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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Oliver: Ich frage mich, ob Ozzy nicht eher selbst solange provoziert, bis er nicht mehr in der Gruppe bleiben kann, das war doch damals auch so. Warum hat er es auf die Spitze getrieben? Wir hatten wirklich gute Zeiten mit den BULLETS und wir waren eine bekannte Band. Michael und ich dachten zwar auch, wir könnten die internationale Ebene erreichen, aber nicht mit Songs wie WHAT A LIFE. Ich meine, wenn du singst: „Nazi in their heads, nazi in their beds and nazi is the name of their pets“ und das assoziativ mit einem „Northland“ in Verbindung bringst, wie willst du dich da etablieren? Etwas Vergleichbares haben die BEATLES jedenfalls nicht gesungen, Elvis sowieso nicht, Frank Zappa vielleicht.

Außerdem blieb für uns die Frage im Raum stehen, ob wir wirklich so gut waren, beziehungsweise, ob Ozzy wirklich so gut war. Er war von sich überzeugt, gut, er ist es heute noch, auch gut, aber viele Musiker sind von sich überzeugt und denken, sie haben das Licht gesehen. Ich habe Dutzende kennen gelernt. Es gibt viele Leute, die hundert Songs geschrieben haben, es gibt auch einige deutsche Bands, die den nationalen Erfolg geschafft haben wie wir und die dann relativ schnell wieder verschwunden sind. Die Branche kennt das Phänomen. Es ist klar, dass Ozzy enttäuscht darüber ist, nicht mehr erreicht zu haben, weil er auch so voller Leben ist, aber es gibt nun einmal Realitäten, und wenn Ozzy die verdrängt, dann holen sie ihn irgendwann mit aller Härte ein. Das sagt er ja auch selbst. Ich bin immer noch der Ansicht, dass Ozzy zu viel erwartet hat, auch, dass er zu viel Liebe erwartet hat.

Bei all dem finde ich trotzdem gut, was Carl gesagt hat, dass es sich nämlich um eine politische Auseinandersetzung gehandelt hatte, die emotional ausgetragen wurde. Ja, ich glaube, das kann man so sagen. Wobei es genauso an Ozzy lag wie an uns, denn Ozzy hat oft emotional argumentiert. Als wir ihn fragten, warum er denn auf bestimmte Textzeilen besteht, hat er es mit seinem Gefühl begründet und mit seinem berühmten „Is eben so“. Ich denke sogar, ich kann wieder mit Ozzy reden, allerdings im Augenblick nicht. Er sondert sich ja gerade wieder selbst ab. Ich finde, Ozzy sollte ruhig auch dazulernen. Wenn er bereit ist, darauf zu verzichten, der Mittelpunkt der Welt zu sein, sehe ich da mittelfristig keine Schwierigkeiten.

(2) Sibylle J.: Schön, dass Ozzy nur Dinge tut, die er liebt. Das ist auch mein Ziel. Ich bin davon aber noch ein ganzes Stück entfernt. Ich muss nämlich mit irgendwas das Geld zum täglichen Leben verdienen. Von dem, was ich liebe, kann ich mich nicht ernähren. Meine Jobs sind okay, machen z.T. auch Spaß, aber ich mache sie nicht wirklich aus freien Stücken, und so gesehen geht dann doch ganz schön viel Zeit drauf.

Jens' Beitrag zum Thema Eigenliebe aus der letzten Nachricht ist interessant. Es scheint wirklich nicht normal zu sein, „Ich liebe mich“ zu sagen. Und das in einer Zeit, in der es normal und sogar gefordert ist, zuerst an sich zu denken und dann an die anderen. Es ist schon grotesk, dass viele Leute sehr egoistisch sind und sich trotzdem (oder gerade deshalb?) nicht lieben. Mir fällt dazu ein Bibelzitat ein, das wohl jeder kennt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (3. Mose 19, 18)

