(1) Ozzy:
I DON'T BELIEVE YOU (Audio):
MP3
(2) Simon: Es gab ein paar wenige Leute, in deren Gegenwart Ozzy komponieren konnte. Ich war einer davon. Jedenfalls an diesem Abend im Herbst 1992, als Ozzy nach einem langen Spaziergang zu mir in meine Wohnung kam. Es war kurz bevor er für neun Jahre das Land verließ. Er hatte alles verloren. Nein, nicht alles. Wir saßen eine Stunde und redeten. Dann fragte Ozzy nach meiner E-Gitarre. Ich spiele hobbymäßig manchmal, ganz selten eigentlich. Als er so spielte, kam er auf verschiedene Melodien, und nach einer halben Stunde war er völlig versunken. Er hatte mit den Sounds aus dem Prozessor herumgespielt und war ganz begeistert davon. Wie ein Schlafwandler fragte er mich, ob man hier irgendwie aufnehmen könne. Ich hatte leider kein gutes Equipment, nur ein Vierspurgerät und ein Bühnenmikro, mit dem man normalerweise nur an der Losbude arbeitet. „So gut es geht“, sagte Ozzy und grinste mich an. Ich merkte, dass eine besondere Stimmung aufgekommen war und zog mich tief in meinen Sessel zurück, während Ozzy auf meinem Bett saß und sich Notizen machte. Dann spielte er wieder. Ich hatte das Mikro aufgebaut und wartete auf sein Zeichen, um den Rekorder einzuschalten.
Wenn jemand in einer solchen kreativen Trance ist, ist es am Besten, sich völlig neutral zu verhalten. Ich habe Ozzy das Gefühl gegeben, dass ich an der Situation beobachtend teilnehme, ohne den Gang der Dinge zu stören. Ozzy spielte gut an diesem Abend. Er hatte durch die Gitarrensounds irgendetwas in sich geöffnet, das mit Macht an die Oberfläche kam. Innerhalb von wenigen Stunden komponierte er sechs Songs und spielte sie ein. Es war, als hätte ich ein Konzert besucht, aber das war kein Konzert, das war eine Songwriting-Session. Es begann mit dem I DON'T BELIEVE YOU Blues. Ozzy hörte viel Hendrix in dieser Zeit, die ELECTRIC LADYLAND. Ich glaube, er hat keine Platte, von welchem Künstler auch immer, so oft gehört wie diese.
Ozzy hält sich nicht für einen besonders guten Gitarrist. Er sagt, er sei Songwriter. Auf der Bühne spielte er ungern Gitarre, weil er sich auf die Stimme konzentrieren wollte, aber auch, weil er sich nicht als Gitarristen sah. Im Studio schon eher. Bei der I DON'T BELIEVE YOU Session war er aber mit der Gitarre ganz zufrieden. Er komponierte noch SOME SPACE und ON THE LONG RUN und andere Sachen an diesem Abend, Songs, die noch kein Publikum gehört hat. Am Ende der Session spielte er eine Reprise von I DON'T BELIEVE YOU, nämlich die, die Ozzy heute ins Netz gestellt hat.
Wir haben das dann später entrauscht und equalized. Ich hatte diese Songs schon wieder vergessen, aber jetzt, wo ich sie wieder höre ... ja, das waren Zeiten! Für Ozzy war die Session ein Heilbad. In einer Zeit, wo so ziemlich alles schiefgegangen ist, was schiefgehen konnte, und, wie Ozzy hinzufügte, in der Reihenfolge, die den meisten Schaden verursachte, war er in der Lage, solche Songs zu schreiben und aufzunehmen. Deshalb hat er nie ganz sein Selbstvertrauen verloren. Und deshalb auch ist er jetzt wieder hier.
(3) Maria: Nachdem ich mit dem Ego-Fraktal angefangen habe, benenne ich noch das Abschieds-Fraktal nach dem Beitrag in der letzten Nachricht von Hermann T.. Der Abschied vom Urlaub ist das Kleine, der Abschied vom Leben ist das Große. Nach Ozzys Formel sind das ähnliche Situationen.
