Zwischendurch der Hinweis, dass die Quoten in der letzten Woche auf dem Höchststand von 457 Besuchern waren. Das hat sich aber offenbar nicht auf die Anzahl der Beiträge ausgewirkt. Hier sind die vier Beiträge des Tages:
(1) Simon: Autorität. Das ist doch eigentlich der Begriff, um den wir die ganze Zeit kreisen. Was ist das eigentlich? Die Gesellschaft produziert Frontleute, um sich zu organisieren, politisch, geistig, und wirtschaftlich. Diese haben Autorität. Wenn man alleine in der Wüste ist, gibt es so etwas nicht. Nur wenn Leute zusammenkommen. Das Adjektiv „autoritär“ ist negativ belegt. Es bedeutet, dass man seine Ziele auch mit Gewalt durchsetzt, dass man herrscht und manipuliert. Das Wort „Autorität“ hat dagegen keine negative Konnotation. Ich habe mich gefragt, was das Geheimnis ist, warum man Gewalttätern im allgemeinen viel eher eine Autorität zumisst als friedlichen Leuten.
Zur Vertrauensfrage, bzw. Gehorsamsfrage, wie Ozzy sie genannt hat, haben einige Zeitungen geschrieben, dass man sich in so schwierigen Zeiten Autoritäten wünscht, die nicht wackeln. Dass also eine Sicherheit entsteht durch die Konsequenz der politischen Handlungen von Autoritäten. Wenn zum Beispiel der Bundeskanzler seine Zweifel – die er sicherlich hatte und hat – öffentlich mitgeteilt hätte, hätte man es gegen ihn verwenden können und es daher auch getan. Hier steckt ein großes Paradoxon, denn die Politik der Progressiven würde ich so definieren, dass bei ihr die Zweifel diskutiert werden, um sich klar zu machen, in welcher Situation man steckt. Dass also die Zweifel ein Teil der politischen Entscheidungsfindung sind. Das klingt ganz normal, ist es aber nicht. Das sieht man an den GRÜNEN. Die haben ja ihre Zweifel öffentlich diskutiert und zugelassen auf dem Parteitag. Und es hat ihnen in der Öffentlichkeit eher geschadet. Das mag zum Teil an der Sache liegen, immerhin haben sich sehr weit auseinanderliegende Flügel gebildet. Es ist aber auch der Eindruck von mangelnder Autorität, der faktisch durch die Meinungsvielfalt entsteht.
Vielleicht steckt ein ganzes Fraktal dahinter, das Autoritäts-Fraktal. Von einer Autorität wird erwartet, dass sie keine Schwäche zeigt. Denn wer Schwäche zeigt, kann die Situation nicht mehr kontrollieren. Das haben wir in dieser Chronik schon auf vielen Ebenen gesehen, deshalb spreche ich von einem Fraktal. In unserer Gesellschaft wird es ausgenutzt, wenn jemand Schwäche zeigt. Es scheint so, dass jemand, der selbstkritisch ist, die anderen daran erinnert, dass auch sie ihre Zweifel und ihre kleinen Geheimnisse haben. Und dass sie anders damit umgehen, wie mit Geheimnissen eben.
Auch wenn Leute Fehler und Schuld zugeben, wird es gegen sie verwendet. Obwohl jeder Fehler macht und Schuld begeht. Von einer Autorität erwartet man meist Perfektion. Vor allem aber Kontrolle. Hier ist wohl der Angelpunkt des Autoritäts-Fraktals: Jede Art von Kontrollverlust – sei es durch Selbstkritik, mangelnden Führungswillen oder auch durch zu viel Enthusiasmus – wird zum Autoritätsverlust. Zwar gibt es kein Gesetz, das besagt, dass jede Situation volle Kontrolle braucht, aber es besteht auf allen Ebenen die Angst, dass jemand anderes die Kontrolle an sich nehmen könnte. Angst. Ja, das Autoritäts-Fraktal rechtfertigt sich aus einem Gefühl der Angst.
