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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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Auf Ozzys Beitrag in der letzten Nachricht gibt es vier erste Antworten, die hier leicht gekürzt wurden. Die anderen drei Beiträge liegen bereits seit einigen Tagen vor.

(1) Jens K.: Es ist schwer, sich jemanden vorzustellen, der seit Jahren ein intensives Gespräch mit der Gesellschaft führt. Wie mag man sich fühlen, wenn man für die Ewigkeit lebt? Das ist keine Kritik, ich frage mich das aus Neugier. Wie gesagt, ich kenne Ozzy über den Song EVERYBODY TO BE FREE. Sein letzter Beitrag passt zu dem Song. Ozzy ist einfach so. Ich kann es ihm nicht verübeln, dass er seine Kraft zurückfordert und dass er auf seinen Platz gehen will. Als er damals seinen Auftritt im Fernsehen hatte, hatten sich viele darüber gewundert, dass es danach nicht richtig weiterging. Ich hoffe, er schafft es, dann wird er wieder Lieder schreiben, Platten machen und auftreten.

Der provozierendste Punkt seiner Rede ist wahrscheinlich gar nicht mal die Kritik an der Gesellschaft und am Establishment, sondern die Worte „Ich liebe mich“. Da habe sogar ich einen Schreck gekriegt. Das klingt sehr seltsam. Selbstverliebtheit hat keinen besonders guten Ruf. Sara und ich haben gestern den ganzen Abend darüber diskutiert. Wir hatten beide ein komisches Gefühl bei diesem Gedanken. Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben, Gegenargumente zu finden, aber ohne Erfolg. Wir kamen zu dem Schluss, dass man „Ich liebe mich“ nicht sagen darf. Aber dass es hundertprozentig zutrifft, was Ozzy gesagt hat und dass wir zwei Karten für sein nächstes Konzert reservieren lassen möchten.

(2) Carl: Es scheint so, als würden die Konstellationen von vor zehn Jahren auf einer höheren Ebene wiedererscheinen. Wie gesagt, Ozzy und ich hatten immer einen guten Draht und wir haben ein kleines Leben zusammen geführt. Manchmal, wenn nichts los war und wir uns amüsieren wollten, sind wir in den Probenraum gegangen mit drei vier Leuten und Ozzy hat gesagt, ich soll spielen. Ich setzte mich ans Schlagzeug und spielte Solos. Ozzy hat dazu getanzt. Manchmal war noch ein Bass dabei oder eine E-Gitarre. Ozzy tanzte allein oder mit einem Mädchen. Es war laut. Es war irre. Und Ozzy konnte lange durchhalten. Der Mann hatte so viel Energie wie ein Atomkraftwerk.

In diesen Dingen verstanden wir uns prächtig. Irgendwann kam die Frage, wie weit wir kommen konnten und Ozzy war da sehr zuversichtlich. Maria und ich eigentlich auch, aber wir hatten auch Zweifel. Wir hielten diese Zweifel für Realismus. Oliver und vor allem Michael glaubten ebenfalls, dass wir die internationale Ebene erreichen konnten, aber sie machten sich zunehmend Sorgen um das Image der Band. Da waren sie mit dem Colonel einer Meinung. Keiner wollte Retortenmusik, das ist klar, aber sie konnten einfach politisch einige Sachen nicht mittragen, die Ozzy in seiner Musik und seinem Leben vertrat. Damals war das noch nicht so formuliert, es spielte sich eher auf der persönlichen Ebene ab. Im Rückblick aber würde ich sagen, es waren politische Differenzen, und wenn wir das damals schon so hätten sehen können, dann hätte es vielleicht andere Möglichkeiten für uns gegeben, uns zu einigen.

Letztlich konnten wir wahrscheinlich alle nicht akzeptieren, dass Ozzy einfach anders ist als wir. Selbst seine Freunde. Das Andere ist immer irgendwie verdächtig, weil man es nicht richtig einordnen kann. Was ich nicht verstehe, will ich nicht unterschreiben. Ich habe auch erst jetzt das Gefühl, ihn langsam zu verstehen. Als wir so nah zusammen waren, war er ja so wie wir. Er wollte Spaß, Arbeit und Leute um sich. Und er ist ja auch ganz normal. Gleichzeitig aber eben auch anders. Auch wenn ich Drummer der BULLETS war, hatte ich nicht so sehr das Gefühl oder das Bedürfnis, für die Gesellschaft zu arbeiten. Nicht in dem Sinne wie Ozzy. Ich kann mir die Gesellschaft gar nicht so plastisch vorstellen oder als Einheit verstehen. Ich kann mir aber vorstellen, dass man so denken kann. Mir werden einige neue Zusammenhänge klar. Ich sehe auch zum ersten Mal deutlich, dass Ozzy ... anders ist.