(3) Mo: „Ich denke, dass gewaltloses Denken erst dann richtig greifen kann, wenn die Kulturen sich kennen lernen. Wir leben ja erst seit wenigen Jahren im globalen Dorf. Es ist wohl doch auch eine didaktische Frage. Es hat mit lernen zu tun. Bekanntlich lernen die Menschen nicht gern, egal in welchem Land. Es gibt immer Leute, die gerne lernen, aber die Mehrzahl der Leute eher nicht. Gewaltlosigkeit erfordert Wissen, Wachsamkeit und Fantasie. Es ist Arbeit. Dennoch, in diesen Zeiten wächst das allgemeine Bedürfnis, die Welt zu verstehen, bei mir genauso wie bei anderen. Es gibt auch – trotz aller Propaganda und Solidarität – mehr substanzielle Debatten von Politikern. Wahrscheinlich einfach deshalb, weil es auch mehr substanzielle Probleme gibt. Beide sehen sich in der Verantwortung, Konservative und Progressive, und obwohl das Verhältnis (noch) asymmetrisch ist, hat die große Debatte bereits angefangen. Das sehe ich schon an mir selbst: Ich habe selten so viel geschrieben wie in den lezten Wochen. Dass soziologische Diskurse nicht so meine Sache sind, kann ich wohl inzwischen nicht mehr behaupten. Ich träume auch viel und schwer seit einiger Zeit.

Den Beitrag von Uschi T. über die Werbung fand ich interessant. Das ganze Phänomen Werbung scheint nach dem Elften September in einem anderen Licht zu stehen. Auf der einen Seite gibt es das menschliche Bedürfnis nach einer heilen Welt, das jeder hat, und das in der Werbung einen Ausdruck findet. Auf der anderen Seite ist da die Gefahr, dass die Leute sich in Oberflächlichkeiten bewegen und die Wahrheit nicht hören wollen. Unsere Fernsehgesellschaft ist ja prädestiniert für die Verdrängung, weil wir fast nur in Programmen denken, also äußeren Vorgaben folgen, und uns nicht unbedingt dafür interessieren, wie die Welt beschaffen ist. Die Werbung lässt uns kritiklos werden. Wir bekommen Ziele vorgegaukelt, die wir zu kennen scheinen, aber sie werden uns durch die Brille der Konsumgesellschaft vordekliniert, es steht eine Absicht dahinter, eine Art Zwang wird auf uns ausgeübt. Wir denken in den Kategorien der Werbung, wo die Welt in Ordnung ist, und viele Leute können schon gar keine Kritik mehr vertragen und verweigern das Gespräch. So wie in der 28. Nachricht der Kollege des Zivis Tarek B.. Er ist der Konfrontation ausgewichen, um über bestimmte Dinge nicht nachdenken zu müssen. Letztlich zu seinem eigenen Schaden, denn er wird in ähnliche Situationen kommen und auf ähnliche Art öfter Freunde verlieren. Manche Leute finden erst dann wieder zum wirklichen Gespräch, wenn sie keine andere Wahl mehr haben. Im Extremfall nach dem Motto: Gewalt meinetwegen, Kritik bitte nein. Ich sage das nach tausenden Gesprächen am Tresen vom BLUESLAND. Heute gehöre ich zu denen, die sagen, dass die Dinge ausgesprochen werden müssen. Denn das Beste, was man der gesellschaftlichen Diskurslosigkeit gegenüberstellen kann, ist ein Diskurs.

(4) E. Solms: Wenn man mitbekommen hat, was damals in Hamburg passiert ist und auch die Geschichte mit Melanie K., dann liest man Ozzys Sprüche wahrscheinlich anders, als wenn man ihn gar nicht kennt. Ozzy wird nicht so dumm sein zu glauben, dass man ohne Führungsansprüche irgendetwas durchsetzen kann. Deshalb halte ich es für verlogen, wenn er sagt, er sei kein Führer. Nutzt er nicht nur den schlechten Beigeschmack aus, den das Wort in der deutschen Sprache hat? Ich lese daraus jedenfalls einen Führungsanspruch. Wenn Ozzy sich dazu bekennen würde, würde das vieles erleichtern. Dieses Anders-Sein scheint mir daher eher eine Masche zu sein. Ozzy sollte auch bedenken, dass es genau die real existierende Demokratie ist, die es ihm erlaubt, überhaupt so offen zu sprechen.

