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Pressezeit (2): Die Kieler Nachrichten
Eine Online-Kritik von Anis Hamadeh, 2004

Inhalt: 29.11.04: „Nicht wirklich neu, aber immer wieder schön“ – 30.11.04: Multikulturelle Nation – 01.12.04: Klassische Denkfiguren – Journalistisches Nachtgespräch / Fall Cosby – 02.12.04: Lenz & Hansen

- Einleitung -

(Dienstag, 23.11.04) In der Metzstraße in Kiel gibt es zwei Dönerläden, die unmittelbar gegenüber voneinander liegen. Beide sind nett und ich wechsle meist zwischen ihnen, wenn ich auf etwas anderes als Pizza Appetit habe. Während ich auf meinen Cheeseburger wartete, blätterte ich die Kieler Nachrichten durch. Auf dem Weg hierher hatte ich Patrick getroffen, von der hiesigen Kultur-Initiative Assembleart. Er wohnt um die Ecke. Von ihm hörte ich, dass die lokale Zeitung heute über den Auftritt berichtet hat. Am Freitag hatten wir gemeinsam auf der Bühne gestanden, in der Hansastraße 48, „Wortgewalten 5“, Literatur und Rap. Bas Böttcher aus Berlin war dabei, er hat unter anderem aus seinem neuen Roman „Megaherz“ gelesen und dabei vieles auswendig und gekonnt vorgetragen.

Den Artikel in der Rubrik „Kieler Szenen“ fand ich schnell. Jörg Meyer hat ihn geschrieben, ein Kieler Journalist. Ich las den Artikel. Etwas war daran seltsam. Ich las ihn noch einmal. Dann war mein Cheeseburger fertig. Nach dem Essen schaltete ich den Rechner an. Irgendetwas war da los. An Jörg Meyer schrieb ich also: „Gerade im Dönerladen habe ich Deinen Artikel zu WortGewalten 5 gesehen. Es fällt auf, dass Du jeden einzelnen Beteiligten erwähnt hast außer mir. Das finde ich befremdlich. Ein Zufall kann es ja kaum sein, Du hattest mich vor der Veranstaltung noch angesprochen. Ich hatte eigentlich durchaus den Eindruck, mit dabei und auch erfolgreich gewesen zu sein. Seltsame Sache.“ Ich machte mir ehrlich gesagt Sorgen. Früher hätte ich wahrscheinlich wütend reagiert, weil ich viele Dinge auf mich bezogen habe und mich ausgeschlossen fühlte und ähnliches. Vielleicht hätte ich sogar gedacht, dass es politische Gründe sind, aus denen so etwas geschieht. Heute weiß ich, wie derartige Zeichen zu deuten sind. Es sind Hilferufe. Die Stücke „Siedlungen um Dein Herz“ und „Die Geschichte von Jobst Hauser“, die ich gelesen habe, waren auch sowieso nicht politisch. Davon kann sich jeder überzeugen, sie stehen auf Deutsch und Englisch im Netz.

Tatsächlich antwortete mir der Journalist, indem er schrieb, dass ich den Kürzungen des Tischredakteurs zum Opfer gefallen sei. Auf Englisch fügte er hinzu: „Sorry, aber not my fault.“ Er schickte mir das Original seines Artikels, und darin – hier im Zusammenhang – das Zitat, das es nicht über die Ziellinie geschafft hat: „Die assembleARTisten Björn Högsdal, Götz Gerhardt und Patrick Kruse nudeln sie durch den Wolf eines gemeinsamen Schreibexperiments. Und finden trostlose Antworten. Nicht anders Anis in seinen Bambus-Texten, die verblasen scheinen, wo sie auf Krampf satirisch sein wollen, und umso eindringlicher, wenn sie lyrisch werden. Geradezu erfrischend in diesem Reigen der Desillusionisten sind die Verse von Newcomerin Anna Zenker. Ritter haben in ihren Texten noch Rüstungen, sind unnahbar und doch so nah – ein Kommentar der einzigen Frau auf dem Podium zu den Sorgen der Männer und Männchen.“

Ich war froh, der Sache auf den Grund gegangen zu sein, denn hier gab es wirklich Arbeit. Trostlose Antworten. Das war bestimmt nicht unsere Absicht, trostlose Antworten zu finden. Unnahbar und doch so nah, das klang alles nicht gut. Ich öffnete die Schranktür und strich mit den Fingern über das Cape. Die Maske nahm ich heraus und betrachtete sie. Ich hatte eine Verantwortung. Gotham City war wieder in Gefahr. Ich konnte nicht anders... Andere würden sich hier an meiner Stelle vielleicht abwenden und es einfach ignorieren. Aber das wäre falsch. Ich durfte nicht einfach wegschauen.

