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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Samira T.: Ich hatte gestern ein Erlebnis im Park, bei dem ich unmittelbar an den Gedanken des Autonomen aus der 15. Nachricht denken musste, nämlich: „Es geht also darum, auf die Wünsche der Leute zu reagieren, und nicht mehr auf die Ängste. Um ein Klima zu schaffen.“ Und zwar liefen vor mir im Schrevenpark eine junge Mutter mit ihrem Kind. Das Kind spielte mit einem blauen Ball und drehte ihn zwischen den Händen. Dann sagte es zu seiner Mutter: „Wenn wir Zuhause sind, dann klebe ich goldene Sterne auf den Ball.“ Ich sah auf den Ball und stellte mir goldene Sterne darauf vor, und sie passten wirklich gut dazu. Ich fand, das war eine witzige Idee. Die Mutter hat aber überhaupt nicht darauf reagiert. Sie hat nur Ja Ja gesagt und nicht einmal hingesehen.

Natürlich ist das eine Lappalie, und ich will das auch nicht überbewerten. Aber wenn die Mutter ihr Kind bestärkt hätte oder einfach irgendwas Nettes gesagt hätte, es wenigstens angelächelt hätte, dann hätte es dem Kind bestimmt nicht geschadet. Und es hätte ja auch nichts gekostet. Vielleicht bedeutet in unserer Gesellschaft Glück auch einfach nur die Abwesenheit von Ärger. Die Anwesenheit von Freude scheint dagegen Luxus zu sein.

(2) Mo: Jetzt habe ich mir gestern gleich die neue Bob-Dylan-CD gekauft. He Ozzy, wie findest du eigentlich den Vers „I got my hammer ringin', pretty baby, but the nails ain't goin' down“? Erinnert dich das an etwas? Ich komme heute mit einer Erkenntnis und einer Bitte.

Zunächst die Bitte, es geht um das BLUESLAND. Natürlich, es ist abgebrannt und nicht mehr da. Die Zeit ist vorbei und wir machen heute alle etwas anderes. Aber für viele, und nicht nur für mich, war es ein besonderer Ort. Und es war dadurch auch eine besondere Zeit, denn das BLUESLAND hatte seine eigenen Rhythmen und seine eigene Geschichte, und die existiert in unserer Erinnerung. Ich habe den Wunsch, eure Erinnerungen an das BLUESLAND zu lesen, Ereignisse, Erfahrungen, die Dinge, die euch bedeutungsvoll erscheinen. Dann kann das Haus vielleicht auf eine gewisse Art wieder zum Leben erweckt werden. Tut einem alten Mann den Gefallen und kramt mal ein bisschen in eurem Gedächtnis. Das wäre schön.

Jetzt die Erkenntnis. Ich beginne mit der Aussage, dass es an erster Stelle die religiöse Idee war, die Ozzy und mich miteinander verband. Wir vertraten beide die Auffassung, dass das Ziel des Glaubens Friede und Liebe sei und dass der Glaube unmittelbar mit dem Alltag und mit Handlung zu tun hat. Ozzy steckte das in die Musik und in seine Rolle in der Gesellschaft, während ich eher der Typ bin, der zwar eine positive Ausstrahlung hat, aber eher zurückhaltend ist. Dass mir der Glaube so wichtig war, wusste auch kaum jemand. Man würde das bei einem Tresenmann auch nicht unbedingt so schnell vermuten. Hippies waren wir aber beide.

In letzter Zeit habe ich mich gefragt, wie denn nun tatsächlich die Veränderungen in der Welt sind und sein werden nach dem Elften September. Ich meine, wenn man die Hysterie und die Orientierungslosigkeit mal beiseite lässt, was geschieht derzeit in den Köpfen der Menschen weltweit? Was denken die Leute in Kenia, wo ich geboren bin, in Deutschland, wo ich lange gelebt habe, hier in England, in Afghanistan, in Palästina und Israel, in Amerika und in Russland, in China und in Australien, was geht vor?

Mir kommt es so vor, als formierten sich da ganz neue Fronten, jenseits der Rechten und der Linken und jenseits sogar von Länder- und Kulturgrenzen. Meiner Ansicht nach bekommt die Gerechtigkeitsfrage eine ganz neue Qualität. Nehmen wir die Ermordung des israelischen Tourismus-Ministers vor einigen Tagen. Die Reaktion Scharons war sehr unglaubwürdig. Nach dem Motto: Passt mal auf, wir dürfen eure Terroristen ermorden, aber ihr nicht unsere Politiker, das ist nicht fair. Oder die UNO, die den Friedensnobelpreis bekommen hat für die Summe ihres Versagens seit dem Zweiten Weltkrieg. Die unschuldigen Afghanen, die von den Amerikanern und den Briten in diesen Tagen umgebracht werden, die uneffektiven polizeilichen Maßnahmen in den westlichen Ländern, die Kriegsentschlossenheit der Parteien, der konservativen, der sozialdemokratischen und der liberalen, die Steinzeitsprüche von Berlusconi, das Versagen der Kirchen im Ringen nach einer Stimme, das alles sind nur Beispiele von Ungereimtheiten, die in der Weltöffentlichkeit derzeit verdaut werden.

