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ROCK'N'ROLL
Nachricht von Ozzy Balou
Eine Rekonstruktion
von Anis Hamadeh
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(1) Mark R.: Ich las Thomas G.s Beitrag in der 37. Nachricht, und ich kenne ihn noch von früher. Wir waren öfter zusammen auf Piste. Auch Schraube und Enno. Wir haben hier fast schon einen Querschnitt der BLUESLAND-Leute zusammen. Die Bands von früher. Sogar von der MOTORGANG hört man wieder. Nicht, dass wir damals alle zusammengehört hätten, Gott bewahre, aber nach all dieser Zeit zeigt sich, dass sich durch das gemeinsame Erlebnis des Feuers doch irgendwie eine Art Gruppe gebildet hatte, wenigstens für eine Weile. Man kann ja eine Gruppe gut definieren als eine Anzahl von Menschen, die ein gemeinsames Erlebnis bzw. eine gemeinsame Geschichte haben.

Als das BLUESLAND abgebrannt war, trafen sich die Leute in den Ruinen und sagten fast kein Wort. Auch in den umliegenden Cafès saßen die BLUESLAND-Leute. Der Begriff BLUESLAND-Leute setzte sich ja erst nach der Katastrophe durch, vorher wurden höchstens die Betreiber des Ladens so genannt. Als der Schock vorbei war, brachen die alten Feindseligkeiten wieder auf. Rechts gegen Links, die Bands untereinander, die Ozyy-Geschichte, die Polizei gegen die „Randalierer“, die MOTORGANG gegen die Antifa-Leute und so weiter, wie gehabt. Einer schob dem anderen die Schuld in die Schuhe. Gerhard Richter hat das Beste gemacht in der Situation, denn er hat gleich woanders neu angefangen und sich aus dem Spektakel herausgehalten. Er hatte nicht einmal mehr über die 10.000 Mark gesprochen, die ihm damals obendrein noch gestohlen wurden. Gut, er war kein armer Mann, aber es zeigte doch auch, dass es mit dem Family Feeling im BLUESLAND bereits vorbei war, als der Brand geschah. Ich fand es damals sehr schlimm, dass jemand wie Gerhard so beklaut wird, der sich sein ganzes Leben lang darum bemüht hat, die Leute zusammenzubringen und sich für sie einzusetzen. Nach dem Brand ging diese Sache dann unter. Wenn wir es damals schon geschafft hätten, einen Diskurs zu führen, so wie hier, dann wäre es vielleicht nicht zu dem Unglück gekommen. Denn ich bin schon der Meinung, dass das Feuer im BLUESLAND nur die Spannungen an die Oberfläche gebracht hat, die bei den Leuten sowieso schon da waren. Wer sollte so etwas tun und warum?

(2) Samantha D.: Vor ein paar Wochen bin ich zufällig auf diese Page gekommen und endlich kann ich mich aufraffen, auch etwas zu schreiben. Mein Bezugspunkt ist eine der Hauptthesen in der Chronik, dass nämlich die Leute sich gegenseitig nicht wachsen lassen und sich kleinhalten. Sie lassen nur Leute raus, die sie kontrollieren können. Meistens sind es Mechanismen, gesellschaftliche Mechanismen, keine rein individuellen Entscheidungen. Auch ich kenne das Gefühl der Überlegenheit und ebenso das Gefühl, dafür ausgelacht zu werden.

