(1) Karin R.: Ich frage mich, ob es ein Dienen ohne ein Herrschen gibt. Ozzy hat Dylan zitiert und gesagt: „You're gonna have to serve somebody“. So, wie ich es beurteilen kann, sind die wesentlichen Fragen in der Chronik die der Autorität, der Gerechtigkeit und wie die Leute miteinander umgehen. Mal abgesehen von Ozzy und dem BLUESLAND. Herrschen muss im Prinzip nichts Schlechtes sein. So, wie ich Ozzy allerdings verstehe, will er im Grunde, dass eine Herrschaft im Sinne von totaler Solidarität oder eines Ausgeliefertsein gar nicht stattfinden muss.
Ich denke, dass jeder tief in sich drinnen dienen möchte. Und dass es Leute gibt, die das ausnutzen, beziehungsweise sie nutzen es selbst bei anderen aus. Man testet, wie weit man gehen kann. Aber was bedeutet das eigentlich? Gehen wohin? Bis zur Kapitulation des anderen? Bis man Macht über ihn ausübt? Bis zur Befriedigung des eigenen Egos? Wahrscheinlich.
Die Geheimnisse des Herrschens und Dienens habe ich in der Beziehung mit einem Mann gelernt. Wir hatten sehr viel Vertrauen zueinander und auch Respekt. Wir haben uns Rollenspiele ausgedacht, wenn wir der Venus geopfert haben. Die interessantesten Spiele waren wohl die, in denen wir Dienen und Herrschen untersucht haben. Mal war ich seine Dienerin, mal war er mein Diener. Da wir einen Weg gefunden hatten, über solche Dinge zu sprechen, konnten wir sehr weit gehen. Es war bewusst. Es waren Rollenspiele. Wir hatten zum Beispiel ausgemacht, dass das Spiel sofort unterbrochen wird, wenn einer Stopp sagt. Abgesehen von dem Spaß haben wir dabei viel über das Prinzip des Dienens und der Hingabe gelernt. Dass etwa die Gefahr darin besteht, dass man sich abhängig macht oder den anderen von sich abhängig macht. Auch, dass es sehr Weh tut, wenn man sich sehr zeigt und dann nicht mehr respektiert wird. Es waren Erfahrungen, die im ganzen Leben nützlich sind, nicht nur in der Liebe. Ich habe sie erst machen können, nachdem ich mich vom Einfluss meiner Eltern habe lösen können. Vorher hatte ich zu viele Hemmungen und Schuldgefühle. Ich habe jedenfalls gelernt, dass Dienen nichts Demütigendes ist und nichts, was einen auf eine niedrigere Ebene bringt. Im Gegenteil, das hingebungsvolle Dienen ist die höchste Stufe, die man überhaupt erreichen kann.
(2) Sibylle J.: Ozzy hat in seinem letzten Beitrag auf Tom Sawyer (42. Nachricht) geantwortet, mit dem Hinweis, dass dieser ihn in Konflikte gebracht hat. Tom hat mit der Beschreibung, wie die Gesellschaft funktioniert, wohl schon recht. Und ich stimme mit Ozzy überein, dass das erschreckend ist. Ich frage mich, wie gesellschaftliche Veränderung da reinpasst. Die Veränderung hin zu einer Gesellschaft, in der es weniger Machtspiele und Gewalt gibt. Ich glaube nicht, dass man Gewaltlosigkeit mit gewalttätigen Methoden erreichen kann. Das wäre aber die Konsequenz, wenn man, wie Tom es von Ozzy fordert, mit den von ihm beschriebenen Methoden der Gesellschaft arbeitet. Tom schreibt, dass wir alle egoistisch sind und dass immer jemand dominieren muss.
