- Antisemitismus -
In Deutschland wird die so genannte „Antisemitismus-Debatte“ ausgetragen, in der es unter anderem um das Sonderverhältnis Deutschlands zu Israel und den Juden geht. Wie sich herausgestellt hat, gibt es in dieser Frage einen Grundkonsens, der besagt, dass Deutschland gegenüber den Juden eine große Schuld hat, weshalb man eine Verantwortung habe, darauf zu achten, dass in diesem Land nichts öffentlich gesagt oder getan wird, was anti-jüdisch, anti-zionistisch oder anti-israelisch ist. Der Krieg, der Holocaust und der Nationalsozialismus würden relativiert, wenn die Juden oder die Israelis mit zu wenig Respekt behandelt werden.
Natürlich dürfe Scharon kritisiert werden, träumt ein erhitzter Jan Phillip Reemtsma in der heutigen FR, und das werde auch mehrheitlich getan. Aber. Natürlich sind die Palästinenser Menschen. Aber. Man muss sich schon fragen, warum es den Staat Palästina denn dann nicht schon lange gibt, wenn sich die Welt darüber einig ist. Wer bremst denn da? Sind das wirklich die bösen HAMAS-Aktivisten, sind es tatsächlich die palästinensischen Terroristen, die es verderben? Gut Ding will Weile haben, tröstet Herr Fischer und spricht davon, dass es in der Palästinafrage im Juli weitergehen wird, oder im August, spätestens im September. Während am Ort des Geschehens die Panzer weiter rollen. Natürlich darf Scharon kritisiert werden, da hat Herr Reemtsma Recht, solange nur alles beim Alten bleibt. Das Problem liegt hier: Wenn jemand anti-Scharon ist, ist er damit natürlich auch anti-israelisch, insofern als 70 bis 90 Prozent der Israelis diesen Mann gewählt haben und jetzt unterstützen. Insofern als. Es ist auch anti-jüdisch, insofern als ein großer Teil der Juden in der Welt mit Scharons Politik sympathisiert und sich damit identifiziert. Das gilt auch für die jüdische Gemeinde in Deutschland, in der es oft konservativ und israelisch-nationalistisch zugeht, wie man etwa in den In-Group-Foren wie Hagalil leicht erkennen kann. „Es wird keine einzige Siedlung geräumt!“ und „Ich wusste ja, dass man hier arabisch spricht“ und „Der böse böse Arafat“ hört man da. Ein jüdischer Geschäftsmann, dem internationale Kunden wegen Scharons Politik weglaufen, schreibt einen erbosten offenen Brief über die Schuld der Palästinenser und erntet dafür Beifall und Respekt. Dieser Mann ist in den Augen seiner In-Group im heiligen Kampf gegen den Antisemitismus unterwegs, gegen die antijüdische Tendenz. Aber ganz bestimmt, Herr Reemtsma, wird Scharon mehrheitlich kritisiert.
Anti-Arabismus hingegen ist kein Schimpfwort. Gegen den Islam zu sein ist nicht so anrührig. Man kann damit sehr hoch kommen in unserer Gesellschaft. Bei Anti-Israelismus sieht das ganz anders aus. Da sind die „Rechten“ und die „Linken“ sich ausnahmsweise einig: In den Verdacht kommen, Nazis zu sein, wollen beide nicht. Die Nazis, das waren auch damals schon die Anderen, die Außerirdischen. Und dass sie und ihre Partei, die SPD, CDU/CSU, FDP, PDS, die Grünen, nichts mit den Nazis zu tun haben, wird bewiesen durch die Tatsache, dass eine anti-israelische Politik mit ihrer Partei nicht zu machen ist. Nicht wieder gegen die Juden! Niemandem die Gelegenheit geben, ihn zur Projektionsfläche für die Schuld der Nationalsozialisten zu machen und damit als Nazi identifiziert zu werden. Dass das Dogma des „Keine anti-israelische Politik mit unserer Partei!“ unmittelbar anti-palästinensisch ist, damit wird man als Politiker leichter fertig, angesichts der geschichtlichen Barrieren, die man auch nach Außen glaubhaft vermitteln kann.
