(1) Marco H.: Mir fällt immer wieder auf, wie viele Ähnlichkeiten zwischen Musikern, Schriftstellern und Malern bestehen. Es ist ja fast schon wie im Buch DAS GLASPERLENSPIEL von Hermann Hesse, wo es eine Art Nationalsport ist, Düfte in Verse zu verwandeln und Melodien in Schachpartien. Fraktales Denken hätte dem guten Hermann bestimmt auch gefallen.
Als ich damals zu schreiben anfing, war es, wie gesagt, nicht so leicht. Damit ein durchschnittlicher Mensch merkt, dass ein Buch gut ist, muss er es normalerweise vom Fernsehen gesagt bekommen. Das Buch sollte am Besten schon ein Bestseller sein oder der Geheimtipp aus der Illustrierten. Es sollte einen Preis gewonnen und eine hohe Auflage haben. Vor allem muss es überall zu haben sein, also bereits im Kollektivgedächtnis vorhanden sein. Für den Leser und Konsumenten mag das nicht so wichtig sein, für den engagierten Schriftsteller ist dies ein großes Hindernis, weil sich sein Werk nicht nur aus sich selbst legitimiert, sondern in großem Maße daraus, dass es den formalen Kriterien folgt. Dass es eine ISB-Nummer hat, einen Verlag und einen Preis. Ist das nicht gegeben, wird kaum jemand bereit sein, dem Buch einen Wert beizumessen. Hier ist der Punkt, wo man als (kritischer) Leser schon gegen den Strom schwimmen müsste, um es als vollwertiges Buch anzuerkennen. Ein epistemologisches Problem. In einer idealen Welt entstehen Bücher, weil sie in den Köpfen entstehen, nicht, weil Verlage verkäufliche Neuerscheinungen suchen oder Doktoranden nach einem Thema.
Der deutsche Literaturbetrieb ist allerdings auch arg gebeutelt. Es gibt in unserem Land eine große Anzahl von Menschen, die sich für sehr gute Schriftsteller halten. Ähnlich wie sich die Deutschen mit überwältigender Mehrheit für sehr gute Autofahrer halten. Aber bei den Schriftstellern ist das schon so eine Sache. Redaktionen und Verlage werden überflutet mit Material, Tante Hildes Memoiren, ultimative Krimis, Leserbriefe, Stammtischzoten, Weisheiten und Gedichtbände über die Liebe. Schriftsteller sind ja auch bekanntlich zart besaitet, man will ja auch niemandem zu nahe treten oder Weh tun. Und keiner weiß so recht, nach welchem Maßstab man etwas gut finden kann oder darf, besonders bei Gedichten. Wenn man etwas schreibt, was die Leute zum Lachen bringt, dann ist schon eher klar, dass es „wirkt“. Aber die lustigen Sachen zählen wiederum nicht zur ernsten Literatur. Das ist wie in der Musik.
Natürlich habe auch ich viel von dem eingesteckt, was man Kritik nennt, und was meistens Schläge bedeutet hat. Aufgrund der fehlenden Maßstäbe kann ja jeder seine Meinung für die des Experten halten. Doch war es nicht einmal die Kritik, die mich damals genervt hat, sondern es waren die gesellschaftlichen Hemmungen. Meinen ersten Gedichtband, DAS ELIXIER, ließ ich drucken, ohne einen Verlag zu haben. Verlage arbeiten langsam, sie reden ins Layout rein und oft noch in den Text, und meistens wollen sie auch noch viel Geld von einem, als Beteiligung. Wenn man da durch ist, schreibt man schon nicht mehr so wie früher. Das Buch jedenfalls war mir wichtig, weil ich meinen Jetztzustand darin ausgedrückt hatte und wissen wollte, in welchem Verhältnis ich zu meiner Umwelt stehe, und ob die Leute mit meinen Themen etwas anfangen können.
