricht es der gegenwärtigen zionistischen Politik.“ Um Zuwanderung und „Rückgewinnung“ von Land geht es also zum Beispiel, um Moral und Gewalt.

Es ist seltsam in der heutigen Zeit, wenn der Begriff „Ideologie“ so unkritisch verwendet wird. Was steckt dahinter? In einem Radiobeitrag aus der Sicht illegaler jüdischer Siedler wurde der Begriff von der Ingroup gebraucht, doch wurde dieses Lob auf das Verfolgen einer Ideologie dort nicht kritisch betrachtet, sondern blanko weitergegeben:

Der Rabbi sagt: „Quadarom ist Teil unseres Landes. Aus unserer Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Tel Aviv, Haifa, Jaffa oder Gaza. Dies ist das Heilige Land, das wir von Gott bekommen haben und wir sind aus der Diaspora zurückgekehrt. Die Menschen wohnen vor allem deswegen in Quadarom, weil sie an diesen Ort glauben und ihrer Ideologie folgen.“ Dann wird erzählt, wie die Familie Cohen nach einem Terroranschlag auf einen Bus zunächst nach Tel Aviv ging, später jedoch zurückkehrten in die Siedlung in Gaza. Mutter Nuga (?) Cohen sagt: „Ich liebe die Menschen hier. Es sind Menschen, die so an ihre Ideologie glauben, dass sie fähig sind, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen und weiterhin hier zu leben. Das hat uns die Kraft gegeben, zurückzukehren. Wenn es auch andere Leute gibt, die dies schaffen, dann schaffe ich es auch. Es sind besondere Leute und ein liebenswerter Ort und ich kann mir einfach nicht vorstellen, ihn zu verlassen. Das ist es, was mich hier hält, denn sonst kann man hier ja nichts tun, an diesem bedrohlichen Ort, wo du jeden Tag Angst hast, dass den Kindern noch einmal etwas passiert. Was soll ich da machen?“ (NDR Info, Sendung „Echo der Welt“, 27.07.03, 13h 05, „Vom Terror getroffen – Besuch bei der jüdischen Familie Cohen im Gaza-Streifen“, Carsten Kühntopp)

Die Ideologie, von der hier gesprochen wird, ist an der Oberfläche eine religiöse, die sich auf biblische Texte und Verheißungen beruft. Darunter hört man den Ton, dass es sich auch um eine gegenseitige Bewunderung der Siedler handelt, die durch ihre Leidensfähigkeit besondere Leute seien. Eine ähnliche Auffassung der Ideologie vertritt offenbar Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, in seiner Rede, die er zum 60. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto in Berlin hielt und die die Welt in gekürzter Fassung gedruckt hat. Darin spricht Paul Spiegel von einer Neuinterpretation der Zehn Gebote und einem „göttlichen Auftrag“ der Juden, die Würde des Menschen auch in dunkelsten Zeiten zu bewahren und sich zu wehren, „notfalls selbst mit Waffengewalt“. Schon der Titel: „Wer sich den Tod erkämpft“ hat martialischen Charakter. Die gewagte Theorie, die sich hier offenbart, hat bislang keine größere öffentliche Diskussion ausgelöst:

„Wir leben in Zeiten, in denen Geschichtskenntnisse und differenzierte Analyse politischer Geschehnisse nicht sehr hoch im Kurs stehen. (...) Da wird ein amerikanischer Präsident mit Adolf Hitler gleichgesetzt, da wird die israelische Armee mit der deutschen Wehrmacht und der SS verglichen, oder gar der so genannte Mut palästinensischer Selbstmordattentäter mit dem Mut der jüdischen Kämpfer im Warschauer Getto auf eine Stufe gestellt.(...) Der junge israelische Pionier, der mit braun gebrannter muskulöser und stolzgeschwellter Brust sein Land bestellt und dieses mit der Waffe verteidigt – das war ja einst das Ideal, das der Zionismus schuf, um eine Gegenwelt aufzubauen zu der des bleichen Gettojuden, der sich über die heiligen Schriften beugt und jeden Schicksalsschlag geduldig hinnimmt. (...) Im Getto-Aufstand wird ein altes, uraltes jüdisches Motiv sichtbar. Um in religiösen Begriffen zu sprechen: In dem versinkenden Chaos des Judengettos von Warschau wird der Auftrag vom Berg Sinai auf moderne Weise wieder sichtbar: Wir Juden sind es, die das Wort Gottes und die Würde des Menschen auch in dunkelsten Zeiten bewahren müssen. Die Widerstandskämpfer von Warschau haben bewusst oder unbewusst Gottes moralisches Gebot vom Berg Sinai auf ihre Weise neu interpretiert und in eine neue Form gegossen, die für die nichtjüdische Umwelt, in der wir seither leben, wohl die einzig verständliche Antwort auf ein uraltes Problem ist: Indem wir uns mit aller Kraft wehren, notfalls selbst mit Waffengewalt, halten wir an unserem göttlichen Auftrag, an unserer Bestimmung fest.“ (WELT 30.04.03, „Wer sich den Tod erkämpft“, Paul Spiegel)

Dass Spiegel hier nicht als Privatmann spricht, sondern in Verbundenheit mit dem offiziellen Israel, zeigt diese Äußerung: „Der Präsident des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, ist sehr zufrieden mit der Nahostpolitik von Rot-Grün. (...) Am Ende seines Solidaritätsbesuchs in Israel sagte Spiegel, israelische Politiker hätten immer wieder betont, Deutschland sei ein 'sehr zuverlässiger Partner.'“ (taz 17.07.03, S. 6, „Zentralrat der Juden. Soli-Besuch in Israel“, dpa). Spiegel hielt auch die Laudatio, als Außenminister Fischer die Buber-Rosenzweig-Medaille bekam. Da sagte Spiegel über Fischer: „Er sei der ‚Sisyphos des Nahen Ostens'“ (Tsp 10.03.03, „Fischer als Vorbild für Verständigung geehrt. Zentralrat lobt Einsatz in Nahost“). Nun hat Sisyphos sein Ziel nie erreicht, sondern er erstarrte in einem Kreislauf von Mühen und Frustration. Soll also doch ein Kontrolldrama aufrecht erhalten werden?

Was Gewalt-Ideologien angeht, so hat sich das Abendland davon eigentlich emanzipiert, weil es schlechte Erfahrungen gemacht hat. Die Gewalt in Palästina/Israel ist allerdings auch durch Europa und besonders Deutschland mitverursacht, da die Erarbeitung und Etablierung neuer Werte durch die mangelnde Bewältigung der Vergangenheit vernachlässigt wurde. Viele der obigen Zitate haben deutlich gemacht, dass die Israelis ihren wehrhaften Kampf zum Teil als einen Kampf gegen Hitler und die Nazis konzeptionalisieren. Das ist sicher kein Zufall. Immerhin, heute könnten es die Israelis mit den Nazis wohl aufnehmen und sie besiegen, was die Juden damals leider nicht konnten.

Inzwischen aber geben israelische Oberstleutnants ihren Rang zurück, wie Eitan Ronel (Ha'aretz / ZNet 09.01.04), und Gideon Levy schrieb den Ha'aretz-Artikel: „Wenn das Töten zur Routine wird“, wo es heißt: „Von den 2.235 Palästinensern, die von der IDF getötet worden sind ist es nur in 8 Fällen zu Anklagen gegen Soldaten gekommen. Keiner wurde bisher verurteilt.“ (www.Freace.de, 14.07.03). Siehe auch: „Thora statt Kampfhelikopter. Seit Israel die palästinensischen Gebiete besetzt hält, hat sich die jüdische Identität zunehmend militarisiert, glaubt Marc Ellis. Damit verstärkten die Juden nur ihr Trauma“ (taz 29.11.03, S. 10, Ludwig Watzal).

Solche Entwicklungen hin zur Gewalt scheinen mit dem Opfer/Täter-Stereotyp zusammenzuhängen, denn die Kritikschranke entsteht meist durch die Idee, dass die Opferschaft der heterogenen Gruppe relativiert würde oder in Frage stehe, sobald auch eine Täterschaft vorliege. Mehrere Zitate oben haben das bezeugt. Diese Idee ist allerdings nicht haltbar. Philosophisch/logisch überhaupt nicht und gesellschaftlich nicht auf Dauer. Liest man beispielsweise heute noch einmal die Lyrics des Songs „Neighborhood Bully“, Raufbold von Nebenan, den Bob Dylan 1983 zur Verteidigung israelischer Gewalt schrieb3, so fragt man sich, ob ein solches Schwarz-Weiß-Denken noch zeitgemäß ist.

Fußnoten:
1: Siehe auch den Artikel „Zionismus“ (09.03.02) unter www.anis-online.de/journalismus/statements.htm#zionismus (zurück)
2: Aus einer privaten Mail, vom Verfasser autorisiert (zurück)
3: Siehe dazu den Artikel „Israel, Dylan und das Menschenrecht“ (14.09.03) unter www.anis-online.de/journalismus/statements.htm#israel (zurück)

2.11 Demokratiekritik
2.11.1 Übertragung repressiver Strukturen

Nach der kritischen Betrachtung vieldeutiger Begriffe wie „Antisemitismus“, „Rechts“ oder „Terrorismus“ wurde oben argumentiert, dass abstrakte Begriffe im Diskurs vorgeschoben werden (können), um so – sei es bewusst oder unbewusst – eine konstruktive Aufarbeitung von Vergangenheit und Gegenwart zu verhindern. An die Stelle der Diskussion tritt dann das Tabu und man braucht einen Sündenbock, dem man die eigene mangelnde Konfrontation und nicht wahrgenommene Verantwortung anlasten kann.1 Es entwickelt sich eine Obrigkeit, die die Rollen vorgibt. Die Ausdrucksformen der Verdachtgesellschaft sind angstfixiert und nehmen mit der Zeit repressive Merkmale an, wie unter Punkt 2.8 ausgeführt wurde. Der gravierendste Gegenvorwurf zum Antisemitismusvorwurf betrifft also das demokratische Verständnis unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, geht also weit über den Antisemitismusvorwurf hinaus. So muss ernsthaft auf die Gefahren der Verdachtgesellschaft hingewiesen werden, die zu einer Blockierung der Kommunikation und zu einer Begünstigung von autoritären Strukturen, zu Gewalt und zu Feindbildern führen können. Robert Misik schrieb dazu:

„Bitte (...) schnell aufhören mit einer Hermeneutik des Verdachts, die Antisemitismus auch bei politischen Haltungen zu wittern versucht, über die sich wenig Nachteiligeres sagen lässt als das: dass sie dem, der den Verdacht ausspricht, nicht passen.“ (taz 06.12.03, S. 11, „Die Logik des Verdachts. Unter den Globalisierungskritikern blühe der Antisemitismus – so lautet die neue Mär, die man sich im Debattenzirkus erzählt. Klingt spannend, ist allerdings blanker Unsinn“, Robert Misik)

In den Tagesthemen (ARD) wurden zum Beispiel Kritik an der Regierung sowie die Art, mit der Kritik hervorgebracht werden darf, durch einen Schwenk unmittelbar mit dem Antisemitismusvorwurf gekoppelt:

„Tabubrüche und Regelverstöße wollen sowohl Jürgen Möllemann als auch Guido Westerwelle nutzen, um aus der FDP eine Protestpartei zu machen. Wogegen sie protestieren, das haben sie inhaltlich noch nicht mitgeteilt, aber Möllemann führt die Art und Weise des Protestes vor. Den Kanzler nennt er Knilch, Scharping eine Gurke, und die Regierung eine Pfeifentruppe. Alt-Bundespräsident Roman Herzog hat dies erbost, weshalb der Unionspolitiker im Sinne des demokratischen Grundkonsenses erklärt: 'Ich will nicht, dass über die Regierung meines Landes so gesprochen wird.' Doch ausgewogen, gerade das ist sie nicht, die Sprache des Protestes. Wohin das führen kann, untersucht Joachim Wagner:...“ Es folgt ein Bericht von Joachim Wagner über Susanne Thaler, die Mitglied des Bundesvorstandes war und die aus der FDP ausgetreten ist und Möllemann kritisiert, weil er rechte Stimmen „abgrast“. Wagner: „Nach ihrer Auffassung hat die Debatte um Möllemann und Karsli tiefe Spuren in den jüdischen Gemeinden hinterlassen, und die Hemmschwelle für antisemitische Äußerungen gesenkt. Durch kalkulierte Tabubrüche.“ Thaler: „Das Schlimmste ist, dass dieser schreckliche Satz sich so verselbstständigt hat: Man wird ja schließlich, man wird ja schließlich wohl noch... dürfen, man wird ja wohl schließlich noch Israel kritisieren dürfen. Die Infamie, ein solches Tabu aufgebaut zu haben, das eben nicht nur Möllemann, sondern auch Westerwelle bedient hat, das ist gar nicht mehr zurückzudrehen.“ Danach sagte Herr Clement, dass Karsli zum „Unfrieden“ beiträgt, weil er anti-israelisches, anti-semitisches und anti-jüdisches Gedankengut verbreitet hätte. „Das wollen wir in diesem Land nicht.“ Vom Ausland hätte man noch keine Kritik gehört, so ging es im Bericht weiter, aber wer wisse schon, ob sich das nicht ändern kann. (Ulrich Wickert, ARD Tagesthemen 06.06.02)

Ulrich Wickerts Logik ist: Erst nennt Möllemann die Regierung (ob zu Recht oder zu Unrecht) eine Pfeifentruppe, dann folgen die tiefen Spuren in der jüdischen Gemeinde. Um also, so weiterhin Wickerts Logik, dem Antisemitismus aus dem Weg zu gehen, soll oder darf man „nicht so“ (Herzog) über die Regierung sprechen und man soll oder darf keine Tabus brechen bzw. gegen Regeln verstoßen. Das heiße „demokratischer Grundkonsens“. Passend dazu schrieb die Zeit am 30.05.02, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der man des Haiderismus verdächtigt werden kann, wenn man nur den herkömmlichen politischen Diskurs verachtet (S. 2). Mittlerweile verändert sich schon das Geschichtsbild wegen Antisemitismus. Die 68er-Bewegung etwa wird rückblickend kritischer gesehen, nicht nur von Joseph Fischer, sondern auch von der Zeit:

„Die Studentenbewegung von 1968, deren Protagonisten so gern von Demokratie und Aufklärung sprachen, unterbrach den Prozess öffentlicher Aufklärung in der alten Bundesrepublik eher, als dass sie ihn förderte. Sie rückte den Nationalsozialismus ins Schema einer besserwisserischen und faktenfreien Kapitalismus- und Faschimuskritik, die ohne die Erwähnung 'Auschwitz' auskam und sich de facto, bei allem antiautoritären und antirevisionistischen Gehabe, mit der antifaschistischen Amtskirche der DDR gut ergänzte. Das gilt auch in einem zweiten Punkt: Die schnell dogmatisierte Achtundsechzigerbewegung entdeckte bald den 'Antizionismus' – Israel als imperialistisches Bollwerk im Kampf gegen die allgemeine und besonders die palästinensische Volksbefreiung. Der Antizionismus war ursprünglich eine innerjüdische Angelegenheit gewesen, heute tritt er als beliebte Variante des Antisemitismus in Erscheinung.“ (ZEIT 06.06.02, S. 24, „Was ist Antisemitismus?“ Götz Aly)

Es hat sich eine selbsternannte „Elite“ gebildet (siehe Zitat unten), die das durchweg positiv beschriebene „Antisemitismus-Tabu“ durch Sanktionen wahrt und sich „erwachsen“ nennt:

„Diese Fälle zeigen, dass eine alte Forderung der Linken offenbar Wirklichkeit geworden ist: nämlich die nicht nur rhetorische, sondern mit Sanktionen belegte Tabuisierung antisemitischer Regungen. Das Antisemitismus-Tabu ist nicht neu. Die Alliierten haben es in den 50ern gegen eine widerstrebende deutsche Öffentlichkeit durchgesetzt. Neu ist, dass es so gut funktioniert. (...) Diese Entwicklung ist mehr als moralischer Gewinn. Eine Elite, die über ein funktionstüchtiges Immunsystem gegen Antisemitismus und Geschichtsklitterungen verfügt, streut keine versteckten Botschaften aus, die andere drastisch umsetzen. (...) Noch etwas ist neu: Der bange Blick deutscher Politiker auf die 'US-Ostküste' scheint zu verschwinden. Die Delegation des eigenen Gewissens an das 'Ausland' ist ein Auslaufmodell. Die hiesige Elite scheint ihr Überich nicht mehr zu exterritorialisieren und auf Protestnoten des American Jewish Committee angewiesen zu sein, um zu verstehen, wo es langgeht. Sie ist erwachsener geworden. Kurzum: All das ist eine überfällige Anhebung des Niveaus der politischen Kultur – allerdings ist es kein Zufall, dass dies jetzt geschieht. Die wirksame, lückenlose Tabuisierung antijüdischer Klischees ist nicht zufällig in dem Augenblick durchsetzbar, in dem die von der NS-Zeit geprägte politische Generation endgültig abgetreten ist. Es ist ein Sieg – aber über einen Gegner, der die Bühne verlassen hat. Ein Sieg, der nicht viel kostet.“ (taz 27.1.04, S. 12, „Das Wunder von Essen. Das bundesrepublikanische Bild der Nazizeit verändert sich – langsam, aber stetig. Das Antisemitismus-Tabu funktioniert. Kulturell hingegen pluralisiert sich das Gedächtnis“, Stefan Reinecke)

Auch das Zitat: „In den Geschichtserzählungen dürfen Deutsche Opfer sein, – politisch scheint das Antisemitismus-Tabu endlich zu wirken“ aus demselben Kommentar zeigt, dass es weiteren Diskussionsbedarf gibt.