Mir scheint, die Welt beginnt sich zu teilen in die Leute, die gegen Militärschläge im Allgemeinen sind und die Selbstkritik bei der Debatte zulassen und solche, die den Feind nur außen sehen können und die Kriegsgewalt anwenden, wünschen oder dulden. Viele der armen Menschen auf der Welt denken: „Ach so, ihr wollt jetzt eure Feinde töten, und das nennt ihr dann globale Gerechtigkeit. Und wir bleiben arm, und unsere Regierungen machen da auch noch mit.“ Und viele Unterdrückte denken: „Mir wurde auch Unrecht getan, und ich hatte keine Macht, um mich zu wehren. Jetzt ist mal einer gekommen, der es den Bossen gezeigt hat, ihnen ihre eigene Machtlosigkeit demonstriert hat.“ Das sind Stimmen aus dem Westen genauso wie aus dem Osten oder dem Süden der Welt.

Das sind ganz neue Konstellationen. Ich denke, es wird noch etwas dauern, bis diese Opposition sich formiert, denn sie kann naturgemäß nicht so gut organisiert sein wie etwa Regierungen. Aber sie haben die weitaus besseren Argumente, und diese Chance werden sie sich bestimmt nicht entgehen lassen. Was früher konservativ, liberal und sozialdemokratisch war, erscheint mir heute alles als konservativ. Das bedeutet ja „bewahrend“. Sie bewahren den Zustand und ändern ihn nicht. Man sollte die anderen dann wohl die Progressiven nennen, denn sie wollen weiter und nicht in dem Morast aus Lügen und Ungerechtigkeiten stecken bleiben.

(3) Ozzy: Ich bin froh über den Beitrag von Sven S., der mir den Tag gerettet hat. Endlich mal eine vernünftige Gegenrede, das war ja vorher so langweilig. Ja, das Militär. Welche Rolle spielt das Militär in Utopia? Einen Gedanken möchte ich aber vorausschicken, nämlich, dass die Leute in den 60-er Jahren meiner Ansicht nach noch keineswegs das Ideengut zusammenhatten, um eine auf Love & Peace beruhende Mentalität herauszubilden. Die Musiker vielleicht, weil sie Mittel außerhalb der Worte haben, aber die Intellektuellen der Zeit waren einerseits viel zu verkopft, andererseits noch zu nah am Zweiten Weltkrieg, um ihn bewältigen zu können. Ich glaube, ich spreche hier hauptsächlich von Deutschland.

Der bekannte Hamburger Politiker Klaus von Dohnanyi beendete seinen Vortrag „Verantwortung für die Deutsche Geschichte – Erinnern und Gedenken in der 2. Generation nach Hitler“ zu Ehren der Geschwister Scholl im Februar 99 in der Uni München mit dem Gedanken, dass die zweite Generation nach Hitler die erste deutsche Generation nach der Nazi-Katastrophe zu sein scheint, „die wirklich in der Lage sein könnte, wieder das ganze deutsche historische Erbe anzunehmen und es in einer gefährdeten Welt endlich für Frieden, Freiheit und Menschenrechte mit Nachdruck einzusetzen.“ Ich habe das Skript dieser Rede gesehen, ich halte sie für sehr konstruktiv. Dohnanyi sagt darin auch „Deutsch sein heißt deswegen heute, sich wegen unserer Erfahrung vordringlich und an vorderster Stelle für Demokratie und Menschenrechte in der Welt einzusetzen.“ (S. 36) Er verweist auch auf das Buch der Mitscherlichs „Die Unfähigkeit zu trauern“ von 1967, auf Martin Walser und viele andere.

Ich hatte übrigens Herrn Dohnanyi mehrmals geschrieben, als die Probleme anfingen, ich glaube 1991. Er war damals nicht mehr der Bürgermeister von Hamburg, das war er nur bis 1988. Danach war er mit dem Wiederaufbau Ost betraut worden, wenn ich mich richtig erinnere. Der Bundestag zog auch damals um und alles. Ich fand einiges sehr gut, was er gesagt hatte und wollte ihm zeigen, wie diese Konflikte aus meiner Sicht aussehen, mit meinem Hintergrund.

Nun aber zum Militär oder vielmehr zu Utopia! Ehrlich gesagt habe ich gar kein Utopia. Jedenfalls habe ich nicht das Gefühl, so etwas anzustreben. Ich will eigentlich nur Frieden und ich wüsste nicht, warum es keinen geben sollte. Natürlich gibt es Wege zum Frieden, Wege, die sich von denen unterscheiden, die unsere Regierungen jetzt gehen. Nehmen wir Gandhi! Der hat letztlich zu den Indern gesagt: Okay, wollen wir doch mal sehen, ob ihr mich mehr liebt oder den Krieg. Dann hat er gesagt: Ich esse jetzt nichts mehr solange, bis ihr Frieden gemacht habt. So etwa. Und er war unbestritten einer der erfolgreichsten Politiker des 20. Jahrhunderts. Na gut, man kann seine Mittel extrem und hart nennen, aber es war sicherlich besser, als mit Militär- oder Gewalteinsatz irgendwelche Leute zu killen, um seine politischen Interessen durchzusetzen, wie es die anderen Politiker taten und normalerweise tun. Aber ich würde im Normalfall nicht diesem Beispiel folgen, denn es gibt noch tausend andere Wege, um seine Ziele gewaltlos umzusetzen, bzw. seinen Teil zum Ganzen zu geben.

