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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Christian H.: Ich studiere Arabisch und bin über Samira T. auf die Chronik aufmerksam geworden. Mir ist dabei das Zitat eines deutschen Islamwissenschaftlers eingefallen, nämlich Navid Kermani. Der spricht in seinem bedeutenden Buch GOTT IST SCHÖN. DAS ÄSTHETISCHE ERLEBEN DES KORAN (1999) unter anderem über Berührungspunkte zwischen dem Bild des Propheten im Islam und dem des Künstlers in der deutschen Genieästhetik. Es geht um Ähnlichkeiten von kreativen und prophetischen Taten, die man zum Beispiel mit dem Begriff der Inspiration fassen kann, der zu beidem gehört. Kermani sagt, der Philosoph Friedrich Schleiermacher habe den Begriff der Kunstreligion eingeführt, um die Durchdringung religiöser und ästhetischer Phänomene deutlichzumachen. Kermani sagt, man könne den Islam auch als eine Kunstreligion sehen, nicht nur als eine Gesetzesreligion. Am Interessantesten fand ich die Bemerkung: „In Europa ist Kunstreligion ein vergangener und zukünftiger Begriff.“ (S. 363)

Navid Kermani war übrigens am 15.01. auch bei uns an der Uni und hat einen Vortrag über sein Buch gehalten. Ich glaube, Nader und Lucian hatten ihn eingeladen. Ich wollte ihn fragen, warum „Kunstreligion“ für ihn ein zukünftiger Begriff ist, aber irgendetwas ging da schief. Als ich jedenfalls gesehen habe, was hier über Kunst und Künstler gesagt wurde und über den Anteil von spirituellen und Glaubensfragen, da musste ich gleich wieder an Kermani denken. (28.10.01)

(2) Simon: Wie gesagt, Ozzy und ich sahen uns am Ende der Hamburger Zeit recht häufig, nicht jeden Tag, aber schon regelmäßig. Ich habe also die Geschichte mit Melanie K. auch miterlebt. Nun ist es also auf dem Tisch. Ich habe Ozzy gefragt, ob ich eine erste Antwort schreiben soll oder ob er sich sofort dazu äußern möchte. Er fand es okay, wenn ich erst mal schreibe, vielleicht ist es besser so.

Tatsache ist, dass Ozzy sich in sie verliebt hatte und dass sie in seine Wohnung zog. Sie suchte eine Bleibe für ein paar Monate und Ozzy hatte Platz genug. Es wurde ziemlich schnell deutlich, dass Ozzy sich verknallt hatte. Sie mochte ihn wohl auch, aber sie hatte auch Angst vor ihm. Am ersten Tag kam sie mit einem Typen in die Wohnung, der über Nacht blieb. Das war schon seltsam, weil sie gesagt hatte, dass sie keinen Freund hat. Nun hat mir Ozzy später aber erzählt, dass er einen Fehler gemacht hat, als er ihr den Schlüssel übergeben hatte, denn er hat den Schlüssel nicht einfach in ihre Hand gelegt, sondern zuerst damit ihre Handfläche berührt. Es war unbewusst, sagt Ozzy heute, aber er glaubt, dass sie vielleicht deshalb Angst bekommen hätte.

Tatsache ist, dass er irgendwann die Kontrolle über seine Gefühle verloren hatte, weil er so verliebt war und von ihr sehr widersprüchliche Signale bekam. Er hat mir gesagt, dass er sie niemals angefasst hat und das kann man ihm wohl glauben. Irgendwann konfrontierte er sie mit seinem Tagebuch und sie konnte nicht damit umgehen. Sie mied die Wohnung und Ozzy kriegte eine Psychose oder so etwas. Es war zu viel für ihn. Die beiden hatten zusammen gekocht und waren auch gemeinsam ausgegangen. Sie verstanden sich wirklich gut und schienen ziemlich auf einer Wellenlänge zu sein.

