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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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Mit dieser Nachricht beginnt der dritte Teil der Chronik. Aus organisatorischen Gründen fasse ich je zwölf Nachrichten zu einem Teil zusammen. Hier sind die vier Beiträge der letzten zwei Tage:

(1) Jürgen H.: Ich lese die Chronik seit etwa zwei Wochen und möchte auf Klaus K.s These antworten, nach der es bei der Presse keine Gemeinschaft geben würde. Ich schreibe selbst für eine größere Zeitung. Wenn es innerhalb einer Gruppe nicht zu einem Gemeinschaftsgefühl kommt, dann würde ich das als gruppenspezifisches Verhalten bezeichnen, nicht als Verhalten der Presse. Denn ob wir es nun mit einer Zeitung zu tun haben oder einer Universität, mit einer Familie oder mit einer Regierung, das Gruppenverhalten ist überall ähnlich. Auch nicht nur in Deutschland.

Ich denke, Klaus K. hat nur halb Recht, wenn er sagt, die Presse wäre keine Gemeinschaft. Wenn zum Beispiel der Mitarbeiter einer Zeitung angegriffen wird von einer anderen Zeitung, dann stehen alle zusammen gegen den Feind nach außen und wehren sich. Da kommt dann schnell ein Gemeinschaftsgefühl auf, wenn „jemand von uns“ angegriffen wird. Das Problem der heutigen Zeit ist, dass fast nur durch Feindschaft und Aggressionen ein Wir-Gefühl entsteht. Durch Abgrenzung nach außen. Wer also ein Gemeinschaftsgefühl aufbauen will, schafft das am einfachsten dadurch, dass er einen äußeren Feind aufbaut. Ich spreche dabei nur von Mechanismen, nicht von Gerechtigkeit.

Mit New York ist das kaum anders. Die Amerikaner wurden angegriffen und alle zeigen sich solidarisch. Durch das entstandene Gemeinschaftsgefühl wird der Tod unschuldiger Afghanen nicht mehr zu einer moralischen Frage, sondern zu einer Frage der Gruppendynamik. Daher argumentieren ja die Politiker und die Presse immer wieder damit, dass die Amerikaner angegriffen wurden. Sie sprechen nicht über die Situation in der Welt, sondern über ihr verletztes Ego. Damit erreichen sie eine Gemeinschaft. Der Preis dafür ist der Tod unschuldiger Leute.

Um den moralischen Aspekt zu unterdrücken, wird der Feind entmenschlicht. So etwa, wenn Schröder von „Schäden“ spricht oder „Kollateralschäden“. Oder die übermäßige Betonung von (entmenschlichenden) Begriffen wie „Fanatiker“ und „Terrorist“. Für Einzelpersonen mögen sie passen, als Feindbeschreibung sind sie dagegen höchst suggestiv. Auch mit den Juden im Nationalsozialismus hat man das gemacht. Man hat sie „Ungeziefer“ genannt oder auch „Ratten“. Dann hatte man es nicht mehr mit Menschen zu tun und brauchte nicht so viele Schuldgefühle zu haben.

Tragisch ist, dass diese Gruppen sich alle nach einer Gemeinschaft sehnen und sie sie nicht anders erreichen können. Sie leben im Halbbewusstsein. Es ist immer wieder nur die Angst, die die Leute zusammenschweißt. Um den Zusammenhalt zu erreichen, bilden sie Kollektivängste, in denen sie sich suhlen. Nehmen wir die BILD-Zeitung von gestern. Der Titel war ein riesiges rotes Wort: „Milzbrand“. In den letzten Tagen ist in Deutschland sehr viel über Milzbrand geredet worden. Das soll erstens dazu führen, dass das Volk die Bomben besser akzeptiert, es soll zweitens als Seitenfüller vom Krieg ablenken, so wie auch diese Schäuble-Nummer, drittens ist es aber auch ein ganz armseliger Hilferuf der Gesellschaft. Es hat ja bekanntlich bis zum heutigen Tag keinen einzigen Milzbrandfall in Deutschland gegeben. Aber es kann nicht mehr lange dauern, denn die Presse redet es herbei. So wie Hollywood den Elften September herbeigeredet hat. Unbewusst wollen die Menschen Katastrophen, weil sie keinen anderen Weg sehen, ein Gemeinschaftsgefühl zu erreichen, als über die Kollektivängste. Dass es auch Kollektivwünsche gibt, daran möchte keiner glauben. Es heißt in unserer Branche nicht umsonst, dass nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind.