(3) Roger B.: He Ozzy, ich glaube, mit deinem letzten Teil hast du es geschafft, dass deine Kritiker erst mal Pause haben. Also mir hats gefallen. Aber ich bin auch Punker. Ach so, Marius hat sich ja zu Wort gemeldet inzwischen. Er hat auf dem Presseball der Frau des Bundeskanzlers ein Küsschen gegeben, was der Kanzler gern gesehen hat. Dann kann man den ja zu den Akten legen, ich bin auch für klare Verhältnisse. Vielleicht spielt Ozzy ja auch mal ein Punkstück, ich komme bestimmt zu dem Konzert. Punk-Blues. Und ich bringe dann auch noch ein paar Leute mit.

Wenn man den Begriff des Stars neu definiert, kann man bestimmt auch die Leute wieder zusammenbringen. Frau Lörcher jedenfalls aus der SPD, die sich der Gehorsamsfrage nicht unterzogen hat, ist ein Star. Man möchte fast von Heldentum sprechen, wenn das nicht auch ein Tabu wäre. Heldentum ist nur den Soldaten erlaubt, den Konservativen also. Und bitte auch nur heimlich. Progressive Helden, ja das klingt sehr gut und gefährlich. Darf ich so etwas überhaupt denken?

Zu den Stars möchte ich noch anmerken, dass nicht Jimmy oder Elvis die ersten waren, sondern Chaplin. Als er in den 20er-Jahren nach England zurückkam, nachdem man ihn überall auf der Welt auf meterhohen Bildschirmen gesehen hatte, wurde er empfangen, als wäre er ein Teil von jeder englischen Familie. Natürlich, seine Figur war nicht der Rock'n'Roller, sondern der Tramp, ein leiserer Rebell, aber auf jeden Fall ein Rebell.

(4) Maria: Was tun? Ja, ich verstehe langsam, dass man das in jeder Situation fragen kann. Es ist egal, was du tust, da kann immer jemand fragen: „Was tust du eigentlich?“ Was akzeptiert der Fragende denn überhaupt als Handlung? Er kann sich darauf zurückziehen, dass er die Handlungen des Befragten gar nicht anerkennt. Oder nicht erkennt. Ozzy wirkt auf viele Leute, aber sie können es leugnen und weiterfragen, was er denn überhaupt mache. Solange, bis es zu viele geworden sind. Das wäre dann so, als würde ein meterlanges Urzeitkrokodil über die Fußgängerzone laufen und alle würden so tun, als bemerkten sie es nicht. Es wäre absurd. Das ist doch real, was ich da sage?

Ich kenne Ozzy lange und wir waren ein Paar. Es hatte immer Punkte gegeben, die ich nicht verstehen konnte. Wo er anders war. Nicht schlecht anders, einfach anders. So, wie sich Ozzy entwickelt hat, wird mir das deutlicher. Ich hatte noch nie Angst vor Ozzy, aber ich weiß, dass viele Angst vor ihm hatten. Damals hatte ich das Gefühl, als gäbe es auch jedesmal einen Grund, wenn jemand vor ihm Angst hatte. Bis heute kann ich nicht genau sagen, wie er fühlt. Ich weiß, wie er fühlt, aber nicht, wie er der Gesellschaft gegenüber fühlt. Er geht mit einem Kollektiv so um wie mit einer Person. Ich kann das formulieren, weil ich auch gesehen habe, wie er seine Songs schreibt, aber richtig nachvollziehen kann ich es nicht. Das ändert aber nichts zwischen uns.

(5) Gerhard Richter: Was für eine Überraschung, von so vielen alten Bekannten und Freunden auf einmal zu hören! Ich grüße euch von meinem Alterssitz in Frankreich, den Claudette und ich seit acht Jahren bewohnen. Als ich von der Chronik hörte, war ich im Begriff zu verreisen. Ich habe mir daher die ersten 30 Nachrichten ausgedruckt und als Reiseleküre mitgenommen. Das sind sehr viele Eindrücke, und sie schrecken mich fast auf, der ich mich seit Jahren ins Privatleben zurückgezogen habe. Naja, fast.

Als das BLUESLAND abgebrannt war, war das für mich weniger tragisch, als ich es selbst vermutete. Ich hatte das Gefühl, als wäre die Zeit des BLUESLAND sowieso abgelaufen. Das klingt seltsam hart, aber so fühlte ich damals. 1992 war kein gutes Jahr mehr für den Laden. Das lag nicht einmal an den sozialen oder politischen oder musikalischen Entwicklungen, es war eine Eigendynamik. Das BLUESLAND hatte ungefähr die gleiche Lebensdauer wie die BEATLES. Ein paar Jahre länger. Das Schlimmste war, was Mo zugestoßen ist. Ohne Mo hätte es das BLUESLAND nicht gegeben, er hat es spirituell zusammengehalten. Sogar ohne etwas Bestimmtes dafür zu tun.