- Anti-Arabismus -
Durch die jahrzehntelange Hinhaltestrategie der UNO und des Westens gegenüber dem Menschenrecht der Palästinenser war deren prinzipielle Benachteiligung nicht für alle sichtbar. Heute aber, nachdem es keinen legitimen Grund mehr gibt, den Palästinensern ihren Staat zu verweigern, und wo es die Israelis sind (nicht nur Likud), die den Staat mit allen erdenklichen Mitteln nicht zulassen wollen, wird die Frage nach der schnellen Errichtung Palästinas zur klar formulierten Vertrauensfrage an die westliche Welt: Wollt Ihr das Menschenrecht oder wollt Ihr das Sonderverhältnisrecht? Denn was die westliche Welt in diesen Tagen sagt, ist, dass die Palästinenser angesichts der Schrecken des Holocausts keine Menschen sind, nicht so bald jedenfalls, und ganz bestimmt nicht so sehr wie die Israelis! Und da niemand so gelitten hat wie die Juden, wird das Leid der Palästinenser viel eher als Opferrhetorik gewertet.
Niemand wundert sich darüber, dass in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen Männer und Frauen ihre Stimme erheben, um gegen das doppelte Maß zu streiten. Nicht gegen die Juden oder die Israelis. Es geht gar nicht immer nur um die Juden und Israelis, es geht manchen auch einfach um das Maß. Es gibt nun einmal Leute, die sagen: Wir werden keinesfalls einen Anti-Arabismus oder Anti-Islamismus zulassen, um damit einen in der Bevölkerung vermuteten und gefürchteten latenten „Antisemitismus“ zu überdecken oder den Diskurs zu blockieren. Leider gibt es beides, „Antisemiten“ (in Anführungszeichen, weil das Wort falsch ist. Auch Araber sind Semiten.) und Anti-Araber.
- Die Rechtswähler -
Alle Dinge, mit denen wir uns innerlich beschäftigen, seien sie nun positiver Art, wie etwa Wünsche, oder negativer, wie Ängste, finden ihren Ausdruck und haben ihre Außenwirkung. Wenn ich mit allen Mitteln einen Fehler vermeiden will und zu viel Energie darauf verwende, werde ich betriebsblind und mache wahrscheinlich genau diesen Fehler. Ging es gestern gegen die Juden, geht es heute gegen die Anti-Juden. Es ist dasselbe Prinzip. Und es darf niemanden wundern, denn es ist bekannt, dass die Geschichte zwar lang und breit besprochen, aber nicht bewältigt ist. Logisch, dass dies irgendwann einmal sichtbare Wirkungen zeigen würde. Und hali halo, da haben wir sie ja wieder: die deutsche Suche nach den Leuten, die das System stören.
Das Menschenrecht der Palästinenser ist also nicht der alleinige Grund für ein Recht auf Zorn, sondern auch die massenpsychologische Wirkung des anti-antisemitischen Geschreis.
Man vermutet Böses in einer Out-Group, malt diese Ängste aus und beteuert sie, löst Kollektivängste damit aus und gibt die Strukturen der Angst-Szenarien genau an die potenziellen Gegner weiter. Es ist die Self-Fulfilling Prophecy, die für Ängste genauso gilt wie für Wünsche. Der Rechtswähler könnte ja denken, dass sich hinter der Kritik an Israels Menschenrechtsverletzungen eine Fortführung des hitlerschen Antisemitismus verbirgt. Er könnte weiterhin denken, dass er jetzt die Sau rauslassen darf, dass tumbe Ressentiments wieder gefragt sind. Er könnte damit die Gefühle der Juden in Deutschland verletzen, er könnte denken dieses, und er könnte denken jenes.
Der Versuch, die Sau bereits im Vorfeld zu verhindern, kann nur durch Repression und Unterdrückung gelingen, denn die Gedanken sind, wie es in einem deutschen Lied heißt, frei. Doch Zwanghaftes ist hier nicht die Lösung. Viele ZeitungsleserInnen fragen sich angesichts der sorgfältigen Ausarbeitungen von kriminologischen – antisemitischen oder rechtspopulistischen oder anderen – Scripten, warum bei der Presse Vermutungen und Argwöhnungen eine solche Beachtung finden und einen so hohen Stellenwert haben. Warum mit großem Energieaufwand Dinge verurteilt werden, an die nicht mehr als erinnert wurde? Und auch „potenzielle RechtswählerInnen“ werden sich fragen, warum die Presse und die Politiker solche Szenarien konstruieren, und da viele von ihnen die Presse und die Politiker nicht mögen, werden sie erkennen, dass hier Politiker in die rechte Ecke gestellt werden, dass diese Politiker also faktisch in der rechten Ecke stehen. Schon steigt Bereitschaft der „Potenziellen“, ihn zu wählen. Nach dem Motto: Also gut, wenn er auch nur für einen Rechten gehalten wird, mir genügt das. Wenn ich ihn wähle, wird man mich schon richtig einschätzen. Wenn jemand verbreitet, dieser Politiker sei „in Haiders Spur“, dann reicht mir das aus!
