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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Maja B.: Heute habe ich zum ersten Mal eine offizielle Definition des Begriffs Terrorismus gelesen und ich bin sehr erstaunt. Wie die TAZ heute berichtet, ist nach EU-Definition ein Terrorist jemand, der die Staatsordnung destabilisiert. Arbeitsgrundlage der EU sei demnach die Definition von Terrorismus als einer Tat, die das Ziel hat, „die Bevölkerung schwerwiegend einzuschüchtern, staatliche und internationale Organisationen zu erpressen oder die politische, verfassungsmäßige, ökonomische oder soziale Ordnung eines Staates oder einer internationalen Organisation zu destabilisieren oder zu zerstören.“ Damit klar ist, dass wir trotzdem in einer Demokratie leben, wird hinzugefügt, „dass Grundrechte wie Vereinigungs- und Meinungsfreiheit oder das Demonstrationsrecht weder verringert noch ausgehöhlt werden dürfen.“ Das haben sich diese Leute ganz geschickt ausgedacht. Naja, irgendwann mussten sie Farbe bekennen und das ist also jetzt zunächst einmal herausgekommen.

Zuerst fällt auf, dass man den Gewaltbegriff ganz rausgelassen hat. Die Definition wird getragen von den Motiven der Tat, nicht vom Tatbestand. Von den möglichen Motiven gelten nur solche, die sich gegen die Staatsgewalt richten bzw. die Reichen. Einschüchterung, Erpressung, Destabilisierung und Zerstörung sind die Tatmotive, die genannt werden. Das sind sehr dehnbare und ungenaue Begriffe. Die Globalisierungskritiker befürchten bereits, dass sie betroffen sein werden. Zu Recht, denn diese Definition lässt sich ohne weiteres auf jede Art von Erneuerungsbewegung anwenden. Jedes progressive Denken, das alte Formen ablösen will, destabilisiert die Ordnung, wenn man es so ausdrücken möchte. Was übrig bleibt, ist ein bewegungsunfähiger verstopfter Konservatismus und die ernüchternde Erkenntnis, dass es der EU nicht um Gewaltlosigkeit geht, sondern um den Schutz der Reichen und der bestehenden Ordnungen. (06.12.01)

(2) Claudia A.: Kann mir mal jemand verraten, was hier los ist? Was soll denn das heißen, dass das Gesundheitsamt Ozzy vorgeladen hat? Irgendetwas muss er doch wohl gemacht haben, sonst würden die doch nicht solche Maßnahmen ergreifen. Oder ist das nur ein schlechter Scherz von Simon und Maria? Ich meine, wenn das schon mehrmals passiert ist, dann muss es doch noch etwas geben, was hier nicht gesagt wurde. Das gibt es doch gar nicht. Die ganze Sache wird mir sehr suspekt. Ist das wieder ein PR-Gag? Will Ozzy auf Kosten von anderen Punkte sammeln? (Antwort von Maria: „Nein, kein Scherz. Auch keine Informationen vorenthalten. Es ist passiert, wie wir es gesagt haben. Der Brief des Gesundheitsamts liegt der Redaktion vor.“)

(3) Tom Sawyer: Mein Name ist natürlich nicht wirklich Tom Sawyer, aber ich möchte einige Dinge offen ansprechen und lieber anonym bleiben. Seit der letzten Nachricht habe ich ein bisschen Mitleid mit Ozzy, allerdings finde ich auch, dass er sich reichlich blöd anstellt. Man kann ja eine politische Einstellung vertreten, aber wenn man das nicht innerhalb der gesellschaftlichen Parameter tut, kann man nicht viel damit erreichen. Überhaupt ist mir nicht klar, welches konkrete Ziel Ozzy und seine Clique haben. Die gesellschaftliche Realität sieht jedenfalls so aus, dass du vom anderen dominiert wirst, wenn du nicht selbst dominierst. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz und es muss nicht einmal bewusst geschehen. Ich habe noch nie eine gleichberechtigte Beziehung gesehen. Es gibt hingegen öfter den Fall, dass eine Person sexuell dominiert und die andere dafür in anderen Bereichen. Eine gegenseitige Unterdrückung kommt auch häufig vor, nach dem Motto: Wenn es mir schon schlecht gehen muss, dann kann ich wenigstens dafür sorgen, dass es dir noch schlechter geht.

Es ist verwegen anzunehmen, dass die Gesellschaft sich im tiefsten Innern Gerechtigkeit wünscht, denn wir sind schon lange zu Einzelkämpfern geworden. Nach außen vertreten wir moralische Werte, weil das auch erwartet wird, aber nach innen sind wir egoistisch. Vor allem aber übersieht Ozzy das größte Dogma, das da lautet: „Wir sind unschuldig!“ Bis heute kann zum Beispiel der deutsche Mainstream die Schuld im Zweiten Weltkrieg nicht verstehen. Es sind ein paar Bilder und ein paar Zahlen aus fernen Zeiten. Ein paar Rituale und Lippenbekenntnisse. Über Tausende von afghanischen Ziviltoten verliert man kaum ein Wort. Das ist ein sicheres Indiz. Es wäre bestimmt nicht so, wenn sich die Deutschen ihrer Geschichte stellen könnten. Sie hätten Abscheu vor dem Krieg entwickelt. Das Gegenteil ist der Fall.

