home   ao english   musik   literatur   journalismus   bilder   sprachen   mehr   shop   sitemap

ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
vorige DIE 14. NACHRICHT nächste

Die Redaktion hat sich entschlossen, heute nur einen Beitrag zu senden und das, obwohl er stilistische Mängel hat. Aber dafür ist er auch zu lang geworden. Drei andere Mails, die uns heute erreichten, haben wir nicht gebracht, weil sie nicht mehr recht zu passen scheinen. Falls diese Beiträge doch noch gedruckt werden sollen, bitten wir die Absender, dies noch einmal zu bestätigen beziehungsweise eine neue Version zu schicken. Morgen werden wir keine Nachricht ins Netz stellen, sondern – nach diesem Hammer – erst am Montag wieder. Die Redaktion gibt freimütig zu, dass sie für diese neue Situation erst einmal Zeit braucht. Über die Authentizität des folgenden Schreibens besteht kein Zweifel. Hier ist der Beitrag des Tages:

Ozzy Balou: Liebe Dotwins, dieses ist der dritte Versuch, einen sinnvollen Beitrag zu schreiben. Beim ersten Versuch wollte ich witzig sein, aber das ist nichts geworden. Ich hatte vor, mich über meine Abschiedsworte lustig zu machen, dieses „Ich komme wieder“-Drama. Und ich wollte sagen: Was denn für eine Konfrontation? und so tun, als wäre nichts. Aber dann verlor ich die Lust. Beim zweiten Anlauf wollte ich einfach sehr cool sein und voll drüberstehen, beiläufig etwas von der neuen Dylan-CD erzählen, die ich gerade höre, Rock'n'Roll will never die und alles, aber das klappte auch nicht. Da ich mich jetzt aber auf jeden Fall zu Papier bringen möchte, schreibe ich einfach irgendwie und bitte, dass man mir das so auch nachsagt bzw. nachträgt.

Am elften September war ich in Marokko. Zwei Wochen später ging ich nach Paris, seit einigen Tagen bin ich in Hamburg bei einem Freund. Aus Marokko wegzugehen war ein reiner Impuls. Ich beobachtete mich dabei, wie ich den Koffer packte, und da war ich schon weg. Ebenso war es mit Hamburg. Ich bin nicht mit einem konkreten Plan hergekommen. Es stimmt übrigens, dass ich Mo als einzigem noch länger geschrieben hatte. Ich hatte den anderen aber gesagt, dass ich nicht schreiben würde. Ich habe niemanden vergessen und bin froh, dass es ein paar von den Leuten von früher noch gibt.

Seit ein paar Tagen bin ich zunehmend alarmiert. Deshalb wollte ich beim letzten Mal auch noch nichts schreiben. Meine politische Position ist nach wie vor die Gewaltlosigkeit. Auch ich beschäftige mich in den letzten Tagen wieder mit der Basisfrage. Was Gewalt ist und wie Frieden erreichbar ist. Ich erwähne das hier, denn es könnte später von Bedeutung sein. Ich möchte handeln.

Die Situation hat sich verändert, denn vor ein paar Tagen haben wir uns in Deutschland und anderswo von der Demokratie verabschiedet. Das wird langsam deutlich. Es nützt nichts, darüber zu lamentieren, aber wir müssen uns das wohl klar machen. Die Presse ist sehr weitgehend zackig auf Kurs. Zum Teil geht das von den Wünschen der Regierung aus, zum Teil ist es der eigene Wille. Das deutsche Informationsprogramm für den mündigen Bürger jedenfalls lautet: Pro-Amerika plus Ängste schüren plus ein Hauch Kritik plus vollständige Orientierungslosigkeit. Ich kenne die Presse ja noch ganz gut von früher und da hat sich nicht viel verändert. Wer behauptet, es gebe bei uns keine Propaganda, den nehme ich nicht ernst. Wer sagt: Ja, es gibt Propaganda, aber sie hat ihren Sinn, den nehme ich schon ernst. Naürlich, es gibt freie Zeitungen und kritische Radioberichte, aber die meisten Leute können das kaum unterscheiden. Man muss also gar nicht so sehr darauf achten, dass bestimmte Meldungen und Meinungen völlig unterdrückt werden. Aber das geschieht auch.

Und nicht nur in Deutschland. In Paris war vorgestern eine riesengroße Demo gegen den Krieg, 20.000 Leute, mein Kumpel Jean war auch da und hat es mir am Telefon erzählt. Und die Presse hat es totgeschwiegen. Die wollen anscheinend nicht, dass die Menschen gegen den Krieg sind. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.

In dem unakzeptablen Beitrag des Rafiq S. waren einige gute Gedanken, besonders der, dass es hier nicht um den Terror geht, sondern um Ruhe im Karton. Ja, es geht um die Kritiker. Aber fragen wir uns auch, warum Herr Schröder derzeit so fest an Herrn Bush klebt. Ich denke, er hat keine Wahl. Im Bundestag hat man ja gesehen, was die Parteien wollen. Sie wollen offensichtlich „Gegen“gewalt nach außen und ebenfalls nach innen. Etwas Besseres ist ihnen offensichtlich nicht eingefallen, als die Polizei zu holen.