Ich hatte schon mit etwa fünfzehn Jahren gemerkt, dass ich besondere mentale Fähigkeiten habe. Es fiel mir leicht, mich in die Lage von anderen Personen zu versetzen, und ich konnte regelrecht mitfühlen, was sie fühlten, so etwa wie Counsellor Deanna Troi aus dem RAUMSCHIFF ENTERPRISE. Auch war ich hyperaktiv und hatte eine blühende Phantasie. In der Schule war es meistens ziemlich langweilig. Ich hatte eine wilde Phase. Irgendwann merkte ich nämlich, dass ich andere Leute manipulieren kann. Jeder sehnt sich ja im tiefsten Inneren danach zu dienen und ich habe es irgendwie geschafft, die Leute anzuziehen und sie dazu zu bringen, Dinge für mich zu tun. Auch sexuelle Dinge. Ich fand nichts dabei, weiß aber heute, dass ich leider einige Herzen gebrochen habe. Ich hatte einfach diese sehr starke Lebensenergie, das Leben war wie eine Droge für mich. Dadurch bekam ich eine Ausstrahlung, über die ich an die Energien von anderen gekommen bin. Es war ein Kreislauf, und ich musste mich nicht besonders dabei anstrengen.

Am Anfang meiner Studienzeit war mein Energieniveau so hoch geworden, dass ich es nicht mehr kontrollieren konnte. Ich hatte nie richtig gelernt, damit umzugehen und hatte auch damals das Vokabular noch nicht, um die Sache überhaupt objektiv zu betrachten und zu untersuchen. Dass die Leute aus meiner Umgebung nicht verstehen konnten, was bei mir passierte, war mir ebenfalls klar. Es endete jedenfalls mit einer Art Kollaps und ich kam für eine Weile in psychiatrische Behandlung. Ich hätte mich damals nicht dagegen wehren können, weil ich tatsächlich in einer akuten Situation war, dennoch hatte ich insgesamt nie den Eindruck, krank zu sein. Mir kam es eher so vor, als fehlte mir nur eine bestimmte Art von Wissen, die ich nirgendwoher bekommen konnte. Einige Jahre später hatte ich es dann kontrolliert, aber das hatte nichts mit irgendwelchen Psychiatern zu tun, sondern es war meine eigene Entwicklung.

Meine Eltern haben überhaupt nicht verstanden, worum es ging. Sie hatten große Angst. Bei vielen Dingen, die ich tat, waren sie von vornherein misstrauisch. Wenn ich von einem Kinderbuch begeistert war, obwohl ich schon 19 war, dann machten sie sich sofort Sorgen darüber, ob ich in meiner Entwicklung stehen geblieben war. Das hat mich völlig von meinen Eltern entfremdet, denn sie waren mir keinesfalls überlegen, im Gegenteil. Es war sehr schwer und schmerzvoll, denn sie machten mich zu einer Art Sorgenkind und ich konnte ihnen das nicht ausreden.

Das ist jetzt alles lange her. Ich habe einen Job und meine eigene Wohnung und meine Eltern sehe ich etwa zwei Mal im Jahr. Das reicht mir auch. Ich tue es auch eher ihnen zu Liebe. Sie kennen mich eigentlich gar nicht und wollen mich auch nicht kennen. Über viele Dinge rede ich nicht mit ihnen, weil ich weiß, dass sie mich dann wieder mit dieser hochgezogenen Augenbraue ansehen würden. Mit diesem Blick, der sagt: Na, sind da noch Reste von deiner Verrücktheit?

Heute weiß ich, dass es damals einfach nur Liebe war. Ich hatte eine große Liebesfähigkeit und wenn ich von etwas oder jemandem begeistert war, dann habe ich es ausgelebt und nicht versteckt. Dadurch wurde mein Energielevel immer höher. Und meine gesellschaftliche Situation immer schwieriger. An dieser Diskrepanz bin ich damals kaputt gegangen. Erst habe ich „die Macht“, wie ich sie genannt habe, missbraucht, aus Trotz wohl, später bin ich abgekracht.