Ich kann nicht glauben, dass das eine unabänderliche Konstante menschlichen Lebens sein soll. Und was er übersieht und was auch Simon bei seinen Autoritätsüberlegungen übersieht, ist die große Kraft und auch Macht, die Menschen haben können, dadurch, dass sie zeigen, dass eine große Vision lebbar ist. Gandhi z.B. oder Martin Luther King hatten eine unglaublich große Autorität. Durch Gewaltlosigkeit und ihre Persönlichkeit, ihre Ausstrahlung. Ich glaube, wir alle haben das Potenzial zu einer solchen positiven Autorität in uns. Sie kommt nur nicht zum Vorschein, weil wir viele Hemmungen haben, weil wir nicht tun dürfen, was uns Spaß macht, weil wir nicht wir selbst sein dürfen. Je mehr wir es schaffen, uns selbst zu finden, uns nahe zu sein, desto mehr positive Ausstrahlung und damit Autorität haben wir. Und desto weniger Autorität haben die Autoritären, weil die, wie Simon richtig sagt, ihre Stellung durch die Angst der anderen bekommen. Wer sich selbst kennt und liebt, braucht vor anderen keine Angst zu haben.
An Ozzys Fall erkenne ich, dass viele Leute sich dagegen sträuben, positive Autorität überhaupt zu akzeptieren. Ich glaube aber nicht, dass das auf Dauer geht. Es gibt ja jetzt schon ein paar Leute, die hinter Ozzy stehen und es lesen ja auch viele Leute die Chronik, das werden nicht alles Ozzys Gegner sein.
Öfter wurde angesprochen, dass Ozzy Führung anstrebt. Seit Hitler ist Führung in Deutschland tabu – als Wort, nicht als Handlung. In vielen Situationen werden Menschen manipuliert, Tom hat die Werbung erwähnt. In der Schule lernen die Kinder, sich mit dem zu beschäftigen, was die Lehrer ihnen sagen und nicht mit dem, was sie interessiert, sofern sie eigene Interessen ausbilden können. Doch Führung ist auch notwendig. Jeder Mensch braucht Vorbilder und fast jeder kommt in Situationen, aus denen er oder sie ohne Unterstützung nicht herauskommt. Manchmal ist es dann notwendig, dass einem jemand mit mehr Erfahrung oder dem besseren Überblick oder dem kühleren Kopf sagt, was man tun soll. Das Wichtigste dabei ist das Warum und das Wie. Demjenigen, der Führung anstrebt, sollte es darum gehen, etwas für die Menschen zu tun, und es sollte eines seiner Ziele sein, die Führung überflüssig zu machen. Diejenigen, die sich wünschen, geführt zu werden, sollten das nicht tun, weil sie die Verantwortung für ihr Leben abgeben wollen, sondern weil sie weiter kommen wollen. Auch ihr Ziel sollte es sein, dass die Führung möglichst bald nicht mehr notwendig ist. Auch müssen sich alle Beteiligten über die Situation im Klaren sein, damit sie nicht aus dem Ruder läuft. Deshalb scheint es mir wichtig, dass Ozzy sich darüber Gedanken macht, ob er nicht doch führen will und wenn ja, warum und wen. Aber wahrscheinlich macht er sich diese Gedanken schon.
Mir fällt auf, dass es mit der Disziplinierung ähnlich ist wie mit der Führung. Hannas Sichtweise (43. Nachricht), dass Disziplinierung etwas Notwendiges ist, war für mich ein Tabubruch. Aber es ist wohl tatsächlich so. Der Unterschied zur Führung ist nach meiner Einschätzung, dass Disziplinierung mit Zwang verbunden ist. Deshalb ist es um so wichtiger, dass viel erklärt und geredet wird und dass man schnell zu einer Situation kommt, in der Disziplinierung nicht mehr notwendig ist.
(3) Klaus K.: Der tiefere Grund, warum Führungspersönlichkeiten so viel Misstrauen entgegengebracht wird, ist bestimmt die Angst davor, dass jemand, zu dem man aufschaut und an dem man sich orientiert, sich als Betrüger oder sogar als Verbrecher herausstellen könnte. Die größte Enttäuschung ist doch immer die, in der sich das Schöne als hässlich entpuppt. Viele Deutschen haben nämlich im Grunde eine starke spirituelle Ader und damit die Fähigkeit, an etwas zu glauben. Immerhin haben sie die Romantik erfunden. Irgendwas muss ja dran sein an den Deutschen, wenn sie in ihrer Blütezeit zwischen Goethe und Nietzsche so viel Geist hervorgebracht haben. So war Deutschland vielleicht anfälliger für den Faschismus, der aber dennoch zunächst einmal ein Phänomen der Zeit war und kein speziell deutsches Phänomen. Er hatte wesentlich zu tun mit den Propagandamöglichkeiten des beginnenden Medienzeitalters und mit dem imperialistischen Konkurrenzdenken der Nationen, einem Überbleibsel der Kolonialzeit.