- Erstens: Respekt vor dem Feind –
Bereits in diesem Konsens, nicht um die Stimmen der Rechtsextremen zu werben, ist ein dicker Wurm. Gesellschaftspsychologisch geschehen hier nämlich zwei ungute Dinge: Erstens werden sich durch solche Konsense einige Deutsche vom Diskurs in ihrem eigenen Land ausgeschlossen fühlen und völlig zu Recht wütend werden. Dies, noch lange bevor sie irgendetwas Demokratiefeindliches zum Ausdruck gebracht haben. Sie lassen sich nicht als Sündenbock für Fremdenhass hinstellen, wenn sie wissen, dass es latenten Fremdenhass überall im Land gibt, weil es latenten Selbsthass überall im Land gibt. Um nur ein Beispiel zu nennen. Diese Rechtsextremen sind sicherlich gefährlich, aber sie sind nicht blöd. Und wer sie unterschätzt, macht sie damit gefährlicher.
Auf der Parteien-Ebene spiegelt sich diese Problematik in der Frage nach dem NPD-Verbot wider. Alle Parteien außer der FDP wollen sie verbieten. Die FDP stimmt überein, dass die NPD inhaltlich in wesentlichen Teilen unmöglich ist, sagt aber, dass ein Verbot nichts nützt, weil es Trotz produziert und sich andere Kanäle finden. Dass vielmehr auch die Feinde der Demokratie mit an den Tisch gebracht werden müssen, weil die gesellschaftliche Ächtung keine Lösung bringt. Das ist ein mutiger und Verantwortung mit sich bringender liberaler Gedanke. Er deckt sich in Vielem mit den Erfahrungen arabischer Staaten, die erkannt haben, dass die Unterdrückung gewalttätiger politischer Gruppen nicht dazu führt, ihre Gewalt zu verringern, ihre soziale Anerkennung dagegen sehr wohl. Dies ist natürlich nur in einer offenen Gesellschaft möglich. Die jetzigen Gespräche der PLO mit der HAMAS folgen dieser konstruktiven Logik, wenn auch noch erfolglos. (In Israel werden solche Gespräche nicht geführt, da die extreme Gewalt auf demokratischem Weg erfolgt.)
Gespräche mit extremen Gruppen, ein sensibles Feld. Ein ungewohntes Feld für einen Reform-Pazifisten wie mich. Warum mit Ausländerhassern reden, mit fiesen Gewalttätern verhandeln? Haben sie mich vielleicht eingeschüchtert, dass ich mit ihnen rede? Ist es nötig, dass ich ihre Macht durch meine Aufmerksamkeit vergrößere? Schwierige Frage, nicht? Ich habe gelernt, dass es notwendig ist, im Privaten wie im Öffentlichen, ein Out-Group-Verhalten zu haben, eine Kommunikation mit dem Feind, den ich als Realität akzeptieren und den ich verstehen muss, um die Voraussetzungen für Entspannungspolitik zu haben. Die schwierigsten Fragen sind meist die, wem man die Hand gibt. Die Hand darf man verweigern, die Auseinandersetzung, die Kommunikation, nicht. Der Feind – ist ein Mensch. Es hat keinen Zweck, ihn zu leugnen, und es hat keinen Zweck, ihn verändern zu wollen. Viel Zweck hat es also, ihn zu verstehen, um ihn und seine Botschaften einschätzen zu können. Das gilt für die gesamte politische Kultur, in der Familie angefangen, den Gruppen, Parteien und Kulturen. Dass Einbindung Befriedung bedeutet, weiß jeder Politiker. Echter Frieden ist nur da möglich, wo der Feind solange respektiert wird, bis er keiner mehr sein will.