Aber so erbärmlich sich unser Land auch entwickelt hat, wir leben in Realitäten. Und wenn Ozzy in der Gesellschaft erfolgreich sein will, muss er sich in diese Realitäten fügen. In seiner Situation bleibt ihm nichts anderes übrig als zu dominieren. Er kann sich nicht mit dem hehren Wunsch herausreden, dass er mündige Bürger erwartet, denn es gibt nicht viele mündige Bürger. Das sieht man am Niveau der Werbespots im Fernsehen. Wenn Ozzy wirklich das Volk erreichen will, muss er eine Art von Kontrolle anstreben. Das Argument von Herrn Solms ist echt, dass Ozzy unbewusst gerade doch eine Führerschaft anstrebt. Und das ist ja auch nicht verwerflich. Ein Politiker muss so sein und Ozzy ist bestimmt politisch. Natürlich, das Leben ist kein Projekt, sagt Ozzy, und er will niemandem sagen, was er machen soll. Bloß, dann lassen sie sich eben von seinen politischen Gegnern sagen, was sie machen sollen, denn die allermeisten Leute können auf Dauer nicht selbstständig handeln. Das ist eine anthropologische Konstante.

Wenn nun Tom Sawyer fröhlich in der Sonne sitzt und seine Geschenke betrachtet, während die anderen Kinder fröhlich für ihn den Zaun streichen, weil sie sich privilegiert fühlen, dann sind doch alle zufrieden! Wenn Ozzy jetzt einwirft, er wolle die Leute aber nicht verschaukeln und sich daran bereichern, dann bleibt er ein Narr. Er hat doch alles, was er braucht! Er sollte jetzt lernen, zu dominieren und dem nicht länger ausweichen. Wenn jemand an ihm schuldig geworden ist, sollte er ihn zur Rechenschaft ziehen und ihn besiegen. Freiwillig wird sich niemand mit ihm auseinandersetzen.

(4) Carl: Als Lehrer gehen mir diese PISA-Ergebnisse ziemlich nahe. In der letzten Zeit hatte ich nicht so viel Lust zu schreiben und ich weiß auch jetzt nicht genau, ob es funktionieren wird. Ich habe mich noch nie so ausgiebig mit politischen Themen beschäftigt wie in den letzten Wochen. Ich unterstütze den Pazifismus, habe aber auch meine Zweifel. Vielleicht sind es nur Ängste, ich weiß es nicht. Es fehlt mir diese Art der Glaubenskraft, wie Ozzy und Simon sie haben. Nachdem nun die Ergebnisse der internationalen Schultests herausgekommen sind, fangen für mich die Zweifel schon wieder an.

Weltpolitisch ist es ja inzwischen ruhiger geworden. So wird es jedenfalls dargestellt. Doch noch immer gibt es tägliche Ziviltote in Afghanistan. Sie sind nur zur Routine geworden, und das Phänomen wurde ja auch in der Presse hinlänglich berücksichtigt. Nun geht es zurück in die Innenpolitik und da merken wir gerade, dass die Bundesregierung in vielen Ressorts nicht weiterkommt. Und dann auch noch PISA. Bei diesen Ergebnissen hatte ich wirklich das Gefühl, Deutschland sei ein Entwicklungsland. Ozzy und Simon sind gegen das dreigliedrige Schulsystem mit Hauptschule, Realschule und Gymnasium, weil es ein elitäres Klassensystem ist, das die soziale Kluft vergrößert. Ich selbst kann mir nicht vorstellen, dass man die Direktoren dazu bewegen kann, ihre Schulen aufzugeben. Es gibt eine große Lobby für die Teilung. Wir sind uns aber einig darüber, dass das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler nur ein Indiz ist. Die Spitze des Eisbergs. In Wirklichkeit geht es darum, dass unsere ganze Gesellschaft verkrustet und verdummt ist.

Auch in meinen Klassen, im Deutsch- und Musikunterricht, ist es nicht überdurchschnittlich. Das Interesse der Schülerinnen und Schüler am Unterricht ist insgesamt nicht besonders groß. Es gibt Ausnahmen und gute Phasen, aber es ist schwer, die jungen Leute für Literatur zu begeistern. Dass es insgesamt in Deutschland aber so katastrophal aussieht, hätte auch ich nicht gedacht. Insofern ist der Gedanke, gleich eine ganz neue Mentalität auszuprobieren oder eine neue Kultur einzurichten, vermutlich die konsequenteste Lösung.