Ich sah aus dem Fenster und stellte mir vor, dass ich einen Tischredakteur hätte. Wenn ich über eine Veranstaltung schreibe und der kürzt mir da einzelne Leute raus. Diese Leute würden sich dann bei mir beschweren. Oh Mann, das würde mir gar nicht gefallen. Sorry, mein Big Brother hat das rausgekürzt. Tischredakteur. Ich musste etwas tun. So schrieb ich also Jörg und den Kieler Nachrichten, dass es mir Leid tat, dass ich sie vernachlässigt und mich schon so lange nicht um sie gekümmert habe. Dass ich dies wiedergutmachen und die Kieler Nachrichten demnächst für ein paar Wochen genauer lesen werde. Hier fehlt ein Dialog, das darf man nicht einfach so auf die leichte Schulter nehmen.


- „Nicht wirklich neu, aber immer wieder schön“ -

(Montag, 29.11.04) Die „Kieler Nachrichten“ sind eine unabhängige Landeszeitung für Schleswig-Holstein mit einer Tradition, die bis ins Jahr 1864 zurückreicht. Sie kosten 90 Cent. Im Vergleich zur Süddeutschen Zeitung, die in dieser Rubrik im September besprochen wurde, fällt auf, dass man die Kieler Nachrichten schneller durchgelesen hat. Die hier gestellte Aufgabe besteht darin, in möglichst kurzer Zeit herauszufinden, was die Redaktion bedrückt und ihr konstruktive Hinweise zu geben. Gehen wir systematisch an die Sache heran. Die heutige Schlagzeile lautet: „Reiche noch reicher, Arme immer ärmer“. Sie bezieht sich auf den aktuellen „Entwurf für den neuen Armuts- und Reichtumsbericht“ von Sozialministerin Schmidt. Im Kommentar von Anne Gramm auf Seite 2 lesen wir: „Eine Traumvorlage für den politischen Gegner“. Damit ist im Wesentlichen die CDU gemeint. Das ist also das Erste, was Frau Gramm zu diesem Thema einfällt. Die CDU.

Ebenfalls auf der Titelseite befindet sich ein schönes großes Farbfoto des in Kiel angelaufenen Weihnachtsmärchens „Peterchens Mondfahrt“, mit großem Mond, mit Nachtfee, Peterchen, Anneliese und Sumsemann. „Viel Jubel für eine märchenhafte Mondfahrt“ heißt die Überschrift. Den Artikel dazu schrieb Sabine Tholund auf der Seite 26, der berühmt-berüchtigten „Kieler Szenen“-Seite, wo auch der charakteristische Tagestitel „Nicht wirklich neu, aber immer wieder schön“ gefunden wurde, im Artikel „Antistars mit Wiedererkennungswert“ von Carsten Purfürst. „Märchenhaft im besten Sinne“ sei die Premiere von „Peterchens Mondfahrt“ im Opernhaus gewesen. Der relativ umfangreiche und mit Namen gespickte Artikel von Frau Tholund ist insofern bemerkenswert als der Urheber des Werkes an keiner Stelle genannt wird. Auch auf der Titelseite nicht oder irgendwo anders. Das bedeutet, dass die Kieler Nachrichten einen schönen bunten Aufmacher gefunden haben und sie den Menschen, der ihnen das ursprünglich ermöglicht hat, dabei übergehen. Er wurde herausgeschnitten.

Der Autor von „Peterchens Mondfahrt“ heißt Gerdt von Bassewitz, er wurde geboren 1878 und starb 1923. Er schrieb viele Dramen, die zu seinen Lebzeiten auch aufgeführt wurden. Trotzdem blieb die Person Gerdt Bernhard von Bassewitz-Hohenluckow unbekannt. Als Sohn eines preußischen Beamten, aus mecklenburgischem Uradel stammend, war er Leutnant der preußischen Landwehr, Schauspieler, Direktionsassistent am Kölner Stadttheater und zuletzt freier Schriftsteller in Berlin. Seine dramatischen Arbeiten waren bald vergessen, erfolgreich war und blieb dagegen sein Kinderbuch „Peterchens Mondfahrt“, das seit seinem Erscheinen Kinderherzen zu erfreuen und zu fesseln vermag. (Quelle: http://home.tiscalinet.ch/biographien/b/Bassewitz.htm). Er blieb unbekannt, liebe KN-Redaktion.