Es kam auch gut an bei meinen Freunden, und viele sagten, sie würden bestimmt zu meiner nächsten Lesung kommen, denn sie würden Auszüge aus dem Buch gerne auch mal hören, nicht nur lesen. Meine Nachbarin war besonders angetan. Sie sagte, sie hätte das Buch herumgezeigt, und es habe einige Resonanz gegeben. Da meinte ich zu ihr, dass ich mich freuen würde, wenn ich bei ihr in der Wohnung für ein paar Freunde eine private Lesung machen kann. Als ich das gesagt hatte, merkte ich, wie sie sich zurückzog. Sie sprach dann nicht mehr davon. Damals hatte mich das verletzt, weil ich es als Ablehnung empfunden hatte, (was es ja auch war), aber heute denke ich etwas anders darüber. Sie hatte in ihrem Denken einfach keinen Platz für diese Art der Nähe zwischen Künstler und Publikum. Es wäre ihr vielleicht zu eng geworden, die Situation wäre vielleicht nicht kontrollierbar gewesen, etwas Peinliches hätte passieren können, in ihrer Wohnung. Musste sie vielleicht eine Einführungsrede halten? Was sollte sie zu ihren Freunden sagen, um sie einzuladen? Konnte man Marco H. die Verantwortung dafür überlassen, die Situation zu leiten? Dass es eigentlich um das neue Buch ging, war schon vergessen. Dies sind so die Ängste und Hemmungen, die dazu führen, dass Künstler manchmal keinen Platz in der Gesellschaft finden oder sich nicht ausbilden können.
(2) Carl: Die Zeit vergeht sehr schnell. Auch an unserer Schule haben sich ein paar Sachen geändert. Die Schüler stellen andere Fragen im Deutschunterricht und auch im Musikunterricht. Nicht alle, aber einige. Auch wir Lehrer denken über das Curriculum nach und Diskussionsmöglichkeiten. So etwas dauert in unseren Kreisen vielleicht etwas länger als anderswo.
Über die BULLETS habe ich nachgedacht. Ob es sie wieder geben kann. Aber die Zeiten sind wirklich vorbei. Die Dinge kommen nicht wieder. Etwas anderes wird geschehen. Die Treffen mit Ozzy, Maria und Simon gehören schon zum Alltag. Wir wissen, dass es eine Übergangsphase ist. Aber wir wissen noch nicht, wohin es überhaupt geht.
George Harrison ist gestorben. Das ist wirklich ein Schock. Man wusste ja, dass er krank war, aber es ist ein Schock. Eine Lücke ist geblieben. Über all dem „Er war der ruhige Typ“ oder „der dritte Beatle“ vergessen die Leute, dass sie über George Harrison (!) sprechen. Jemand, der von großer Weisheit beseelt war, und ohne den es so etwas wie die BEATLES niemals gegeben hätte. Gut, dass das wieder zu einem BEATLES-Revival führen wird, dann hören die Leute vernünftige Musik.
(3) Jürgen H.: Diese Arierdebatte ist ebenso gewagt wie notwendig, wie ich finde. Man kann eigentlich über so etwas kaum sprechen, selbst 56 Jahre nach dem Krieg noch nicht. Dabei ist es ein Phänomen, das international aktuell ist. Es geht ja nicht darum, ob jemand Arier oder Semit ist oder welcher Abstammung auch immer, es geht um die In-Group-Frage. Auf welche Gruppe beziehe ich mich für meine Selbstdefinition? Auf die Rasse? Es gibt tatsächlich Leute, die so denken, aber sie haben meistens nicht viel Bildung.
Es ist wohl an der Zeit, deutlich zu sagen, dass unser Land durch die Menschen definiert ist, die hier leben und gelebt haben. Ein Deutscher, der heute nichts über – sagen wir – die türkische Kultur weiß, ist einfach nicht zeitgemäß. Wer mit der Multikultur heute nicht zurechtkommt, wird schlicht von den Verhältnissen überfahren. Er versteht manches nicht, was um ihn herum geschieht, ähnlich wie die Leute, die keinen Zugang zum Computerzeitalter finden, weil es ihnen einfach fremd ist und sie es aus Prinzip nicht wollen. Er ist kulturell unterlegen.
Natürlich, Herr Stoiber und andere Politiker möchten, dass Deutschland möglichst wenige Ausländer beinhaltet. Für viele Wähler ist das ein wichtiger psychologischer Punkt. Es sagt aber so gut wie nichts über die Ausländer aus, sondern nur darüber, wie unser Land mit Ausländern umgeht. Eine Rückbesinnung auf die Leni-Riefenstahl-Romantik, wie sie in der 30. Nachricht erwähnt wurde, scheint mir völlig irrig. Das klingt doch so, als hätte man es damals letztlich doch fast geschafft, hinter dem unermesslichen Leichenberg des Grauens, im Zentrum der Schuld, das deutsche Ideal zu entdecken, wie eine Perle im Dreck. Nein, also das kann ich nicht glauben. Die ganze Abschottungsmetaphorik der Deutschen ist doch nicht dicht.