Hinweisen möchte ich auf ein Interview mit Boris Becker, über das das HAMBURGER ABENDBLATT vom 27.11.01 berichtet. Becker sagte in der englischen Presse: „Ich glaube, dass die Deutschen noch immer einen Führer brauchen“, und berichtet über die gefühlsgeladene Ehrerbietung, die er erfahren habe und die ihn an Nürnberg erinnert habe. „Viele Deutsche stellen sich dem Problem nicht. Das hat seine Gründe. Meine Generation ist der Ansicht, dass das (die Nazizeit) schrecklich war. Ältere Menschen empfinden das nicht so, weil sie Teil der Bewegung waren und verantwortlich sind“, sagt Boris.
Es ist zwar nicht besonders gut, das nun ausgerechnet in der englischen Presse zu sagen, denn die Engländer haben ihre eigenen Probleme. Dass Boris so etwas überhaupt sagt, ist aber bemerkenswert. Er kennt die Welt aus dem Blickwinkel eines Nationalhelden und Sexsymbols. Er ist sich darüber bewusst, dass er und sein Leben von Millionen Menschen zur Projektionsfläche gemacht wird, und er spürt bestimmt auch, was da auf ihn projiziert wird. Man sollte es also auf jeden Fall ernst nehmen.
(4) Sibylle J.: Seit ich auf diese Chronik gestoßen bin, merke ich wieder deutlicher, wie wichtig Diskussionen sind. Ich habe meine besten Gedanken, wenn ich mit anderen Leuten rede oder von anderen etwas Interessantes lese. Aber nicht nur die Anstöße von Außen sind für mich wichtig, sondern auch das Antworten. Wenn ich Gedanken ausformuliere, merke ich oft erst wirklich, ob sie Substanz haben.
Diskutieren ist zurzeit nicht sehr beliebt. Das sieht man auf vielen Ebenen. In der Politik z. B. daran, wie Schröder mit der „Vertrauensfrage“ die Diskussion innerhalb der SPD platt gemacht hat. Und wie die Grünen dafür auseinander genommen werden, dass es in ihrer Partei unterschiedliche Meinungen gibt und diese sogar noch öffentlich und mit Engagement diskutiert werden. Bei aller Kritik, die ich an den Grünen habe, auch wegen der Zustimmung zum Afghanistan-Krieg, habe ich doch auch Respekt davor, dass sie sich – selbst nach Schröders massivem Druck – nicht haben mundtot machen lassen.
Ich glaube, ein Grund dafür, dass notwendige Diskussionen nicht geführt werden, ist, dass viele von uns Angst vor dem Andersartigen haben. Was ist so schlimm daran, anders zu sein? Letztlich sind wir doch alle mehr oder weniger unterschiedlich. Die meisten versuchen, das Andersartige in sich – und damit zwangsläufig auch in anderen – zu unterdrücken. Um dazuzugehören und nicht aufzufallen. Wir sollten unsere Andersartigkeiten nutzen, um uns gegenseitig zu ergänzen. Denn jede und jeder von uns hat damit auch etwas Besonderes zur Gemeinschaft beizutragen. Das bedeutet auch, dass jeder und jede etwas ganz Besonderes und Einzigartiges ist. Was Ozzy fordert, ist, dass ihm seine besondere Bedeutung zugestanden wird. Und die sollten wir ohnehin jedem zugestehen.
Oliver wirft Ozzy in der 36. Nachricht vor, dass er sich als Mittelpunkt der Welt sieht. Wenn Ozzy das tut, finde ich das in Ordnung, solange er es auch zulässt, dass andere sich genauso sehen, und solange er gesprächsbereit ist. Mir scheint, dass beides der Fall ist. Ozzy schreibt in der 34. Nachricht: „Ich würde mich freuen wenn Sibylle J. sagen würde 'Die Welt ist schön, weil ich hier sein kann.'“ Damit sagt er im Grunde, dass sich jeder als sein eigener Weltmittelpunkt sehen soll. Oliver schreibt außerdem, dass für ihn und Michael die Frage im Raum blieb, ob Ozzy wirklich so gut war. Diese Aussage steht für mich im Widerspruch zu dem, was er zu Anfang in der Chronik gesagt hat. In der Neunten Nachricht schreibt er über Ozzy: „Seine Songs wurden immer besser“, „Er wusste auch, was gut und in war“ und sogar: „Es war jedem klar, dass er etwas Besonderes hatte“.