Der Artikel des Tages steht auf Seite 17 und wurde geschrieben von roe: „Defibrillator hilft, Leben zu retten“. In diesem Bericht aus Flintbek geht es um ein Gerät, „mit dem auch Laien Menschen nach einem Herzstillstand wieder beleben können.“ Das sind gute Nachrichten. Andreas Gädigt, Technischer Leiter beim DLRG-Landesverband, erklärt: „Früher haben nur fünf von 100 Patienten einen Herz-Kreislaufstillstand überlebt.“ Auch gut ist der große Artikel „Die Maus ist unser Botschafter. Japaner freuen sich auf Deutschland“ von Jens Höhner auf der 3. Auch sein Kommentar dazu auf der 2.

Ansonsten war nicht viel los in der Montagsausgabe. Viel Polizei, das schon. Es deutet auf Sicherheitsängste. Kein Wunder. Auf Seite 4 zum Beispiel ist ein Bericht darüber, dass Kieler einen Spezialauftrag haben für Bagdads neue Armee. Deutsche in Soldatenuniformen unterrichten Iraker im Kriegswesen. Man erinnere sich an die deutsche Geschichte. Wenn man als Deutscher ein Soldaten-Image pflegt und einem nichts Besseres einfällt als Leute im Kriegswesen auszubilden, dann muss man ja ein schlechtes Gewissen bekommen und sich mit Polizei und so umgeben. Es sieht aus, als könnten die Deutschen nicht genug davon bekommen. Aber das bleibt weitgehend unbemerkt.


- Multikulturelle Nation -

(30.11.04) Das interessanteste Thema des heutigen Tages ist die deutsche Identitätsfrage, ausgelöst durch eine Kritik der Türkischen Gemeinde im Zusammenhang mit den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Es wurde moniert, dass die Diskussion über Türken ohne Türken stattfinde, zum Beispiel in den Talkshows. Dieser Sachverhalt hat Klaus Kramer dazu bewogen, auf der Kommentarseite 2 den Text „Unwort Nation“ zu formulieren. In diesem Kommentar vermischt Herr Kramer auf bemerkenswerte Weise einige abstrakte Begriffe wie „Ausländer“, „ausländische Mitbürger“, „kulturelle Vielfalt“, „Gesellschaft“ und „Nation“. Zur deutschen Identitätsfrage schreibt er: „Aber was wollen die Deutschen sein, was macht ihre Nation aus? Darüber wollen die meisten Bürger nach den schlimmen Entgleisungen, die es im Namen der 'deutschen Nation' gegeben hat, nicht nachdenken.“ Herr Kramer kommt zu folgendem Fazit: „Nun gehört aber Deutschland wirtschaftlich zu den 'global players'; es will politisch in Europa den Ton angeben und in der Welt mindestens ein gewichtiges Wort mitreden. Eine solche Gesellschaft kommt auf Dauer nicht darum herum, sich als Nation zu definieren. Das ist auch eine Voraussetzung für den entspannteren Umgang mit unseren ausländischen Mitbürgern.“ Was aber, so fragt man sich nach dieser Lektüre noch immer, macht überhaupt eine Nation aus? Darüber wollen offenbar nicht nur die meisten Bürger, sondern auch Herr Kramer nicht nachdenken. Und was sind ausländische Mitbürger?

Gehört zum Beispiel mein Vater zur deutschen Nation? Er hat mehr als zwei Drittel seines Lebens in Deutschland verbracht, ist deutscher Staatsbürger, nimmt am Wirtschaftsprozess teil und am gesellschaftlichen Leben. Er ist gleichzeitig Muslim und hat eine palästinensische und eine arabische Identität. Oder ich selbst, der ich in Hamburg geboren bin und eine deutsche Mutter habe. Stehe ich nach Ansicht von Herrn Kramer innerhalb der deutschen Nation oder eher in der Rubrik Ausländer? Vielleicht muss man ein Bekenntnis darüber ablegen, dass man politisch in Europa den Ton angeben und in der Welt mindestens ein gewichtiges Wort mitreden will. Wahrscheinlich geht es darum, oder? Man verpflichtet sich zu einer Ideologie. Oder aber man grenzt sich gegen Ausländer ab. Dies sind die beiden Punkte, die Herr Kramer nahe legt. Behalten wir das mal im Auge.

Was war noch? Udo Lindenberg feierte in Kiel 30 Jahre Bühnenjubiläum, großes Foto auf der 1, die Rezension gebe es morgen. Die Kieler Nachrichten schreiben oft und viel über Künstler, mehr als andere Zeitungen, sie mögen Künstler. Ob Udo wohl auch „Wozu sind Kriege da?“ gesungen hat? Das palästinensische Flüchtlingslager, das er in diesem Lied vor etwa zwanzig Jahren erwähnte, gibt es immer noch. Ich glaube aber, er singt es nicht mehr.