(2) Ozzy: Hallo, was macht ihr da eigentlich für einen Lärm? Ts ts. Wo kommt denn das mit der Kulturrevolution auf einmal her? Also von mir kommt das nicht. Ich habe zu keinem Zeitpunkt gesagt, dass ich eine Kulturrevolution machen würde. Würde mir ja gar nicht einfallen. So etwas geht doch gar nicht. Und wann habe ich eine große Bewegung angekündigt? Mo hat so etwas vielleicht gemacht, aber ich doch nicht. Ich verweise auf den Essay DIE STRUKTUR WISSENSCHAFTLICHER REVOLUTIONEN von Thomas Kuhn (1968). Darin wird deutlich, wie die Gesellschaft mit neuen Ideen umgeht und dass es auf jeden Fall Ärger gibt, wenn jemand mit revolutionären Dingen anfängt. In der Retrospektive sieht das dann immer ganz anders aus, aber umwälzende Neuerungen zerstören immer die herrschende Ordnung. Das erinnert jetzt schon an die Terrorismus-Definition der EU. Naja, und mit so etwas will ich doch nichts zu tun haben.
Viel wichtiger erscheint mir immer noch dieser blöde Krieg. Wenn das stimmt, was die TAZ schreibt, dass nach Taliban-Angaben etwa 10.000 Menschen bei den Angriffen auf Kandahar gestorben sind, dann sind das ganz neue Dimensionen. Wir waren alle recht aufgebracht in den ersten Wochen, das kann man an der Chronik gut verfolgen. Inzwischen hat sich die Presse wieder gefangen und ein bisschen ist es so wie vorher. Die Themen sind anders, aber die Art, wie darüber geredet wird, ist wie vorher. Zwischendurch merkt man das. Die Legitimation der Angriffe ist als Thema jetzt weitgehend abgefeiert. Der Krieg zwischen Israel und Palästina ist so weit eskaliert, dass sich gezielter Staatsterror mit Selbstmordattentaten abwechselt. Die Israel-Lobby auch in der deutschen Presse setzt sich mal wieder durch, man findet aber auch ausgewogene Berichterstattung. Psychologisch gesehen ist der Krieg in Jerusalem die zentrale Tragödie in der Welt. Alle Seiten zeigen, dass sie den Frieden nicht genug wollen. Nicht genug wünschen. Das ist den Israelis als dem stärkeren und organisierterem Part mehr anzulasten als den entrechteten Palästinensern. Der israelische Staat bewegt sich ja auf dem Niveau der Selbstmordattentäter, wenn er unschuldige Kinder zerbombt, die zufällig neben dem parkenden Auto eines HAMAS-Aktivisten stehen. Dass die Amerikaner sich als einziges Land in der UNO gegen die B-Waffen-Kontrolle stellte, ist ein weiteres Beispiel dafür, dass harte Worte der Kritik durchaus angebracht sind.
Regelrecht erschreckt hat mich übrigens der Beitrag von Tom Sawyer. Er bringt mich sogar in Konflikte. Ich werde darüber nachdenken müssen. Politisch gesehen sind es gefährliche Zeiten. Es hat sich eine Art Elfter-September-Logik entwickelt, die da lautet: Wenn es die Amerikaner tun, ist es kein Terrorismus, wenn es die Israelis oder andere demokratische Staaten tun, ist es auch kein Terrorismus, und was übrig bleibt, kann mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden. Man hat schon mal ausgecheckt, wie die Staatenwelt auf Angriffe im Irak und Somalia reagieren würde und wie weit die Presse mitzieht. Jetzt kommt die Weihnachtspause und dann kann man in Ruhe Pax Americana machen.
Klingt plausibel. Aber ich glaube es trotzdem nicht. Okay, die Amerikaner sind stark, aber trotzdem. Irgendetwas passt in diesem Szenario nicht zusammen, etwas fehlt. Ich habe das Gefühl, als wäre es unzeitgemäß, was da in der Welt passiert. Kann natürlich auch sein, dass ich selbst unzeitgemäß bin, das wird mir ja auch gerne hin und wieder mit netten Worten nahe gelegt. Ach was soll's? Man sollte das alles gar nicht so eng sehen. Shake, Rattle, and Roll.
(3) Mike Roberts: Inzwischen habe ich die Chronik ganz gelesen. Dabei ist mir einiges klar geworden, was ich damals nicht verstanden habe. Politisch stehe ich in einigen wichtigen Punkten nicht auf Ozzys Seite, in anderen schon. Meine Wut auf die Chronik hat sich aber relativiert. Für mich hat das Ereignis des Elften September eine andere Bedeutung, weil ich nur ein paar Häuserblocks entfernt war und den Einsturz mit eigenen Augen gesehen habe. Ich habe hier in New York vor zehn Jahren eine Casting-Agentur gegründet. Für Film und Mode. Sie läuft ganz gut. Für New Yorker Verhältnisse könnte sie auch besser laufen (ich habe keinen Chauffeur), aber ich kann mich nicht beklagen.