- Zweitens: Zur Sache reden –
Der zweite Punkt, warum es falsch ist, nicht um so genannte „rechte Wähler“ zu werben, ist die vage Formulierung „rechts“, die eine Spielwiese für Obsessionen ist, sowohl von den potenziellen Rechtswählern, als auch von den potenziellen Rechtswähler-Gegnern. Es gibt eben kein „rechts“ mehr wie früher, was soll das sein, „rechts“? Es verweist im Extrem auf einige kleine Gruppen, die in der Realität der Bundesrepublik deshalb so wichtig sind, weil sie so wichtig geredet werden oder sich selbst auf veraltetete Traditionen berufen. Und was soll „links“ sein? Die SPD? Die GRÜNEN? Die Patina-Sozialisten? Ver.di? Kampfbegriffe sind das, aus Großvaters Jugend. Staubige Begriffe, die uns künstlich in einer Zeit halten, die definitiv vorbei ist.
Es muss um die Sache gehen, nicht um das Etikett! Für wie dumm will der öffentliche Mainstream den Wähler halten, dem solche Begriffe unwichtig sind, und dem es darum geht, dass die Schulen und Universitäten besser werden, dass sich die Bürokratie verringert, dass die Menschen tolerant sind, arbeiten können und in Frieden leben können. Wen interessieren Gegner, die längst am Boden liegen, wie die ZEIT richtig schreibt. Deutsche Persönlichkeiten wie Roman Herzog oder Jürgen W. Möllemann fordern das schon lange, und auch die Presse hat die Sache mit dem „Ruck“ noch nicht vergessen. Erst heute hörte ich in den Nachrichten das Wunschwort vom „Ruck in der Bildungspolitik“.
Wir kommen an die Sache nicht heran, zu der wir reden müssen, wenn wir „rechts“ zu einer Schublade für unbeantwortete Fragen an das eigene Ich machen. Fragen von der Art, ob ich selbst, der Politiker, der Journalist, Lehrer, Unternehmer, Arbeiter, Gelehrte, Kirchliche, Pazifist, ob ich selbst vielleicht in einer Tradition stehe, deren Teil Hitler ist, einer deutschen Tradition! Und wenn ja, in welcher Weise? Zu dieser Frage ist die Mainstream-Öffentlichkeit in Deutschland nicht bereit gewesen. Es hieße ja, den stinkenden Haufen der Schuld zu sezieren, in Bestandteile zu zerlegen, die dann einzeln und gemeinsam zu bewerten sind. Nur so kann ich zur Sache reden, denn da drin in diesem Haufen ist die Sache.
Jetzt erst können wir fragen: Was ist es eigentlich, das wir am „Rechten“ ablehnen? Und jetzt erst können wir Antworten finden. Denn natürlich gibt es Dinge, die wir ablehnen. Wenn religiöse oder sonstige gesellschaftliche Gruppen diffamiert oder benachteiligt werden, zum Beispiel. Juden oder Israelis oder Palästinenser oder Künstler, es ist egal, es gilt mit einem Maß für alle Gruppen. Auch lehnen wir ab, dass Individuen unterdrückt werden, denn jeder Mensch hat ein Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, wie es im Grundgesetz steht. Die Individualität des Menschen steht hoch. Wir wollen keine Stromlinien-Babys, sondern tolerante wache Menschen.
In diesen Diskurs gehört natürlich die Frage nach den Ausländern, und sie steht weit oben. Die „Rechten“, das sind doch die, die die Ausländer hassen, richtig? Das bedeutet also, dass es bei den GRÜNEN oder in der SPD, in der CDU und der PDS, dass es dort überall weit und breit keine Ausländerhasser gibt. Ein Satiriker würde sagen, dass wir da ja noch mal Glück gehabt haben. Ein ernsthafter Mensch hingegen tippt sich an die Stirn, wenn er so etwas hört – abgeschoben wird hier nur die oben erwähnte Sau, zu den „Rechten“, und all die Linken und die weniger Rechten haben ein billiges Alibi. Nicht vor Hitler sträubt sich die Öffentlichkeit, sondern vor seiner Bewältigung.