Die Angst, bei angemessener Kritik an Israels Politik eine Büchse der Pandora zu öffnen, hat zu tun mit befürchteten Entfesselungen, die außer Kontrolle geraten und zu bösartigen Hirngespinsten werden, wenn man das Bewusstsein schweigender Mehrheiten anspricht, so Jan Ross in der ZEIT am 30.05.02, S. 33, „Was ist politisch korrekt?“ Die Unterdrückung von Diskursen mit allen repressiven Maßnahmen, die das mit sich bringt, ist von einigen Wenigen gewollt. Warum werden diese Ängste nicht hinterfragt und überwunden?

Inzwischen wünschen sich Teile der Gesellschaft einen „starken Mann“ bzw. eine starke Armee, auch wenn dies mit einem gewissen Maß an Unrecht verbunden ist. Dies ist eine Gefahr, die wegen des tabuisierten Nazivergleichs nicht hinlänglich analysiert wird. Die Presse ist da nicht ausgenommen. Der taz-Inlandsressortleiter Ralph Bollmann schrieb am 30.08.03 mit Verweis auf das untergegangene Rom:

„Nachdenklichen Kritikern der Bush-Administration dämmert endlich, dass den Europäern an einem Kontinuum amerikanischer Hegemonie gelegen sein muss. Nur die Dominanz der USA garantiert, dass die bestehenden Konflikte regional begrenzt bleiben – ob in Liberia, Ruanda oder im Nahen Osten.“ Der Artikel endet mit: „Eines können die Europäer aber auf absehbare Zeit nicht ändern: Sie werden die Amerikaner kaum überzeugen, dass alle Welt bei der Wahl des US-Präsidenten mitreden darf. Aber vielleicht ist diese Personalentscheidung in der ältesten Demokratie der Welt auch besser aufgehoben als bei einer Weltgemeinschaft, in deren Parlament – der UN-Vollversammlung – überwiegend Diktatoren sitzen. Auch im alten Rom dauerte es lang, ehe auch die Bewohner der Provinzen das Bürgerrecht erhielten. Profitiert haben sie von den Segnungen der Pax Romana trotzdem.“ (taz Magazin, S. III, „Bedenkenloser Hochmut. Europas Solidarität mit den USA nach dem 11. September 2001 war eine durchaus brüchige. Nicht erst seit den Friedensdemos im Frühjahr übt sich der alte Kontinent im klassischen Hass auf Amerika“)

Auch in der Welt, im Tagesspiegel und in anderen Zeitungen fanden sich solche Töne, bei Frau Merkel und bei diversen Fernseh- und Radio-Kommentatoren. Während des Afghanistankriegs und zu Beginn des Irakkriegs konnte man das recht gut beobachten. Mit dem Irakkrieg änderte sich einiges, aber dann auch wieder nicht. Die konservativen Kieler Nachrichten hatten zeitweise zu Beginn des Irakkriegs mit den USA Probleme. Der Spitzensatz war: „Die Amerikaner haben schon immer ihre eigenen Interessen über die Mehrheitsmeinung der UN gestellt und zum Beispiel fällige Verurteilungen Israels regelmäßig verhindert.“ (KN 17.03.03, S. 2, „Zum Azoren-Gipfel: Countdown für den Krieg“). Er macht klar machen, dass die Gesellschaft keineswegs zufrieden ist mit den „starken Männern“, doch ruderte die Redaktion dann zurück. Ähnlich der Politiker Egon Bahr (SPD), der sehr lang und ohne Ironie in der FAZ am 10.12.03 über das Thema schrieb: „Amerika führt den Krieg, Europa sichert den Frieden“, nachdem er am 10.03.03 in der taz noch getönt hatte: „Wir machen Krieg nicht mit“ (S. 5, Interview Bernd Pickert und Eric Chauvistré). Hier muss sich Deutschland wirklich überlegen, ob es noch einmal die Geschichte mit dem Gehorsam gegenüber gewalttätigen Politikern durchspielen möchte.

Die Semitismus/Nahost-Debatte mit ihrer Parallele, der Anti-Amerikanismus-Debatte, wirkt sich also auf verschiedenen politischen Ebenen aus. Wenn autoritäre und repressive Strukturen in Fragen der Weltpolitik akzeptiert werden, können andere darauf verweisen und ihre eigenen autoritären und repressiven Strukturen durchsetzen, in den Familien angefangen. Wenn die Palästinenser kein Menschenrecht haben, dann kann es auch andere geben, die kein Menschenrecht haben. Das geht schnell.

2.11.2 Mangelndes Outgroup-Verhalten

Eine der Hauptschwachstellen des Demokratieverständnisses in der deutschen und der internationalen Gesellschaft ist ein generell zu beobachtendes mangelndes Outgroup-Verhalten, wie unter Punkt 2.7 bereits diskutiert wurde. Überall da, wo die eigenen Werte eine alternative Gesellschaftsordnung nicht zulassen, ist diese Kritik angebracht. Dies betrifft missionarische und dogmatische Muslime, Christen und Juden gleichermaßen, ebenso wie es solche „Demokraten“ betrifft, die es prinzipiell nicht akzeptieren können, wenn andere Gesellschaften keine grundsätzlich ähnliche Gesellschaftsform aufweisen. Die fundamentale Frage in diesem Zusammenhang ist, wie Gruppen mit ihren Ängsten umgehen, ob mit Ausgrenzung und also fehlendem Outgroup-Verhalten oder mit konstruktiver Auseinandersetzung und der Absicht, einen der gesamten Situation entsprechenden Frieden zu erreichen und zu halten.

Für mangelndes Outgroup-Verhalten im Islamverständnis der deutschen Gesellschaft sprechen zum Beispiel die Versuche, einen „Euro-Islam“ einzurichten. Die Idee erscheint auf den ersten Blick und im Prinzip nicht abwegig, bilden doch die Muslime in Europa durchaus verschiedene Subkulturen mit spezifischen Prägungen der Lebensart, die das mit sich bringt. Im Diskurs jedoch steht der Begriff „Euro-Islam“ für einen von Außen gezähmten, kontrollierten Islam. Der Begriff wurde wohl von dem Politologen Professor Bassam Tibi aus Göttingen eingebracht (siehe z.B. ZEIT, 30.05.02, S. 9) und von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse aufgegriffen. Es gab auch eine Konferenz der Bundeszentrale für politische Bildung für Islamwissenschaftler, zivilgesellschaftliche Initiativen und Journalisten über die Chancen und Perspektiven für eine Öffnung des Islam hin zu einem Bestandteil einer multireligiösen demokratischen Gesellschaft, vor allem in Europa. Titel: „Realitäten und Perspektiven eines ‚europäisch' geprägten Islam“ (Brühl, 10.06.-13.06.03).

In der Argumentation eines FAZ-Artikels des Nahost-Journalisten Wolfgang Günter Lerch zeigt sich, dass sich unter der Oberfläche eine Debatte um Säkularismus verbirgt: „Der Ruf nach dem Entstehen eines Euro-Islams heißt, die Frage nach der Säkularisierung zu stellen.“ („Schlachtung als Religion“, FAZ 24.01.02). Der Untertitel des Artikels zeigt die ungefähre Richtung der Botschaft: „Von der Schwierigkeit der Muslime, den Säkularismus zu verstehen.“ In dem Artikel wird eine sprachliche Analyse der Vokabel „la-dini“ („nicht religiös“) als Übersetzung von „säkular“ als Indiz verwendet, um zu belegen, dass Muslime entweder streng gläubig sind oder aber überhaupt nicht. (Hätte er die Vokabel „'almani“ für „weltlich“ gewählt, wäre die Argumentation so nicht geglückt.) Dieses „schroffe Entweder-Oder“ nun lasse den Islam erstarren: „Das Dazwischen, das heißt die im Säkularismus vorhandenen Abstufungen einer privaten Haltung zur Religion, (...) sind so gut wie unbekannt“. Deshalb – so endet Lerch – treffe man in den muslimischen Gesellschaften meistens auf Gläubige „oder aber auf solche, die gar nichts mehr glauben, dies aber nicht sagen“ (also Heuchler).

Kulturkampf ist, wenn man die andere Kultur als Alter Ego benutzt, um die Schwächen der eigenen Kultur von sich weg zu projizieren und die eigenen Normen damit aufzuwerten. Der Kulturkampf hat also immer apologetischen Charakter, er zeigt Unsicherheiten auf. Während Herr Lerch in den Muslimen nur Dogmatiker oder Heuchler erkennen kann, präsentiert er den Säkularismus selbst ziemlich dogmatisch, denn er sagt inhaltlich kaum etwas über ihn aus. Hinter dem Artikel steht letztlich die simple Aussage: „Die Anderen sollen so sein wie wir, denn wir sind überlegen, und außerdem haben wir sonst Angst.“ Das ist gemeint mit der Kritik des fehlenden Outgroup-Verhaltens, das zu einem dualistischen Weltbild und zu Feindbildern führt.

Auch das umstrittene Zentrum gegen Vertreibungen wäre eine Möglichkeit, zu konstruktiven „Frame Restructurings“ unterschiedlicher Szenarien zu gelangen. In einem Leserbrief an die taz heißt es dazu:

„Herr Schoeps, Sie schrieben ein Plädoyer für eine europäische Trägerschaft des geplanten 'Zentrums gegen Vertreibungen'. Ich stimme Ihnen ganz zu, dass die Schicksale vertriebener Menschen respektiert werden müssen. Es sind immer auch Kinder und Unschuldige, die betroffen waren und sind. Nicht jeder Fall ist gleich, aber alle sind wichtig. Daher erwähnen Sie die 15 Millionen Opfer deutscher Deportationen und auch Albaner, Armenier, Ukrainer, Weißrussen, Esten, Georgier, Inguschen, Krimtartaren, Polen, Sinti, Roma, Tschetschenen, Zyprioten, Ostpreußen, Schlesier und Sudetendeutsche. Ihre Absicht, einen Gesamtüberblick über die Vertreibungen in Europa in der jüngeren Geschichte herzustellen, ist zu begrüßen, obwohl, nein, gerade weil dies zu Diskussionen führen wird. Natürlich gehören in diesen Diskurs auch palästinensische Vertriebene, die unbestreitbar eine Folge des Zweiten Weltkriegs waren. Wer die vertriebenen Palästinenser in einem solchen Zentrum unberücksichtigt lässt, wird diesem bedeutungsvollen Zusammenhang nicht gerecht und es besteht die Gefahr, dass das Projekt Tabus begünstigt, indem es über bestimmte historische Aspekte schweigt. Daher plädiere ich dafür, im 'Zentrum gegen Vertreibungen' eine Rubrik für die Aufarbeitung der palästinensischen Geschichte einzurichten, im Rahmen des internationalen Diskurses.“ (taz 09.10.03, S. 13, Leserbrief, „Vertriebene Palästinenser. betr.: 'Angst vor dem Tabubruch' von Julius H. Schoeps, taz vom 02.10.03“, Anis Hamadeh)

In einem Brief vom 24.10.03 erklärte dem Leserbriefschreiber daraufhin Frau Erika Steinbach MdB, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, dass das „Zentrum gegen Vertreibungen“ Palästinenser nicht berücksichtigen werde, weil sonst auch andere nicht-europäische Vertriebene einbezogen werden müssten und dies ins Uferlose führen und die Möglichkeiten überschreiten würde.2 Dieser Ansatz ist methodologisch fraglich. Er isoliert Europa, grenzt es ab, und spricht ihm gleichsam (fast) jede historische Verantwortung im Outgroup-Bereich ab. Immerhin resultierten die besagten Vertreibungen aus den beiden Weltkriegen und aus anderen Konflikten, und nicht aus dem willkürlichen Umstand, dass sie an bestimmten Orten in Europa oder sonstwo geschehen sind.

Dies sind zwei Beispiele dafür, dass es unserer Gesellschaft schwerfällt, den Anderen anders sein zu lassen und ihn nicht zu kontrollieren oder in Schubladen zu stecken oder von sich zu weisen. Dies ist ein Fehler im System, es ist nicht einfach nur ein Aspekt. Die westlichen Gesellschaften brauchen einen Anderen, einen Feind, das war vor der Demokratie so und ist noch immer so. Ob Indianer, Schwarze, Juden, Kommunisten, Muslime oder Terroristen, immer hat es einen Anderen gegeben, der die Mitglieder der Ingroup erhöht hat, weil er selbst niedriger gemacht wurde.