Auf der Wirtschaftsseite ein progressiver Artikel über die Korbwährung „Intor“, „Eine Währung für die ganze Welt“, in dem Ulrich Metschies über den Nobelpreisträger Robert A. Mundell berichtet. Auf dem Planeten Omega 5 gibt es eine solche Weltwährung, sie heißt dort Let, bzw. Letra im Plural. – Auf Seite 17 (Kiel) „Stumme Zeugen der Folter: Ausstellung 'Gewalt im Röntgenbild'“ von Boris Geißler. Nach einer Idee der Rechtsmediziner Professor Hans-Jürgen Kaatsch und Professor Hermann Vogel geht es dabei um Typisierung von Gewalt anhand von Röntgenbildern aus aller Welt. In den Beispielen werden folgende Länder und Gruppen genannt: Iran/Revolutionswächter, Zimbabwe, Mexiko, IRA. Erwähnt werden auch Streubomben und die Tatsache, dass Gewalt in Mitteleuropa sich von der in Mittelamerika unterscheidet. Bei solchen Aufzählungen in Zeitungstexten ist es wichtig, dass man die richtigen Beispiele wählt, um kein Durcheinander zu verursachen.

Auf der 30 (Kieler Szenen) ein Hinweis auf das kulturelle Projekt „Kiel steht auf“, von bun. Oh, da steht was über Klavki, mit dem habe ich mich am Donnerstag beim Poetry Slam in der Schaubude unterhalten. Er hat dort verdient gewonnen mit seiner adjektivischen Wortakrobatik über stutzflügelige Abendbrötler und tortenwitzgefärbte Wendenächtler. So ähnlich, ich parodiere es hier. Klavki möchte mit seinem Kollegen Marcus Meyer einen Knotenpunkt für alle Kulturschaffende in Kiel schaffen und läd dazu ein. Klavkis Telefonnummer steht ja da, mal anrufen... OK, das war ein nettes Gespräch, er wusste gar nicht, dass er heute in der Zeitung stand. Auf der 31 (Kieler Szenen) „In den Fußstapfen der Stars. Salim Greven ließ beim 'Jazz Revisited'-Gig im MAX noch das Unverkennbare vermissen.“ von Thomas Bunjes, über einen gutaussehenden Coversänger. Er sei kein „Casting-Klon“. Schauen wir mal, nach welchen Kriterien hier beurteilt wird. Auf der Plusseite steht ein großes stimmliches Potenzial, er wirke sympathisch, bescheiden, angenehm unauffällig. Aha. Unauffälligkeit ist angesagt. Auf der Minusseite das Fehlen von Charisma und Unverkennbarkeit. Ich schätze, der Mann hat gute Chancen, in die Nation aufgenommen zu werden...


- Klassische Denkfiguren -

(01.12.04) Den Herrn Minister Struck verstehe mal jemand! Misshandlungen in der Bundeswehr und er ruft dazu auf, ihm Vorfälle zu melden. Nun kommt heraus, dass die Luftwaffe am 30.10.03 im Flughafen Stuttgart zusammen mit einem Sondereinsatzkommando der baden-württembergischen Polizei einen „Überfall palästinensischer Terroristen simuliert“ hat. So steht es heute in den KN auf Seite 2 nach einem Bericht der „Welt“. Ich bin nicht sicher, wie in der deutschen Öffentlichkeit der Begriff „Rassismus“ definiert wird, jedenfalls klang es nicht nach einem Einzelfall. Es gehe immerhin um „realitätsnahe und einsatzorientierte Ausbildung“. Die palästinensischen Terroristen sind also unsere Feinde. Sie stülpen den Passagieren des Flugzeugs Jutesäcke über den Kopf, machen irgendwas am Genitalbereich der Passagiere und erschießen sie dann. So stellen sich SEK-Beamte das vor. Vor wem soll man jetzt Angst haben? Die Verantwortung für dieses Verhalten tragen Minister Struck und die Regierung von Baden-Württemberg. Man beachte: Nicht der Rassismus wurde angeprangert, sondern allein die Misshandlung von Soldaten.

„Lernt erst einmal ordentliches Englisch!“ zitiert Markus Günther den US-amerikanischen Entertainer Bill Cosby auf der 4. „Und Euch Männern sage ich: Hört endlich auf, Eure Frauen zu verprügeln, nur weil Ihr keine Arbeit gefunden habt. Hört endlich auf, die Opfer zu spielen. Und den alleinerziehenden Müttern sage ich: Ihr könnt nicht jeden Abend einen anderen verlotterten Typen ins Haus schleppen und mit ihm Sex haben, während eure Kinder im Nebenzimmer zuhören.“ Die Schwarzen haben in der Erziehung ihrer Kinder versagt, legen sowohl Cosby als auch der Artikel nahe. „Dass den Schwarzen vorgeworfen wird, an ihrem Elend selbst Schuld zu sein, ist nicht neu. Es ist eine klassische Denkfigur des Rassismus“ schreibt Herr Günther und damit hat er völlig Recht. Ich glaube kaum, dass eine seriöse Zeitung einen solchen Artikel drucken würde. Schon gar nicht in einer solchen Zeit.

