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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Maria: Es hat einige Entwicklungen gegeben, die in der Chronik festgehalten werden sollten. Keine dramatischen Entwicklungen, aber da ist Bewegung bei Ozzy, Carl, Simon und mir. Dass uns der Autonome verlassen hat, hat uns natürlich betrübt. Aber es hat uns nicht aufgehalten. Wir treffen uns meistens am Abend für ein paar Stunden bei mir, bei Carl oder bei Simon. Dann machen wir eine Presseschau, weil jeder von uns zwei oder drei Zeitungen kauft. Nach den TAGESTHEMEN gehen wir meist auseinander, aber der Ablauf der Abende ist nie derselbe. Da Carl in einer WG wohnt und Simon Familie hat, sind wir meistens in meiner Wohnung im Grindelhof. Es ist eine Altbauwohnung im zweiten Stock mit hohen Decken und hellen Zimmern. Ich bin glücklich darüber, dass ich mir diese Wohnung leisten kann. Ein paar von meinen Jingles sind öfter mal im Fernsehen und im Radio. Neuerdings habe ich auch Anfragen für Homepages.

Die Zeit mit den BULLETS war eine Befreiung für mich. Zum ersten Mal hatte ich mich richtig ausleben können. Die Jazz-Bands, in denen ich vorher gespielt hatte, waren eher ein Hobby. Mit den BULLETS aber haben wir insgesamt gesehen ganz gut verdient. Nach der DEBUT und den vielen Auftritten und Radioaufführungen hatten wir auf längere Zeit keine Geldsorgen. Im November 89 traten wir mit zwei Songs in einer ZDF-Gala auf, zur besten Sendezeit. Das war so etwa der Höhepunkt für uns, mit der folgenden Deutschlandtournee. Ozzy fing irgendwann an, dem BLUESLAND Inventar zu schenken, zum Beispiel den großen Billardtisch und wir förderten zwei junge Bands, die uns aufgefallen waren. Wir waren ein paar Mal im Fernsehen, aber nur zu kleinen Interviews oder zu einer unmöglichen Sendezeit. Unser Video zu dem Song NEWS wurde eine Zeit lang sporadisch gesendet, aber es kam nicht in die Rotation.

Erst 1993 machte ich mir zum ersten Mal wieder Gedanken über Geld. In dieser ganzen Zeit hatte ich gelernt, die Dinge zu tun, die ich liebe und damit irgendwann Geld zu machen. Ich las auch diesen Bestseller von Marsha Sinetar DO WHAT YOU LOVE, THE MONEY WILL FOLLOW (1987). Die zentrale These ist die, die Ozzy auch kürzlich angesprochen hat, dass man nämlich die Sachen am Besten kann, die man liebt. Das widerspricht keineswegs dem Kapitalismus. Es ist ja ein Grundwert des Kapitalismus, dass man sein Bestes gibt, um zu einem Produkt zu kommen. Auf dieser Basis habe ich dann die Entscheidungen getroffen, wie ich mich beruflich bewegen wollte. Es hat ein paar Jahre gedauert, aber schließlich habe ich mich bei ein paar Firmen in Hamburg und anderswo etabliert, und bei einer bestimmten Art von Synthi-Musik, bei Jingles und auch für Sprachaufnahmen kommen die Leute zu mir. Das ist ein Traumjob für mich, weil ich dabei ein Märchenkind bleiben kann und sogar offiziell darf. Die Leute wissen, dass meine Kreativität daher kommt, und die ist es ja, die sie brauchen.

Nun hat vor einigen Wochen ein neuer Lebensabschnitt angefangen. Ozzy und Carl wiederzusehen, war ein Einschnitt. An den Freunden sieht man auch, wie man sich selbst verändert hat. Die Chronik gibt uns eine neue Aufgabe und einen neuen Zusammenhalt. Ozzy ist bei unseren Treffen nicht immer dabei. Er geht viel spazieren. Wenn wir alle zusammen sind, erreichen wir ein hohes Energieniveau. Nicht immer, aber meistens. Wie ein Band der Stärke. Klingt blöd, aber so fühlt es sich an. Wir kennen aber auch die Grenzen, die wir als Gruppe haben und machen uns da auch nichts vor.

Fraktales Denken. Dieser Begriff hat sich irgendwie in meine Hirnwindungen geschraubt. Ich habe mir ein paar Bilder von Fraktalen aus dem Internet ausgedruckt und darüber meditiert. Eine faszinierende Geschichte. Fraktales Denken vereinfacht einerseits und verkompliziert andererseits. Es war gestern, als ich verstanden habe, was Ozzy damit meint. Gestern gab es die Nachricht, dass die Amerikaner zum ersten Mal menschliche Embryonen geklont haben. Man hat noch keinen Menschen geklont, aber man zeigt, dass man auf dem Weg dahin ist. Als Begründung wird zum Beispiel genannt, dass Krankheiten mit Hilfe des Klonens behandelt werden können, aber auch, dass es ein wichtiger Wirtschaftsfaktor sein kann. Die Kritiker, die in der großen Mehrheit sind, sprechen hingegen von „Biomasse“ und einem menschenunwürdigen Ersatzteillager. Als ich das hörte, fand ich den Bezug zum Fraktal.