Bis heute hat sich die Stadt nicht davon erholt, drei Monate später. Es hat so viele Tote gegeben, auch ich kannte vier oder fünf Leute, die in Ground Zero begraben liegen. Es herrschte große Angst in der Stadt und die ist noch zu spüren. Für uns jedenfalls erzeugt es Sicherheit, wenn die Taliban jetzt vertrieben sind. Und es ist eine große Genugtuung zu sehen, wie Tora Bora beschossen wird. Bin Laden und seine Leute hatten ja mit weiteren Terrortaten gedroht, aber dadurch, dass sie hart bedrängt werden, können sie ihre Pläne nicht umsetzen. Insofern habe ich eine andere Meinung als Ozzy und einige andere hier. Worüber ich mir inzwischen allerdings auch etwas Sorgen mache, ist die Frage, ob die bürgerlichen Freiheiten zu sehr unter den Terrorgegenmaßnahmen leiden.
Was die Hamburger Zeit angeht: Ich war enttäuscht davon, dass die Band auseinandergebrochen ist. Es stimmt schon, es ging damals um die Verse „Nazi in their heads, Nazi in their beds, and Nazi is the name of their pets.“ Auch um ein paar andere Verse. Und um das Image der Band insgesamt. Ich konnte Ozzy schon verstehen, dass er seine Freiheit brauchte. Man konnte ihn nicht vollständig kommerzialisieren und ich verstand auch seine Ängste, dass er seine Kreativität verliert, wenn er zu sehr gegängelt wird. Klar. Aber was er damals tat, war langfristig gesehen nicht gut. Vielleicht zwei Platten später, oder besser drei. Vielleicht wäre dann seine Kritik in den Songtexten auch schon nicht mehr nötig gewesen. Ozzy war zu ungeduldig. Aber er entwickelte sich auch sehr schnell. Er lebte in einem anderen Zeitgefüge und manchmal kam ihm eine Woche wie ein ganzes Jahr vor.
Ich weiß auch nicht. Ich neige dazu, den Anlass unseres Streits heute für gering zu halten. Wir hätten es wahrscheinlich besser machen können. Und es hat auch ein paar Sachen gegeben, wegen derer Ozzy zu Recht auf mich sauer war. Ich habe meistens nur das Geschäft gesehen. Es ist schon ein besonderes Gefühl, wenn man nach zehn Jahren auf die Sache zurückblickt. Vielleicht war es wirklich nur die falsche Zeit. Oder das falsche Land. Heute bin ich aus der Musikbranche ganz draußen.
(4) Heike T.: Auch ich kenne das BLUESLAND noch von früher. Die Chronik habe ich am Anfang gelesen, dann fand ich sie doof und seit einer Woche interessiert sie mich wieder. Viele der Leute, die hier schreiben, schreiben darüber, wonach sie in ihrem Leben streben. Ich hatte mir da nie besonders viele Gedanken drüber gemacht. Als ich jetzt verschiedene Beiträge gelesen habe, ist mir aufgefallen, dass ich eigentlich ständig etwas zu nörgeln habe und mit nichts zufrieden bin. Hier geht es ja oft um das Neue und das Progressive. Bei mir ist es so, dass, sobald ich mit etwas Neuem konfrontiert werde, ich sofort etwas zu lästern habe. Oder wenn jemand etwas sagt, dann fallen mir automatisch die Schwachpunkte auf und oft sage ich dann etwas Gegenteiliges oder etwas Abfälliges. Auch in meiner Beziehung bin ich oft so. Ich frage mich, wo das herkommt. Aber eigentlich ist das nicht nur bei neuen Sachen so, sondern auch bei ganz normalen Sachen. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, dass Leute aus ihren Wünschen heraus handeln und diese Sachen. Seit ich das gelesen habe, muss ich mich ständig dabei beobachten, wie ich auf meine Umwelt reagiere. So als hätte man einen Ohrwurm. Das nervt total.
Redaktion in Kiel, 12.12.01
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