Mir kommt es so vor, als schiebe Oliver seine Zweifel daran, wie gut die BULLETS wirklich waren, nur vor. Zu sagen, wir waren einfach nicht gut genug, ist die bequemste Möglichkeit, Ozzys Scheitern zu erklären. Man muss dabei nicht nach eigenen Fehlern suchen. Nachdem ich Olivers Aussagen in der Neunten Nachricht noch mal gelesen habe, ist mir sehr deutlich geworden, dass Ozzy gescheitert ist, weil er anders ist und vor allem, weil er den meisten von uns überlegen ist.
Die Leute haben es nicht gerne, wenn ihnen jemand überlegen ist. Sie ertragen es nur, wenn die Überlegenheit von einer gesellschaftlichen Stellung herrührt, wenn jemand z. B. Chef ist oder Bundeskanzler. Und dann ist meistens auch noch Gewalt in Form von Unterdrückung im Spiel. Da passt Ozzy nicht rein. Er hat seine Überlegenheit allein durch das, was er tut, durch seine Energie, letztlich dadurch, dass er so ist, wie er ist, ohne andere zu unterdrücken und nur mit der Forderung, er selbst sein zu dürfen und das zu tun, was er liebt. Viele Leute kommen damit wohl auch deshalb nicht klar, weil Ozzy zeigt, dass ein anderes, freies, kreatives Leben möglich ist und weil er sagt, dass wir alle so leben können (Oliver zitiert Ozzy in der Neunten Nachricht mit dem Satz: „Jeder Mensch ist ein Buddha“). Ozzy stellt unsere von Zwängen und Ängsten bestimmte Lebensweise damit in Frage.
Ich habe über das Phänomen der Überlegenheit in letzter Zeit nachgedacht. Anlass war, dass ich mich selbst anderen Menschen überlegen gefühlt habe. Seit etwa zwei Jahren arbeite ich kreativ. Ich mache Skulpturen aus verschiedenen Materialien. Ich war und bin darüber erstaunt, was in mir steckt. Manchmal verstehe ich selbst nicht, was die Werke, die ich geschaffen habe, bedeuten oder muss sie erst selbst interpretieren. Das ist sehr spannend und hat mich verändert. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mich Leuten gegenüber, die in ihrer Freizeit nur fernsehen und konsumieren und nichts Kreatives machen, überlegen fühle. Ich hatte deshalb Schuldgefühle. Wie konnte ich mir eine solche Einstellung anmaßen?!
Überlegenheit ist in unserer Gesellschaft negativ belegt. Wohl, weil man davon ausgeht, dass jemand, der überlegen ist, das ausnutzt, um anderen zu schaden und sie zu unterdrücken. Seit mir klar ist, dass Ozzy mir in bestimmten Dingen überlegen ist und dass ich dadurch keinen Schaden nehme, sondern im Gegenteil davon profitieren kann, sehe ich das mit der Überlegenheit ganz anders (wobei ich natürlich nicht die meine, die auf Gewalt beruht). Überlegenheit ist ein Fakt. Die Leute sind, wie sie sind. Ozzy ist in bestimmten Dingen überlegen, ob er will oder nicht. Natürlich kann sich jede und jeder weiterentwickeln. Und dazu ist es gut zu erkennen und zu akzeptieren, dass andere einem überlegen sind. Dann sieht man nämlich, was möglich ist, und kann von den Überlegenen lernen.
Wichtig ist, dass überlegene Menschen nicht wertvoller sind. Jeder Mensch ist wertvoll – dadurch, dass er ein Mensch ist. Deshalb hat jemand, der anderen überlegen ist, nicht das Recht, arrogant zu sein. Aber er hat das Recht, Anerkennung und seinen Platz in der Gesellschaft zu fordern, denn sonst würde er unterdrückt werden. Und niemand darf einen anderen unterdrücken.
Redaktion in Kiel, 30.11.01
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