Wenn der Mensch sich selbst klont, dann schafft er sich dadurch ein Alter Ego. Das kann er kontrollieren und sogar ausschlachten. Er schafft sich eine Projektion, von der er profitiert. Klon zu Mensch wäre dann wie Alter Ego zu Ego, wie Kind zu Erwachsenem, wie Orient zu Okzident, und Okzident zu Orient. Deshalb würde ich den ganzen Zusammenhang das Ego-Fraktal nennen. Es wird benutzt von Leuten, die nicht genügend eigene Identität haben, und die eine andere Identität brauchen, um sich von ihr abzugrenzen und sich dadurch zu definieren. Da die meisten Leute im Ego-Fraktal leben, finden sich die Konstellationen immer wieder und auf verschiedenen Ebenen. Wenn die BULLETS (inklusive Simon) zusammen sind, entsteht das Gruppengefühl nicht durch die Kritik, die wir an der Gesellschaft üben – also durch das Alter Ego -, sondern dadurch, dass wir uns so gut verstehen. Auch dass wir unsere Grenzen verstehen. Ich denke zwar heute nicht mehr, dass wir den Brand aufklären können, das ist wohl etwas utopisch, aber über den Sinn unseres Austausches und auch der Chronik hat von uns niemand einen Zweifel. (27.11.01)

(2) Hermann T.: Was Simon zum Thema Tod geschrieben hat, scheint mir die Debatte einen guten Schritt nach vorne zu bringen. Wenn man das Rechts-Links-Schema überwindet, heißt das auch, die gesellschaftlichen Fragen anders zu stellen, als es früher getan wurde. Als vor einigen Jahren meine Freundin bei einem Autounfall ums Leben kam, habe ich mich zum ersten Mal intensiv damit beschäftigt und gemerkt, dass man das Leben erst dann richtig schätzen lernt, wenn man den Tod kennt. Es ist ähnlich wie im Urlaub: Wenn es auf die letzten Tage zugeht, merkt man erst, wie schön es war. Und wenn der Abschied kommt, dann fällt einem ein, was man am Liebsten noch alles gemacht hätte.

In unserer Gesellschaft werden Tote verklärt. Das hängt auch damit zusammen, dass man die Lebenden nicht richtig ehren kann. Ich habe das selbst erst gemerkt, nachdem meine Freundin gestorben war. Ich habe gedacht: Wenn sie jetzt noch einmal wiederkäme, würde ich ganz anders mit ihr umgehen, viel eher im Bewusstsein darüber, dass die Welt vergänglich ist. Aber das waren natürlich nur Projektionen. Ich halte nicht viel davon, die Toten zu verklären und „De mortui nihil si bene“, also, dass man über die Toten nur Gutes reden soll. Natürlich gibt es eine Pietät und Respekt vor dem Tod, aber darum geht es den Leuten normalerweise doch sowieso nicht. Einen Toten kann man ehren, weil er keinen Mist mehr bauen kann, das ist es wohl eher. Der kann auch nicht mehr widersprechen. Dass der Papst jetzt wieder ein paar Frauen aus vergangenen Jahrhunderten heilig gesprochen hat, ist wohl gut für die Stellung der Frau und es ist auch – historisch gesehen – fortschrittlich für die katholische Kirche, aber diese Frauen sind lange tot. Sie haben nichts davon. Es ist deshalb im Grunde deprimierend, denn das bedeutet ja: Gute Menschen werden umso besser, je länger sie tot sind. Eine Mentalität, die meiner Ansicht nach die Sicht auf das Leben und den Respekt unter den Lebenden unscharf macht. Ein Armutszeugnis eigentlich.

Gestern ist die Politikerin Regine Hildebrandt gestorben. Sie war eine meiner Lieblingspolitikerinnen, weil sie sehr offen und deutlich war, weil sie Humor hatte und Ideale, für die sie kämpfte. Sie hatte auch nicht diese Politikersprechblasen drauf, sondern sprach immer klare Worte, wie man sich das wünscht von einem Politiker. Es war seit Jahren bekannt, dass sie Krebs hatte und bald sterben würde. Sie hat das auch nicht versteckt, sondern ist ganz normal damit umgegangen. Sie hat auch manchmal öffentlich darüber gesprochen. Als sie ein Haus für Krebspatienten im Endstadium einweihte, das ihren Namen trägt, sprach sie in ihrer Rede davon, dass es eigentlich überhaupt nicht üblich ist, Häuser nach Leuten zu nennen, die noch leben. Sie sagte das sehr charmant und völlig ohne Effekte, nur, um zu zeigen, dass sie sich darüber im Klaren war. Ich finde das bemerkenswert, denn es steht ja nirgends geschrieben, dass man nicht auch die Lebenden in einer solchen Weise ehren darf. Auf anderen Gebieten und in anderen Ländern geschieht das ja auch. Die Straße, in der Elvis in Memphis lebte, wurde etwa 1970 zum Elvis-Presley-Boulevard umbenannt. Da war Elvis noch sehr lebendig. Ich denke, wenn man von Doppelmoral in der Gesellschaft spricht, kann man das gut an dieser Thematik erkennen.

