- Journalistisches Nachtgespräch / Fall Cosby -
(01.12.04, nachts) Hier ist die ungekürzte Mail eines Journalisten aus Hamburg, darunter die Antwort:
„Lieber Anis, manchmal verstehe ich nicht, worauf du hinaus willst. So, wie du diesen Markus Günther aus den Kieler Nachrichten zitierst, KRITISIERT er die Äußerungen von Bill Cosby. Wo ist also das Problem? Ich habe die dummen Sprüche von Bill Cosby schon vor mehreren Wochen, meiner Erinnerung nach war das noch vor der Präsidentenwahl, in einer der ‚seriösesten' amerikanischen Zeitungen gelesen, vermutlich in der New York Times. Warum auch nicht? Zeitungen beschäftigen sich mit dem, was bekannte Leute sagen. Ein Journalist, der sachlich über Äußerungen eines Dummkopfs berichtet, muss nicht automatisch selbst einer sein, so wenig wie ein Schauspieler, der den Eichmann spielt, ein Judenhasser und Massenmörder sein muss. Das ist ein Job. Ich habe mich über die Äußerungen von Cosby damals sehr aufgeregt. Aber ich glaube, dass ich sie anders interpretiere als du. Cosby ist selbst Schwarzer und aus meiner Sicht der klassische ‚Onkel Tom'. Seine Botschaft ist jedoch nicht, dass es ‚die schwarzen Gene' sind. Dagegen sieht er ja sich selbst und andere arrivierte Schwarze als lebendes Gegenbeispiel. In einer Gesellschaft, die an das Dogma, sie gebe jedem die gleiche Chance und jeder könne es folglich ‚schaffen', weitaus mehr glaubt als an Gott oder moralische Grundsätze, bestätigt Cosby als arrivierter Schwarzer, dass jeder selbst schuld ist, wenn er es nicht packt. Das kann man ohne weiteres auch auf Latinos beziehen, aber ebenso auch auf weiße Loser. Ich sehe darin hauptsächlich einen sozialen Diskurs, keinen rassistischen. Und daher eine Parallele zu diesen dummgefressenen Gestalten wie Günter Grass, die hier bei uns den in die Verelendung Getriebenen zurufen, dass sie ihr Gejammer nicht mehr hören können und dass selbst schuld sei, wem's in Deutschland schlecht geht.“
Lieber Journalist, vielen Dank für Deine Meinung. Es ist schon wahr, dass ich den Cosby-Artikel nicht durchanalysiert hatte. Man kann den Artikel vielleicht journalistisch rechtfertigen. Aber ich bin der begründeten Ansicht, dass seine Wirkung auf den Leser und den Diskurs destruktiv ist. Mich jedenfalls hat er provoziert und wütend gemacht, weil „Lernt erst einmal ordentliches Englisch!“ eine fette Überschrift war, die stark suggestiv ist. Ich habe es empfunden wie die (fiktive) Überschrift „Du bist ein A-Loch!“ mit einem Artikel über jemanden, von dem dieses Zitat stammt. Ich habe die schwarzen Kinder vor dem Schulbus auf dem Foto gesehen und dazu diese Überschrift. Ich habe mich mit den Kindern identifiziert und bin wütend geworden, weil ich sowieso seit drei Tagen die KN mein Bewusstsein infiltrieren lasse und damit ihre Art ein Stück weit übernehme. Keineswegs hat der Autor des Artikels Cosby kritisiert. Er hat zwei kritische Stimmen darin und der Rest war darüber, wie begeistert alle von Cosbys Kritik sind, besonders die Schwarzen, die „immer wieder“ mit Beifall reagiert haben. Der Artikel endet mit dem Zitat einer Schwarzen: „Cosby sagt endlich die Wahrheit, dass unsere Lage eine natürliche Folge unseres Versagens in der Erziehung ist.“ Mit diesem Satz wird der Leser entlassen. Der ganze Artikel ist suggestiv, es werden viele Klischees transportiert und nicht wirklich hinterfragt. Auch Cosbys Kritiker werden nach Klischees zitiert, sie sprechen von Schwarzen in „spektakulären Positionen in allen gesellschaftlichen Bereichen“. Die Journis von den Kieler Nachrichten sind nicht so ungebildet, dass sie das nicht sehen könnten, was sie da tun. Da haben sie vier Seiten für Politik und vergeuden ihre Zeit mit diesem provokativen Zeug. Sie spielen mit diesen rassistischen Klischees, zum Beispiel der erste Satz des Artikels: „Es klingt wie eine schlimme rassistische Beschimpfung“, Doppelpunkt, und dann die Sache mit dem Englischen. Nee, das IST eine schlimme rassistische Beschimpfung, wer auch immer das sagt. Das muss man nicht nachplappern. – Jedenfalls hast Du mir klar gemacht, dass ich wütend auf die KN war und leicht verbissen. Aber was soll ich machen? Ich gebe mich ganz. So bin ich nun einmal.
