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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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Als Redakteur möchte ich heute darauf hinweisen, dass die Leserschaft im Netz in der letzten Woche auf einem Tiefstand war. Ich bin daher auch gefragt worden, ob ich weiterhin bereit bin, das Projekt durchzuführen. Nun, das bin ich auf jeden Fall. Wir scheinen uns da in der Diskussion einigen wichtigen Fragen genähert zu haben. Das finde ich sehr bemerkenswert und interessant. Ich denke nicht, dass die Anzahl der Leser ausschlaggebend ist. Hier sind die sechs Beiträge der letzten zwei Tage:

(1) Autonomer: Ich glaube, Ozzy fängt an, die Presse zu beeinflussen. Auch ich habe begonnen, die Presse etwas genauer zu betrachten und es gibt eine ganz bestimmte Zeitung, die offenbar von Ozzy genervt ist. Weil diese Zeitung mitliest, drücke ich mich da lieber sehr vorsichtig aus. Aber heute war das schon ganz schön auffällig, über welche Themen die geschrieben haben. Das ging direkt an Ozzy, da bin ich sicher. Nein, indirekt natürlich. Da kann man ja das Fürchten bekommen. Aber naja, man kommt um ihn letztlich sowieso nicht herum. Wie real das alles wird!

Ich finde es erstaunlich, dass die Presse so reagiert, weil Ozzy ja nichts als Love & Peace propagiert hat. Jetzt verstehe ich auch, worüber er sich früher so aufgeregt hat. Ja, es gibt hier keine Demokratie. Man hat das ja in den letzten Tagen wieder gut sehen können. Schröder nennt die Ziviltoten „Schäden“. Ich weiß nicht, mit wie viel Menschenverachtung man Bundeskanzler sein kann. Der macht aus den ermordeten Menschen ja weniger als Tiere. Bei Tieren würde man wenigstens noch von Kadavern reden, aber Schäden? Autos haben Schäden oder Telefone. Kanzler manchmal anscheinend auch. Und währenddessen fährt der Thierse auf dem Bagger für die Holocaust-Gedenkstätte. Brrr, da kann einem ja schlecht werden! Jetzt kramen sie die Schuld an den Juden wieder raus und verlagern ihr schlechtes Gewissen.

Aber die Presse schwankt ziemlich. Seit gestern sind sie wieder härter an die Kandare genommen worden, weil der Krieg weitergehen soll. Deshalb werden jetzt wieder Feindbilder aufgebaut und Berichte gemacht über diese Leute, die sich nach dem Märtyrertod sehnen. Und um nicht zu viel vom Versagen der Amerikaner berichten zu müssen, machen sie stundenlange Reportagen über den Gotthard-Tunnel und regen sich auf über irgendwelche Belanglosigkeiten. Krieg und Demokratie sind eben nicht miteinander vereinbar. Heute gibt es in Deutschland eine Zensur. Ich bin sehr froh, dass es Leute wie Ozzy gibt, die Rock'n'Roll machen. Ja tatsächlich, es geht ihnen um die Kritiker, nicht um die Terroristen. Sie denken, sie sind die Guten. Oder sie denken, dass es so etwas wie Gut und Böse gar nicht gibt. Was für ein verlogenes Land, in dem wir leben. Mann, das stinkt ja überall! (30.10.01)

(2) Ozzy: Nachdem einigen Leuten klar geworden ist, dass wir uns in ein politisches Chaos begeben, das von einem Führer und vielen Befehlsempfängern verwaltet wird, bin ich wieder wach geworden. Zwischendurch hatte ich nämlich schon überlegt, ob ich da vielleicht übertrieben hatte in der 14. Nachricht. Nö, hab ich nicht. Den Beitrag des Autonomen habe ich vorab lesen können. Es ist richtig, dass die Öffentlichkeit auf uns reagiert hat. Sie mögen keine moralischen Instanzen.