- Der Schuldhaufen -
Zu den Elementen des Schuldhaufens gehören viele schlimme Dinge, aber auch harmlose Dinge, indifferente Dinge, und Perlen. Perlen? In Hitlers Exkrement? Das ist tabu. Nichts an Hitler war gut, und wenn, dann interessiert es uns nicht die Bohne, denn dieser Mann war der größte Verbrecher der Menschheitsgeschichte, und alles, was seine Schuld relativieren könnte... Ich verstehe. Ich will nichts relativieren und nichts glorifizieren. Hitler war ein Arschloch. Es geht um etwas ganz anderes. Lassen wir uns nicht ablenken und reden wir zur Sache: Es gibt Verhaltensweisen, Werte und Normen der deutschen Geistestradition, welche seit der Niederlage Nazideutschlands diffus abgelehnt werden, von denen aber nicht alle zu verurteilen sind, manche sogar progressiv sein können. Diese Aussage steht in keiner anderen Verknüpfung zur Schuldfrage als der, dass unverarbeitete Schuld zu einer unberechtigten Verallgemeinerung der Schuld-Ursache führt. Ich meine keinesfalls, dass die Schuld unberechtigt ist, nein nein, die Schuld ist in der Tat riesig groß. Nur geht es nicht, das Gespräch an dieser Stelle zu beenden, denn unsere Gesellschaft kann mit dem doppelten Maß nicht mehr leben und braucht echte Antworten. Der Mensch will eben doch nicht seine Ruhe, er will verstehen.
In diesem Zusammenhang ist es angemessen, das aktuelle SPIEGEL-Cover zu kritisieren, auf dem im Hintergrund ein großer Hitler zu sehen ist und im Vordergrund eine Flamme. Titel des wenig hilfreichen Bildes ist: „Das Spiel mit dem Feuer. Wieviel Vergangenheit verträgt die Gegenwart?“ Das ist eine (für den SPIEGEL nicht untypische, man denke an die noch frischen Titel „Der religiöse Wahn“ und „Krieg der Welten“) gedanken- bis hirnlose Panikmache und Suggestion. Der Untertitel „Wieviel Vergangenheit verträgt die Gegenwart?“ suggeriert deutlich, dass die Gegenwart nur eine begrenzte Menge Vergangenheit verträgt, und dass der Rest folglich – tabu ist! Dazu eine platte politische Feuermetaphorik, die das deutsche Ohr an „Biedermann und die Brandstifter“ erinnern soll und an Paulinchen aus dem wilhelminisch-orthodoxen Struwwelpeter, wie bei Herrn Prantl in der SZ vor fünf Tagen. Man darf nicht vergessen, dass dies alles wegen Möllemanns Wort von der „Emanzipation der Demokraten“ geschieht, die ihre Regierungen abwählen. Die Verhältnislosigkeit dieser Feuerei liegt an der latenten Angst des SPIEGEL-Untertitel-Herstellers vor dem unverstehbaren Hitler. Hitler, das ist das große vernichtende Feuer, welches den deutschen Menschen zu einer Zeit seiner Geschichte aus heiterem Himmel und gänzlich unbegründet überraschte. ...Es ist ein Feuer von unvergleichbarer Gefahr, sagten die Deuter von Blitz und Donner ihrem unwissenden Volk. Aber was an dem Feuer ist denn so gefährlich? fragte das Volk, und die Oberen sagten: Glaubt uns, ihr dürft niemandem glauben. Denn der Mensch ist heimlich böse.
- Die Ablehnung des Glaubens-
Ein von mir oft untersuchtes Beispiel kann illustrieren, was gemeint ist, wenn ich von unberechtigten Verallgemeinerungen spreche: Die Ablehnung des Glaubens. Ohne viel Umschweife: Hitler funktionierte nur, weil die Menschen an ihn geglaubt haben. Das Tabu, die Gesamtablehnung Hitlers also, führt zu einer Ablehnung des Glaubens ganz allgemein und der Begeisterungsfähigkeit. Wie sonst ließe sich die Angst vor der Entfesselung eines schlummernden Wahns erklären, sobald man das Bewusstsein schweigender Mehrheiten aktiviert (ZEIT S. 33, Jan Ross)? Oder der letzte SPIEGEL-Titel „Der gedacht Gott. Wie Glaube entsteht.“ Die Logik wird klassisch vorgeführt in einem (herausgehobenen) Leserbrief dazu im aktuellen SPIEGEL: „Für Ungläubige war schon immer klar, dass frömmelnde Eiferer einen Dachschaden haben. Schlimm wird das erst, wenn die Macht dazukommt, andere zu diesem Wahn bekehren zu können, denn viele Kriege mit ungezählten Toten wurden nur wegen des 'rechten Glaubens' geführt.“ Kurz gesagt: Glaube ist Hitler.