Mein Leben ging zu dieser Zeit bereits in eine neue Richtung. Im August hatte ich Claudette kennen gelernt, eine Touristin aus Frankreich. Sie fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, in Frankreich zu leben, und als ich darüber nachdachte, kam mir der Gedanke mehr und mehr wie eine Erleichterung vor, denn ich war schon lange in Hamburg, und es ging nicht richtig weiter. Als dann der Brand geschah, ist die Idee schnell zum Plan geworden. Ich hatte kein Geld verloren, weil das Gebäude gepachtet war und das Interieur versichert. Wenn es nicht so gekommen wäre, hätte ich das BLUESLAND wohl irgendwann an jemand anderen weitergegeben. Es lief ja auch finanziell nicht schlecht, auch in der letzten Zeit, nur der Glanz war nicht mehr da.

In Frankreich haben wir übergangslos ein neues Leben angefangen. Claudette und ich machten eine Weltreise und ließen uns dann in der Nähe von Aix-En-Provence nieder. Wir haben einen Jungen, Sebastian, der ist acht. Ich hatte relativ wenig Kontakt zu den Hamburger Leuten. Es ist schön, dass ihr noch da seid. Meistens beschäftige ich mich mit dem Garten oder mache etwas am Haus. Ich habe auch ein Buch geschrieben und schreibe hier und da mal einen Artikel für eine Zeitung oder Zeitschrift. Claudette ist Mode-Designerin. Wir verreisen gern, essen gern, leben gern. Letzten Sommer haben wir uns eine Olivenpresse gekauft, jetzt stelle ich Olivenöl her. Gerade komme ich aus Italien, wo ich Öl verkauft und Oliven bestellt habe. Es ist ein Hobby. So ganz ohne Bewegung kann ich nicht. He, warum kommt ihr uns nicht mal besuchen, dann machen wir ein BLUESLAND-Revival. Wie wärs nächsten Sommer? Hier ist viel Platz, wir können eine Woche lang Party machen, das würde mir gefallen. Ich koche auch für euch. Aber nur, wenn ihr Musik macht.

Am Elften September habe ich nicht sofort ans BLUESLAND gedacht, so wie andere. Aber ich verstehe irgendwie, warum es Ozzy wieder nach Deutschland geführt hat. Es war eine schwierige Situation damals. Vielleicht schreibe ich später mal meine Sicht der Dinge, ich muss mich erst einmal daran gewöhnen, dass ihr alle wieder so nah seid. Salut.

(6) Enno: Hallo, ich bin Enno. Ich wohne in der Kottwitzstraße und war damals ein guter Kumpel von Ozzy. (Hi Ozzy!) Ich wollte nur mal kurz auf das antworten, was Onkel Solms über unsere Aktivitäten auf dem Kinderspielplatz gesagt hat. Es war nämlich so, dass ich auf dem Dachboden meine alte Marmelsammlung wiedergefunden hatte, als Ozzy mich gerade besuchen kam. Da sind wir dann raus und haben ein bisschen gespielt. Es war aber abends und da waren überhaupt keine Kinder. Naja, und da dachte ich, weil es so nett ist, naja, und da habe ich einen gerollt. Dass ausgerechnet da eine Streife vorbeikam, war ein sehr unglücklicher Zufall. Und mit dem Roulette, meine Güte, wir kamen mit ein paar Jungs zusammen und da hat sich das so ergeben. Wir haben aber bestimmt nicht um hohe Einsätze gespielt, das war mehr zum Spaß. Wir haben doch keinem was getan damit. Die sollen sich nicht immer so anstellen!

(7) D. Hofstaedter: Hier wird mit den Begriffen Konservatismus und Progression gearbeitet. Ich bin Psychologe an der Uni Gießen. Wir haben dort ein Projekt „Trance-Forschung“. Ein Freund aus Hamburg hat mich auf die Chronik aufmerksam gemacht. Es gibt einiges, was ich zum Thema Ekstase und Rausch beitragen kann, aber heute interessiert mich das oben genannte Begriffspaar.

Man kann „Konservatismus“ und „Progression“ auch psychologisch deuten, nämlich als den Teil in uns, der sich an dem Bestehenden festhält und den Teil, der Bewegung und Veränderung wünscht. Insofern bin ich der Ansicht, dass nicht nur das Begriffspaar „Links“ und „Rechts“ obsolet geworden ist, sondern dass man überhaupt die „Gegenpartei“ immer auch in sich selbst suchen muss, um Situationen zu verstehen. Würden sich einfach neue Lager bilden, verschiebt sich das Problem nur. Das Denken in Lagern hat seine Gefahren. Dass man nämlich doch nur nach dem Alter Ego sucht, dem man die Schuld geben kann für sein eigenes Fehlverhalten. Selbst wenn man Progressiver ist.

Wenn es Konservatismus und Progression in der Gesellschaft gibt, dann heißt das auch, dass es die beiden in jedem Einzelnen gibt, mit jeweils unterschiedlichen Gewichtungen natürlich. Die Bewusstmachung dieser Tatsache ist wichtig, weil sie zeigt, dass wir unter einem gemeinsamen Dach leben. Wenn man sich darüber klar ist, dass der Andere aus denselben Umständen heraus entstanden ist wie man selbst, kann man ihn auch akzeptieren. Vielleicht gibt es Polarisierungen, aber dann gibt es sie nicht nur in den Gruppen.

Redaktion in Kiel, 24.11.01

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