(5) Ulrich S.: Was ich da gelesen habe über das Gesundheitsamt, ist skandalös und schlimm. Ich stimme auch mit Ozzy nicht in allem überein, aber das geht ja wohl weit unter die Gürtellinie. Ich habe mit Solms telefoniert, der weiß aber auch nicht, wer das gewesen sein könnte.

(6) Schraube: Ey Leute, was isn hier los? Wow, so viele alte Kumpel! Am Wochenende war ich im MOJO-CLUB, da hat mir jemand erzählt, dass Ozzy wieder aufgelaufen wäre und eine Art Kulturrevolution planen würde oder so ähnlich. Cool. Ich hab die Chronik auch gesehen und ein paar Sachen gelesen. Ja, das war eine coole Zeit im BLUESLAND. Ich glaube, von 1986 an habe ich da rumgehangen, mit der MOTOR-GANG. Die MOTOR-GANG kam eigentlich nicht wegen der Musik ins BLUESLAND, weil dort viel zu wenig Heavy Metal gespielt wurde, sondern wegen der Frauen. Von den zwölf MOTOR-GANG-Leuten, die heute noch leben, sind vier mit BLUESLAND-Frauen verheiratet.

Als ich gelesen habe, dass Mo sich die schönsten und tragischsten Ferienerlebnisse aus dem BLUESLAND wünscht, musste ich an den schlimmsten Abend meines Lebens denken. Es war im Spätsommer 92, und ich saß mit meiner damaligen Freundin Tanja im BLUESLAND rum. Ich glaube, wir aßen Toast und sahen uns die Billardspiele an. Ozzy war auch da an diesem Abend. Er sah etwas verwildert aus, aber ich erinnere mich, dass er am Billardtisch stand, als wir reinschauten. Etwas später saßen wir bei Mo am Tresen, schlürften ein Bier und kuckten RTL. Da kam dieser Tramp aus Kanada durch die Tür.

Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, ich glaube, Gogo oder so ähnlich. Er war fürchterlich jung und unübersehbar ein Tramp. Er hatte eine Gitarre dabei, die er an der Bar stehen ließ. Er fragte Mo auf Englisch, ob er mit dem Boss sprechen könne. Der brachte ihn in einen der hinteren Räume. Eine halbe Stunde später stand er mit seiner Gitarre oben auf der Bühne. Gerhard hatte inzwischen grinsend die Leute zusammengerufen. Ich glaube, dieser Gogo hat einfach gefragt, ob er mal spielen könne, und ob vielleicht noch eine Mahlzeit und ein bisschen Kleingeld drin wären. Gerhard war für so etwas schon zu haben.

Und dann spielte der Typ den Blues. So etwas hatten wir noch nicht gehört. Es war nicht mehr Hendrix, der Typ machte auf Hendrix' Basis etwas Neues, sehr Kraftvolles, das traditionell klang, aber unverwechselbar war. Der Junge schien mit seiner Gitarre verwachsen zu sein, die Finger rutschten in einer irrsinnigen Geschwindigkeit über die Saiten, dann wieder langsam, und trotzdem im gleichen Rhythmus. Er hat eine Stunde gespielt, vielleicht waren es auch zwei oder drei. Ozzy hat Zugaben verlangt. Als er fertig war, waren wir alle ziemlich geschockt. Ich glaube, wir wussten alle nicht, wie wir uns verhalten sollten. Er saß danach mit Ozzy an einem der Tische und aß etwas.

Ich denke heute, dass wir damals gemerkt hatten, dass das BLUESLAND nicht mehr der richtige Ort für Innovation war. Wir merkten, wie konventionell die Konzerte der letzten Monate gewesen waren. Dass es da draußen Entwicklungen gab, die am BLUESLAND vorbeigegangen waren. Ich weiß nicht, ob es Gerhard und Mo auch so vorkommen ist damals, denn ich bekam an jenem Abend ein viel größeres Problem. Tanja war ganz hingerissen von diesem Gitarrero, und ich konnte mitbekommen, wie sie ihm ihre Nummer gegeben hat. Ich stellte sie zur Rede, und es gab Streit. Ich wollte ihn mir greifen, aber der Typ ist abgehauen. Tanja ist dann nach Hause und wollte mich nicht sehen. Ich denke, dass sie noch am selben Abend mit diesem Typ zusammengekommen ist, denn ich hatte eine Woche nichts mehr von ihr gehört, und danach war es amtlich. Für mich war das damals das vorläufige Ende. Ich hatte meine Freundin verloren, und Kohle hatte ich auch nicht. Heute habe ich gottseidank eine ganz gute Arbeit in einer Werkstatt in Barmbek, Schrauber eben, bin verheiratet, und wir haben einen kleinen Sohn.

Redaktion in Kiel 08.12.01

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