Eine Begründung für die Außenseiter-Position der Kirchen liegt hier. Aber das ist sekundär angesichts der weiteren Folge, dass die Menschen sich untereinander nicht mehr glauben, weil der Wert „Glaube“ gering ist. Auch an Menschen wird nicht geglaubt, denn wer weiß, ob sich nicht ein Monster in ihm versteckt, ein Schläfer, der sich nach Jahren erst zu erkennen gibt, wenn es längst zu spät ist. Glaub bloß niemandem etwas! Kein Glaube, das heißt auch: Keine Gläubigen! Und es heißt: Abwertung von spirituellen Strömungen ganz allgemein (Beispiele: Prince – Kraft zum Leben – Rock'n'Roll). Und keine freie Entfaltung, denn Hitler konnte sich frei entfalten. Das alles, meine Damen und Herren, ist Hitler. Und eine Menge mehr.
- Der Rechtspopulismus -
Hitler war ein Populist. Hitler war böse. Also ist Populismus böse. Hitler war rechts, also ist Populismus rechts. Haider hat Möllemann gratuliert, also ist Möllemann Hitler. Möllemann hat sich nicht genug bei Friedman entschuldigt, also kann die SPD nicht mit der FDP koalieren. So kann man in wenigen Zeilen beschreiben, was im heutigen politischen Diskurs normal ist. Die frühere Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sagte, der Vorstand der FDP werde „sehr klare Positionen“ bestimmen, damit es „keine Zweifel“ mehr in der Zukunft gebe. Es würden „klare Trennlinien zu allem, was sich auch nur Rechtspopulismus nennen kann“ gezogen. (SZ 31.05.02) Noch einmal in der Zeitlupe: Klare Trennlinien zu allem, was sich auch nur Rechtspopulismus nennen kann... Niemand wird sich selbst als Rechtspopulisten bezeichnen, also kommen wir im Resultat auf: „Alles, was beliebige Andere auch nur Rechtspopulismus nennen können.“ Das ist sehr viel. Solche Aussagen sind kein Zugeständnis an die politische Kultur oder die Opfer des Nationalsozialismus, es sind Kapitulationserklärungen vor der Auseinandersetzung mit der Realität plus dem erwähnten Schuldhaufen.
Kapitulationserklärungen vor der Auseinandersetzung mit der Realität? Wie das? Indem ein Seifenblasenwort für ein Argument genommen wurde. Populismus ist ein Seifenblasenwort, es sagt gar nichts, es vermutet nur und verdächtigt. Wer sich vom Populismus distanziert, distanziert sich nicht wirklich von etwas, sondern unterwirft sich einem unausgesprochenen Zwang. Die Botschaft ist nichts als: Ich gehöre zu euch und nicht zu denen. Lagerdenken. Das hat mit der Sache nichts zu tun.
Was also ist Rechtspopulismus? Zunächst ist es die Verknüpfung von zwei Seifenblasenwörtern, die sich gegenseitig bestätigen. Der Begriff bekommt dadurch etwas Rundes und Akzeptables. Über „rechts“ haben wir gesprochen, sprechen wir über „Populismus“. Es ist verwandt mit „populär“ und „Pop-Musik“, abgeleitet vom lateinischen Wort für „Volk“. Populär ist man, wenn man dem Volk gefällt, populistisch, wenn man dem Volk gefallen will. Das will von Berufs wegen jeder Politiker: Dass die Leute zufrieden sind, auch mit ihm oder ihr zufrieden sind. Jeder Mensch will das eigentlich. Wo fängt der Populismus an, und wo der rechte Populismus?
- Was ist gemeint? -
Wenn man das Vertrauen des Volkes ausnutzt für seine eigenen Zwecke. Ist es das? Und was, wenn die eigenen Zwecke gut sind? Was sind das für Zwecke? Was bedeutet „ausnutzen“? Für wen ausnutzen, für welche Personen und welche Ideen denn? Ist es der Verdacht auf Waffengeschäfte? Gut, dann sprechen wir über Waffengeschäfte, nicht über Rechtspopulismus. Suspekte Verbindungen? Inwiefern suspekt? Geht es um die Vermischung von Geschäftlichem, Politischem und Privatem? Dann reden wir darüber im Detail. Welche Art von Vermischung? Welche Werte liegen unserer Meinung zugrunde, und welche unserem Verdacht? Reden wir davon, dass jemand in einer Regierung mit Herrn Kanther gesessen hat? Dies alles sind Fragen, über die man demokratisch sprechen kann, ohne sich gegenseitig des Platzes zu verweisen und die Kommunikation abzubrechen. Oder besteht das Verbrechen in einer Fotografie aus den 70er Jahren, die jemanden mit Personen wie Yassir Arafat zeigt, wie das Möllemann-Foto im aktuellen SPIEGEL?
