home   ao english   musik   literatur   journalismus   bilder   sprachen   mehr   shop   sitemap

ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
vorige DIE 41. NACHRICHT nächste

(1) Simon: Das war ein ziemlicher Hammer, als hier gestern ein Brief vom Gesundheitsamt ankam: „Sehr geehrter Herr Balou, eine hier eingegangene Besorgnis erregende Meldung aus Ihrem sozialen Umfeld nehme ich zum Anlass, Sie zu einem Gespräch in das Gesundheitsamt, 2. Stock, Zimmer 216, am Montag, den 17.12.2001, 13.30 Uhr, zu bitten. Ich bitte Sie dringend, dieses Gesprächsangebot wahrzunehmen. Mit freundlichen Grüßen, im Auftrag Herzog, Dipl.-Sozialpädagoge.“ – Zuerst habe ich lachen müssen, aber Ozzy hat gar nicht gelacht. Es ist uns völlig unklar, wer das gewesen sein könnte. Weil, also Ozzys soziales Umfeld, das sind wir hier und sonst niemand. Wie kann man nur so feige sein, so etwas zu tun! Und wie kann das Gesundheitsamt so ein Spiel mitspielen? Sie haben ja auch nicht geschrieben, was los ist. Sie haben nur geschrieben, dass irgendjemand besorgt ist um die Psyche unseres Ozzy. Und dass die Stadt sich so kurz vor Weihnachten gedacht hat, da könnte sie ja mal die Daumenschraube draufsetzen, denn wenn Ozzy so behandelt wird, dann hilft ihm auch keiner. Ja, es scheint sich tatsächlich herumgesprochen zu haben, dass Ozzy wieder da ist.

Nun, er ist wütend, das kann man sich ja vorstellen. Er will aber nichts dazu sagen. Ich habe ihm gesagt, dass wir diese Geschichte auf jeden Fall in der Chronik bringen müssen, damit die Leute es sehen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass Ozzy mit so etwas konfrontiert wird. Außenstehende können sich gar nicht vorstellen, dass es so etwas überhaupt gibt. Ihnen ist das noch nie passiert. Ozzy hatte da so schon seine Erfahrungen mit dem genannten Herrn Paasch gemacht, aber es ist ihm auch sonst schon zwei Mal passiert, dass entweder das Gesundheitsamt oder die Polizei angerufen hat, weil eine anonym bleibende Person „sich Sorgen“ gemacht hat. Im Falle von Paasch konnte Ozzy nur deshalb der Psychiatrie entfliehen, weil er das Land verlassen hat. Und jetzt geht das schon wieder los! Bisher konnte Ozzy sich nicht dagegen wehren, weil, wie soll man sich dagegen wehren? Ich hatte ja selbst 92 erfolglos versucht, Leute zu finden, die sich für ihn einsetzen. Aber die Freunde waren skeptisch und ansonsten interessierte sich niemand dafür.

Ozzy ist damit einverstanden, dass ich das heute so schreibe. Wir müssen das zeigen, darüber sind wir einig. Also schreibe ich es, denn Ozzy kann es schlecht schreiben. Wir bitten ebenfalls um die Mithilfe zur Aufklärung der Frage, wer Ozzy da denunziert hat. Wenn Sie etwas darüber wissen, schicken Sie bitte eine Mail an die Redaktion.

(2) Maria: Das ist ja wohl der absolute Gipfel! Zum Gesundheitsamt wird er vorgeladen! Ist Ozzy vielleicht krank? Ach so, jemand von seinen Freunden macht sich Sorgen. Und statt mit Ozzy zu reden, wendet er sich mit aller Vorsicht an die Staatsgewalt. Was für ein Wurm, der so etwas tut! Alleine auf so eine Idee zu kommen. Widerlich ist das. Ich weiß nicht, was die Leute denken, wie Ozzy sich bei so etwas fühlt. Er wird dieses Spiel natürlich nicht mitspielen. Er wird sich wehren. Er ist derzeit sehr ruhig, er spricht nicht viel. Etwas arbeitet in ihm, das kann man deutlich merken. Er wird sich das nicht gefallen lassen.