2.11.3 Fazit

Einige konstruktive Auswege aus der Not der sich zunehmend verschließenden Gesellschaft sollen hier am Schluss dieses Teils gezeigt werden. Eine Gesellschaft verändert sich, wie gesehen, wenn eine (auch heterogene) Gruppe eine Sonderrolle innehat. Werner Pirker spricht in der jungen Welt gar von einer „andauernden Sonderrolle, die Israel eingeräumt wird und es in seiner Aggressivität ermutigt.“ (jW 08.11.03, Wochenendbeilage, „Annulliertes Umfrageergebnis“). Für diesen Bereich hat Michael Schneider ein umfangreiches und gutes Fazit:

„Dass die Israelis wie auch die in Deutschland lebenden Juden besonders empfindlich auf jegliche Form des Antisemitismus reagieren, ist aus historischen Gründen nachvollziehbar. Doch die Behauptung, mit der sich als erster Henrik M. Broder hervortat und die seither zum Standard-Argument vieler deutscher Publizisten gehört, dass der 'linke Antisemitismus' heute das Gewand des Antizionismus angelegt habe, ist eine böswillige Unterstellung und politisch kontraproduktiv, weil damit die öffentliche Debatte um die Palästinenser-Politik Israels von vornherein blockiert und zum Tabu erklärt wird. (...) Der unvermeidliche Beifall von der falschen Seite entledigt nicht der politischen Pflicht, die gebotene Auseinandersetzung mit der zionistischen Ideologie, die den historischen Anspruch Israels auf Judäa und Samaria – sprich: auf die besetzten Gebiete – aus dem Alten Testament ableitet, öffentlich zu führen, und dies auch in Deutschland. Hier setzt eine längst verinnerlichte Denkblockade ein. Bekanntlich leiden nicht nur die Kinder und Nachfahren der Holocaust-Opfer an einem Verfolgungstrauma, das ihnen gleichsam reflexhaft gebietet, jedwede Kritik an der Politik des Staates Israels als Infragestellung seiner Existenz zu deuten und diese sogleich als 'antisemitisch' oder 'antijudäisch' zu verdächtigen; auch die Kinder der Tätergeneration leiden offenbar an einem Schuldkomplex, den sie durch einen moralisch unanfechtbaren Philosemitismus und eine hundertprozentige Identifikation mit dem Staate Israel zu kompensieren suchen. (...) Auch waren – und sind es immer wieder – namhafte jüdische Philosophen, Historiker und Schriftsteller, die den Zionismus als nationalistische Ideologie und Staatsform vehement kritisieren. So hat der jüdische Philosoph Ernst Tugendhat für Die Zeit vom 22. Februar 1991 (Der Golfkrieg, Deutschland und Israel) die Deutschen nachdrücklich davor gewarnt, den Argumenten des offiziellen Israel blindlings zu folgen. Seine Hauptthese ist, dass die Deutschen ihre historische Schuld an den Juden nicht bewusst und nicht rational aufgearbeitet haben und dass sie deshalb auch vor den Forderungen des zionistischen Staates, die nicht mit dem Interesse des jüdischen Volkes an guter Nachbarschaft mit den arabischen Völkern identisch sind, fast automatisch 'einknicken'. 'Wird die Schuld, die man empfindet, nicht bewusst aufgearbeitet ..., dann hat das zur Folge, dass man sich zu seinem Gegenüber so verhält, dass man alles tut, was er glaubt, was man zu tun hätte. Man gibt also die Autonomie des eigenen Urteilens preis, und das Gegenüber hat so die Chance, die eigene Schuld zu manipulieren. Es gibt Menschen und auch Staaten, die auf dem irrationalen Schuldgefühl eines anderen virtuos wie auf einem Klavier spielen können. So tun es auch die Israelis mit den Deutschen.' Hätte ein nicht-jüdischer Deutscher diese Sätze geschrieben, man hätte gewiss nicht gezögert, ihn mit der bewährten Keule des 'linken Antisemitismus' zum Verstummen zu bringen.“ (Michael Schneider, Freitag, 26.09.03 „Seit wann ist Okkupation zu relativieren?“ Zwischenüberschrift: „Jüdischer Staat und deutscher Philosemitismus“)

Brian Klug, Gründungsmitglied des Jüdischen Forums für Gerechtigkeit und Menschenrechte und Philosophie-Professor in Oxford spricht sich für eine allumfassende Verurteilung von Rassismus ohne Unterschied aus:

„We should unite in rejecting racism in all its forms: the Islamophobia that demonises Muslims, as well as the anti-semitic discourse that can infect anti-Zionism and poison the political debate. However, people of goodwill can disagree politically – even to the extent of arguing over Israel's future as a Jewish state. Equating anti-Zionism with anti-semitism can also, in its own way, poison the political debate.“ („No, anti-Zionism is not anti-semitism“, Brian Klug, The Guardian, 03.12.03)

Auch der Ansatz von Moshe Zimmermann – Leiter des „Richard Koebner Center for German History“ an der Hebräischen Universität in Jerusalem – ist progressiv: eine situationsorientierte Aufarbeitung der historischen Knackpunkte. Dazu gehört auch die Gründung Israels und die Hinterfragung der Mythen, die diese Staatsgründung betreffen:3

„Auch wenn man die Massenauswanderung von Juden aus arabischen Ländern als Flucht und Vertreibung versteht, könnte man die kontrafaktische Frage stellen, ob diese Vertreibung stattgefunden hätte, wenn der Staat Israel nicht gegründet worden, wenn der Krieg zwischen Israel und arabischen Staaten ausgeblieben wäre. Wären Juden in arabischen Ländern ohne eine aktive zionistische Intervention motiviert gewesen, Hab und Gut aufzugeben und auszuwandern? Die Debatte kann also nur angesichts des historischen Kontexts – der Gründung des Staates Israel – sinnvoll geführt werden.“ (SZ 30.07.03, Feuilleton, „In Deutschland wie in Nahost. Vertreibungen und Aufrechnung“, Moshe Zimmermann)

Selbiges gilt selbstverständlich für alle beteiligten Seiten und alle beteiligten Vorurteile und Wertungen. Daher ist es auch nicht notwendig, darüber zu diskutieren, ob Kritik an islamischen Positionen oder arabischer Politik legitim ist. Die Legitimation der Kritik ergibt sich immer aus der gegebenen Situation und ist prinzipiell unabhängig von der Stellung von Personen und Gruppen. Es muss jedoch ein Maß für alle geben, sonst wird keine einzige unserer Bewertungen legitim sein. Als ein mögliches Fazit für die Ursachen von Gewalt in muslimischen Gesellschaften hier ein Zitat von Sabine Damir-Geilsdorf:

„Es gibt viele Ursachen für islamisch legitimierte Gewalt, sicherlich liegen sie aber nicht in einer strukturell Gewalt fördernden Beschaffenheit des Islam. Die Ideologisierung und Instrumentalisierung des Islam und des islamischen Märtyrerkonzepts für politische Zwecke beruht vor allem auf der Verweigerung grundlegender Rechte, gravierenden sozialen Ungleichheiten, der Unterdrückung gewaltfreier Oppositionsmöglichkeiten und dem Gefühl politischer Handlungsunfähigkeit. Konfrontative westliche Denkansätze und eine aggressive Politik, die keine wirkliche Demokratisierung der Staaten im Nahen Osten erreichen will, verstärken das bei militanten Gruppierungen dominant gewordene Denken in Feindbildkonstruktionen. Wie sich die islamischen Märtyerkonzepte weiterentwickeln, hängt daher wesentlich von den politischen Entwicklungen in den betreffenden Regionen ab.“ (FR 12.08.03, „Die Schwäche in Stärke verwandeln. Selbstmordattentate sind ein modernes Phänomen: Wandel und Erweiterungen des islamischen Märtyrerbegriffs“, Sabine Damir-Geilsdorf)

Ein weiteres Fazit betrifft die Verständigung und Verständigungsbereitschaft innerhalb des Diskurses, damit er nicht zu einem reinem Sanktions-Diskurs wird. Repräsentant einer progressiven Dialogkultur oder Streitkultur ist der Fernsehjournalist Gordian Troeller, der bekannt ist für seine Reportagen von anderen Ländern und fremden Kulturen. Troeller hatte es bereits mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun, Menschen, die eine andere Sprache sprechen, eine andere Kultur haben, andere Besitzverhältnisse und so weiter. In der Fernsehsendung über ihn, „Zwischen allen Stühlen auf dem richtigen Platz“ (NDR, 26.04.03, 23.30), erklärt er das Vertrauensverhältnis, das er mit anderen Menschen aufbauen kann, unter anderem damit, dass er mit seinem fremden Gegenüber scherzend streiten kann. Wenn man sich die jeweiligen Vorurteile gegenseitig zuruft und sich dabei ständig einer Ironie gewärtig ist, lernt man sich kennen und kann einander einschätzen.

Von einem harten Kulturdialog zwischen deutscher Landbevölkerung und Muslimen berichtet zum Beispiel der Soziologe Jörg Hüttermann. Dabei geht es im Kern nicht um die „Härte“ der Diskussion (Also nicht: Medizin muss bitter schmecken), sondern darum, Konflikte und Vorurteile durch ihr Aussprechen zu manifestieren, um sie zu überwinden:

„Gleich zu Beginn der ersten Versammlung hat jemand gesagt: 'Wir hätten euch auch ins Gas schicken sollen.' Das zumindest war ein Fuchteln mit dem Speer. Zum Glück hat der Bürgermeister rettend eingegriffen, und der Mann ist von der gesamten Nachbarschaft mit geballtem Missmut bedacht worden, sodass er gehen musste. Er ist nicht zurückgekehrt. Das war aus zwei Gründen eine wichtige Erfahrung. Erstens haben die Muslime gemerkt, dass die Alteingesessenen solche Leute nicht in ihren Reihen dulden. Und umgekehrt war die Nachbarschaft sehr beeindruckt, wie die Muslime die Fassung bewahrt haben. Die Muslime hätten alles Recht gehabt, beleidigt zu gehen, und haben es nicht getan. Das hat ihnen Respekt eingebracht.“ (taz, 04.11.03, S. 15, „'Fuchteln, schimpfen und spucken'. Wenn Muslime in Deutschland eine Moschee bauen wollen, ist eines gewiss: Ärger mit den Nachbarn. Gar nicht so schlimm, findet der Bielefelder Soziologe Jörg Hüttermann: Erst wenn die Kulturen hart aufeinander prallen, entsteht ein fruchtbarer Austausch“, Interview Mareke Aden)

Für ein aus der gesamten Studie hergeleitetes, strukturiertes Fazit in Form einer Zusammenfassung der Themen, Ergebnisse und Folgerungen siehe den Schlussteil 4. Im folgenden Teil 3 geht es um Attac und den Antisemitismusvorwurf.

Fußnoten:
1: Siehe dazu den Essay „Der politische Aberglaube“ (30.05.02) unter www.anis-online.de/journalismus/essay/03.htm (zurück)
2: Brief liegt mir vor. (zurück)
3: Siehe dazu Naeim Giladi, www.bintjbeil.com, gesehen 26.08.03, „The Jews of Iraq“: „I write this article for the same reason I wrote my book: to tell the American people, and especially American Jews, that Jews from Islamic lands did not emigrate willingly to Israel; that, to force them to leave, Jews killed Jews; and that, to buy time to confiscate ever more Arab lands, Jews on numerous occasions rejected genuine peace initiatives from their Arab neighbors. I write about what the first prime minister of Israel called 'cruel Zionism.' I write about it because I was part of it.“ (zurück)

 – Teil 3. Attac und der Vorwurf des Antisemitismus -

Attac wurde 1998 in Frankreich gegründet. Anfangs ging es darum, für eine demokratische Kontrolle der internationalen Finanzmärkte und die Einführung der Tobin-Steuer einzutreten, inzwischen ist die gesamte Problematik neoliberaler Globalisierung thematisiert, inklusive der Dimension „Globalisierung und Krieg“. Seit dem 6. Ratschlag in Frankfurt sieht sich Attac auch als Teil der Friedensbewegung (siehe z.B. ND 27.05.02). Mit 90.000 Mitgliedern in 50 Ländern versteht sich Attac als Bildungsbewegung mit Aktions-Charakter und Expertise. In Deutschland bildet Attac ein breites gesellschaftliches Bündnis, das von ver.di und der GEW über den BUND und Pax Christi bis zu kapitalismuskritischen Gruppen unterstützt wird. Menschen unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Herkunft sind in den mittlerweile über 160 Attac-Gruppen vor Ort aktiv. Weitere Informationen unter www.attac.de.

3.1 Die illegalen Siedlungen

Der Konflikt bei Attac hinsichtlich der Semitismus/Nahostdebatte wurde manifest am 05.09.03, als die taz den Artikel druckte: „Antisemitismus-Streit bei Attac. Gibt es antisemitische Attac-Aktivisten? Die einen sagen Ja. Die anderen verstehen die Frage nicht. Die 'AG Globalisierung und Krieg' weiß aber, dass ein Boykottaufruf gegen Israel 'missbraucht' werden könnte. Der Attac-Rat berät über Konsequenzen“ (Matthias Braun, S. 8).

Es ging dabei um eine Unterschriftenliste gegen die Besatzung vom Arbeitskreis Palästina Tübingen, die unterstützt wurde vom Friedensplenum Tübingen, von der Friedensgruppe Reutlingen, dem Deutsch-Palästinensischen Frauenverein e.V., der Vereinigung der Freunde Palästinas (verschiedene Bundesländer), und der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft (Vorstand). Die Schirmherrschaft für den Aufruf, dessen Text unten dokumentiert ist, hatten übernommen: Felicia Langer, israelische Rechtsanwältin und Trägerin des Alternativen Friedensnobelpreises, Tübingen, Viola Raheb, palästinensische Pädagogin und Theologin, Bethlehem/Wien, Helga Baumgarten, Dozentin für Politikwissenschaft an der Birzeit-Universität, Ramallah.

Bevor dieses Dokument und einige Folgen vorgestellt werden, sei darauf hingewiesen, dass es auch zuvor bereits Reibungen gegeben hatte. Auf eine Stellungnahme des Attac-Koordinierungskreises (nicht von Attac insgesamt) vom 17.4.02 zu Nahost unter www.attac.de/debatte/kokrpalaestina.php mit Stellungnahmen und Texten folgten „begründete Änderungsvorschläge zur Erklärung des ATTAC-Koordinierungskreises zur Palästinakrise“ von Attac Tübingen vom 05.07.02 unter www.attac.de/debatte/tuebpalaestina.php. Hier wird u.a. der Satz „Attac fühlt sich einig mit jenen Kräften auf beiden Seiten, die die Wurzeln nicht in religiösen und kulturellen Unterschieden, sondern in Armut und Aufrüstung, Unterdrückung und Besetzung sehen.“ geändert in: „Attac fühlt sich einig mit jenen Kräften auf beiden Seiten, die aus diesem Gebiet einen Raum von Demokratie und Toleranz und nicht von Fanatismus und Unterdrückung machen wollen.“ mit der folgenden Begründung: „Der Satz im Original impliziert zum einen, dass die Wurzeln des Konfliktes eindeutig auszumachen sind und in der israelischen Besatzung gründen. Dies halten wir für zu kurz gegriffen, da die Entwicklungen, die zur Gründung des Staates Israel und zur heutigen Situation geführt haben, äußerst komplex sind, wobei immer die Verteidigungssituation des Landes berücksichtigt werden muss.“

Worin aber besteht diese Komplexität, und was ist das für eine Verteidigungssituation? Zurück zu dem Aufruf gegen die Besatzung. Titel des undatierten Textes ist: „36 Jahre israelischer Besatzung müssen ein Ende haben! Zusammen mit der israelischen Friedensgruppe Gush Shalom fordern wir deshalb: Keine weiteren Rüstungsexporte aus Deutschland nach Israel!“ Im ersten Teil heißt es im Wortlaut:

„35 Jahre Besatzung und Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung, fortgesetzter völkerrechtswidriger Siedlungsbau für fast 400000 Siedler in Westbank und im Großraum Ost-Jerusalem, permanente Enteignung palästinensischen Bodens, Zerstörung palästinensischer Wohnhäuser, ein dramatischer Niedergang der palästinensischen Wirtschaft aufgrund von Ausgangssperren und Abriegelungen und ein vor allem von Israel torpedierter Friedensprozess haben im Oktober 2000 zum Aufstand in den besetzten Gebieten geführt. Als Antwort darauf hat die israelische Armee mit Panzern, Hubschraubern und Kampfflugzeugen unter dem Deckmantel des 'Kampfes gegen den Terror' praktisch die gesamte Infrastruktur der palästinensischen Autonomiebehörde zerschlagen: Flughafen und Hafen in Gaza, Radiosender und Ministerien in Ramallah, Gebäude der zivilen Verwaltung und der Polizei in fast allen Autonomiestädten. Die Lebensgrundlagen der PalästinenserInnen sind vernichtet, Hunderte palästinensischer Zivilisten getötet, Tausende verletzt.

Dieser Krieg wird auch durch massive Waffenlieferungen aus Deutschland ermöglicht. Durch ihre Rüstungsexportgenehmigungen unterstützt die deutsche Bundesregierung den Krieg anstatt ihn zu verhindern. Kriegswaffen im Wert von 346,6 Mill. DM wurden allein im Jahr 2000 nach Israel exportiert, überwiegend Bauteile im Bereich des Panzerbaus. Aber auch über Scharfschützengewehre der Firma Mauser verfügt die israelische Armee. Wir lehnen darüberhinaus generell alle Rüstungexporte in die Länder des Krisengebietes Naher Osten ab.“

Der zweite Teil ist überschrieben mit „Keine Warenimporte aus den israelischen Siedlungen auf besetztem Gebiet in die EU!“ Nur um diesen zweiten Teil geht es in der offiziellen Kritik. Die Waffenlieferungen wurden in der weiter unten dokumentierten Kritik nicht thematisiert. Wortlaut des zweiten Teils ist:

„Seit September 1998 ist der EU-Kommission bekannt, dass Israel regelmäßig Produkte aus den israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten (Westbank, Gaza, Golan, Ost-Jerusalem) in die EU exportiert. Diese Praxis widerspricht den Bestimmungen des 'Interimsabkommen über Handel und den Handel betreffende Angelegenheiten' von 1995, das Begünstigungen nur für Waren aus dem israelischen Staatsgebiet vorsieht. Sowohl die palästinensische Nichtregierungs-Organisation Mattin Group als auch britische und belgische Zollbehörden haben entsprechende Beweise vorgelegt. Die israelische Mission bei der EU erklärt selbst dazu: 'In dem europäisch-israelischen Assoziierungsabkommen wird an keiner Stelle die israelische Grenze definiert. Israel definiert sein Territorium in Übereinstimmung mit seinen Gesetzen und stellt entsprechende Herkunftszertifikate aus. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt existieren keine international anerkannten Grenzen zwischen Israel und den [besetzten] Gebieten. [...] Jeder Versuch der EU, ihr eigenes Verständnis von Israels Territorium aufzudrängen, könnte zu Recht als vorgefasste Meinung über den Ausgang der Status-gespräche betrachtet werden.'