Man stelle sich vor, die Deutschen würden so pauschaliert. Nehmen wir den Artikel über den „Schwert-Mordprozess“ in Flensburg: „Zeugen: Er war immer bewaffnet. 25-jähriger soll Zechkumpan mit dem Schwert erstochen haben.“ Von lno auf der 6. Da steht es: Der Angeklagte war ein Waffennarr, hat Horrorfilme konsumiert, er hat „andere beschissen“, in seiner Kindheit habe er eine Katze an einen Baum genagelt. Er habe mit Waffengewalt gedroht und war „kühl und berechnend“. Was nicht erwähnt wurde war die Tatsache, dass er Deutscher ist. Überschrift in einer ausländischen Zeitung: „Deutscher nagelt Katze an Baum und ersticht Saufkumpan“. Es folgen Zitate aus Frontal 21 vom 30.11.04: „Kinder werden immer dümmer. Gefahr durch exzessiven Medienkonsum“ nach dem Motto: Die Deutschen geben es ja selbst zu. Dann eine Überleitung zu den Vorgängen bei der Bundeswehr und so weiter. – Stark im Norden, alles klar.

Auch über Kinder steht heute viel in der Zeitung: „Kinderfreundlichkeit als Garant für ein positives Wirtschaftsklima“ schreibt zum Beispiel Boris Geißler auf der 19 (Kiel). Warum essen wir die Kinder nicht einfach auf, dann sparen wir das Geld für Fleisch. Das wäre wenigstens konsequent. Kinderfreundlichkeit als Garant für ein positives Wirtschaftsklima… Der Monat fängt ja gut an.


- Journalistisches Nachtgespräch / Fall Cosby -

(01.12.04, nachts) Hier ist die ungekürzte Mail eines Journalisten aus Hamburg, darunter die Antwort:

„Lieber Anis, manchmal verstehe ich nicht, worauf du hinaus willst. So, wie du diesen Markus Günther aus den Kieler Nachrichten zitierst, KRITISIERT er die Äußerungen von Bill Cosby. Wo ist also das Problem? Ich habe die dummen Sprüche von Bill Cosby schon vor mehreren Wochen, meiner Erinnerung nach war das noch vor der Präsidentenwahl, in einer der ‚seriösesten' amerikanischen Zeitungen gelesen, vermutlich in der New York Times. Warum auch nicht? Zeitungen beschäftigen sich mit dem, was bekannte Leute sagen. Ein Journalist, der sachlich über Äußerungen eines Dummkopfs berichtet, muss nicht automatisch selbst einer sein, so wenig wie ein Schauspieler, der den Eichmann spielt, ein Judenhasser und Massenmörder sein muss. Das ist ein Job. Ich habe mich über die Äußerungen von Cosby damals sehr aufgeregt. Aber ich glaube, dass ich sie anders interpretiere als du. Cosby ist selbst Schwarzer und aus meiner Sicht der klassische ‚Onkel Tom'. Seine Botschaft ist jedoch nicht, dass es ‚die schwarzen Gene' sind. Dagegen sieht er ja sich selbst und andere arrivierte Schwarze als lebendes Gegenbeispiel. In einer Gesellschaft, die an das Dogma, sie gebe jedem die gleiche Chance und jeder könne es folglich ‚schaffen', weitaus mehr glaubt als an Gott oder moralische Grundsätze, bestätigt Cosby als arrivierter Schwarzer, dass jeder selbst schuld ist, wenn er es nicht packt. Das kann man ohne weiteres auch auf Latinos beziehen, aber ebenso auch auf weiße Loser. Ich sehe darin hauptsächlich einen sozialen Diskurs, keinen rassistischen. Und daher eine Parallele zu diesen dummgefressenen Gestalten wie Günter Grass, die hier bei uns den in die Verelendung Getriebenen zurufen, dass sie ihr Gejammer nicht mehr hören können und dass selbst schuld sei, wem's in Deutschland schlecht geht.“