Gruppengefühl entsteht also durch Ausgrenzung und auf Kosten eines Gegners. Man kann ein Gruppengefühl auch aufbauen, indem man Leute der In-Group feiert, aber das gilt in unserer Gesellschaft als anstößig. Insofern stimme ich zu, dass es hier keine Popstars geben kann. Das wäre ja Personenkult. In der deutschen Kultur und in der Presse ist Personenkult wegen Hitler tabu.

(2) Ozzy: Es war sehr inspirierend, was Maja B. in der letzten Nachricht gesagt hat, und ich würde mich freuen, wenn sie am Fall dran bleibt, da sie gute Arbeit macht. Dass Gewalt immer Gegengewalt erzeugt, wird oft angeführt. Ich halte diesen Satz jedoch nicht für präzise. Wenn man jemanden in der Wüste totschlägt, muss man nicht unbedingt Gegengewalt erwarten. Was ich dagegenstellen würde, ist der Satz: „Gewalt kommt immer zurück“. Mindestens durch ein schlechtes Gewissen. Ich meine, hey, wir haben vom Apfel gegessen. Insofern straft Gewalttätigkeit sich selbst. Für mich gibt es nur eine einzige, ungetrennte und ganzheitliche Welt. Wenn ich mich im Zustand der Liebe befinde, gebe ich diese Liebe unmittelbar in die Welt und verbessere sie dadurch energetisch. Wenn ich Gewalt hineingebe, dann verschlechtere ich sie. Ich tue nicht nur der betreffenden Person Gewalt an, sondern der Welt.

Dann die Metapher Licht-an-Licht-aus, sie ist ganz brauchbar. Es gibt nichts dazwischen, sagt Maja B., und das stimmt, und es stimmt auch nicht. Es gibt dazwischen das, was Maja selbst ausgesprochen hat, nämlich das Flackern. Und das Flackern ist meiner Ansicht nach das, was die Gesellschaft am besten beschreibt. Die Leute kennen die Momente der Hingabe, des Selbstvergessens, des Geben-Wollens. Sie können sie nicht lange halten und sich nicht vorstellen, dass diese Zustände sich intensivieren und verlängern lassen. So flackert die Liebe immer wieder auf, bis man an ein Problem gerät, für das einem mit den Mitteln der Liebe keine Lösung einfällt und zack.

Einer der Gründe, warum mir nicht geglaubt wurde, dass ich aus Liebe spreche, ist meine Wut. Viele Leute kennen nicht den Unterschied zwischen Wut und Hass. Wut ist für sie böse oder Gewalt. Dann halten sie die liebenden Menschen sogar noch für Heuchler und sagen: Ja, die Autoritären stehen wenigstens zu ihrem Hass. Ich habe da die seltsamsten Erfahrungen gemacht. Dann sagen sie: Ja, man muss die andere Backe hinhalten und man muss gelassen sein und nichts darf einem was ausmachen. Reine Unwissenheit. Natürlich können liebende Menschen wütend werden. Und wie! Die Propheten waren wütend, Nietzsche war wütend, Dylan war wütend. Und wie! Natürlich! Übrigens, ist irgendjemandem von Euch in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches am Mond aufgefallen?

(3) Chong: Also ich heiße nicht wirklich Chong, den Namen habe ich mir aus dem Film CHEECH UND CHONG ausgeliehen. Ich bin für die Legalisierung von Cannabisprodukten, ebenso wie die Regenbogenpartei in Hamburg, Teile der FDP und anderer Parteien und Subkulturen. Ich möchte das Argument anführen, dass kein Fall bekannt ist, in dem ein THC-Rausch zu aggressivem Verhalten geführt hat. Bei Alkohol ist bekannt, dass es zu Gewalttätigkeit führen kann, bei Haschisch ist das nicht der Fall. Auch sterben bei Alkoholkonsum die Gehirnzellen ab, das ist bei Haschisch nicht der Fall. Wenn man sich ansieht, wie viel in Deutschland gesoffen wird, ist das schon eine ganz schön verlogene Diskriminierung. Bier wird ja von vielen auch als flüssiges Brot bezeichnet. Ich meine, nichts dagegen, sollen sie trinken. Aber ich mag kein Bier und möchte mich trotzdem aufheitern. Wenn ich aber in der Kneipe einen Joint anmachen würde, dann würde man mich beschimpfen und bestrafen. Das ist ungerecht.

Das ist ja auch eines der Vorurteile gegen den Orient. Irgendjemand hat mir mal auf einer Party erzählt, dass sich die Drogen der verschiedenen Gesellschaften auch auf die Architektur ausgewirkt haben: Die orientalische Architektur bevorzugt runde Formen, die europäische bevorzugt eckige Formen. Also mir gefallen die runden Formen besser.