Damit betrachtet Israel die von ihm besetzten Gebiete widerrechtlich als eigenes Staatsterritorium, zumindest solange die Verhandlungen mit den Palästinensern keine andere Regelung vorsehen. Da Israel eine Kennzeichnung der Waren aus den besetzten Gebieten (vor allem Früchte, Gemüse, Wein, Blumen und Kosmetika) ablehnt, besteht bei allen aus Israel importierten Produkten die Möglichkeit, dass sie aus den völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen stammen.

Schluss mit dem völkerrechtswidrigen Siedlungsbau! Wir fordern die verantwortlichen deutschen Politiker* auf, die deutschen Rüstungsexporte nach Israel und die israelischen Warenimporte aus den Siedlungen in den besetzen Gebieten in die EU umgehend zu unterbinden! Jeder Cent für die Siedlungen ist ein Cent gegen den Frieden! (Gush Shalom) (Anlage Unterschriftenliste) * die Unterschriftenlisten gehen an das Auswärtige Amt.“

Über diesen Text empörte sich ein einzelnes Attac-Mitglied, Sebastian Wertmüller. Er ist ein Regionalvorsitzender des DGB, allerdings hat sich der DGB ansonsten – so weit ich weiß – nicht in die Debatte eingeschaltet. In der taz stand dazu:

„Gegen das globalisierungskritische Netzwerk Attac wird der Antisemitismusvorwurf erhoben.“ „'In der AG spielen antisemitische Gedanken eine dominierende Rolle'“. „Wertmüller reibt sich zuvörderst an einer Unterschriftensammlung, die inzwischen aus dem Netz genommen wurde. 'Keine Warenimporte aus den israelischen Siedlungen auf besetztem Gebiet in die EU', wurde da gefordert. Das erinnere ihn an den nationalsozialistischen Aufruf 'Kauft nicht beim Juden'. Hinter der Boykottforderung stehe der Gedanke, die Wurzel des israelisch-palästinensischen Konflikts liege in der Gründung des Staates Israel, sagte Wertmüller. Dies sei ein antisemitischer Gedanke. Außerdem verweist Wertmüller auf mehrere Positionspapiere der 'AG Globalisierung und Krieg', in denen palästinensischer Terror als legitimer Widerstand gerechtfertigt werde. 'Widerstand aber knüpft an emanzipatorische Gedanken an, und die kann ich da nicht erkennen', sagte Wertmüller.“ „Morgen nun tagt das Gremium, das über Konsequenzen befinden könnte – der Attac-Rat. Das Thema Antisemitismus steht dort auf der Tagesordnung. Da die Arbeitsgemeinschaften, die sich bei Attac zusammengefunden haben, autonom arbeiten, könnte ein Ratschluss lauten: Die 'AG Globalisierung und Krieg' darf nicht mehr unter dem Attac-Label veröffentlichen. Aber das bleibt abzuwarten.“ (05.09.03, S. 8, „Antisemitismus-Streit bei Attac“, Braun)

In einer Gegendarstellung hieß es am 11.09.03 in der taz unter „Antisemitismus-Streit bei Attac  (von MAB) unter anderem: „Gestern veröffentlichte die Attac-AG 'Globalisierung und Krieg', der der Göttinger Gewerkschafter Sebastian Wertmüller antisemitisches Denken vorwarf, eine Stellungnahme. Darin bezichtigt die AG Wertmüller, 'politischen Rufmord' zu betreiben. Die Sprecherin der AG, Barbara Fuchs, verteidigte noch einmal einen von Wertmüller kritisierten Boykottaufruf für Waren, die in den israelisch besetzten Gebieten produziert werden. 'Wir werden weiterhin deutlich machen, wo der palästinensische Terror seine Wurzeln hat – nämlich in der Besatzungspolitik der israelischen Regierung', sagte sie zur taz. Der Attac-Rat will den Antisemitismusstreit auf der Jahresversammlung Mitte Oktober diskutieren.“

Dazu auch der Leserbrief von Anis Hamadeh, taz 13.09.03, mit dem Titel „Ein schwerer Vorwurf“: „Sebastian Wertmüllers 'In der AG spielen antisemitische Gedanken eine dominierende Rolle' ist ein schwerer Vorwurf. Und das eindeutig nur, weil jemand illegale Siedlungen kritisiert. Den Boykott illegaler Siedlungen zu 'Kauft nicht beim Juden' zu wenden, ist unter der Gürtellinie und zeigt die horrenden Auswüchse der Antisemitismusdebatte. Hier soll auf Kosten der Palästinenser legitime Kritik am Staat Israel unterbunden werden, und das kann nicht hingenommen werden. Attacs Entscheidung, die Unterschriftenliste aus dem Netz zu stellen, unterstützt aktiv die illegalen Siedlungen und die Besatzung. Ich protestiere energisch! […]“

Einige Zeit später, am 22.09.03, schrieb Hagalil einen längeren Artikel mit dem Titel: „Antisemitismus-Vorwurf: DGB-Regionalvorsitzender greift ATTAC an“. Darin wird das vom DGB (?) und der taz in die Öffentlichkeit getragene „Kauft nicht beim Juden“ aufgegriffen und bestätigt. Der Text kulminiert im Topos der „Absprechung der Existenz“ (Vernichtungstopos, siehe oben Punkt 2.6.2) und zeigt einige weitere der oben behandelten Motive:

„Der DGB-Regionalverband stellt schlicht antisemitische Positionen bei ATTAC fest. Die Kritik konzentriert sich auf die bundesweite Arbeitsgruppe 'Globalisierung und Kritik' von ATTAC.“ „Im Positionspapier der AG 'Globalisierung und Krieg' wird ausschließlich die USA angegriffen, dabei werden terroristische Anschläge und Selbstmordattentate 'verharmlost, verdrängt und teilweise verklärt.' Terroristische Aktionen gehen als gerechtfertigt durch, sie seien Ausdruck der 'Unabhängigkeitsbestrebungen von Minderheiten, die in Palästina und Tschetschenien unterdrückt würden.'“ „In der DGB-Erklärung wird klar gegen einen Aufruf zu einem 'Aktionstag gegen Besatzung' am 27.09.03 Stellung genommen. 'ATTAC plant zusammen mit extremen palästinensischen Organisationen und diversen israelfeindlichen Gruppierungen den Aktionstag.' Der Regionalverband des DGB lehnt eine Unterschriftensammlung zum Boykott von Waren aus Israel entschieden ab. Der Aufruf zu dieser Aktion befand sich bis zum 27.08.03 auf der Homepage von ATTAC. Aufgrund vielfacher Proteste wurde das Pamphlet entfernt. In einer Stellungnahme der ATTAC-AG zur 'Besatzung im Irak' findet eine 'Solidarisierung u.a. mit terroristischen, faschistischen und fundamentalistischen Gruppen im Irak statt.'“ „Sebastian Wertmüller vermutet hinter solchen Positionen eine tief sitzende Israelfeindschaft.“ „...insbesondere im Falle des publizierten Boykott-Aufrufes gegen israelische Waren und Produkte. In der Tat, dieser Aufruf ist nur noch als Wiederholung der Parole: 'Kauft nicht beim Juden' zu verstehen. Auch mit einer Kritik an der israelischen Regierung hat diese Aktion, die immer noch im ATTAC Umfeld propagiert wird, nichts zu tun. Die Israelis werden kollektiv, mit einem Boykott in eine Pfanne gehauen.“ „Prinzipiell müsse nach Wertmüller 'die Frage nach dem Umgang mit Juden und dem Existenzrecht Israels im Mittelpunkt der Debatte stehen'.“ „Im Zionismus wird ein grundsätzliches 'Weltübel' gesehen. Damit wird offen, egal ob man es so sagt oder nicht, nur dem Staat Israel in dieser Welt das Existenzrecht abgesprochen.“ „Im Kongo wurden in den letzten Jahren knapp 4 Millionen Menschen ermordet, mehr als 2 Milliarden Menschen leben auf dem Globus in schrecklicher Armut und jährlich verhungern 14 Millionen Kinder. All das kommt zwar bei ATTAC vor, es scheint sich allerdings um Randphänomene zu handeln, wie die Aktionsgewichtung von ATTAC zeigt. Israel und immer wieder Israel wird attackiert. Vor solchem 'Internationalismus' muss gewarnt werden. Wer zunehmend die Kritik an sämtlichen Weltübeln auf den Staat Israel konzentriert, hat sich auch als ernstzunehmender Diskussionspartner bezüglich der israelischen Staatspolitik diskreditiert.“ (Max Brym, www.hagalil.com/archiv/2003/09/dgb.htm)

Auch in der Internet-Gemeinde gab es Stellungnahmen, wie diese:

„Sobald Kritik an den antisemitischen Äußerungen laut wird, verfallen sie in die Opferrolle. Und sind nicht dazu in der Lage Zusammenhänge zu erkennen, wie hier z.B. zu dem Aufruf zum Boykott israelischer Waren heute und dem Boykott jüdischer Waren damals im 3. Reich. (...) Es geht ihnen darum Antisemitismus in eine moderne, akzeptable Form zu stecken.“ (alternativ.net, 31.10.03, „Gedanken zur Zeit : Neoantisemiten“, Thilo Pfennig)

Am 06.12.03 druckte die taz den Kommentar „Die Logik des Verdachts. Unter den Globalisierungskritikern blühe der Antisemitismus – so lautet die neue Mär, die man sich im Debattenzirkus erzählt. Klingt spannend, ist allerdings blanker Unsinn“ (Robert Misik, S. 11). Darin heißt es unter anderem:

„Als eine deutsche Attac-Unterorganisation unlängst mit einer Unterschriftenliste fordern wollte, dass Produkte, die in jüdischen Siedlungen im besetzten Palästinensergebiet produziert werden, nicht mehr begünstigt nach Europa importiert werden dürfen, geriet der Arbeitskreis unter heftigste Kritik aus den eigenen Reihen. Ein prominenter Aktivist geißelte die 'antisemitischen Gedanken' – und das, obwohl ja durchaus debattiert werden kann, ob Europa eine Siedlungspolitik, die es für schädlich hält, mitfinanzieren muss.“

Die EU hat in dieser Zeit tatsächlich eine solche Position hinsichtlich der Waren aus illegalen Siedlungen bezogen, siehe unten, und diskutiert dieses Thema. Dass es sich um einen Konflikt handelt, ist deutlich geworden.

„Wo Israel draufsteht, ist nicht unbedingt Israel drin. Datteln und Schnittblumen aus dem Jordangraben, Cherrytomaten aus Gaza, Badesalz vom Toten Meer – zahlreiche Produkte, die mit der Herkunftsangabe 'Israel' in hiesigen Regalen landen, kommen aus den besetzten Gebieten. Israelische Waren genießen gemäß einem bilateralen Abkommen Zollfreiheit bei der Einfuhr in die EU. Seit zwei Jahren nimmt Israel dieses Recht offiziell auch für Produkte aus dem Westjordanland, dem Gaza-Streifen und von den Golanhöhen in Anspruch. Dies halten die Europäer für vertragswidrig.“ (taz 17.11.03, S. 9, „Verbotene Früchte aus dem Westjordanland. Auf Datteln und Tomaten aus dem israelischen Staatsgebiet erhebt die EU keinen Zoll. Doch Israel exportiert derart vergünstigt auch Waren aus jüdischen Siedlungen in besetzten Gebieten. Das will Brüssel nun nicht mehr hinnehmen“, Burkhard Jürgens)

3.2 Das Jungle-World-Interview

Am 17.09.03 druckte die Zeitung Jungle World (Nr. 39) den Artikel „'Antisemitismus gibt's nicht nur bei Attac'. Über den Streit bei Attac sprach Peter Bierl mit Astrid Kraus. Die Kölnerin ist Mitglied des Koordinierungskreises von Attac Deutschland.“ Der Antisemitismusvorwurf kommt hier – wie auch im obigen Fall – von innerhalb Attacs und wird gleichzeitig von außen, von der Presse, bestätigt und transportiert. Das im folgenden in Zitaten dokumentierte Interview wurde mitgetragen von Werner Rätz aus dem Koordinierungskreis (oder „-Rat“, wie es manchmal heißt) von Attac Deutschland. Dies betonte Werner Rätz in einem Gruppengespräch am Rande des Ratschlages in Aachen im Monat darauf. Zu Beginn des Interviews wird deutlich, dass der tatsächliche Vorwurf nicht Antisemitismus ist, sondern die Tatsache, dass bestimmte Fakten und Ansichten von den falschen Leuten ausgenutzt werden (können), oder, wie es im Text heißt, „Forderungen, die Antisemitismus befördern“:

„Bierl: Was ist aus der Erklärung des Koordinierungskreises vom Dezember vergangenen Jahres geworden? A.K.: Es hat Debatten gegeben, vor allem eine Auseinandersetzung um Begriffe wie Antisemitismus und Nationalismus, dazu heftige Schlachten in den Mailinglisten; dort traten Mitglieder auf, die Israel als Unterdrücker- und Besatzerstaat sehen. Auslöser war aber nicht das Papier, sondern eher das Verhalten Einzelner oder von Gruppen, die sich selber nicht als Antisemiten sehen, deren Äußerungen aber von einigen als antisemitisch kritisiert wurden. Über das Papier selber ist nicht breit diskutiert worden, was ich außerordentlich bedauerlich finde.“

Dass also Attac-Mitglieder in Mailinglisten Israel als Unterdrücker- und Besatzerstaat sehen, wird hier in Verknüpfung mit dem Antisemitismus-Argument kritisiert. Der oben gezeigte Fall der illegalen Siedlungen wird dann bei Astrid Kraus zu einem „Aufruf zum Boykott israelischer Waren“:

„A.K.: Es gab kürzlich einen Aufruf zum Boykott israelischer Waren und einen Aufruf zu einem Tag zum Gedenken an die Besatzung im Irak und in Palästina (...)“ „Da gibt es verschiedene Gruppen, vor allem aber ist es das Spektrum um Linksruck. Mangelndes Bewusstsein für Forderungen, die Antisemitismus befördern, ist aber bei vielen Attac-SympathisantInnen verbreitet.“ „Durch viel Aufklärung und Diskussion können hoffentlich Menschen zum Nachdenken gebracht werden, antisemitische Denkstrukturen werden aber wohl nicht auszurotten sein.“ „Es ist eher das Anliegen Einzelner, die Diskussion um Antisemitismus und Nationalismus öffentlich zu führen und antisemitische und nationalistische Denkstrukturen immer wieder anzuprangern.“

Im folgenden geht es um Vergleiche mit der Nazizeit und einige Vorfälle bei Attac, die den politischen Kontext des Konflikts verdeutlichen. Astrid Kraus schildert das Verschwörungsszenario einer „Dämonisierung von Juden“ und vermutet dahinter „strukturelle Denkmuster, die im Konkreten zu Antisemitismus führen“. Das Opfer/Täter-Stereotyp wird herangezogen, um dieses Szenario zu begründen:

„Bierl: Attac hat im Januar eine Friedenstour quer durch die Republik veranstaltet. (Jungle World, 7/03) Die Referenten stellten Israel als Schurkenstaat dar und die Massaker von Sabra und Shatila wurden mit den NS-Verbrechen im Warschauer Ghetto gleichgesetzt. Warum hat der Koordinierungskreis dazu geschwiegen? A.K.: Wir haben hinterher eine Arbeitsgruppe zu Antisemitismus eingerichtet, um das Thema umfassend aufzuarbeiten. (...) In Frankfurt/Main hat Attac gemeinsam mit einer rechten Gruppe gegen die Übergabe der U-Bahn an eine US-Firma agitiert.“ „Bierl: Einige Leute aus der Kölner Minderheit haben nach dem Streit um die Friedenstour geschrieben, dass 'antisemitisch kompatible Klischees bei erschreckend vielen Mitgliedern und Sympathisanten von Attac unwidersprochen bleiben und verharmlost werden'. A.K.: Ja, das sehe ich auch so. Es sind strukturelle Denkmuster, die im Konkreten zu Antisemitismus führen. Es gibt eine Dämonisierung von Juden, die zu der Vorstellung der jüdischen Weltverschwörung führt. Im Kontext mit Israel und Palästina heißt es, Juden seien nicht bloß Opfer, sondern auch Täter, und es gibt das Gerede vom vagabundierenden Finanzkapital.“

Die Obrigkeit der Antisemitismusvorwerfer zeigt sich gegen Ende des Interviews. Es gibt für Astrid Kraus und Werner Rätz in diesen Aussagen keine anderen Lösungen für den Konflikt als die, die Verdächtigen bzw. Beschuldigten zu stereotypisieren und dann aus dem Diskurs auszuschließen, wie unter Punkt 2.8 geschildert, wobei zugegeben wird, dass eine Beweisführung aufgrund mangelnder Definition von „Antisemitismus“ kaum möglich ist:

„Das sind chiffrierte Antisemitismen, die auf unbewusster Ebene existieren, nicht bloß bei Attac-Leuten, sondern überall. Aber die Leute sehen sich selber nicht als Antisemiten, und man sollte sie auch nicht von vornherein als solche abstempeln, nur weil sie solche Chiffren im Kopf haben. Die Gruppe Linksruck feiert die antisemitische Terrortruppe Hamas als Befreiungsorganisation, andere Gruppen bei Attac vertreten die Lehren des Sozialdarwinisten Silvio Gesell, wonach der Zins die Wurzel allen Übels sei.“ „Bierl: Wo sind die Grenzen der Offenheit? Müsste man nicht manche Gruppen ausschließen? A.K.: Momentan ist das nicht möglich. Die Diskussion ist noch nicht so weit fortgeschritten, als dass man sich im Attac-Spektrum einig wäre. Es besteht kein ausgereifter Begriff vom Antisemitismus als Maßstab für organisatorische Konsequenzen. Ich bezweifle auch, dass hier eine Einigung überhaupt möglich sein wird. Ich würde es begrüßen, wenn das heiße Eisen angegangen wird, auch wenn es unschöne Reaktionen geben wird. Bierl: Das bedeutet auch den Ausschluss bestimmter Gruppen? Kraus: Ja, aber das ist schwer, wenn nicht unmöglich, weil man dafür eine Mehrheit braucht. Bei bestimmten Themen, wie etwa dem Krieg, sind Mehrheiten leicht herzustellen, aber nicht bei einem emotional so hoch belasteten Thema, wo Leute schon Angst haben, sich zu äußern, weil sie nicht als Antisemiten hingestellt werden wollen. Antisemitismus ist ein Thema, mit dem sich besonders die Deutschen nur ungern beschäftigen, egal aus welchem Spektrum sie kommen.“

Astrid Kraus und Werner Rätz sind beim Ratschlag in Aachen an der Attac-Spitze bestätigt worden und stehen zu diesem Interview. Dass damit alle Arten der Kritik auch an der Besatzung als „chiffrierte Antisemitismen“ gedeutet werden (können), ist ersichtlich. Damit entsteht ein Urteilsmonopol bzw. ein Verurteilungsmonopol, das sich selbst legitimiert.

Vorangegangen sind diesem Interview zwei Artikel in Jungle World, nämlich: „Ideologie statt Wahn. Eine Abgrenzung nach rechts macht die Globalisierungskritik von Attac auch nicht emanzipatorischer“ (Nr. 4, 15.01.03, Felix Kurz) und: „Attacke auf Rädern: Friedenstour von Attac. Auf der Friedenstour von Attac wurde nicht nur gegen den Irakkrieg argumentiert. Es wurde auch erklärt, warum Israel der wahre Schurkenstaat sei.“ (05.02.03, Peter Bierl). In diesen beiden Texten wird zum Teil die globalisierungskritische Bewegung insgesamt angegriffen: „Nicht erst durch ihre mögliche völkische, antisemitische oder antiamerikanische Aufladung ist Globalisierungskritik jedem Gedanken an Emanzipation entgegengesetzt, sondern indem sie diese Verhältnisse wieder herbeisehnt.“ (Kurz). Bei Bierl tritt ein einzelner Vergleich mit dem Warschauer Ghetto 1943 und den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila in Beirut im Jahre 1982 ins Zentrum der Kritik. („Die Grenze zum Antisemitismus war überschritten.“) Auch findet sich dort der Satz: „Dass der moderne Antisemitismus davon lebt, die Totalität des Kapitalverhältnisses zu zerreißen und seine abstrakte Erscheinung dem (Schein-) Konkreten entgegenzusetzen, hat sich nach Moishe Postones viel zitiertem Essay über die ‚Logik des Antisemitismus' allgemein herumgesprochen.“

In den meisten dieser Beispiele ist der Nahostkonflikt und damit auch die palästinensische Seite involviert. Sie hat allerdings kein vergleichbares Stimmrecht. Mit „palästinensischer Seite“ ist hier die gesamte Bevölkerung gemeint, die insgesamt von der langen, freiheitsentziehenden und nach internationalem Recht unrechtmäßigen Besatzung betroffen ist.

3.3 Attacpapier „Zu Antisemitismus und Nationalismus“

Wichtig für die vorliegende Diskussion ist auch der Attac-Text: „Grenzen der Offenheit. Eine Klarstellung. Das Diskussionspapier des Attac-Koordinierungskreises zu Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus“ vom 18.12.02, online unter www.attac.de/archiv/antisemit.php. Dort geschehen Abgrenzungen gegenüber den drei im Titel genannten Dingen.

Als Beispiel für „staatlich praktizierten Rassismus“ wird dort „die Verteidigung des 'Standorts Deutschland'“ genannt, wodurch ersichtlich wird, dass die genannten Begriffe eher unklar definiert sind. Die Abgrenzung nach Rechts geschieht aufgrund von Provokationen wie: „Auf der Homepage der NPD Frankfurt/M. findet sich z.B. ein Artikel mit der Überschrift 'Nationalismus ist Sozialismus', der in dem Satz gipfelt 'Wer heute Nationalist sein will, muss Sozialist sein. Und umgekehrt.'“ Auch wird hier die Beteiligung von Neonazis an einer Attac-Kundgebung sowie Verteidiger rechtsextremer Gruppen in einem Atemzug genannt mit Verteidigern von Möllemann und Karsli, die sich in der deutschen Öffentlichkeit für die Freiheit Palästinas eingesetzt hatten:

„In letzter Zeit wurde die prinzipielle Haltung Attacs gegenüber Antisemitismus und Nationalismus mehrfach in Zweifel gezogen. Ein Anlass war die Beteiligung von ca. 20 Neonazis an einer von Attac-München organisierten Anti-Kriegs-Kundgebung am 22. November. (...) Auf Attac-Mailinglisten tauchen auch Verteidiger und Verteidigerinnen Möllemanns und Karslis ebenso wie Funktionäre der rechtsextremen 'Bürgerbewegung Solidarität' auf.“

In den folgenden Passagen desselben Textes herrschen didaktische Momente vor. Den Leserinnen und Lesern wird nahegelegt, dass „antisemitische Muster“ oft als Teil etablierter Wahrnehmung wirken, dass also jemand von Außen erklären muss, was wie gemeint ist, weil die normalen Leute sich keine eigene Meinung bilden können. Insgesamt erscheint es ähnlich einer Verschwörungstheorie:

„Antisemitische, nationalistische und rassistische Muster wirken oft als Teil etablierter Wahrnehmung und Deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit.“ „Ein typisches Beispiel ist die Personalisierung komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse und Prozesse, die als Wirken 'geheimer Strippenzieher hinter den Kulissen' gedeutet werden. Dies finden wir dann bei den Nazis in der Figur der 'jüdischen Weltverschwörung'. Heute werden 'die geheimen Verschwörer' dann in Form der 'zionistischen Lobby' ausgemacht. (...) Antisemiten, Rassisten und Nationalisten bedienen sich nämlich nicht nur einer verklausulierten Sprache, sondern können damit Klischees aufrufen, die den Menschen bekannt und harmlos vorkommen.“ „So ist zu unterscheiden zwischen Figuren wie Möllemann oder Karsli, die das Wechselverhältnis zwischen diesen Klischees und manifestem Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus zielgerichtet für ihre Interessen ausnutzen und Personen, deren politische Positionen den manifesten Formen dieser Ideologien fern stehen. Die moralisierende Verurteilung ist hier nicht nur unproduktiv, sondern häufig Ausweis einer 'Kritik', die nur noch recht behalten will.“ „Die kritische Darstellung der Rolle der internationalen Finanzmärkte und der zahlenmäßig enorm gestiegenen Kapitalflüsse spekulativen Charakters hat dazu geführt, dass Attac aus einigen Zirkeln vorgeworfen wurde, sich in der Nähe rechtsextremer Ideologien zu bewegen. (...) So gibt es eine Kritik der Spekulation seitens der Nazis, die hauptsächlich mit der Unterscheidung eines 'schaffenden' (deutschen, nationalen, produktiven) Industrie- und eines 'raffenden' ('jüdischen', 'internationalen', 'spekulativen') Finanzkapitals arbeitet. (...) Die Überwindung kapitalistischer Krisenhaftigkeit konnte dann folglich mit der Vernichtung der Juden gleichgesetzt werden.“

Dass Attac hier mit pazifistischen Ideen in Konflikt gerät, wird in diesem Zitat deutlich: „Wir müssen uns einem Krieg gegen den Irak und überhaupt dem 'langanhaltenden Krieg gegen den internationalen Terrorismus' unzweideutig widersetzen. Unzweideutig heißt aber nicht nur, ohne Wenn und Aber gegen diesen Krieg zu sein. Denn hier öffnet sich eine Flanke zum Rechtsextremismus...“. Die Fokussierung auf „das Rechte“ relativiert die Friedensbereitschaft, siehe dazu die Abschnitte „Aristoteles' Logik“ (2.4.2) und "Rechtfertigung von Gewalt" (2.8.4).

3.4 Zwei Artikel in „Die Zeit“

Vor und nach dem Attac-Ratschlag in Aachen (16.-18.10.03) veröffentlichte die Wochenzeitung Die Zeit zwei Artikel zum Thema:
- DIE ZEIT 43/2003, „Attac reagiert hilflos auf den Antisemitismus von links. Die Situation im Nahen Osten wird von den Globalisierungskritikern äußerst kontrovers diskutiert.“ (Toralf Staud)
- DIE ZEIT 44/2003, „Attac. Blondes Ächzen. Wenn Globalisierungskritiker gegen 'Profithaie' wettern, ist der Antisemitismus nicht weit.“ (Toralf Staud)
Diese Artikel stießen bei Teilen von Attac auf Unmut. Im ersten wird Antisemitismus in der Überschrift bereits vorausgesetzt, was eine Wertung bedeutet. Zu Beginn wird festgestellt, dass der Nahost-Konflikt mit der Globalisierung „eigentlich wenig“ zu tun hat, was ebenfalls fraglich ist. Kritik an der Besatzung wird wie folgt unterbunden:

„Im Streit um die zutreffende Beurteilung der Politik von Israelis und Palästinensern droht sich die ganze Organisation zu zerfleischen. Ein Teil der Mitglieder versteigt sich regelmäßig in wüste Angriffe auf Israel: Da wird Ariel Scharon als Faschist bezeichnet und das Vorgehen der israelischen Armee mit den Untaten der Nazis verglichen.“ „Man solidarisiert sich nicht nur mit dem zivilen Widerstand der Palaestinenser, sondern auch mit deren Terrorismus.“ „Höhepunkt war im Sommer der Aufruf einer Attac-Gruppe zum Boykott israelischer Waren, die in den besetzten Gebieten produziert wurden.“ „So etwas verbiete sich in Deutschland, protestieren andere Attac-Mitglieder. Sie werfen den Israel-Feinden in ihren Reihen Antisemitismus vor. Die wiederum wehren sich gegen die ‚Auschwitz-Keule'. Der Streit hat inzwischen die Attac-AG Globalisierung und Krieg lahmgelegt. Auf deren E-Mail-Liste, wo früher gemeinsame Aktionen geplant wurden, schwirren heute Beschimpfungen und Gehässigkeiten hin und her.“

Eine überzeichnete Darstellung. Der Begriff „Auschwitz-Keule“ gehört nicht zum üblichen Repertoire der Diskussion bei Attac. Auch war die Mailingliste nicht lahmgelegt. Auch der Satz: „Als ein Mitglied des Koordinierungskreises vor drei Wochen endlich öffentlich zugab, dass es ‚vielen Attac-Sympathisanten' an Sensibilität für Antisemitismus mangelt, brach ein Sturm der Entrüstung über sie herein“, mit dem wohl das Jungle-World-Interview gemeint ist, ist gefärbt. Einen „Sturm der Entrüstung“ habe ich nicht erlebt. Im Artikel geht es dann um eine traditionelle „Israelfeindschaft der Linken“, also nicht um Palästinenser oder Israelis. Von „israel-feindlichen Reden“ bei Attac ist die Rede und davon, dass der Koordinierungskreis betonte, „dass es Attac enorm schaden kann, wenn es auch nur in den Ruf gerät, antisemitische Äußerungen und Positionen zu dulden.“ Diese Linksextremen, gegen die sich die Angriffe hauptsächlich richten, werden so beschrieben:

„Unter den fast 13.000 Mitgliedern sind Linksextreme zwar die Minderheit, aber sie sind die Lautesten. Sie stammen oft aus trotzkistischen oder marxistischen Gruppen, sind geschult im Reden, haben auf den Versammlungen schlicht die längste Geduld. Für sie ist Attac bloß ein Vehikel, ihre Ideologie unters Volk zu bringen.“ „Folglich verlangt Linksruck, eine der Mitgliedsorganisationen von Attac Deutschland, die ‚bedingungslose' Solidarität mit der Intifada gegen den ‚rassistischen Kolonialstaat Israel'. In einem Positionspapier von Linksruck heißt es: ‚Die Beschränkung unserer Solidarität auf die friedlichen Kräfte des palästinensischen Widerstands bedeutet in Wahrheit den Ausschluss der überwältigenden Mehrheit der Palästinenser und der antiimperialistisch fühlenden arabischen Massen aus der weltweiten Antikriegsbewegung.'“ „Regina Sternal, Linksruck-Mitglied und bei Attac immerhin zur Sprecherin der AG Globalisierung und Krieg aufgestiegen, meint gar, Islamisten könnten ‚Partner im Kampf' sein. Eine Position, die der ‚Querfrontstrategie' des ehemaligen RAF-Mitglieds Horst Mahler ähnelt, der jetzt unter Neonazis für ein Bündnis mit Linksradikalen wirbt.“

Wenn Linksruck tatsächlich gesagt haben sollte, dass die überwältigende Mehrheit der Palästinenser nicht friedlich ist, dann kann das durchaus Kontroversen auslösen, wie auch andere Meinungen aus der Linksruck-Redaktion. Warum hier eine Ähnlichkeit zu Rechtsextremen gesehen werden muss, ist hingegen nicht einzusehen, ebensowenig wie die Tatsache, dass hier nicht nur Äußerungen von Linksruck, sondern von allen israelkritischen Instanzen klein gehalten werden sollen: „Während für die meisten Attac-Mitglieder die Politik der Regierung Scharon einfach nur dem Gerechtigkeitssinn widerspricht, sehen die Linksradikalen in Jerusalem den Weltimperialismus am Werk.“ Man beachte die Wendung „einfach nur dem Gerechtigkeitssinn widerspricht“. Hier wird die Besatzung kleingeredet, als sei sie nicht der Rede wert. Dass die Besatzung Gewalt bedeutet, wird nicht thematisiert. Stattdessen wird am Ende des Artikels die Gewalt beim Anderen angemahnt:

„Attac wird sich am Wochenende nicht nur mit Antisemitismus, sondern mit seinem Verhältnis zur Gewalt auseinandersetzen müssen. Allen Beteiligten ist klar, dass die Wellen hoch schlagen werden in Aachen. Vorsichtshalber vermerkt die Tagesordnung zur Diskussion Israel/Palästina in Klammern: ‚evtl. Beschlüsse erst am Sonntag, nachdem wir alle die Möglichkeit hatten, zu reflektieren'.“

Nach dem Attac-Ratschlag in Aachen schrieb Toralf Staud einen zweiten Artikel zum selben Thema: „Attac. Blondes Ächzen. Wenn Globalisierungskritiker gegen 'Profithaie' wettern, ist der Antisemitismus nicht weit“ (ZEIT 44/2003). Hier werden Assoziationen geschaffen, die unter anderem von Robert Misik in der taz kritisiert wurden, aber auch allgemein bei Attac:

„Offenbar ist es niemandem unangenehm aufgefallen, das hässliche Plakat, das am vergangenen Wochenende beim Herbstkongress von Attac neben der Bühne stand. Es zeigte die Karikatur eines dicken Kapitalisten, im Mund eine Zigarre, auf dem Kopf eine Melone, auf einem Geldsack fläzend. Vor ihm steht ein schlanker Arbeiter, unterm Blaumann ist der Oberkörper nackt; auf eine Schaufel gestützt, wischt er sich Schweiß von der Stirn. Ein Slogan prangert die Zinsknechtschaft der Lohnabhängigen an. Verstörend ist: Der Arbeiter, der unter dem Finsterling ächzt, hat hellblonde Haare. Nur ein Zufall? Oder doch ein Detail, das Tieferliegendes enthüllt?“ „Wenn über 'das Finanzkapital' oder 'die Wall Street' geraunt wird, ruft dies das alte Vorurteil vom geldgierigen Juden wach. Etliche Globalisierungskritiker erliegen der Versuchung, für unübersichtliche Entwicklungen Sündenböcke verantwortlich zu machen. Die komplexen Zusammenhänge der Globalisierung reduzieren sie auf ein Komplott dunkler Mächte. Statt Marktmechanismen und die Macht der Konsumenten zu analysieren, wittern viele von ihnen eine Verschwörung von Finanzspekulanten und deren Marionetten in Regierungen und internationalen Organisationen. Doch wer an Verschwörungen glaubt, denkt auch die Verschwörer implizit mit. Und das nächstliegende Stereotyp dafür sind 'die Juden'. Nicht zufällig führen die Konspirationstheorien über den 11. September, die im Moment so beliebt sind, geradewegs zum israelischen Geheimdienst Mossad.“ „Wenigstens die Attac-Spitze ist sich dieser Problematik bewusst. Bereits im Dezember 2002, nach dem Skinhead-Vorfall, distanzierte sie sich in einem Papier von der Naziterminologie, die zwischen 'schaffendem' und 'raffendem' Kapital unterschied – also zwischen deutschem, nationalen und produktiven Kapital einerseits und jüdischem, internationalen und spekulativen andererseits. 'Die Personifizierung von Krisen der Globalisierung in der Figur des ,parasitären Spekulanten'' gebe es bei Attac Deutschland nicht, heißt es in dem Papier. Dennoch konnte in Aachen drei Tage lang das Plakat mit dem feisten Kapitalisten und dem arisch aussehenden Arbeiter herumstehen. Auch ein Poster mit dem Spruch 'Stoppt die Profithaie!', das eine trotzkistische Gruppe mitgebracht hatte, erregte keinen Anstoß.“

Es handelt sich hier im Wesentlichen um eine Verschwörungstheorie zur Schmälerung des Diskurses. Was ist an dem Ausdruck „Stoppt die Profithaie!“ antisemitisch? Die gesamte Argumentation von Staut ist eher selbst antisemitisch, weil sie Assoziationen zum „bösen Juden“ kreiert und bestätigt. Dass die Besatzung hier unmittelbar unterstützt wird, zeigt sich hier:

„Eines der wichtigsten Themen des Attac-'Ratschlags' war der Streit, ob es innerhalb der globalisierungskritischen Organisation Antisemitismus gebe. Seit Monaten toben darüber heftige Auseinandersetzungen bei den Treffen und auf den E-Mail-Foren von Attac. Auslöser war die Teilnahme von Skinheads an einer Attac-Demonstration. Später wurden wüste israelfeindliche Äußerungen von Mitgliedern der Attac-AG 'Globalisierung und Krieg' bekannt. Sie verglichen beispielsweise die Politik der Regierung Scharon mit der Nazideutschlands und riefen zum Boykott von Waren aus jüdischen Siedlungen in Palästinensergebieten auf.“

Dann wird ein älterer Herr aus Trier genannt, der Attac wegen einer Äußerung dazu genötigt hat, ihn auszuschließen. Peter Wahl von Attac betonte noch, dass Attac nichts tun oder sagen will, was Rechtsextremisten auch tun oder sagen könnten. Man macht sich also selbst abhängig von der Einschätzung, die der politische Gegner hat:

„Gleich zu Beginn des Kongresses erklärte deshalb der Vorstand, der bei Attac 'Koordinierungskreis' heißt, für ihn sei 'kaum ein schwerwiegenderer Vorwurf denkbar' als der des Antisemitismus. Die Delegierten applaudierten. Sollte es antisemitische Mitglieder geben, 'muss das zur Trennung von diesen führen'. Dazu ist es in Einzelfällen bereits gekommen: In der Regionalgruppe Trier etwa war ein älterer Herr aufgetaucht und hatte gefordert, man müsse endlich mal aufhören, den Juden Geld in den Hintern zu schieben. Er wurde sofort hinausgeworfen.“ „So weit, so einfach. Dann aber sprach Peter Wahl vom Koordinierungskreis über unterschwelligen Antisemitismus in der Organisation. Es sei ein Problem, wenn Rechtsextremisten einigen Attac-Thesen zustimmen können. Eine solche 'Anschlussfähigkeit' müsse vermieden werden. Da rief ein Delegierter dazwischen: 'Quatsch!'“

Damit ist der Autor der vorliegenden Studie gemeint, siehe auch oben Punkt „Aristoteles' Logik“ (2.4.2). Auch dieser zweite Zeit-Artikel zum Thema „Attac und Antisemitismus“ ist lenkend und mahnend. Es wird Attac nahegelegt, „man möge zu diesem heiklen Thema besser schweigen, zumal Weltwirtschaft und Nahostkonflikt wenig miteinander zu tun haben“. Attac bleibe jedenfalls unter Verdacht:

„In Aachen haben sie sich bloß auf Formelkompromisse einigen können. Die Abschlusserklärung stellt weder das Verhältnis zu palästinensischen Terroristen klar, noch definiert sie, wo Antisemitismus beginnt. Man werde 'einen gründlichen Diskussionsprozess organisieren', heißt es da, 'mit Respekt für unterschiedliche Ansichten'. Sollte sich der Respekt auch auf personalisierte Kapitalismuskritik erstrecken, muss Attac weiter mit dem Antisemitismusverdacht leben.“

Für eine kritische Bewegung stellt sich die Frage, ob es sich hier wirklich um Antisemitismus handelt oder ob solche Ermahnungen von Außen politische Gängeleien darstellen.

3.5 Sonstiges

Zum Thema „Attac und Antisemitismus“ haben auch andere Zeitungen geschrieben. Etwa die Stuttgarter Zeitung am 18.10.03: „Eine Schlammschlacht um das Verhältnis zu Israel. Auf der morgigen Attac-Bundesversammlung befassen sich die Globalisierungskritiker mit Antisemitismus in den eigenen Reihen.“ (Christopher Ziedler). Auch die Rheinische Post am 29.11.03 auf der Titelseite: „Der neue Antisemitismus. Brisante Resultate einer EU-Studie, Islamisten schüren Haß auf Juden, Kritik an Globalisierungsgegnern“ sowie drei Artikel bei www.klick-nach-rechts.de / hagalil.com, siehe unten. Es mag weitere Artikel geben, die Angaben hier erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Hier zwei relevante Zitate aus der taz:

„Dann gibt es den antisemitischen Reflex, der aus linken Intellektuellen wie Mikis Theodorakis oder anderen verwirrten Globalisierungskritikern spricht, die in ihren antikapitalistischen Affekten nicht mehr zwischen 'den Juden', einer israelischen Regierung der Eskalation und dem imperialen Gestus der US-Administration unterscheiden mögen.“ (taz 17.11.03, S. 17, „Am Abgrund der Geschichte. Mit dem Anschlag von Istanbul appellieren islamistische Terroristen einmal mehr an einen latenten Antisemitismus in der muslimischen Welt. Doch sie entfremden sich damit von ihren Gesellschaften“, Bax)

„So können auch Attac-Mitglieder problemlos Unterschriften für die Rücknahme der EU-Entscheidung sammeln, die Hamas als Terrororganisation einzustufen...“ „Hinter dem Banner 'Freiheit für Palästina' können sich linke Globalisierungsgegner eben genauso gut sammeln wie islamische Fundamentalisten oder Neonazis.“ (taz 26.09.03, S. 12, „Hakennasen statt Hakenkreuze. Dient der Antisemitismusvorwurf der Aufklärung? Oder regiert die Logik des Skandals? Rätselhaft ist bloß, dass es Judenhass gibt, aber offenbar keinen, der Juden hasst (5)“, Schapira)

Von einem anderen Aspekt der Debatte schrieb die FR am 11.08.03: „Debatte. Armut im Denken und Konformismus. Die Globalisierungskritiker führen keinen ernsthaften Diskurs mit dem Islam, sie bleiben gefangen im Eurozentrismus“ von Tariq Ramadan (Üb. Yusuf Kuhn). Darin heißt es:

„Wo sind die arabischen und muslimischen Globalisierungskritiker? Wie kann der Kontakt aufgenommen werden zu den Millionen Akteuren im Nahen Osten, in Afrika und Asien? Die Furcht vor ihnen ist so groß, dass die Vorstellung, Muslime könnten auf dem Boden ihrer Überzeugungen und Werte Kräfte der Veränderung sein, gar nicht aufkommen kann. Auf Grund ihrer Blindheit gegenüber den Dynamiken der Befreiung im Großteil der muslimischen Länder (die zumeist in und durch den Islam Ausdruck finden) und ihres Unverständnisses gegenüber den Kämpfen, welche die europäischen und nordamerikanischen Bürger muslimischen Glaubens führen, bleibt das Denken der Globalisierungskritiker mit allzu vielen Vorurteilen behaftet. Von ihrer Fortschrittlichkeit überzeugt, nehmen sie sich nach eigenem Gutdünken das Recht heraus, Religionen als unwiderruflich reaktionär zu verdammen. Daher wird schließlich nur eine Hand voll 'Muslime-die-so-denken-wie-wir' als legitime Mitstreiter im Kampf akzeptiert. Damit wird der Dialog mit dem Islam zu einem interaktiven Monolog entstellt, der 'unsere ideologischen Gewissheiten' bestätigt.“ Zur Person nach FR: Tariq Ramadan ist Professor für Islamische Studien an der Universität Fribourg (Schweiz) und Professor für Philosophie am Collège von Genf. Als Experte gehörte er mehreren Kommissionen des Europaparlamentes an und ist Mitglied der „Gruppe der Weisen für den Dialog der Völker und Kulturen“ bei der Europäischen Kommission unter Vorsitz von Romano Prodi.

Am 13.01.03 erschien auf www.klick-nach-rechts.de und bei Hagalil der Artikel: „'Le Monde diplomatique' und das 'Einheitsdenken': Das Querfrontprojekt ATTAC“ von Gudrun Eussner. Dort werden Noam Chomsky, Alain Gresh, Uri Avnery und andere Friedensaktivisten wegen ihrer Israelkritik kritisiert. Über Uri wird dort zum Beispiel gesagt, dass Leute von seinem Schlag „mit palästinensischen Homizid-Bombern gemeinsame Sache“ machen. Den beschuldigten Medien wird vorgeworfen, „einseitig Partei für die Palästinenser“ zu ergreifen. Die Seite „klick-nach-rechts“ wird gefördert im Rahmen des Aktionsprogramms „Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ vom Bundesministerium für Familie, Frauen und Senioren.

Unter dem Titel „'Geistiger Terror': Wie attac-Stuttgart den deutschen Stammtisch bedient“ (Max Brym) publizierten www.klick-nach-rechts.de / hagalil.com am 28.05.03 einen weiteren Artikel in dieser Reihe:

„Am 24.05.03 erklärte der Herausgeber des Magazins konkret, Hermann Gremliza, auf einer Veranstaltung in der Münchner Universität: 'Attac hat kein Problem, attac ist ein Problem'. Hart attackierte Gremliza die bekannteste Organisation der 'Globalisierungskritiker'. Das vernichtende Urteil von Hermann Gremliza könnte durchaus zutreffen, denn attac hat neben einer oberflächlichen Kapitalismuskritik, die oftmals nur den 'spekulativen Finanzsektor' benennt, den Fokus der Kritik, auf den Staat Israel gerichtet. Kein Wunder, das attac diverse 'Querdenker' und nazistische Querfrontstrategen anzieht. Gruselig wird es, wenn diverse Aktivitäten von einigen attac-Gruppen vor Ort betrachtet werden.“

Dann werden die Diskursteilnehmer Shraga Elam und Jamal Karsli diffamiert, ersterer mit den Worten: „Sein Auftritt war widerwärtig und seine Argumente faschistoid.“, zweiterer wurde „berüchtigter Antisemit“ genannt. Es geht um „die Bedrohlichkeit des deutschen Antisemitismus, der sich zunehmend aus den Hinterzimmern heraustraut“ und der von „vielen attacies“ nicht erkannt werde.

Schließlich Hagalil.com / klick-nach-rechts.de am 15.09.03: „Attac-Polen und die extreme Rechte: Umarmungsversuche. Exponenten der extremen Rechten versuchen, bei ATTAC mitzumischen... “ (Peter Novak), wo es unter anderem heißt:

„Die polnische Vereinigung 'Nie wieder', die auch eine gleichnamige Zeitung herausgibt, hatte im 15-köpfigen Gründerkreis von ATTAC-Polen zwei Personen ausgemacht, die sich seit Jahren in der neuen Rechten und bei den nationalistischen Heiden betätigen und für rechtsextreme Zeitungen schreiben. Dazu gehört der Chefredakteur des Magazins 'Obywatel' (Der Bürger) Remigiusz Okraska. Sein Blatt wird als zumindest halb-offizielles Organ von ATTAC in Polen wahrgenommen.“ „Schon 1999 riefen Mitglieder der rechten Kleingruppe ALSO (Association Liberal Sociale Ordnung) um die Mahler-Freunde Bernhard Heldt und Irmgard Kohlhepp in Berlin zur Gründung einer ATTAC-Gruppe auf, hatten damit aber keinen Erfolg. Mittlerweile agieren sie unter den Namen also ATTAC.“

Nicht alles der Kritik von Seiten der (insgesamt eher bedingungslosen) Israel-Unterstützer soll hier in Zweifel gezogen werden, aber doch wesentliche Teile. Die in Teil 2 analysierten und dargestellten Topoi werden auch hier, zum Teil in karikierter Form, verwendet, um eine politische Situation herbeizuführen bzw. zu erhalten, nämlich die, dass nur so weit kritisiert werden kann, dass es nicht zu Veränderungen kommt, ohne dass die Antisemitismusvorwerfer das so wollen. Die Kritik an Israel soll also kontrolliert bleiben, kontrolliert von einer Gruppe, die sich selbst legitimiert und sich auf nicht hinterfragbare eigene Grundsätze und Szenarien beruft.