Lieber Journalist, vielen Dank für Deine Meinung. Es ist schon wahr, dass ich den Cosby-Artikel nicht durchanalysiert hatte. Man kann den Artikel vielleicht journalistisch rechtfertigen. Aber ich bin der begründeten Ansicht, dass seine Wirkung auf den Leser und den Diskurs destruktiv ist. Mich jedenfalls hat er provoziert und wütend gemacht, weil „Lernt erst einmal ordentliches Englisch!“ eine fette Überschrift war, die stark suggestiv ist. Ich habe es empfunden wie die (fiktive) Überschrift „Du bist ein A-Loch!“ mit einem Artikel über jemanden, von dem dieses Zitat stammt. Ich habe die schwarzen Kinder vor dem Schulbus auf dem Foto gesehen und dazu diese Überschrift. Ich habe mich mit den Kindern identifiziert und bin wütend geworden, weil ich sowieso seit drei Tagen die KN mein Bewusstsein infiltrieren lasse und damit ihre Art ein Stück weit übernehme. Keineswegs hat der Autor des Artikels Cosby kritisiert. Er hat zwei kritische Stimmen darin und der Rest war darüber, wie begeistert alle von Cosbys Kritik sind, besonders die Schwarzen, die „immer wieder“ mit Beifall reagiert haben. Der Artikel endet mit dem Zitat einer Schwarzen: „Cosby sagt endlich die Wahrheit, dass unsere Lage eine natürliche Folge unseres Versagens in der Erziehung ist.“ Mit diesem Satz wird der Leser entlassen. Der ganze Artikel ist suggestiv, es werden viele Klischees transportiert und nicht wirklich hinterfragt. Auch Cosbys Kritiker werden nach Klischees zitiert, sie sprechen von Schwarzen in „spektakulären Positionen in allen gesellschaftlichen Bereichen“. Die Journis von den Kieler Nachrichten sind nicht so ungebildet, dass sie das nicht sehen könnten, was sie da tun. Da haben sie vier Seiten für Politik und vergeuden ihre Zeit mit diesem provokativen Zeug. Sie spielen mit diesen rassistischen Klischees, zum Beispiel der erste Satz des Artikels: „Es klingt wie eine schlimme rassistische Beschimpfung“, Doppelpunkt, und dann die Sache mit dem Englischen. Nee, das IST eine schlimme rassistische Beschimpfung, wer auch immer das sagt. Das muss man nicht nachplappern. – Jedenfalls hast Du mir klar gemacht, dass ich wütend auf die KN war und leicht verbissen. Aber was soll ich machen? Ich gebe mich ganz. So bin ich nun einmal.

Sozialer vs. rassistischer Diskurs. Ich denke, es ist beides. Auch ist die genetische nur eine der Varianten von Rassismus. Vielleicht geht es zusammen in Eins. Du hast bei beiden, also bei sozialem Klassenverhalten und bei rassistischem Verhalten eine In-Group und eine Out-Group, das „Wir“ und das „die Anderen“. Es ist dieses dualistische Prinzip. Auch ich denke, dass Cosbys Tiraden auf ein elitäres, also (a)soziales Denken zurückzuführen sind. Beim Leser in Schleswig-Holstein aber werden rassistische Gedanken über Schwarze aktiviert, wenn er all die Zitate und Rechtfertigungen liest: Da, sie sagen es selbst, sie applaudieren ihm. Dann der obligatorische Natürlich-gibt-es-auch-Leute-die-Cosby-scharf-kritisieren-Satz. Der Autor des KN-Artikels wollte provozieren, an die Grenzen gehen, aber das sind meiner Ansicht nach nicht die richtigen Grenzen. Ich weiß, die „Welt“ macht so etwas, aber deshalb ist es nicht cool. Ein Journalist hat eine Verantwortung, weil er das Bewusstsein der Bevölkerung strukturiert und die Bevölkerung ist tief verunsichert. Wenn in Amerika solche Zustände herrschen, sollte man nicht mit glänzenden Augen danebenstehen und die Sache auf Deutschland übertragen. Wir haben genug Probleme. Aber er darf natürlich schreiben, was er will und ich darf schreiben, was ich will und Du, was Du willst. So ist das eben im Journalismus.

Wenn man auf Mängel im Erziehungswesen bei schwarzen Amerikanern hinweisen muss, kann man das auch ohne diesen Müll. Klar, ich könnte auch der arabischen Presse ein Interview geben wegen PISA und so und meine eigenen Landsleute beschimpfen. Das würden ein paar Zeitungen drucken. Das sind aber keine, die ich unbedingt lesen würde. Als die ägyptische Presse im Februar über mich schrieb, habe ich schon auch Deutschland kritisiert, aber doch nicht beleidigend. Und nicht ausschließlich Deutschland. Man hat das leicht instrumentalisiert, bei der Ahram nicht so, das war okay, aber in der Akhbar. Die Journalistin hat das Interview frei garniert mit Sachen, die ich nie gesagt habe und zum Teil nie sagen würde. Ich habe ziemlich mit ihr geschimpft deshalb. Es war nicht böse gemeint, aber es war nicht okay. Wir sind dann in Kontakt geblieben.