Dann irgendwann erschien dieser Satz in meinem Kopf: „Liebe ist Schwäche“. Er setzte sich in mir fest, eine Art Lehrsatz, den ich unbedingt verstehen musste, um zu überleben. Natürlich ist Liebe keine Schwäche, im Gegenteil. Aber wenn du einem Außerirdischen in einem Satz erklären willst, wie unsere Gesellschaft funktioniert, dann sag „Liebe ist Schwäche“. Deshalb entwickeln sich ja auch Beziehungen oft autoritär: Der Part, der mehr liebt, der mehr vermisst und Intensität sucht, wirkt wie der Unterlegene. Er will etwas. Er hat Wünsche, also muss es ihm ja an etwas mangeln. Er will dir etwas geben, also bist du der Boss. Liebe macht auch unkritisch, denn der Liebende identifiziert sich mit dem Geliebten. Liebe macht weich. Sie ist Hingabe. Wenn du hingegen ein dickes Fell hast und dich nicht verliebst, dann hast du auch nicht diese Sehnsucht. Diese Angst vor dem Verlust des Partners. Du kannst auch nicht so leicht von ihm verletzt werden. Dafür behältst du einen kühlen Kopf und kannst den anderen für deine Zwecke einspannen.

Als ich das Liebe-ist-Schwäche-Theorem verinnerlicht hatte, wurde ich sehr vorsichtig. Ich habe angefangen mich zu verstecken. Jetzt ist mein Energieniveau lange nicht mehr so hoch wie früher, aber ich bin gesellschaftlich integriert. Es ist kein optimaler Zustand, deshalb hole ich mir auch viele Anregungen aus der Chronik. Anscheinend gibt es einige Leute, die solche Erfahrungen kennen. Vielleicht ist sogar meine Generation wieder in der Lage, zu diskutieren und nicht alles sofort abzulehnen und zu pathologisieren, was sie nicht versteht.

(3) Zoltan: Ich bin Linguist und Anthropologe und habe eine Ergänzung zu Herrn Hofstaedters Beitrag in der 40. Nachricht zum Thema Schamanismus. Das Wort „shaman“ stammt vom tungusisch-mandschurischen Wort „sa-man“ ab, wobei „sa“ „wissen“ bedeutet. Möglicherweise ist das verwandt mit den entsprechenden französischen und spanischen Begriffen „savoir“ bzw. „saber“. Shaman wurde bei den Tungusen am Baikalsee der Heiler und Seher genannt. Der für ihn typische Trancezustand wird bei uns auch Ekstase genannt. Dieser Begriff kommt vom griechischen Wort „ekstasein“, das bedeutet etwa „heraustreten aus dem normalen Bewusstseinszustand.“

(4) Maja B.: In der 40. Nachricht hat Samira T. über die Verwirklichung ihrer Träume geschrieben und dass sie den Beruf, das Kind und das Orchester bewältigen kann. Ich finde das durchaus bewundernswert, nur würde ich sie gerne fragen, was sie damit meint, wenn sie sagt, es sei auch ein „Gegengewicht“? Das würde mich interessieren, vielleicht bekomme ich eine Antwort.

Was den Gewaltdiskurs angeht, so kommen wir ganz gut voran, denke ich. Als ich mit dem Thema angefangen hatte, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass es Themen gibt, die sich so hartnäckig der Analyse widersetzen. Es sind eigentlich zwei wesentliche Fragen: Was ist Gewalt? Und: Wie haben wir Gewalt einzuschätzen? Gerade in den letzten Nachrichten war manchmal die Rede davon, dass Gewalt in bestimmten Situationen vielleicht sogar notwendig und richtig ist. Bücher zu diesem Thema suche ich übrigens nicht. Wenn ich eins finde, lese ich darin, aber ich möchte nicht akademisch an die Sache herangehen, das ist mir zu abstrakt. Ich beobachte lieber meine Umwelt, denn die ist ja auch Anlass meiner Fragen.

(5) Marion C.: Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele zartfühlende Männer gibt, denn meine Erfahrungen sind anders. Ich kenne die Männer als oberflächlich und absichtsvoll. Ich hatte selten das Gefühl, wirklich mit einem Mann zusammengewesen zu sein, ein Teil von ihm war immer irgendwie abwesend. Naja, so hat jeder seine Geschichte.