(5) Christel H.: Ich verstehe nicht ganz, was das heißen soll, dass Ozzy in dieser Gesellschaft nicht frei sein kann. Er ist doch frei, zu tun, was er will. Ich meine, dann gründet doch wieder eine Band und übt ein paar Stücke ein. Ich könnte mir gut vorstellen, dass das alles gar nicht so kompliziert ist. Auch für Rebellen gibt es doch einen Platz. Für mich klingt das alles irgendwie ganz normal. Ein echter Künstler leidet eben auch. Das gehört dazu. Deshalb denke ich, dass Ozzy seinen Platz sowieso schon gefunden hat. Er sagt ja auch selbst, dass es ihm egal ist, ob er die Erkenntnis aus der Erfüllung oder aus der Entbehrung bekommt. Worüber beklagt er sich dann? Und wo ist dann die Ausgrenzung?

(6) Simon: In der Augsburger Puppenkiste gibt es eine Figur, die umso größer wird, je weiter sie sich vom Betrachter entfernt, und die kleiner wird, wenn sie näher herankommt. So ähnlich ist es mit Ozzy auch. Er wohnt jetzt schon eine Weile bei Maret, Nina und mir und wenn Maret nicht wüsste, dass Ozzy ein lauter Rock'n'Roll-Frontmann ist, hätte sie es wohl nie vermutet.

Als Nina zur Welt kam, hatte ich zum ersten Mal wirklich das Gefühl, dass mein Leben einen Sinn hat. Ich hatte vorher keine Vorstellung davon, wie es ist, wenn man einen Menschen vor sich hat, der von einem selbst abstammt. Und wenn man stirbt, bleibt etwas von einem in dieser Welt zurück. Man stirbt gar nicht richtig.

Konservatismus ist meiner Ansicht nach zum Teil auch nur die Angst vor dem Tod. Was bewahrt der Konservatismus? Die jetzige Ordnung. Es hat bestimmt mit dem Wunsch nach der Ewigkeit zu tun. Man will alles bewahren, man häuft Dinge und Besitz an, um den Schein zu wahren, dass es den Tod vielleicht doch nicht gibt. Den Wunsch nach der Ewigkeit hat ja nicht nur Ozzy, sondern den haben wir alle. Ich habe jetzt lange und ausführlich mit ihm über dieses Thema geredet und er hat mir die buddhistische Auffassung vom Leben und Sterben vermittelt, die ihn selbst am meisten geprägt hat, wie er sagt. Als ich ihn nach einem Buch fragte, nannte er Sogyal Rinpoche: DAS TIBETISCHE BUCH VOM LEBEN UND VOM STERBEN, das ich gerade lese. Der Dalai Lama hat das Vorwort geschrieben. Es ist eine umfangreiche und gut geschriebene Einführung in die Thematik für westliche Leser und beeindruckt mich.

Dass der Tod in unserer Gesellschaft tabuisiert wird, führt dazu, dass man nicht nur seinen eigenen Tod verdrängt, sondern auch dem Tod anderer Leute mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenübersteht. Das sieht man auch in Afghanistan. Man spricht von insgesamt 2000 Toten bei der Einnahme von Kabul. Und von Kundus hört man auch, dass es keine Vergnügungsveranstaltung gewesen ist. Schon im Golfkrieg benutzten die Amerikaner diese Abstraktionen wie die vom „chirurgischen Eingriff an der Lebensader“ und man sah auch damals schon diese Bombe-trifft-genau-das-Ziel-Videos, als wäre es ein Computerspiel und nicht der Tod von Menschen. Unser eigenes Unverständnis vom Tod macht solche Grausamkeiten hoffähig. Deshalb ist es auch wichtig, dass man das Leid und den gewaltsamen Tod von Unschuldigen für die Mächtigen sichtbar macht, ihnen zeigt, was sie da anrichten, und welche Schicksale dabei zerstört werden. Das gilt für die New-York-Attentäter genauso wie für die Kabul-Attentäter. Ich glaube, es war der deutsche Außenminister, der sagte, man dürfe die Afghanistan-Mission nicht auf das Streubomben-Argument reduzieren. Aber dadurch, dass die Weltgemeinschaft solche Waffen toleriert, gewinnen die Amerikaner an Macht. Sie sagen damit praktisch: Seht her, wir können sogar Streubomben einsetzen, auch Gas, alles, was wir wollen, in Vietnam war es Napalm. Wir können das alles machen und werden sogar von den allermeisten Staaten unterstützt.

Redaktion in Kiel, 26.11.01

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