Die Leute erwarten, dass Wahrheit in komplizierter Rede daherkommt oder durch Gewalt. Seit dem späten Kant ist das so, eher noch seit Hegel. Eine Bürokratisierung von Sprache fand statt und tolle Fremdwörter wurden erfunden. Dadurch wurde die Wahrheit zur Primärquelle nur der Gebildeten, und die stützen das Establishment. Unsere Gesetze sind so kompliziert geworden, dass wir Spezialisten brauchen, um unser eigenes Recht zu verstehen. Die Philosophen und Sozialwissenschaftler und Politologen und Adorno, Habermas, sie schreiben schwierig. Das sollen nicht alle verstehen. Die Leute sollen nicht zu schlau werden oder zu energetisch, weil sie dann durchschauen würden, dass wir in einer Welt der Fassaden leben.

Nehmen wir diese neuen Sicherheitspakete, die da geschnürt werden und keiner kann so richtig reinkucken. Da kann man fast jeden Mist mit reinschmuggeln, das geht in der Komplexität der Sache doch unter. Dann sagen die Chefredakteure zu ihren Befehlsempfängern, dass sie über bestimmte Punkte aus den Sicherheitspaketen nicht so viel schreiben sollen und über andere lieber mehr, und natürlich die Gotthard-Tunnel-Nummer. Mit klaren Argumenten überfordert man die Leute. Denn die Welt der Leute ist nicht so einfach, sie ist sehr kompliziert. Good Golly Miss Molly.

(3) Marion C.: Zum Thema Gewalt möchte ich folgenden Gedanken beisteuern: „Gewalt zerstört Ästhetik“. Mir fiel das gestern beim Malen ein. Es hat ja Leute gegeben, die von einer Ästhetik des Bösen oder so gesprochen haben, im Kuweitkrieg schon, aber auch jetzt wieder. Das ist Quatsch. Schönheit wird von Gewalt immer zerstört, so wie eine Wasseroberfläche nicht ruhig bleibt, wenn man sie berührt. Etwas anderes ist es, wenn Gewalt zum Thema der Kunst gemacht wird. Das geschieht bei vielen Künstlern. Manche meiner Bilder sind wie aufgezeichnete Albträume, ein Verarbeiten von Gewalt, die ich erlebt habe. Vielleicht sind auch einige Nichtkünstler neidisch darauf, dass Künstler sich durch solche Bilder innerlich reinwaschen können. Eines der Gesetze der Kreativität ist für mich, dass man über alles sprechen darf, wenn man es in eine ästhetische Form bringt. Dann denken andere, ach, ich würde auch gerne über meine Probleme reden oder mich darstellen, aber ich darf es nicht, und die darf das, nur weil sie Künstlerin ist. Dabei beweisen die Künstler, dass man selbst die Gewalt durch Kunst überwinden kann.

(4) Mr. Sunbird: Die deutsche Presse ist machtlos gegen den internationalen Rock'n'Roll.

(5) Maja B.: Gewalt zwischen Mann und Frau ist bestimmt eines der wichtigsten Themen im Gewaltdiskurs. Ich bin selbst früher von meinem Freund geschlagen worden, bis ich mich von ihm lösen konnte. Es war im BLUESLAND. Wir saßen an einem der Tische, und er hatte wieder diesen Blick drauf. Er wollte mich zu irgendetwas bringen, was ich eigentlich nicht wollte. Dann spielten sie dieses Lied. Es war SHE'S LEAVING HOME von den BEATLES. Da machte es bei mir Klick. Ich nahm den Ring vom Finger und ließ ihn in sein Bierglas fallen. Ich sagte ihm, dass ich jetzt weggehen würde. Und ich habe es auch gemacht.

Als ich die Berichte über Melanie K. gelesen hatte, war ich erst mal schockiert. Ich dachte: Wie können die über so etwas wie Vergewaltigungen reden? Aber dann habe ich gemerkt, dass es wohl tatsächlich besser ist, über die Dinge zu sprechen, als darüber zu schweigen, wenn sowieso jeder darüber nachdenkt. Und wenn Ozzy indirekt mit Gewaltvorwürfen konfrontiert wurde, dann ist es richtig, wenn er Stellung bezieht. Ich kenne Ozzy jedenfalls so gut, dass ich sagen kann, dass die Vorwürfe lächerlich sind. Man sieht überhaupt an der Kritik Ozzy gegenüber, dass es immer wieder Anspielungen sind, Verdachtsfälle, Meinungen und unbewiesene Aussagen. Im Kern bleibt nicht viel übrig.