(3) Thomas G.: Mein Name ist Thomas G. Ich hing damals öfter im BLUESLAND rum und gehörte zur rechten Szene. Meine politischen Einstellungen haben sich im Laufe der Zeit öfter mal verändert. Am Anfang mochte ich die BULLETS und Ozzy Balou ganz gerne, später hörte ich andere Sachen. Die Friedensbewegungen der Zeit kamen mir immer sehr verlogen vor. Ich fragte mich, was die Leute da überhaupt machten, wohin das führen sollte. AKWs abschalten hatte für mich nichts mit Frieden zu tun.

Auch wenn ich heute diese Chronik lese, frage ich mich wieder, was hinter all den schönen Worten steht. Man weiß ja, dass die Machtlosen gerne den Frieden predigen, das ist ja auch kein großes Risiko. Politisch sind die Pazifisten jedenfalls weitgehend machtlos, weil sie keine Nachrichten produzieren, die die Politik beeinflussen können. Hier und da eine Demo, na gut, Proteste und Flugblätter, aber das sind alles Dinge, die die Konflikte nicht lösen können. Es bleibt nicht viel davon übrig. Wenn die Amerikaner hingegen Afghanistan angreifen und später andere terroristische Länder, dann sieht man wenigstens, dass etwas geschieht. Dass politische Veränderungen im Gange sind. Man muss sich ja auch an irgendetwas orientieren. Und wenn die Demokratie nicht ausreicht, wie jetzt nach den Terroranschlägen, dann kann man darüber denken, was man will, aber ohne Gewalt wird man in der Realität nichts erreichen. Es gehört wohl ein gewisses Maß an Erwachsensein dazu, um sich mit dieser Tatsache abzufinden.

(4) Klaus K.: Kürzlich gab es auf Phönix die große Bundestagsdebatte über innere Sicherheit vom 13.03.1975, das war sehr interessant. Ich habe die Reden von Brandt und Kohl gehört, dann später noch die des damaligen Berliner Bürgermeisters. Es ging um die Entführung des CDU-Politikers Lorenz und um Baader-Meinhof. Die Brandt-Rede war am Interessantesten, weil sie das ganze psychologische Umfeld der Problematik beleuchtete. Brandt war damals Parteivorsitzender der SPD, Kanzler war Schmidt. Brandt hat fast die ganze Problematik in Bezug auf seine Partei gesehen. Das war einerseits ein Mangel und hat die Opposition sehr verärgert, andererseits hat Brandt dabei durchaus selbstkritische Worte gesagt.

Dass der Staat sich einen Terrorismus nicht gefallen lassen dürfe, war ein richtiges Argument und das konnte wohl auch jede Partei mittragen. Brandt sah aber auch, dass der damalige Terrorismus aus gesellschaftlichen Spannungen entstanden ist, die etwa 1968 angefangen haben. Er erwähnte deshalb ausführlich, dass gerade die Jugend des Landes sehr viele berechtigte Fragen zur inneren Sicherheit habe und dass die Regierung darauf Rücksicht nehmen müsse. Brandt nahm sogar den Vorwurf der jungen Generation auf über den „Muff“ und die „Spießigkeit“ des Establishments, den er allerdings dementierte. Er sprach ebenfalls über den schmalen Grat zwischen staatlichen Kontrollmaßnahmen und der offenen und freien Demokratie, was ja auch heute wieder ein Thema ist. Anders als Schröder allerdings benutzte Brandt auch die Redewendung, dass man den Teufel nicht mit Beelzebub austreiben darf, dass also Terror nicht die richtige Antwort auf Terror ist. Natürlich, damals ging es um deutsche Terroristen und nicht um den Bündnisfall. Aber es sind schon Ähnlichkeiten zwischen den Situationen vorhanden. Insgesamt ging es bei der ganzen Debatte jedenfalls deutlicher um Argumente, als das heute der Fall ist. Es ging mehr als heute darum, die Situation zu verstehen.

Allerdings wurde diese Aussprache auch für Polemik benutzt. Sehr große Ergebnisse konnte der Bundestag auch letztlich nicht erzielen, denn die Situation spitzte sich im Laufe der 70er weiter zu, man denke an die Schleyer-Entführung und andere Verbrechen. Das Phänomen Terrorismus war irgendwann zuende. Man fasste viele der RAF-Leute und auch die gesellschaftlichen Probleme verschoben sich, etwa hin zur Umweltbewegung. Der Weg zur Integration der Deutschen wurde dabei durchaus an vielen Orten beschritten. Wie man an den Folgen des Attentats in New York sehen kann, waren aber meiner Ansicht nach viele Fragen nicht hinreichend geklärt worden.

Redaktion in Kiel, 28.11.01

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