Über den Zusammenhang von Rausch und Kreativität weiß ich nicht sehr viel, aber ich bin BEATLES-Fan und habe viele Interviews gelesen, auch neuere. In der großen Videodokumentation sagt Ringo: „Grass was influential, especially for the writers“. Auch die anderen BEATLES sprechen heute offener darüber, um zu zeigen, dass das eben ein Teil des Ganzen war. Und wer SERGEANT PEPPER liebt, sollte tolerant genug sein, um es den BEATLES zu gönnen. Wären sie Alkoholiker gewesen, wären sie mit so etwas nicht konfrontiert worden. Stellen Sie sich mal vor, Harald Juhnke wäre ein Kiffer.

Es wird immer wieder das Argument der Einstiegsdroge genannt. Und es stimmt auch, solange Cannabis verboten ist, gelangen einige Konsumenten an den Punkt, wo sie noch verbotenere Sachen ausprobieren wollen. Wenn man aber Cannabis da kaufen könnte, wo man auch Schnaps kaufen kann, fällt das Argument schon weg, bzw. es verteilt sich dann gleichmäßig auf beide Drogen, denn natürlich kann auch Alkohol eine Einstiegsdroge sein. Die Tabuisierung von Cannabis ist für mich eine gesellschaftliche Repression und ein Paradebeispiel für die Intoleranz und Scheuklappenmentalität in unserem Land.

(4) Marion C.: Ich finde viele anregende Gedanken in diesem Gespräch und melde mich deshalb schon wieder. Ich habe noch einmal nachgedacht über den Zusammenhang von Gewalt und Kunst. Kunst ist oft gewaltig. Kunst hat manchmal gewaltig etwas zu sagen. Wer nicht weiß, was Gewalt ist und wer vor Kunst Angst hat, weil sie frei ist, der mag „gewaltig“ und „gewalttätig“ verwechseln, vor allem dann, wenn er es möchte.

Wenn ich vorher davon gesprochen habe, dass Gewalt Ästhetik zerstört, dass aber Gewalt auch in der Kunst überwunden werden kann, dann möchte ich hinzufügen, dass viele Künstler über die Anfangsphase ihres künstlerischen Daseins nicht hinauskommen, weil sie – nach meiner Erfahrung – zuerst ihre eigene Gewalt abarbeiten müssen, durch Albtraumkunst. Ist das geschehen, werden die Künstler immer zahmer. So war es jedenfalls bei mir. Meine ersten Bilder waren sehr erschreckend für viele. Ich malte gebärende Frauen mit fürchterlichen Fratzen und Menschen mit heraushängender Zunge. Ich stehe dazu. Ohne diese Bilder hätte ich nie SONNENAUFGANG IM SINAI malen können, mein schönstes Bild. Ich musste da erst durch. Ich glaube, es ist gut, wenn Nichtkünstler mal etwas darüber hören, wie Kunst funktioniert, welche psychologischen Momente dahinterstehen. Denn es gibt Kunst. Kunst ist nicht etwas Abstraktes, das in Museen steht, sondern etwas Vitales, das in die Gesellschaft wirkt und wirken soll. Gegenwelten, ja, oft sind es Gegenwelten.

In den letzten Jahrzehnten hat sich doch die offizielle Kunst sehr weit vom Volk entfernt. Man geht in eine Ausstellung von jungen Künstlern und sieht, wie sich jeder darstellen will und etwas sagen will, aber das meiste versteht man nicht. Und viele Künstler sagen auch, dass es ihnen nicht darum geht, verstanden zu werden, oder etwas auszusagen. Vieles scheint mir nihilistisch, ich sehe die Mängel nicht nur bei den Nichtkünstlern. Das Wort „Botschaft“ ist hier manchmal gefallen. Ich denke, dieser Begriff ist ebenfalls subversiv. Eine Botschaft zu haben oder anzunehmen, scheint etwas Anrüchiges zu sein, etwas sehr Ungewohntes. Die Kirchen dürfen das, aber die werden auch nicht besonders ernst genommen. Vielleicht hat das ja dazu geführt, dass auch einige Künstler irgendwann gedacht haben: Okay, verzichten wir lieber auf Botschaften. Die kommen sowieso nicht mehr an, und man macht sich auch noch fast strafbar damit. Könnte so gelaufen sein. Schließlich noch eine Frage an Maja B.: Was kannst du eigentlich aus der Erfahrung sagen über das Verhalten zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren? Ist das so wie zwischen Mann und Frau oder ganz anders?

Redaktion in Kiel, 04.11.01

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