3.6 Die Erklärung von Aachen

Beim Attac-Ratschlag in Aachen kam es, wie in der Einleitung dieser Studie bereits erwähnt, zu einer ersten bundesweiten Zusammenkunft, bei der über Semitismus/Nahost gesprochen wurde. Am Abschlusstag der Veranstaltung, dem 19.10.03, wurde folgende Erklärung vom Plenum verabschiedet:

Erklärung des Attac-Ratschlags zu Antisemitismus und zum Nahostkonflikt

Zur Diskussion um Antisemitismus und den Nahostkonflikt erklärt der Ratschlag von Attac:

1. Die Positionen von Attac sind nicht antisemitisch. Es gab und es gibt bei Attac keinen Platz für Antisemiten. Wir betrachten die Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und anderen reaktionären Ideologien als eine ständige Aufgabe.

2. Dabei sehen wir weiteren Diskussions- und Klärungsbedarf gegenüber Themen wie „struktureller Antisemitismus“ und „Anschlussfähigkeit von Antisemitismus“ und anderer offener Fragen, die aufgeworfen wurden. Dazu werden wir in den kommenden Monaten einen gründlichen Diskussionsprozess organisieren – konstruktiv und mit Respekt für unterschiedliche Ansichten. Der nächste Schritt ist ein Workshop im Januar.

3. Wir lehnen alle Versuche von Antisemiten und Neonazis ab, die mit sog. „Querfrontstrategien“ zielgerichtet versuchen, Anschlussstellen an die globalisierungskritische, die Friedens- und andere soziale Bewegungen zu finden.

4. Im Umgang mit diesen hochkomplexen und äußerst sensiblen Thema haben wir in Deutschland eine besondere Verantwortung, die sich als unausweichliche Konsequenz des faschistischen Sonderwegs Deutschlands 1933-45 ergibt. Wir können aus der deutschen Geschichte nicht einfach austreten.

5. Wir sind uns auch darüber einig, dass eine solche Herausforderung nicht bewältigt werden kann, wenn wir uns von Karikaturen einer Kritik, wie sie von einigen der sog. „Antideutschen“ kommt, unter Druck setzen lassen.

6. Grundlage der Position von Attac Deutschland zum Palästina-Problem sind die in der Attac-Erklärung von 2002 festgesetzten Ziele, das internationale Recht und die Ablehnung des Versuchs der führenden Staaten der Welt, den Prozess neoliberaler Globalisierung auch militärisch durchzusetzen und abzusichern. Der Kampf gegen die neoliberale Globalisierung und der Wille, „die Zukunft unserer Welt wieder gemeinsam in die Hände zu nehmen“, sind mit dem Kampf für den Frieden, für die Menschenrechte und für das politische Selbstbestimmungsrecht der Palästinenserinnen und Palästinenser untrennbar verbunden.

7. Die ständige Negierung der Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser durch die israelische Regierung drückt sich u.a. in der fortwährenden Besatzung, den wiederholten Bombardements der Lager, der systematischen Zerstörung ziviler Einrichtungen und dem aktuellen Mauerbau aus. Wir sind jeden Tag entsetzt, wie der Staat Israel die Verfolgung und Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser weiter verschärft und wie die mehrfache Verurteilung seiner Politik durch die UNO folgenlos bleibt.

8. Wir anerkennen das Recht der Palästinenserinnen und Palästinenser auf Widerstand. Doch wir lehnen die entsetzlichen Selbstmordattentate ab, und verurteilen entschieden deren Instrumentalisierung. Auch sie verhindern ein friedliches Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern. Unser Beitrag in Deutschland zur Beendigung der Selbstmordattentate und zur Verhinderung einer Dominanz von fundamentalistisch-religiösen und antidemokratischen Positionen besteht darin, diejenigen aktiv zu unterstützen, die eine Beendigung der Besatzung mit demokratischen Mitteln erreichen wollen.

9. Unsere Haltung in der Palästina-Frage beruht auf folgenden Grundsätzen: – Einhaltung sämtlicher Palästina-Resolutionen, die bislang von der UNO verabschiedet wurden. Diese fordern den Rückzug Israels aus allen seit 1967 besetzten Gebieten, das prinzipielle Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, den Abbau der israelischen Siedlungen in den palästinensischen Gebieten und die Lösung der Jerusalem-Frage. * Unterstützung des Rechts von Israelis und Palästinenser auf lebensfähige Staaten mit international garantierten Grenzen. * Solidarität mit den israelischen und palästinensischen Friedensbewegungen.

Während die Punkte 6-9 eindeutig und für jeden Menschenrechtler akzeptabel sind, wird im ersten Teil der Erklärung ein Rahmen geschaffen, der die Punkte 6-9 unwirksam macht, da der nicht widerlegbare Vorwurf des „strukturellen Antisemitismus“ – wie in dieser Studie gezeigt wurde – jederzeit aktivierbar ist, sobald – ja bevor – eine tatsächliche, positive Veränderung der politischen Verhältnisse in Palästina eintreten könnte. Auch sind die Worte „Wir können aus der deutschen Geschichte nicht einfach austreten.“ in verschiedener Form interpretierbar. Wenn es die Beschneidung der Kritikmöglichkeit bedeutet, ähnlich wie Elmar Altvater es formulierte (siehe oben 2.2), ist es zweifelhaft. Was den „Respekt für unterschiedliche Ansichten“ angeht, so ist zu bedenken, dass ein Teil der Diskursteilnehmer generell unter Antisemitismusverdacht steht, während ein anderer Teil diesen Verdacht ausspricht und für die beschriebenen Konsequenzen eintritt.

 – Teil 4. Zusammenfassung und Resümee -
4.1 Zusammenfassung

In der vorangegangenen Darstellung und Besprechung von etwa 400 Pressequellen, hauptsächlich aus dem Jahr 2003, wurden die Szenarien und Denkrahmen untersucht, in deren Kontext der Antisemitismusvorwurf auftritt. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um das Israel-, das Antisemitismus-, das Terrorismus- und das Palästina-Szenario. Sie werden im ersten Teil vorgestellt. Die Szenarien setzen sich zusammen aus einzelnen Topoi, das sind Standard-Motive im Diskurs.

So ist das Israel-Szenario gegründet auf den Sicherheitsaspekt, mit Topoi wie „Verteidigung des Existenzrechts“, „Rücksichtnahme auf die Gefühle der heterogenen Opfergruppe“, „Unvergleichlichkeit des eigenen Leids“, „Schutz der einzigen Demokratie im Nahen Osten“, sowie dem Topos des Sündenbocks und weiterer, während im Palästina-Szenario andere Momente im Vordergrund stehen, etwa Topoi von Verlust („Nakba“) und Widerstand („Intifada“), aber ebenfalls auch der Topos des Sündenbocks. Es wird in dieser Arbeit argumentiert, dass die Synthese der konfligierenden Szenarien auf einer übergeordneten Ebene anzustreben ist, um zum Frieden zu gelangen.

In der Nahostberichterstattung, die als nächstes thematisiert wird, besteht eine Ambivalenz insofern, als die Presse zum Teil Spiegel, zum Teil aber auch Konstrukteur der Wirklichkeit ist, wie in Teil 2.1 beschrieben wird. Meist wird aus der Sicht Israels berichtet, wobei nicht offenkundig ist, welches Israel gemeint ist, etwa wenn es um Gewaltmaßnahmen geht. Dass das Thema „Kritik an Israel“ umstritten ist und häufig in einem Kontext mit Antisemitismusvorwürfen steht, wird in Teil 2.2 dokumentiert. Eine besondere Rolle spielt dabei das ungeklärte Verhältnis zwischen Israel und (den) Juden.

Die Problematik der Definition und Relevanz des Antisemitismus steht im Mittelpunkt von Teil 2.3. Dabei wird festgestellt, dass es eher darauf ankommt, wer den Vorwurf ausspricht, als darauf, was er inhaltlich aussagt. Es wird auf Gegengefahren hingewiesen wie die Bildung eines dualistischen Weltbilds, in dem es nur die Guten und die Bösen gibt. Dies bezieht sich auch auf das Konzept des „Neuen Antisemitismus“ (2.4), das auf Topoi vom Verstecken und Verleugnen der wahren Anliegen der Verdächtigen aufbaut. In diesen Fällen sind die Beschuldigten üblicherweise nicht selbst antisemitisch, sondern der Vorwurf bezieht sich darauf, dass Antisemiten daran anknüpfen können. Dass der Antisemitismusvorwurf Mittel zu einem höheren Zweck sein kann, belegt der Topos „Kein Antisemitismus, aber!“. Unter Punkt 2.4.2 wird mit Verweis auf Aristoteles' Logik argumentiert, dass dieser Anknüpfungs-Topos in vielen Fällen nicht haltbar ist, und dass es darüber hinaus auch von Seiten der Antisemitismusvorwerfer zu Anknüpfungspunkten kommen kann, an Scharon oder die Antideutschen. Um die Rücksicht auf Gefühle einer heterogenen Opfergruppe als Maßstab politischer Argumentation und als Phänomen des öffentlichen Lebens geht es in Punkt 2.4.3.

In einer kurzen Beschreibung von Markierungen und Selbstmarkierungen im Diskurs wird danach die Relation zwischen Israel und (den) Juden in Teil 2.5 näher bestimmt, worauf zwei ausführliche Teile über den „arabischen/islamischen Antisemitismus“ und über Feindbilder folgen. Ausgehend vom Terrorismus-Szenario wird die Rolle von Palästinensern, Arabern und Muslimen untersucht, in ihrer Eigenschaft als politische Gegner Israels. Der Vernichtungstopos (2.6.2) und viele Verbindungen und Vergleiche zwischen Nazis und diesen Gegnern belegen, dass sich hier unterschiedliche Assoziationsfelder stark überlagern. Obwohl die arabische Wahrnehmung von Juden und Israel anders ist als die westliche (2.6.3), wird bei Bewertungen im Allgemeinen von der westlichen Wahrnehmung ausgegangen. In diesem Bereich gibt es viele Topoi, wie den des Im- und Exports von Antisemitismus (2.6.4), den des historisch-geografischen Allumfassens von Terrorismus und von Antisemitismus, den des „antisemitischen Elften September“, den des Opferdiskurses und andere. Im Teil „Feindbild Islam/Araber“ (2.7) wird vorgeführt, auf welche Weise sich diese Motive zu Feindbildern verdichten können, wenn Parallelen und Assoziationen mit den Nazis aufgebaut und betont werden.

Da alle geläufigen Konsequenzen des Antisemitismusvorwurfs entweder didaktisch oder repressiv sind (2.8), bleiben die gesellschaftlichen Fronten unverändert. Formen von Dialog und Verständigung gehören nicht wesentlich zum Diskurs, stattdessen aber erzieherische Maßnahmen (2.8.1), Einschränkungen von Freiheiten wie der Presse- und Meinungsfreiheit (2.8.2), Ausschluss von Diskursteilnehmern (2.8.3) und auch Rechtfertigung von Gewalt, zum Beispiel von Kriegen (2.8.4).

Im langen Teil 2.9 wird eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen und eine weitgehende Parallelität von Antisemitismusvorwürfen und Vorwürfen des Rechts-Seins festgestellt. Die Rechts/Links-Dichotomie (2.9.1) wird hinterfragt und Vergleiche mit der Nazizeit werden analysiert (2.9.2). Dabei wird ein Opfer/Täter-Stereotyp erkannt (2.9.3), das für den Diskurs von zentraler Bedeutung ist, und das historisch begründet ist. Nur kurz wird das Problem der Historizität von Szenarien im Kontext mit dem Antisemitismusvorwurf behandelt (2.9.4), gefolgt von einem Abschnitt über Kollektivverantwortungen von Gruppen (2.9.5), in dem unter anderem der Begriff „Tätervolk“ besprochen wird. Dieser Teil beinhaltet eine Positionierung des Autors der vorliegenden Studie im Diskurs hinsichtlich eigener Verantwortlichkeiten.

Der Frage, inwieweit sich der Zionismus in seiner heutigen Form durch den Antisemitismusvorwurf der Kritik entzieht und das Palästina-Szenario in den Hintergrund treten lässt, wird in Teil 2.10 nachgegangen, ebenso wie der Frage nach dem ideologischen Gehalt des Zionismus (2.10.2). Im Schlussteil 2.11 werden Strukturen, Tendenzen und Fälle gezeigt, bei denen der Antisemitismusvorwurf außerhalb seines ursprünglichen Rahmens politisch wirkt, etwa in der Bewertung der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik oder als Kritikbremse zu Gunsten einer Regierung. Mangelndes Outgroupverhalten (2.11.2) wird für solche Tendenzen als eine wichtige Grund-Ursache genannt, weil sie mit Ängsten einhergehen, die im Alter Ego spiegel-erkannt werden, der daher kontrolliert und seiner Unberechenbarkeit beraubt wird bzw. werden soll.

Insgesamt konnte belegt werden, dass durch den neuen Antisemitismusvorwurf eine Obrigkeit entstanden ist, die sich selbst in der Verantwortung sieht, „den Antisemitismus“ zu bekämpfen, und die andere Diskursteilnehmer aufgrund ihrer Position im Diskurs öffentlich bestrafen und marginalisieren kann. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass viele Kommunikations- und Gruppen-Prozesse in dieser Auseinandersetzung unbewusst und ohne Absicht geschehen. Im Fazit (2.11.3) schließlich sind einige Pressezitate zusammengestellt, die konstruktive Ansätze bieten, um die konkurrierenden Szenarien unter einem Dach zu integrieren.

Im dritten Teil der vorliegenden Studie wird der Semitismuskonflikt bei der globalisierungskritischen Bewegung Attac nachgezeichnet, mit dem Schwerpunkt auf seiner Dokumentation. Artikel aus der deutschen Presse zum Thema Attac/Antisemitismus sind dort gesammelt und vor dem Hintergrund des analytischeren Hauptteils 2 in Grenzen auch besprochen.

4.2 Resümee

Das Schlimme am Antisemitismus ist, dass die Nazis und die deutsche Gesellschaft ihn zu einer staatlichen und gesellschaftlichen Ideologie machten, die mit dem Tod und dem Leid von Millionen von Menschen verbunden ist. Das Schlimme ist auch, dass er Menschen generalisiert und zu Sündenböcken gemacht hat. Dies führt bei einigen Diskursteilnehmern zu verständlichen Sorgen. Nicht verständlich hingegen ist, wenn der Diskurs deshalb zu Gunsten einer Gruppe kontrolliert wird, die als stereotype Opfergruppe konzeptionalisiert wird. Vorübergehende Ausgleiche – wie bei Quotenregelungen – mögen akzeptabel sein, zum Beispiel, wenn die Chancengleichheit einer Gruppe für eine längere Zeit zu Unrecht nicht gegeben war und diese Gruppe sich gesellschaftlich konsolidieren muss.

Die Duldung der israelischen Besatzung Palästinas im Semitismus/Nahostdiskurs kann damit aber nicht gemeint sein. Zählt man nämlich von den vorliegenden Zitaten dieser Studie die, in denen der Antisemitismusvorwurf ohne Zusammenhang mit Palästina hervorgebracht wird, so wird man nur wenige finden. Die Besatzung gehört aber nicht zu Israels Existenzrecht.

Vieles in dieser Studie weist darauf hin, dass eine mangelnde Bewältigung der deutsch-jüdischen Geschichte zu einer Verkrustung des Diskurses geführt hat, indem abstrakte und zum Teil historische Begriffe und Szenarien immer wieder neu bestätigt worden sind. Da Palästinenser, Araber und Muslime in den Quellen oftmals ähnlich wie Nazis konzeptionalisiert werden, liegt die Folgerung nahe, dass sich hier Stellvertreterkämpfe abspielen. Der Konflikt dauert schon sehr lange und muss ja irgendwann zu einem Ende kommen. Die Schwere des Antisemitismusvorwurfs beeinflusst hier zusammen mit der allgegenwärtigen Israel-Solidarität die öffentliche Meinung sehr stark.