Aber eines Tages rief er mich an und sagte, ich solle schnell vorbeikommen. Ich fand ihn zusammengekauert auf seinem Futon. Er hatte seine Gitarre ganz dicht an sich gezogen, seinen Teddy und vier oder fünf andere Sachen. Er hatte sich den Aschenbecher aus Melanies Zimmer geholt, um etwas von ihr zu haben. Er sagte, er sitze so schon seit sieben Stunden und sei wie paralysiert. Er schien sich verfolgt und unsicher zu fühlen. Er wusste nicht mehr, was er sich einbildete und was real war.

Er versuchte auch, mit ihr zu reden, im Laufe der nächsten Wochen, und es gab auch Gespräche, aber die Situation wurde immer psychomäßiger, für beide wohl. Es endete damit, dass er sie rausgeworfen hat. Sie wäre sowieso gegangen, aber er hat es ihr gesagt. Natürlich weiß ich mehr Details, aber das reicht wohl erst einmal. Ozzy war in dieser letzten Phase gesellschaftlich fast ganz isoliert, wegen der Entwicklungen des Jahres 92 und schon sowieso, als das BLUESLAND abgebrannt war. Maria und Carl sah er hin und wieder, ansonsten nur mich.

Das war schon alles nicht so schön. Das Schlimmste aber war, als dieser Typ von der städtischen Psychiatrie ständig bei Ozzy aufkreuzte. Der Spruch auf dem Anrufbeantworter, von dem der Polizist erzählt hatte, war nur ein Vorwand. Ich war ziemlich dicht dabei, Ozzy hat nicht aufs Band gesprochen, er wolle ein Haus in die Luft jagen, sondern er sagte, er würde zurückrufen, wenn man ihn bis dahin nicht aus dem Haus gejagt hat, oder so ähnlich. Das war schon ein bisschen quatschig, er war sehr allein und alles. Ich kann auf jeden Fall bestätigen, dass Ozzy nie gewalttätig war in dieser Zeit und sich ständig in die Lage der anderen versetzte. Bestimmt wird er selbst noch Stellung nehmen.

Dieser Psychiater, Paasch, so hieß er wohl, wurde von Ozzys Familie angerufen. Diese Information ist wichtig, aber Ozzy hat gesagt, er möchte nicht gern über seine Familie reden. Paasch erklärte Ozzy, dass er über die Möglichkeiten verfüge, ihn einweisen zu lassen. Es gebe genügend Hinweispunkte, die das rechtfertigen würden. Ozzy war zunächst nett zu ihm, weil er die Situation klären wollte, fühlte sich dann aber zunehmend von Paasch bedroht und ausgehorcht. Ich selbst hatte mehrere Leute gebeten, sich für Ozzy einzusetzen, aber da war nichts zu machen. Wenigstens war er nicht pleite und so verließ er schließlich das Land, denn in Hamburg konnte er erst einmal nichts mehr tun. Ich merke, wie ich beim Schreiben über diese Zeit ein mulmiges Gefühl bekomme. Auch für mich sind das schwere Erinnerungen, die lange vergraben waren.

(3) Mike Roberts: Ich habe gestern von der Chronik gehört. Ich schreibe aus New York. Ich war auch hier, als die Katastrophe geschah. Es war nur drei Häuserblocks entfernt. Ich habe nicht alles aus der Chronik gelesen, auch, weil mein Deutsch nicht mehr so gut ist wie früher. Ich hoffe aber, Sie können meine Mail ins Deutsche übersetzen (Kann ich, der Red.).

Es hatte damals Streit gegeben zwischen Ozzy und mir, das ist richtig. Weihnachten 91 lösten wir unseren Vertrag auf und gaben auch das Projekt der dritten Platte auf. Ozzy hätte ein Weltstar werden können, aber er hat es vorgezogen, seine Leute im Stich zu lassen. Auch seine jetzige Haltung gegenüber Amerika zeigt das: Kulturell stimmt er überein, aber politisch distanziert er sich. Elvis ja, Recht auf Selbstverteidigung nein. Ich melde mich später noch einmal wieder. (28.10.01)

(4) Roger B.: Punk und Rock'n'Roll. Ich möchte direkt auf Dieter Z. antworten, mit dem ich in vielen Dingen übereinstimme. Ja, als ich das gestern gelesen habe, dachte ich: Was unterscheidet uns eigentlich argumentativ? Und es ist gar nicht viel. Im Grunde nur die Frage der Ästhetik.