Hier ist vom Personenkult die Rede gewesen (Nachricht 25/1, der Red.), der bei uns wegen Hitler tabu ist. Für mich ist er nicht tabu. Das Schönste an einer Beziehung zum Beispiel ist für mich das Geben und Nehmen. Je mehr man einander geben kann und voneinander nehmen kann, desto reicher wird die Beziehung. Mir selbst fällt es leichter zu geben, als zu nehmen, aber ich habe auch schon dazugelernt. Wenn ich verliebt bin, mache ich bestimmt einen Personenkult mit diesem Mann. Man könnte das so ausdrücken. Ich will ihn dann glücklich machen. Das gibt mir Befriedigung. Wenn ich einen Mann finde, der auch so denkt und der mich auch glücklich machen will, wird die Sache gut, meistens aber nutzen die Männer es aus und testen, wie weit sie gehen können. Ich habe auch schon Männer gekannt, die einfach nur eine Dienerin gesucht haben ohne selbst zu dienen. Deshalb gebe ich aber nicht meinen Hang zum Personenkult auf, vielmehr habe ich eine gesunde Skepsis, die mich vor solchen Männern schützt und mir auch meine Grenzen vorgibt. Am meisten kommt es auf die Person an, die man anhimmelt. Personenkult verbieten ist ja wie Verlieben verbieten!

(6) Christian H.: Auch bei uns an der Uni werden jetzt viele Fragen gestellt über die Folgen des Elften September. Kürzlich war auf Einladung arabischer Studenten sogar die Ministerpräsidentin hier unter dem Motto „Für Frieden – Gegen Gewalt“ und man diskutierte über amerikanische Hegemonialpolitik und über unterschiedliche Bewusstseinsebenen zwischen den Kulturen, von denen die Ministerpräsidentin sprach. Es war ein ganz gutes Gespräch, nur der Titel hat mir nicht so gefallen. Ich meine, es gehört nicht besonders viel dazu, für Frieden und gegen Gewalt zu sein. Das war schon etwas platt. Bei den Arabischstudenten sind die meisten eher gegen die Militärschläge, aber so genau kann man das nicht sagen, denn es gibt auch gute Argumente dafür. Die meisten hier sind aber dagegen, dass man den Krieg auf andere Länder ausdehnt.

(7) Webmaster: Auf dem Divan liege ich, durch das Internet fliege ich und Webmaster nenn ich mich. Klingt es doch nach einer Autorität. Ah, da bin ich schon beim Thema. Also ich selbst speise meine Autorität, die von Google bis Yahoo weithin gerühmt ist, einzig aus meiner unerschöpflichen Weisheit. Was Marco H.s Beitrag in der 39. Nachricht angeht: Also ich weiß nicht, worüber er sich beklagt. Natürlich haben Schriftsteller es schwer und die Konkurrenz ist groß. Wenn man in diesen Bahnen denken will. Ich würde diese Problematik aber umdrehen und sagen: Qualität setzt sich durch, sonst wäre es ja keine Qualität. In manchen Fällen mag es zu spät passieren – wie bei Van Gogh -, und das ist dann tragisch, aber insgesamt denkt Marco H. in sehr einengenden und unfreien Begriffen. Ich glaube nicht, dass man leiden muss, auch wenn man abgelehnt wird. Jede Begegnung hat eine Bedeutung. Es ist doch alles eine Sache des Karmas. Immerhin aber scheint er es schließlich geschafft zu haben. Gott sei Dank! Na, und das gilt doch bestimmt noch für viele andere. Wenn Sie eine Frage zum Sinn des Lebens haben, wenden Sie sich vertrauensvoll an den Webmaster. Sie finden ihn drei Klicks hinter Ihrer Suchmaschine.

Redaktion in Kiel, 14.12.01

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