Wenn Muslime, Araber und Palästinenser unter dem Generalverdacht des latenten Judenhasses stehen, dann bedeutet das auch, dass die Öffentlichkeit mit solchen Leuten vorsichtig ist. Im öffentlichen Diskurs in Deutschland gibt es beispielsweise keine prominente und sympathietragende Persönlichkeit mehr, die sich für die Freiheit und das Menschenrecht Palästinas einsetzt bzw. einsetzen kann. Norbert Blüm, seit einiger Zeit im Unruhestand, ist eine kleine Ausnahme, jedoch ist auch er nicht wirklich bekannt für dieses Thema. Die deutsche Öffentlichkeit kennt auch kaum exponierte Araber und Muslime, vielleicht Kaya Yanar und Aiman Abdallah aus dem Fernsehen, beide mehr oder weniger unpolitisch. In den Niederlanden gibt es eine Gretta Duisenberg, die sich einsetzt für die Freiheit und das Menschenrecht der Palästinenser, so etwas ist in Deutschland derzeit aus den bekannten Gründen nicht möglich.

Durch das Tabu und durch den Abstraktionsgrad von Schlüsselbegriffen des Diskurses (Antisemitismus, Rechts, Nationalismus, Terrorismus, Islamismus...) wird im Mainstream eine Art Schlussstrich gezogen, der wichtige Wertedebatten erschwert und verhindert. Unsere Gesellschaft kann zum Beispiel nicht mit Schuld umgehen, darauf verweist mit großer Dringlichkeit die hohe Akzeptanz des dualisierenden Opfer/Täter-Stereotyps. Die Debatte um das Menschenrecht kann auch nicht angemessen geführt werden, denn sie kann von führenden Diskursteilnehmern als antisemitisch (oder auch anti-amerikanisch) gedeutet werden, da Palästinenser (Iraker u.a.) aufgrund von Israels bzw. Amerikas Sicherheitsbedürfnissen in dieser Hinsicht Abstriche machen müssen.

Auch die Diskurse über landesbezogene Identitäten, überhaupt Identitäten, über Freiheit, Kreativität, Verantwortung, Säkularismus, Glauben und viele andere Themengebiete sind durch die Existenz dualistischer Denkmuster beeinträchtigt, die sich aus der Aufschiebung der Vergangenheitsbewältigung ergeben. Denn bei jedem möglichen Wert und bei jeder Norm muss stets geprüft werden, wie „der Andere“ dazu steht, sei er Nazi, Antisemit, Terrorist oder Islamist.

So nimmt zum Beispiel der Westen selten wahr, dass religiöse christliche und jüdische Elemente in politischen Argumentationen von Politikern auftauchen, weil der Säkularismus im Westen kein Thema mehr ist, was die eigene Kultur angeht. Nur der Islam wird im Westen als Religion wirklich kritisiert und zur Disposition gestellt, obwohl die Fragen nach dem historischen Kontext von Schriften, nach der politischen (sozialen) Dimension von Religionen, nach Schismen, dem Dogma und anderes für jede der drei Weltreligionen ziemlich gleich gelten.

Da der Antisemitismusvorwurf angstfixiert ist und stets ab- und ausgrenzend verwendet wird, ohne Perspektiven auf Verständigung, Dialog und gesellschaftlichen Frieden zwischen den beteiligten Gruppen und Personen, und da er einzig darauf eingerichtet ist, einen Zustand zu bewahren, mit dem er nicht einmal zufrieden ist, liegt die Vermutung nahe, dass in vielen Fällen nicht der Antisemitismus bekämpft wird, sondern seine Bewältigung.

Eine der Hauptschwierigkeiten, die sich neben der Ausbildung einer exklusiven Obrigkeit im Diskurs zeigt, betrifft die mangelnde Möglichkeit, sich ein Bild von den tatsächlichen politischen Verhältnissen zu machen, um damit endlich den langen Frieden zu erreichen, der allen Beteiligten gerecht wird.

The Reproach of Antisemitism in Critical Reflection
Representation and Analysis of German Press Sources.
Study for the Attac Workshop "Semitism/Middle East" 14./15. February 2004 in Hannover
by Anis Hamadeh, M.A., Kiel-Germany, February 2004
German Original
(German manuscript has 108 pages)

Contents:

1. Framework of the Discourse
1.1 Israel-Scenario – Antisemitism-Scenario – Palestine-Scenario
1.2 Cross-Roads of Values

2. Topoi of the Semitism/Middle East Conflict
2.1 Topoi and Ambiguity of the Middle East Coverage
2.2 Is the Possibility of Israel Criticism limited?
2.3 Definition and Relevance of Antisemitism
2.4 The "New Antisemitism"
    2.4.1 Topoi of the "New Antisemitism"-Scenario
    2.4.2 Aristotle's Logic
    2.4.3 Feelings of the Heterogeneous Victim Group
2.5 Marking and Self-Marking
2.6 The "Arab/Islamic Antisemitism"
    2.6.1 Terrorism-Scenario
    2.6.2 The Topos of Destruction
    2.6.3 Arab Perception of Jews and Israel
    2.6.4 Im- and Export, Migrants and Islamists
    2.6.5 Islam-Friendly Germany/ Muslims own Fault
2.7 Stereotype Enemy Islam/Arabs
    2.7.1 Islamism, Fundamentalism, radical
    2.7.2 Stereotype Enemy and Islam/Arabs
    2.7.3 Further Examples from the Press
2.8 Consequences of the Reproach of Antisemitism
    2.8.1 Educational Measures
    2.8.2 Limitation of Liberties
    


2.8.3 Exclusion of Participants of the Discourse
    2.8.4 Justification of Violence
2.9 The Right-Wing/Left-Wing Dichotomy / Comparisons with the Nazis
    2.9.1 The Right-Wing/Left-Wing Dichotomy
    2.9.2 Comparisons with the Nazis
    2.9.3 The Victim/Perpetrator Stereotype
    2.9.4 The Problem of the Historicity of Scenarios
    2.9.5 The Problem of Collective Responsibility in Groups
2.10 Position of Zionism
    2.10.1 On the Critique of Zionism
    2.10.2 "Ideology"
2.11 Critique of Democracy
    2.11.1 Transfer of Repressive Structures
    2.11.2 Lacking Outgroup Behavior
    2.11.3 Suggestions

3. Attac and the Reproach of Antisemitism
3.1 The Illegal Settlements
3.2 The Jungle-World Interview
3.3 Attac Paper "On Antisemitism and Nationalism"
3.4 Two Articles in "Die Zeit"
3.5 Other Press Articles
3.6 The Aachen Declaration

4. Summary and Conclusion
4.1 Summary
4.2 Conclusion


- 4. Summary and Conclusion -

4.1 Summary

In the preceding representation and analysis of about 400 press sources, mainly from the year 2003, the scenarios and frames were examined in the contexts of which the reproach of Antisemitism appears. Those mostly are the Israel-, the Antisemitism-, the terrorism- and the Palestine-scenario. They are introduced in the first part. The scenarios are composed of single topoi, i.e. standard motifs in the discourse.

In this way, the Israel-scenario highlights the security aspect, with topoi like "defense of the right to exist", "consideration of the feelings of the heterogeneous victim group", "uncomparability of the own suffering", "protection of the only democracy in the Middle East", as well as the topos of the scapegoat, while in the Palestine-scenario other aspects are highlighted, like the topoi of loss ("Nakba") and resistance ("Intifada"), but also the topos of the scapegoat. The argumentation in the work at hand is that a synthesis of the conflicting scenarios on a superposed level is to be striven for, in order to reach peace.

In the Middle East coverage, which is the next topic, there is an ambiguity in the way that the press partly is mirror, but partly also is constructor of reality, as described in part 2.1. Mostly, the coverage is done from the viewpoint of Israel, while it is not clear which Israel is meant, e.g. in questions of violent measures. Part 2.2 documents that the subject "Israel criticism" is controversial and often standing in a context with reproaches of Antisemitism. A special role in this plays the unclear relation between Israel and (the) Jews.

The problem of the definition and relevance of Antisemitism is in the center of part 2.3. The observation here is that it is more important who utters the reproach, than what the reproach says contentwise. Counter-dangers are pointed to, like the establishment of a dualist philosophy in which there are only the good guys and the bad guys. This also relates to the concept of the "New Antisemitism" (2.4) which relies on topoi of the suspects' hiding and denying their true motivations. In these cases the accused usually are not antisemitic themselves, but the reproach refers to possibilitis of Antisemites to link to them. That the reproach of Antisemitism can be used as a means for reaching a higher goal is proven in the topos "no Antisemitism, but!". With reference to Aristotle's logic, the argumentation in 2.4.2 goes that this topos of linking to Antisemites in many cases is not valid and that moreover there can also be linking points from the part of the reproachers, namely to Sharon or the Anti-Germans. Part 2.4.3 deals with the consideration of a heterogeneous victim group as a measure of political argumentation and as a phenomenon of public life.

A short description of marking and self-marking within the discourse is provided in part 2.5 which reflects the relation between Israel and (the) Jews, followed by two detailed parts on the "Arab/Islamic Antisemitism" and on the phenomenon of the stereotype enemy (Feindbild). Starting with the terrorism-scenario, the role of Palestinians, Arabs, and Muslims is examined, in their capacity of being political opponents to Israel. The topos of destruction (2.6.2) and many connexions and comparisons with Nazis and those opponents show that here different fields of association heavily overlap. Although the Arab perception of Jews and Israel is different from the one of the West (2.6.3), in evaluations it normally is the western perception which is taken as a reference point. Here there are many topoi, like the one of im- and export of Antisemitism (2.6.4), the one of the historical-geographic ubiquity of terrorism and of Antisemitism, the one of the "antisemitic 9/11", the one of the victim discourse and others. In the part "Stereotype Enemy Islam/Arabs" (2.7) it is shown in which ways these motifs can condense to become enemy-stereotypes, when parallels and associations with the Nazis are being established and emphasized.

As all known consequences of the reproach of Antisemitism either are didactic or repressive (2.8), the social barriers remain unchanged. Forms of dialogue and mutual understanding do not substancially belong to the discourse, instead there are educational measures (2.8.1), limitations of liberties like the freedom of the press and of opinion (2.8.2), the exclusion of participants of the discourse (2.8.3) and also justification of violence, for example of wars (2.8.4).

In the long part 2.9 a structural similarity and a far-reaching parallelism between reproaches of Antisemitism and reproaches of being right-wing is confirmed. The right-wing/left-wing dichotomy (2.9.1) is questioned and comparisons with the Nazis are analyzed (2.9.2). A victim/perpetrator stereotype is recognized (2.9.3), which is of central importance for the discourse and which is explained with reasons of history. Only shortly the problem of the historicity of scenarios in the context of the reproach of Antisemitism is treated (2.9.4), followed by a word on collective responsibilities in groups (2.9.5), in which among other things the concept "Taetervolk" (people of perpetrators) is reviewed. This part includes a positioning of the author of the study at hand concerning own responsibilities in the discourse.

Part 2.10 deals with the question inhowfar Zionism in its present form is situated beyond criticism because of the reproach of Antisemitism and how it marginalizes the Palestine-scenario. It also deals with the question of the ideological content of Zionism (2.10.2). In the final part 2.11 structures, tendencies, and cases are displayed, in which the reproach of Antisemitism is working politically outside its original frame, e.g. in the assessment of German foreign and defence policies or as a means to put down criticism for the benefit of a government. Lacking outgroup behavior (2.11.2) is said to be an important fundamental cause for such tendencies, because they go together with fears which are recognized in the alter ego like in a mirror. Thus the alter ego has to be controlled and is to be stripped of his incalculability.

All in all, it could be indicated that by way of the new reproach of Antisemitism a magistracy came into being which sees itself responsible to fight "the Antisemitism", and which because of its position in the discourse is able to publically punish and marginalize other members of the discourse. At the same time it is stressed that many processes of communication in groups in this altercation happen unconsciously and without intention. Finally, in the suggestions (2.11.3) some quotes from the press are gathered which provide constructive elements to integrate the competing scenarios under one roof.

In the third part of the present study the Semitism conflict in the globalisation-critical movement Attac is explained, focussing on its documentation. Articles from the German press on the issue of Attac/Antisemitism are collected there and also reviewed to a limited extend, in the context of the more analytical main part 2.

4.2 Conclusion

What is so bad about Antisemitism is the fact that the Nazis and the German society had made it a governmental and social ideology which is connected to the death and the suffering of millions of human beings. The bad thing also is that it had generalized human beings and made them scapegoats. Some participants of the discourse therefore have understandable worries. It is not understandable, however, if for this reason the discourse is controlled to the benefit of a group which is conceptualized as a stereotype victim group. Temporary compensations – like in quota regulations – may be acceptable, for example, when the equality of chances unjustly had not been provided for a group during a longer spell of time so that this group has to consolidate in the society.

The toleration of the Israeli occupation of Palestine in the Semitism/Middle East discourse, however, cannot be meant with this. For if one counts those quotations in the present study in which the reproach of Antisemitism is brought forward without reference to Palestine, one will find only few. Yet the occupation does not belong to Israel's right to exist.

Many things in this study indicate that a lacking mastering of the German-Jewish history had led to an incrustation of the discourse, by a continuous re-affirmation of abstract and partly historical concepts and scenarios. As Palestinians, Arabs, and Muslims in the sources are often conceptualized similar to Nazis, the conclusion is plausible that we are dealing with substitute struggles. The conflict has been going on for ages and it has to come to an end sometime. Here the heaviness of the reproach of Antisemitism together with the omnipresent solidarity with Israel influences the public opinion to a large extend.

When Muslims, Arabs, and Palestinians are generally suspected of latent hatred of Jews, then this also means that the public is careful with such people. Thus in the public discourse in Germany there is e.g. no prominent and appealing personality anymore to be able to publically fight for the freedom and the human right of Palestine. Norbert Bluem from the Christian Democratic Party, officially retired since some time, is a little exception, but even he is not really known for this issue. The German public also hardly knows of any exposed Arabs and Muslims, maybe Kaya Yanar and Aiman Abdallah from TV, both moreorless unpolitical. In the Netherlands there is a Gretta Duisenberg who cares for the freedom and the human right of the Palestinians, this is something impossible in Germany at the moment, for the known reasons.

By way of the taboo and the grade of abstraction of key concepts in the discourse (Antisemitism, right-wing, nationalism, terrorism, Islamism...) a kind of finishing line (Schlussstrich) is drawn which aggravates and prevents important debates on values. Our society, for example, cannot handle guilt, this is indicated with great urgency by the high general acceptance of the dualizing victim/perpetrator stereotype. The debate on the human right cannot be led in a sufficient way, either, because it can be interpreted as antisemitic (or also anti-American) by leading members of the discourse, as Palestinians (Iraqis a.o.) have to take cuts in this respects by reason of the security needs of Israel, or America, respectively.

There are other discourses affected by the existance of dualist patterns of thinking which result from the delay of mastering and overcoming the German past, like the discourse on country-related identities and actually all kinds of identities, on freedom, creativity, responsibility, secularism, belief, and many other things. For in each and every possible value and in every norm it is always to be examined how "the other" thinks about it, be he Nazi, Antisemite, terrorist, or Islamist.

In this way the West e.g. scarcely realizes that religious Christian and Jewish elements appear in political argumentations of politicians, because secularism is not a topic anymore concerning the own culture. Only Islam is really criticized and sometimes rejected as a religion in the West, although the questions of the historical context of scriptures, of the political (social) dimension of religions, the questions of schisms, the dogma, and other things are valid for all three world religions in quite the same way.

As the reproach of Antisemitism is fixed on fears and is always used in an excluding and demarcating way, without any perspectives for understanding, dialogue, and social peace between the concerned groups and individuals, and as it is solely disposed to keep a situation with which it is not even content, the supposition is close at hand that in many cases it is not Antisemitism which is fought, but its mastering and overcoming.

One of the main difficulties showing in the discourse, apart from the the creation of an exclusive magistracy, is the lacking possibility to assess the actual political circumstances, in order to finally reach the long peace which does justice to all concerned parties.

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