Oder ich könnte die palästinensische Gesellschaft und die Araber und Muslime beschimpfen und damit zum deutschen Fernsehen latschen. Solche Typen kenne ich auch. Ich habe viel an der palästinensischen Gesellschaft zu kritisieren. Die Geschlechtertrennung als erstes. Das Erziehungswesen. Ich hatte auch eine Phase, wo ich diesen Aggressionen Luft gemacht habe und die Palästinenser unfähig zur Kommunikation und Kooperation genannt habe. Die Klüngelei. Diese Verheiratungen! Die Obrigkeit. Ich habe genug erlebt. Man kann das auch nur teilweise aufrechnen gegen die Unterdrückungssituation. Das Problem ist, dass die Medien es instrumentalisieren, wenn man die eigene Gruppe kritisiert, und dass dies auch der Grund ist, warum sie solche Geschichten haben wollen. Sie strukturieren das Bewusstsein der Leute, sie geben ihnen aus vielen Möglichkeiten eine Realität vor. Einige Kieler haben gedacht: Aha, das sind die Schwarzen! Das sind Fakten, die die Kieler Nachrichten nicht respektieren. Wenn sie Cosby bringen, könnten sie ja auch Israel Shamir bringen, der hat auch viele aus der In-Group, die seiner polemischen und destruktiven Kritik am Judentum zujubeln. Aber über den würden sie nie schreiben.

Noch ein Wort zu dem Punkt „Die sind selbst Schuld“. Das ist ein wichtiges philosophisches Thema der Zeit. Ich habe selbst im Gedichtband Loving Jay geschrieben „Jeder wie er's braucht“. Nach Fehleranalysen habe ich oft gemerkt, dass ich selbst hätte besser sein können. Dass ich selbst für mein Handeln verantwortlich bin. Mir meine Freunde selbst aussuche, meine Kritiker selbst aussuche, mein Leben selbst in der Hand habe. Es gibt auch das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“, auch das ist nicht von der Hand zu weisen. Es ist eine Wahrheit. Es gibt parallele Wahrheiten, zum Beispiel, dass Unterdrückung Unrecht ist und dass Unterdrückung existent ist. Oder dass Gewalt Unrecht ist. Man kann nicht sagen, um ein krasses Beispiel zu nennen, dass die Juden am Genozid selbst Schuld waren, das würde ich eine ungeheuerliche und bösartige Bemerkung nennen. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ passt da überhaupt nicht. Es passt nur in Situationen, in denen man frei ist. Zu vielem ist man frei. Zu anderem nicht.

Was Deutschland angeht: Die „Montags-Demonstrationen“ fand ich kurios: Deutsche, die gegen sich selbst demonstrieren. Man lastet der (nicht unschuldigen) Regierung an, was man der Gesellschaft anlasten müsste, oder der Nation, wie Herr Kramer das nennt, die seit Jahren weiß, dass wir immer mehr Schulden machen, in der Finanzpolitik wie in der Außen- und Innenpolitik. Wir sind Schuldenmacher. Schulden. Schuld. Wir sind schuldig.


- Lenz & Hansen -

(02.12.04) Die Nachricht des Tages ist, dass der Schriftsteller Siegfried Lenz Ehrenbürger von Schleswig-Holstein geworden ist. Es ist eine beruhigende Nachricht. Den Artikel dazu schrieb Hannes Hansen. Siegfried Lenz steht für etwas, er steht für Hoffnung und gesellschaftliche Verantwortung des „schreibenden Bürgers“. Ich schätze ihn dafür ebenso wie den im Artikel genannten Heinrich Böll sehr. Das ist auch, was ich gern mit dem Begriff „Nation“ verbinde. Es gibt den Begriff seit dem 14. Jahrhundert und er ist abgeleitet von „natio“, „das Geboren-Werden“. Eigentlich bezeichnet die Nation also die zusammengewachsene Gesellschaft derer, die in einem Gebiet leben. Herr Lenz hat viele Menschen zusammengebracht und mit ihnen gesprochen.