Sozialer vs. rassistischer Diskurs. Ich denke, es ist beides. Auch ist die genetische nur eine der Varianten von Rassismus. Vielleicht geht es zusammen in Eins. Du hast bei beiden, also bei sozialem Klassenverhalten und bei rassistischem Verhalten eine In-Group und eine Out-Group, das „Wir“ und das „die Anderen“. Es ist dieses dualistische Prinzip. Auch ich denke, dass Cosbys Tiraden auf ein elitäres, also (a)soziales Denken zurückzuführen sind. Beim Leser in Schleswig-Holstein aber werden rassistische Gedanken über Schwarze aktiviert, wenn er all die Zitate und Rechtfertigungen liest: Da, sie sagen es selbst, sie applaudieren ihm. Dann der obligatorische Natürlich-gibt-es-auch-Leute-die-Cosby-scharf-kritisieren-Satz. Der Autor des KN-Artikels wollte provozieren, an die Grenzen gehen, aber das sind meiner Ansicht nach nicht die richtigen Grenzen. Ich weiß, die „Welt“ macht so etwas, aber deshalb ist es nicht cool. Ein Journalist hat eine Verantwortung, weil er das Bewusstsein der Bevölkerung strukturiert und die Bevölkerung ist tief verunsichert. Wenn in Amerika solche Zustände herrschen, sollte man nicht mit glänzenden Augen danebenstehen und die Sache auf Deutschland übertragen. Wir haben genug Probleme. Aber er darf natürlich schreiben, was er will und ich darf schreiben, was ich will und Du, was Du willst. So ist das eben im Journalismus.
Wenn man auf Mängel im Erziehungswesen bei schwarzen Amerikanern hinweisen muss, kann man das auch ohne diesen Müll. Klar, ich könnte auch der arabischen Presse ein Interview geben wegen PISA und so und meine eigenen Landsleute beschimpfen. Das würden ein paar Zeitungen drucken. Das sind aber keine, die ich unbedingt lesen würde. Als die ägyptische Presse im Februar über mich schrieb, habe ich schon auch Deutschland kritisiert, aber doch nicht beleidigend. Und nicht ausschließlich Deutschland. Man hat das leicht instrumentalisiert, bei der Ahram nicht so, das war okay, aber in der Akhbar. Die Journalistin hat das Interview frei garniert mit Sachen, die ich nie gesagt habe und zum Teil nie sagen würde. Ich habe ziemlich mit ihr geschimpft deshalb. Es war nicht böse gemeint, aber es war nicht okay. Wir sind dann in Kontakt geblieben.
Oder ich könnte die palästinensische Gesellschaft und die Araber und Muslime beschimpfen und damit zum deutschen Fernsehen latschen. Solche Typen kenne ich auch. Ich habe viel an der palästinensischen Gesellschaft zu kritisieren. Die Geschlechtertrennung als erstes. Das Erziehungswesen. Ich hatte auch eine Phase, wo ich diesen Aggressionen Luft gemacht habe und die Palästinenser unfähig zur Kommunikation und Kooperation genannt habe. Die Klüngelei. Diese Verheiratungen! Die Obrigkeit. Ich habe genug erlebt. Man kann das auch nur teilweise aufrechnen gegen die Unterdrückungssituation. Das Problem ist, dass die Medien es instrumentalisieren, wenn man die eigene Gruppe kritisiert, und dass dies auch der Grund ist, warum sie solche Geschichten haben wollen. Sie strukturieren das Bewusstsein der Leute, sie geben ihnen aus vielen Möglichkeiten eine Realität vor. Einige Kieler haben gedacht: Aha, das sind die Schwarzen! Das sind Fakten, die die Kieler Nachrichten nicht respektieren. Wenn sie Cosby bringen, könnten sie ja auch Israel Shamir bringen, der hat auch viele aus der In-Group, die seiner polemischen und destruktiven Kritik am Judentum zujubeln. Aber über den würden sie nie schreiben.
Noch ein Wort zu dem Punkt „Die sind selbst Schuld“. Das ist ein wichtiges philosophisches Thema der Zeit. Ich habe selbst im Gedichtband Loving Jay geschrieben „Jeder wie er's braucht“. Nach Fehleranalysen habe ich oft gemerkt, dass ich selbst hätte besser sein können. Dass ich selbst für mein Handeln verantwortlich bin. Mir meine Freunde selbst aussuche, meine Kritiker selbst aussuche, mein Leben selbst in der Hand habe. Es gibt auch das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“, auch das ist nicht von der Hand zu weisen. Es ist eine Wahrheit. Es gibt parallele Wahrheiten, zum Beispiel, dass Unterdrückung Unrecht ist und dass Unterdrückung existent ist. Oder dass Gewalt Unrecht ist. Man kann nicht sagen, um ein krasses Beispiel zu nennen, dass die Juden am Genozid selbst Schuld waren, das würde ich eine ungeheuerliche und bösartige Bemerkung nennen. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ passt da überhaupt nicht. Es passt nur in Situationen, in denen man frei ist. Zu vielem ist man frei. Zu anderem nicht.
Was Deutschland angeht: Die „Montags-Demonstrationen“ fand ich kurios: Deutsche, die gegen sich selbst demonstrieren. Man lastet der (nicht unschuldigen) Regierung an, was man der Gesellschaft anlasten müsste, oder der Nation, wie Herr Kramer das nennt, die seit Jahren weiß, dass wir immer mehr Schulden machen, in der Finanzpolitik wie in der Außen- und Innenpolitik. Wir sind Schuldenmacher. Schulden. Schuld. Wir sind schuldig.
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