(3) Jörg W.: Ich lese die Chronik seit einiger Zeit und mit vielen Sachen bin ich einverstanden gewesen. Aber leider hat sie sich doch leicht hagiographisch entwickelt. Ich kann einfach diese Lobeshymnen auf den tollen Ozzy Balou nicht mehr hören. Es fängt an zu nerven. Klar, die Story braucht einen Helden, sonst fällt das Buch auseinander, aber je mehr sich Ozzy Balou zeigt, desto unsympathischer wird er mir. Vielleicht ist es wirklich nur, weil ich selbst gelernt habe, dass man sich nicht zeigen soll und dass man sich zurücknehmen sollte und nicht so auffallen und nicht so ein Gerede um die eigene Person machen sollte. Es ist ab einem bestimmten Maße gar nicht mehr wichtig, ob die Person Recht hat oder nicht, vielmehr gibt es auch für die Progressiven so etwas wie Umgangsformen. Man kann die natürlich umgehen und sagen, das wäre Rock'n'Roll, aber dann stellt sich doch die Frage, warum die angekündigte große Bewegung noch nicht angefangen hat. Ich kann jedenfalls nichts dergleichen erkennen. Übrig bleibt ein etwas eitler Songwriter und sein glohrreicher Kleinkrieg gegen die Gesellschaft.

Ich habe mir sorgfältig durchgelesen, was Ozzy gesagt hat, aber inzwischen halte ich sein Weltbild für reine Schaumschlägerei. Er gibt auch keine richtigen Lösungsmöglichkeiten, sondern sagt: „Plant nicht.“ Toller Tipp! Ich bin schon ein bisschen enttäuscht, denn ihr seid ja nicht die Einzigen, die sich eine neue Welt wünschen. Aber es ist nicht die Zeit, um irgendwelche Kulturrevolutionen auszurufen. Das klingt völlig unglaubwürdig. Fast schon kitschig. Und wie soll man sich eine Veränderung vorstellen? Dass wir keine Actionfilme mehr kucken, stattdessen nur noch Bambifilme? Dass die Menschen immer lieb zueinander sind und „Ich liebe mich“ sagen? Wie langweilig! Ich meine, es ist schon wahr, dass es nach dem Gesetz keine Gewalt geben soll, aber die Welt ist nun mal so. Ich meine, ich kann auch nicht wirklich etwas dagegen vorbringen, wenn einer „Ich liebe mich“ sagt, aber mir ist es einfach unangenehm. Vielleicht finde ich es auch ein bisschen weibisch, wie Ozzy redet.

(4) Dieter Z.: Übrigens Stefan Raab macht nicht nur solche schlimmen Sachen, gerade hat er ja mal wieder etwas Vernünftiges und Inhaltsvolles gemacht. Man sollte ihm das zu Gute halten, er hat hier ja auch schon allerhand einstecken müssen. Aber sein neuer Song WIR KIFFEN ist unter musikalischen und pädagogischen Aspekten wertvoll. Und gewagt. Gruß an Stefan Raab! Leider ist der Song ja etwas zu kurz geworden. Nein nein, es ist wirklich nötig, gegen diese Intoleranz anzukämpfen. Die Deutschen sind da so derart verklemmt. Meine Eltern kennen zum Beispiel nicht den Unterschied zwischen Marihuana und Heroin. Die denken, es ist dasselbe.