Der Hansen-Artikel stimmte mich versöhnlich, ich regte mich ab. Zum Beispiel wird erwähnt, dass Herr Lenz sich über private und öffentliche Moral äußerte und dass ihm dies „nicht immer gedankt worden“ ist, sowohl von Links als auch von Rechts. Auch den Satz „Über Gültigkeit von Literatur entscheidet letztlich die Geschichte“ fand ich gerecht. Da sind viele Werte, die ich teile. Andere, die ich nicht teile. Zum Beispiel dieses hier: „Doch geht für Siegfried Lenz der Schriftsteller nicht restlos auf in der öffentlichen Figur eines Menschen, der sich einmischt in die Geschicke und Geschichte des Gemeinwesens. Da gibt es immer noch die einsame Arbeit am Schreibtisch, das Herausfinden des Weges, den eine ästhetische Kompassnadel weist.“ Es ist dieses romantische Klischee vom leidenden Künstler. Herr Hansen schreibt selbst auch Literatur, er bringt dieses Klischee also nicht als Außenstehender ein. Einsamkeit. Als wäre das eine Bedingung für Güte. Ich denke, man kann den Weg besser herausfinden, wenn man sich in kommunikativen Prozessen bewegt. Die einsame Arbeit am Schreibtisch lässt die Kreativität eher verkümmern, finde ich.

Journalisten sind schon in einer ziemlichen Machtposition, wenn sie so frei über andere Leute schreiben können, weil ihr Wort in der Bevölkerung Gewicht hat. Zum Beispiel hätte auch Herr Hansen zu den Leuten gehören können, die Herrn Lenz seine Einmischungen nicht danken. Könnte man sich ja auch vorstellen: Eine konservative Zeitung, die sich ein wenig mokiert über den „Moralprediger“ oder dergleichen. Dies war aber überhaupt nicht der Fall. Journalisten ihrerseits werden viel seltener kritisiert und es wird viel seltener über sie geurteilt, obwohl sie nicht nur alle paar Jahre ein Buch herausbringen, sondern jeden Tag den Leserinnen und Lesern eine Auswahl der Welt vorsetzen.

Wenn eine öffentliche Person wie ein Politiker oder ein Künstler oder Prominenter einen Fehler macht, dann sind es üblicherweise die Medien, die darüber urteilen und die die öffentliche Meinung bestimmen. Offizielle Instanzen von Außen zur Beurteilung der deutschen Presse gibt es nicht wirklich. Es gibt ein paar Sachen im Internet, aber das ist noch keine öffentlich anerkannte Instanz. Vielmehr gibt es einen so genannten Presserat. Dieser ist von der deutschen Presse selbst eingerichtet worden und in der Bevölkerung weitgehend unbekannt. Eine „Selbstkontrolle“, so etwas funktioniert nie. Wenn es Rügen vom Presserat gibt, werden diese nicht einmal öffentlich ins Netz gestellt. Das bringt überhaupt nichts.

Wenn ich mir vorstelle, Teil der offiziellen deutschen Presse zu sein, würde ich mich ziemlich gefeit fühlen vor Kritik. Wenn der Chefredakteur dahinter steht, könnte mir so gut wie nichts passieren. Wenn ich dann von Außen unangenehme Sachen über mein Geschriebenes hören würde, könnte ich es ignorieren. Nach dem Motto: „Hee, ich bin hier derjenige, der mit Anderen ins Gericht zieht! Du bist wohl unbescheiden, wie? Mich so zu kritisieren. Du denkst wohl wer weiß wer du bist.“ Dabei würde ich vergessen können, dass ich selbst ständig Andere kritisiere und auch stark unter Druck setzen kann. In den KN heute zum Beispiel Ministerin Lütkes. Die Presse hingegen ist es nicht gewohnt, von Außen unter Druck zu geraten, weil sie sich intern kritisiert und denkt, das würde reichen. Man hat ja gesehen, was zum Beispiel mit Politikern passiert, die die Presse angreifen. Die Bevölkerung meckert zwar auch über die Presse, aber sie nimmt sie trotzdem als Autorität an.

In Kiel ist es zudem so, dass es nicht einmal eine Konkurrenzzeitung gibt. Es gibt die Schleswig-Holsteinische Landeszeitung, aber ich habe noch nie jemanden kennen gelernt, der sie liest, geschweige denn zitiert. Früher, so erzählte mir ein Alteingesessener, habe es eine „Kieler Rundschau“ gegeben, aber die gebe es schon lange nicht mehr. Für einen demokratischen Diskurs ist das nicht besonders gesund. In solchen Konstellationen kann es leicht zu dem Punkt kommen, wo man Kritik von Außen nur noch als Angriff werten kann und nicht mehr an sich heranlässt. Man findet Adjektive, um den Kritikern alle möglichen Motive und Mangelhaftigkeiten zu unterstellen. Das muss nicht so sein, aber wenn es zum Beispiel keine Instanz von Außen geben würde, um Politiker zu kritisieren, dann wären wir sehr besorgt. Wegen der Presse sind wir seltsamerweise nicht besorgt.

Ende
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