Marius ist hier öfter genannt worden. Ich denke auch, dass Marius einer der wenigen Rock'n'Roll-Stars in Deutschland war. Ich sage „war“, das ist wahr. Mit 18 rannte er in Düsseldorf rum, dann machte er den Theo-Film, ein echter Klassiker. Und heute ist er eigentlich immer noch der Größte. Doch, ich denke schon. Also PUR ist es jedenfalls nicht. Die Sascha-Bohlen-Scorpions-Fraktion kommt nicht in Frage, auch die Mannheimer nicht. Auch die Onkelz nicht. Wenn man es historisch betrachtet, ist es immer noch Marius. Ich glaube, an ihm sieht man auch ganz gut, was hier in Deutschland falsch läuft, und vielleicht ist das auch ein Punkt, wo Punker und Rock'n'Roller sich treffen können.

Nehmen wie den Klassiker MIT PFEFFERMINZ BIN ICH DEIN PRINZ. Das ist, glaube ich, der Prototyp eines deutschen Rock'n'Roll-Songs. Im dadaistischen Text einige obszön-lustige Anspielungen und Tabubrüche und musikalisch reiner Rock'n'Roll. Klare Rebellion durch Offenheit und Bewegung. Und die dazu gehörige, schon erwähnte Lüge, wird am Schluss ebenfalls mittransportiert: „Glaubst du an den lieben Gott, oder an Guevara? Ich glaube an die Deutsche Bank, denn die zahlt aus in bar.“ So etwas hätte Elvis zum Beispiel niemals gesungen, und doch war es auch bei Elvis da. Ich denke, eine Lüge wird nicht dadurch besser, dass man sie ausspricht. Sehen wir also, was aus Marius heute geworden ist.

Die letzte Großaktion war RADIO MARIA, auch wenn das schon wieder eine Weile her ist. Ich habe ein paar Interviews gehört, in denen er gute Sachen gesagt hat. Die MARIA habe ich mir ungefähr zehn Mal angehört. Ich wollte wissen, was Marius heute sagt. Die Rock'n'Roll-Stücke gefielen mir vom Sound, überhaupt war der Sound gut. Auf die Texte habe ich natürlich sehr geachtet, und ich habe auch fünf Mal zugehört, bevor ich meinen kritischen Apparat eingeschaltet habe. Dann aber fand ich die Texte schlecht. Na gut, dieses „Jesus, spende mir Blut“-Teil und Gott hier und Gott da und so, naja, meinetwegen, mich schockt das nicht. Aber ich habe die Botschaft nicht verstanden. Es ist zu widersprüchlich. Im anderen Lied ist Supermann ein A-Loch, dann atmet er den Dreck tief ein in seinem Revier, dann schwört er auf Boris Becker und irgendsoeinen Fußballspieler. Er singt mantrisch „Liebe ist Macht, Liebe ist Macht“, aber es klingt platt. Dann sagt er, man soll ihn lieben, auch wenn er mal einen Furz lässt. Und man hört sich das alles an und denkt: Ja gut, aber deshalb musst du doch nicht ständig furzen! Meiner Ansicht nach ist diese CD das Ergebnis der Entwicklung aus dem Ich-glaub-an-die-Deutsche-Bank-Teil. Naja, immerhin Rock'n'Roll, wie jetzt auch bei Dylan. Und natürlich bei Thomas Gottschalk, das dürfen wir an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen.

Dass Marius verkannt wurde, sehe ich ein. Er ist groß. Naja, gewesen. Die Parodie von Olli Dietrich bei OLLI, TIERE, SENSATIONEN war aber doch übertrieben. Und zum Elften September hat sich Marius meines Wissens auch nicht groß geäußert, oder hat jemand etwas gehört?

Redaktion in Kiel, 29.10.01

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