Am Samstagabend gab es im Fernsehen die Sendung GLANZLICHTER mit Peter Kraus über den deutschen Pop-Zeitgeist der 50er und 60er. Ich wollte erst Ozzy anrufen, um das unsagbare Grauen mit ihm zu teilen, aber dann hatte ich seine Nummer nicht. Nach dieser Sendung hatte ich einen ganz faden Geschmack im Mund, und ich habe sehr schlecht geschlafen danach. Doch es war mir wichtig, gerade weil Peter Kraus die Sendung moderiert hat, der „deutsche Elvis“, wobei man auch Ted Herold und sogar Peter Alexander so genannt hat. Diese Leute sind so etwa die deutsche Antwort auf den Rock'n'Roll. Von den Gewalttaten bei Bill-Haley-Konzerten hat sich Kraus distanziert und Elvis hatte es damals ähnlich gemacht. Aber Peter Kraus ist durch und durch bürgerlich, alles was er sagt, klingt sofort artig. Da ist überhaupt keine Ausstrahlung.

Kraus erzählte von seinem ersten Kinofilm, dem „Fliegenden Klassenzimmer“ von Erich Kästner, und wie er sich von der Kohle ein rotes Rennrad gekauft hat, um das ihn seine Lehrer beneideten, die damals auf alten Rädern zur Schule fuhren, sodass er es einen Häuserblock entfernt anschloss. Aus seiner Sicht erscheinen die 50er und 60er Jahre so trostlos, wie sie wahrscheinlich auch tatsächlich waren. Immer wieder kam der Vergleich mit Amerika, und Peter Kraus schien nicht bemerkt zu haben, dass man das alles gegen Deutschland verwenden kann, wenn er etwa erwähnt, dass die Amerikaner Marilyn Monroe und Jane Russel hatten, während die Deutschen Hildegard Knef und Lieselotte Pulver hatten. Bei den großen Popmusikern war es ähnlich schlimm, mir sind die Tränen ins Gesicht geschossen, und ich habe mich gefragt, ob Peter Kraus denn nicht merkt, dass er hier die Bundesrepublik Deutschland beschädigt und demontiert, mein Land, das Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Das Beste, was er zu bieten hatte, war der große Fred Bertelmann und sein Song DER LACHENDE VAGABUND, dessen Pointe darin besteht, dass zwischen den überaus schlecht getexteten Strophen ein unmotiviertes Lachen des Sängers zu hören ist.

Mir ist zum ersten Mal richtig aufgefallen, wie schlecht die Texte von deutschen Schlagern meistens sind. So plump. Das war vor 45 tatsächlich noch anders. Da gab es die UFA-Lieder, wirklich schöne Songs darunter, Zara Leander und viele gute Künstler, aber nach dem Krieg? Fred Bertelmann. Für eine Bewegung wie den Rock'n'Roll war Deutschland überhaupt nicht bereit. Ich meine, nicht einmal Amerika war richtig bereit dafür, aber Deutschland? Peter Kraus hat in seiner Sendung Elvis in einem Atemzug mit Pat Boone und Paul Anka genannt. Der hat offenbar bis heute keinen Schimmer, was Rock'n'Roll ist. Stattdessen hat er die Verpackung verkauft und einige sehr seltsame Lieder gesungen.

Ich bin nicht der Ansicht, dass die Deutschen nur ein Kaugummi-Abziehbild der Amerikaner sein müssen. Ich glaube, die Deutschen halten sich selbst bewusst in einem Zustand der Blödheit, der in unverarbeiteten Schuldgefühlen begründet ist. Ob Schlager oder Volksmusik, es ist ein Zustand des Grauens. Ich meine, es gibt doch gute deutsche Songs. France Gall hat phantastische Sachen gemacht, das waren Schlager und dabei gute Musik. Wenn man sieht, womit die Deutschen sich in der Musik zufrieden geben, merkt man, wie unsicher und wackelig sie hinter ihre Fassade eigentlich sind.

Redaktion in Kiel 06.12.01

Nächste Nachricht >>


+++ ROCK'N'ROLL +++ NACHRICHT VON OZZY BALOU +++ EINE REKONSTRUKTION +++
hoch
Datenschutzerklärung und Impressum (data privacy statement and imprint)