Kriege gab es immer und Militär auch. Das ist natürlich richtig. Wenn ich, wie Rio Reiser gesungen hat, König von Deutschland wär, würde ich auch nicht als erstes das Militär abschaffen, denn das geht nicht, das ist mir klar. Verwerfen würde ich diesen Gedanken aber sicherlich auch nicht, denn eine Welt ganz ohne Militär ist bestimmt die beste Welt. Was ich aber zu verhindern versuchen würde, ist, dass die Soldaten gerne kämpfen und töten. Ich würde ein Aufklärungsprogramm für Soldaten in Auftrag geben, damit die Leute wissen, was im Zweiten Weltkrieg los war und in den anderen Kriegen der letzten hundert Jahre.

Es ist eine Frage der Verantwortung in den höchsten Staatsämtern. Es muss die Devise gelten: Wir haben Militär, aber wir benutzen es nicht. Das klingt blöd und wird bestimmt die Generäle nicht überzeugen, aber die verantwortlichen Politiker sind weit genug weg, um eine solche Politik machen zu können. Jedes Jahr, das ohne Krieg vergeht, verbessert das Klima. Produktiv ist ja erst das Nichtkriegführen. Militärische Kriege kann man seit der Bombe sowieso nicht mehr gewinnen, auch nicht die Sieger.

Und wieso kann man sich nicht vorstellen, dass die Länder abrüsten? Wegen der Verräter-Theorie? Das scheint mir leicht pessimistisch. Wenn wir uns gut genug kennen, verringern sich die Gefahren, und Vertrauen kann wachsen. Wenn wir die legitimen Interessen der Staaten von den hegemonialen Interessen endlich trennen lernen, glaube ich nicht, dass es so etwas wie Schurkenstaaten überhaupt geben muss. Es ist bestimmt möglich, durch viele kleine Ausgleiche einen großen Ausgleich zu erreichen, der auch die Aggressivität der ärmeren Länder inhaltslos macht.

Einen Plan oder ein Programm für eine bessere Welt habe ich nicht, nein. Ich finde aber auch, die Deutschen rechnen in dieser Hinsicht zu viel. Da könnten sie sich ruhig etwas von den Franzosen abkucken. Manchmal fühle ich mich so, als würde ich eine bessere Welt in mir selbst suchen und auch finden, die mich zu der Überzeugung bringt, dass Love & Peace als Kulturmodell funktioniert, und dass ein solches Kulturmodell auch nachhaltig die Politik verändern kann. Aber nicht durch Regeln oder Forderungen, sondern durch das reine Sein. Kämpfe und Gegnerschaften wird es immer geben, da stimme ich Sven S. zu, es ist nur die Frage, wie wir in diesen Gegnerschaften leben und mit welchen Mitteln wir zum Sieg streben, ob mit dem Militär oder mit Bob Dylan.

(4) Klaus K.: Ich schreibe auf der Lokalseite des HAMBURGER BLATTS und habe vor einiger Zeit eine seltsame Mail von einem Herrn Sunbird erhalten. Ich hatte das zunächst nicht besonders ernst genommen, weil wir schon so einige spinnerige Post kriegen, wie man sich vielleicht vorstellen kann. Ich arbeite hier etwa seit vier Jahren und habe von den Ereignissen, die in der Chronik erwähnt wurden, als junger Studi mitgekriegt, nicht als Journalist. Bei einigen meiner Kolleginnen und Kollegen schien die Nachricht von Ozzy Balou jedoch Emotionen ausgelöst zu haben, um es mal so auszudrücken, und zwar verschiedener Art. Deshalb habe ich die Chronik jetzt gelesen, um mir ein Bild zu machen, und dann habe ich sie noch einmal gelesen, und jetzt schreibe ich.

Das Verblüffende an Ozzys Gedankengängen ist ihre Schlüssigkeit. Die Tatsache, dass die Zeile „Nazi in their heads, Nazi in their beds, and Nazi is the name of their pets“ unter der Oberfläche so viel ausgelöst hat, ist erstaunlich und ich hätte das in unserer doch so aufgeklärten Zeit niemals erwartet. Ich muss aber zugeben, dass die Figur Ozzy Balou mir suspekt ist. Wenn ich ihn mir vorstelle, habe ich ein seltsames Gefühl. Ich habe versucht, dieses Gefühl in seiner Weltsicht bestätigt zu finden und suchte nach Anhaltspunkten in seiner Rede. Aber ich habe keine gefunden. Im Gegenteil, je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto schlüssiger kam es mir vor. Ja, das war schon mein Beitrag. Ich finde die Diskrepanz bemerkenswert zwischen dem Argument seiner Rede und dem Eindruck seines Auftretens.

Redaktion in Kiel, 21.10.01

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