Hier ist doch der tiefere Diskurs, nicht an der Oberfläche der Seifenblasenwörter. Warum ist Herr Schill umstritten, weil er Rechtspopulist ist? Nein, weil er Richter Gnadenlos ist. Weil er streng ist. Weil er durch die Dämonisierung von Gewalttätern einschüchternd ist. Im Programm seiner Partei zeigt sich, dass ihr viel an Disziplinierungen liegt und an Züchtigungen jugendlicher Gewalttäter. Es ist eine brutale, nicht humanistische Vorstellung. Und Herr Haider ist umstritten, weil er sich mehrfach gegen Ausländer im Allgemeinen geäußert hat, weil er Äußerungen gemacht hat, in denen Schwarze zu geringeren Menschen gemacht wurden, weil er die Geschichte nicht bewältigen will, sondern auslöschen, weil er den Massenmord an den Juden verharmlost hat. Das sind Gründe! Den Saddam-Besuch zähle ich nicht dazu, andere tun das. Das ist Demokratie! (Zitate von Haider und Schill findet man leicht, wenn man „haider zitate“ bzw. „schill zitate“ googelt.)
Gott sei Dank für das Internet, denn man kommt heute leichter an die Quellen. Will ich – um ein aktuelles Beispiel zu nennen – wissen, ob die Äußerungen von Herrn Möllemann tatsächlich aus einem bedenklichen Ideenvorrat kommen, so kann ich mir seine derzeit 31 Artikel auf der Homepage selbst durchlesen, denn dort spricht er über alle relevanten Themen. Und hier liegt wohl auch das beste Argument von Herrn Möllemann, welches er bei Beckmann ausgesprochen hat: Die verantwortlichen Leute kennen ihn besser. Sie wissen lange, dass er ein Demokrat ist. Das heißt nicht, die Wachsamkeit zu verlieren oder die kritische Haltung. Im Gegenteil, Wachsamkeit zu erwecken sehe ich als das beste Resultat der gezielten und durchaus amüsanten Provokationen eines häufig amerikanisch denkenden Politikers, der sich nicht mit Seifenblasenwörtern zufrieden gibt, und der sich gegen die systematischen deutschen Reformstaus wehrt. Ob er mit Stoiber koalieren will, ist eine ganz andere, durchaus wichtige Frage, so wie es viele wichtige Fragen gibt. Aber die nach dem Rechtspopulismus gehört nicht dazu.
- Fazit -
Dieser Art sind die Themen, die vom Begriff „Rechtspopulismus“ verdeckt werden, und über die sich jeder aufregen soll, wie er will. Wer sich aber über leere Begriffe aufregt, wird des kultischen Lippenbekenntnisses verdächtig. Es reicht heute nicht mehr, jemanden abstrakt wegen „Ressentiments“ oder gar bloß „Schüren von traditionellen Ressentiments und Vorurteilen“ anzuklagen, was sehr leicht missverstanden wird als „Tun von Dingen“. Auch „Potenzieller Rechtswähler“ ist ein sinnloser Begriff. Alles, was „potenziell“ ist, ist reiner Verdacht. Die Öffentlichkeit muss heute besser darüber informiert werden, was überhaupt gemeint ist. Und das heißt: Was der Urheber einer Sache gemeint hat, und nicht so sehr: Was andere Leute denken, was der Urheber potenziell gemeint haben könnte. Der Öffentlichkeit muss die Mündigkeit zugestanden werden, sich selbst eine Meinung zu bilden, ermuntert werden soll sie dazu. Und ja, natürlich wird dabei Dreck angespült. Natürlich ist die Welt voller Gefahren. Wer das Unternehmen deshalb rundheraus ablehnt, drückt sich vor der Verantwortung, denn er sagt: Ich denke nicht mehr selbst nach, und die Anderen sollen es auch nicht. Fatalismus könnte man das nennen, Schicksalsergebenheit.
Wo also ist jetzt der Feind? Was ist anklagenswert, was nicht? Lagen wir so falsch? Wer ist nun verantwortlich zu machen für die Missstände? Die autoritäre Gesellschaft natürlich. Die hat Schuld. Natürlich gibt es die. Die geschlossene Gesellschaft.
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