Man darf aber nicht denken, dass es keine anderen Lösungen gebe. Das stimmt nämlich nicht. Attac hat heute einen sehr guten Ansatz. Die PDS hat eine gute Position in dieser Frage, wenn auch eine schlechte Vergangenheit. Es gibt viele Friedensorganisationen und Kirchen. Es gibt viele Stimmen den Vernunft. Bloß es hört keiner auf sie. Und warum ist das so? Weil nur den Menschen geglaubt wird, die gewalttätig sind und den anderen nicht. Bin Laden glauben wir, er macht uns Angst und wir kaufen Gasmasken, wir kriegen Panik und wir reden über Gas und alles für Bin Laden. Bush glauben wir, denn er bombardiert Afghanistan. Würde er es nicht tun, würden wir ihm nicht mehr glauben. Schröder glauben wir, denn der gibt derzeit Bushs Meinung wieder. Vor den Stimmen des Friedens brauchen wir keine Angst zu haben, und deshalb glauben wir ihnen auch nicht. So einfach ist das. Es liegt an den Leuten selbst.

Warum aber glauben wir nur den Gewalttätern? Weil wir noch nicht über diese zivilisatorische Hürde gekommen sind. Es sind Atavismen. Bei den orientalischen Ländern noch stärker, denn die stehen insgesamt auf einer anderen zivilisatorischen Entwicklungsstufe. Die hatten noch nicht einmal eine Reformation oder eine andere Art der Liberalisierung. Bitteschön, das ist keine Abwertung, nur ein Fakt, den jeder ernst nimmt, der Norbert Elias gelesen hat.

Es ist noch nicht lange her, da haben die Deutschen an Hitler geglaubt. Da sie den Zweiten Weltkrieg bekanntlich nie verarbeitet haben, verstehen sie vielleicht nicht genau, was sie falsch gemacht haben. Die Juden, ja, das haben sie verstanden. Aber sonst? Denn schon wieder laufen die Menschen heute Führern hinterher, die mit offensichtlicher Propaganda zu Gewalt aufrufen, sei es im Osten oder im Westen.

Wie anders sollte man es verstehen, dass Multiplikatoren wie der Kinderschutzbund sich Definitionen ausdenken wie: „Ein Terrorist ist ein Mensch, der sehr stark an etwas glaubt und deshalb andere verletzt.“ (KN 11.10.01, S.2). Solche gefährlichen Sätze werden heutzutage öffentlich und ohne Scham verbreitet. Die betreffenden Leute verstehen eben die Situation nicht, weil sie selbst mit Gewalt leben. Sie können den Kindern nicht erklären, was ein Terrorist ist, weil sie sich selbst belasten würden.

Auch der SPIEGEL macht mit, er titelte in dieser Woche „Der religiöse Wahn – Die Rückkehr des Mittelalters“. Die Medienleute können die Situation nicht anders verstehen, sie machen den Glauben und das Spirituelle zum Sündenbock, weil es ihrem inhaltslosen Materialismus plötzlich so vehement entgegensteht. Mit Schlagwörtern wie „religiöser Wahn“ wird den Leuten Angst gemacht, damit die Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung steigt. Das ist fatal und sehr bekämpfenswert.

Naja, und weil inzwischen auch die Blagen mit diesem Gewaltscheiß infiltriert werden, habe ich mir gedacht, dass ich mich lieber mal ein bisschen einmische. Schreibt, dass ich radikal bin, das kommt von lateinisch Radix, die Wurzel und an die gehe ich. Schreibt, dass ich fanatisch bin, denn ich höre Elvisplatten. Heute habe ich nämlich verstanden, dass ein paar gewisse Leute damals so ein Feindbild hatten. Heute sehe ich die Dinge etwas klarer, weil die Öffentlichkeit ihr Verhalten wiederholt.

Ich sehe sie förmlich vor mir, die Chefredakteure, Bundestagsabgeordneten und Kinderschützer, wie sie wie die aufgescheuchten Hühner planlos durch die Redaktionen laufen, ständig stolpernd, sich windend, eine geistige Fassade aufrecht erhaltend wie eine alte und längst verschmierte Schminke. Ich würde sie in Ruhe lassen, aber sie glauben nur an die gewaltbereiten Politiker und es gibt viel zu wenig Opposition. Und sie versauen die Blagen. Die Presse weiß, dass es Kritiker wie mich gibt und gab.

Ich sage diese deutlichen Worte auch, weil es leider richtig ist, dass die guten Leute sehr schwer zu mobilisieren sind. Sie denken, es reicht zu wissen, was gut ist, um gut zu sein. Aber es reicht nicht! Demokratie ist etwas Aktives. Nicht wie Fernsehen. Es wäre schön, wenn ich mit diesen Worten die Leute ermutigen kann, die hier schon geschrieben haben, weiterzumachen. Konzentriert euch! Lasst uns jetzt nicht zu viel über die alten Zeiten reden, denn wir haben genügend Gegenwart. Man kann nicht nur die Gegenwart durch die Vergangenheit verstehen, es funktioniert auch andersherum. Gleichzeitig wäre ich froh, wenn ich mit diesem Brief diejenigen Leute abschrecken kann, die ihren Hintern nicht hoch kriegen und die über das Wetter und über Butterbrote reden. Denn die können mir gestohlen bleiben. Die sollen ruhig zu Hause bleiben und denken, dass sie Bescheid wüssten. So, nun dürfte die Geschichte doch gleich eine neue Richtung gefunden haben. Es kann natürlich sein, dass jetzt auch die Redaktion genervt ist und das Projekt lieber aufgeben will. Das wäre für mich akzeptabel. Darüber hinaus wünsche ich ein angenehmes Wochenende. Tweedle Dee & Tweedle Dum. Euer Oz.

Hamburg und Kiel, 13.10.01

Nächste Nachricht >>


+++ ROCK'N'ROLL +++ NACHRICHT VON OZZY BALOU +++ EINE REKONSTRUKTION +++
hoch
Datenschutzerklärung und Impressum (data privacy statement and imprint)