Es gibt keine „gute alte Zeit“, das ist ein Mythos. Wir leben in einer vernetzten modernen Welt und haben ständig mit anderen Kulturen zu tun, und zwar innerhalb unserer eigenen Gesellschaft. Wer das nicht akzeptieren kann, sollte anfangen, das deutsche Kulturerbe zusammenzutragen und für die Nachwelt aufzubewahren. Die Zeit wird an ihnen vorbeilaufen, und sie werden sich alt fühlen. Im Unterschied zu den Ostpreußen haben aber die Deutschen als Ganzes nicht ihr Land verloren und müssen daher nicht in Erinnerungen schwelgen. Sie haben ihr Land. Und sie selbst bestimmen, wie es in ihrem Land aussieht, nicht die Ekel Alfreds. Ich gebe allerdings zu, dass ich mit dieser Meinung bei uns in der Redaktion noch keine Mehrheit gefunden habe.
(4) Maja B.: Stellen Sie sich vor, sie würden im Videoladen gefragt werden, ob Sie Filme bevorzugen, die von Gewalt handeln, oder solche, die von Liebe handeln. Vielleicht würden Sie das zweite nennen. Dann werden Ihnen zwei Filme gebracht: einer mit dem Action-Helden Bruce Willis und einer mit dem Erotik-Star Dahlia Grey. Im ersten Film muss jemand Wilhelm-Tell-mäßig seine Zigarettenschachtel in die Luft halten, damit Bruce Willis aus weiter Entfernung die Einstellung seiner computergesteuerten Panzerfaust überprüft. In dem Film wird gezeigt, wie das Geschoss dem Mann den Arm abreißt. Aber es ist eine coole Szene mit viel Hightech. Ein Kassenschlager, Action, Spannung, hohes Budget, hohe Besucherzahlen. In dem anderen Film sieht man mehrere optisch ansprechende und stilvolle Frauen und einige Männer, die sich zu entspannender Musik gute Gefühle bereiten. Ich denke, vor diese Wahl gestellt, gehen die meisten doch eher mit dem Bruce-Willis-Teil nach Hause. Das kann man wenigstens in der Familie kucken ...
Gewaltfilme werden bei uns verharmlost, weil sie etabliert sind. Das ist normal, Hollywood gibt solchen Filmen Oscars. Eine Gesellschaft, die so viele Erotikfilme kuckt, wie wir Gewaltfilme kucken, würde von uns abgelehnt werden. Das wäre Pornografie. Pervers. Unzüchtig. Kriegsfilme dagegen sind nicht unzüchtig. Das Problem mit Gewaltfilmen ist, dass sie zur Realität der Gesellschaft gehören und damit auch die darin ausgesprochene Gewalt. Der Action-Film ist ja deshalb so beliebt, weil man sich darin an der Gewalt ergötzen kann. Das Motiv bereits der Drehbuchschreiber ist falsch.
Das ist eigentlich ein sehr junges Phänomen. Es begann mit Romanen wie denen über Sherlock Holmes, die zum Prototyp der Krimis und daraus abgeleitet der Pistolenfilme wurden. Oder Frankenstein und Dracula, aus denen der Horrorfilm wurde. In den Urformen geht es noch nicht um Gewalt. Sherlock Holmes benutzte seine Waffe sehr selten, und Gewalt führte nie zur Lösung seiner Fälle. Auch bei Frankenstein und Dracula ging es um etwas ganz anderes, um Mythen und um den Fremden in uns selbst. All dies verwässerte durch die Jahrzehnte, und heute haben wir diesen Action-Müll. Van Damme und Rambo und Mega-Mann und dieser ganze Quatsch. Eine freie Gesellschaft, die nicht mit großen Ängsten und Gewaltfantasien lebt, würde eine solche Kultur gar nicht zulassen.
(5) Tarek B.: Ich möchte noch etwas zu meinem letzten Statement aus der 28. Nachricht hinzufügen. Matthias behandelt mich seit ein paar Tagen wieder ganz normal. Also, er redet wieder mit mir wie vorher. Das Thema kann ich natürlich nicht mehr anschneiden, aber wenigstens kann ich hier darüber sprechen. Das liest der sowieso nicht. Naja, also, was ich sagen wollte, ist, dass sich im Grunde jetzt gar nichts verändert hat. Das steht jetzt so im Raum. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Soll ich ihm sagen, dass ich das Thema ausdiskutieren möchte? Kann man das? Will ich das überhaupt? Was würdet ihr in meiner Lage tun?
Redaktion in Kiel 02.12.01
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