Über Gewalt zwischen Mann und Frau wird kaum gesprochen in der Gesellschaft. Es gibt viele Tabus. Viel zu viele. Ich bin bisexuell, das ist auch ein Tabu. Da nützt auch kein Wowereit, die Leute wollen so etwas nicht. Aber für mich ergab sich dadurch der Vorteil, dass ich geschlechtsspezifisches Gewaltverhalten recht gut beobachten konnte. Ich habe sogar die Erfahrung gemacht, dass so gut wie alle Männer und Frauen in Gewaltbeziehungen leben und leben möchten. An den Männern kritisiere ich, dass es noch immer viele gibt, die Frauen bloß als Objekte sehen und viele, die auch über die Grenzen gehen, um eine Frau zu bekommen. Bei den Frauen kritisiere ich, dass sie Männer gerne dazu verführen, über die Grenze zu gehen.

Die Machtspiele zwischen Mann und Frau sind die Keimzelle der Gewalt in der Gesellschaft. Deshalb redet man ja auch so ungern darüber, weil es einem klar macht, dass man in einer autoritären Gesellschaft lebt. Dann wird es lieber heruntergespielt. Ach, das war ja nur Spaß, oder das war nur ein Ausrutscher, ja ja, aber diese Späße und Ausrutscher bilden Präzedenzfälle und Handlungsmuster. Wenn die Frau sich das einmal gefallen lässt, dann wird sie es sich immer wieder gefallen lassen. So habe ich es gelernt. Die Beziehungen in unserer Gesellschaft basieren darauf, dass der eine dem anderen so viel Energie wie möglich wegnimmt. Man profitiert voneinander. Und so gibt man das dann an die Kinder weiter. Aber solange nicht darüber gesprochen wird, solange merken die Leute auch nicht, wie stark sie selbst mit der Gewalt leben, die sie nach außen natürlich vehement ablehnen. Wenn hier manchmal davon geredet wurde, dass es keine richtige Demokratie gibt, würde ich das an dem Punkt festmachen, dass die Leute nicht wissen wollen, ob es gut ist, was sie tun. Das widerspricht dem demokratischen Prinzip. (30.10.01.)

(6) Maria: Nach dem, was ich seit gestern so in der Zeitung lese und im Fernsehen sehe, bin ich ebenso wie einige andere zunehmend alarmiert. Es hatte auch gewisse Details über Ozzy gegeben, die mir nicht so klar waren. Dass die Geschichte mit Melanie K. so krass war, wusste ich nicht. Es kam mir damals nicht so sehr schlimm vor. Ist ganz gut, wenn darüber gesprochen wird. Auf jeden Fall verstehe ich jetzt langsam, warum Ozzys Vers „Nazi in their heads, Nazi in their beds, and Nazi is the name of their pets“ unter der Oberfläche für so viel Bewegung gesorgt hat. Ich meine, wenn ich mir das alles so ansehe, mein Gott, es stimmt ja auch! Es ist schon etwas anderes, ob man darüber redet, dass die deutsche Vergangenheit nicht aufgearbeitet wurde, oder ob man unmittelbar erlebt, was das heißt! Die deutsche Logik ist doch heute: Die Amerikaner haben gegen Hitler gekämpft und gesiegt, also können die Amerikaner nichts mit faschistischen Mechanismen zu tun haben. Es kommt mir vor, als wären die meisten Deutschen wie ein Schwarm Fische, der jede Bewegungsänderung kollektiv durchführt. Es ist offensichtlich, dass das nicht lange gut gehen kann. Völlig verrückt!

Redaktion in Kiel, 31.10.01

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