Wie sehr haben die Deutschen an ihren Führer geglaubt! Wie sehr haben sie sich selbst und ihre Bedürfnisse zurückgenommen, um der Sache zu dienen! Und wie sehr wurden sie enttäuscht! Alles war falsch. Es gab keinen Endsieg und kein Tausendjähriges Reich, es gab keine Welthauptstadt Germania und keinen Lebensraum im Osten, es gab keine Herrenrasse und keine Wunderwaffe. Da waren nur Millionen von Toten. Verwüstetete Städte. Hunger und Kälte. Völlige Zerstörung. Nicht nur der Traum vom Sieg war dahin, die Deutschen bekamen noch zwei Schocks: Die Schmach der Niederlage und das Erkennen der Schuld an den Juden und vielen anderen. Das alles nach sechs Jahren Krieg, der den Menschen ohnehin schon alles abverlangt hatte. Der größte Irrtum in der Geschichte der Menschheit war dieser deutsche Irrtum.
Als in den 50ern der wirtschaftliche Aufschwung kam, hat man versucht, diesen Krieg zu verdrängen. Es war zu viel. Es hätte den Menschen die Köpfe zersprengt. Sie wären gar nicht in der Lage gewesen, sich wieder aufzurappeln, wenn sie nicht verdrängt hätten. Heute aber gehören diese Dinge auf den Tisch, denn sonst werden die Leute immer Angst vor dem Schönen haben. Es könnte sich ja wieder als hässlich entpuppen. Und es gibt doch das Schöne. Oder man müsste übereinkommen, dass es überhaupt nichts Schönes gibt, das wäre noch schlimmer.
(4) Chong: Ich möchte noch einmal auf den Begriff der Selbstliebe zurückkommen, über den es eine Kontroverse gibt. Vielmehr möchte ich auf die Art dieses Begriffs zu sprechen kommen. Mir ist nämlich aufgefallen, dass es einige Begriffe dieser Art gibt, die zwei Bedeutungen haben, eine positive und eine negative. Stolz ist auch so ein Begriff. Mal ist es etwas Gutes, wie in „stolzer Krieger“, mal etwas Negatives, wie in „Sein Stolz stand ihm im Weg“. Auch mit dem Begriff Mitleid ist das so. Wenn du jemanden siehst, dem es schlecht geht, bekommst du vielleicht Mitleid. Es ist ein angemessenes Gefühl, weil man so den anderen in seinem Leid nicht allein lässt. Wenn das Leid zu einem gemeinsamen Erlebnis wird, verliert es einen Teil seiner Härte.
In einem Film sah ich einmal die Szene, wie eine Frau gerade ein Kind zur Welt brachte und große Schmerzen dabei hatte, aber nicht mehr weinen konnte, weil sie zu erschöpft war. Eine andere Frau saß daneben und weinte für sie. Das war eine sehr eindrucksvolle Szene. Die werdende Mutter hatte nicht mehr die Kraft, um zu weinen oder zu schreien vor Schmerz, aber ihre Freundin war so nah an der Situation, dass sie ihr diese Arbeit abnahm. Sie litt mit ihr, ja sogar für sie, weil die andere nicht mehr konnte. Das ist für mich ein Beispiel für echtes Mitleid. Wenn dagegen beim Kaffeeklatsch über jemanden geredet wird, dem es ja so schlecht geht und wenn man dabei „Ach, der Arme!“ oder „Ach, die Arme!“ sagt, dann hat das für mich nichts mit Mitleid zu tun. Oder wenn man sagt „Ach, die armen afghanischen Kinder!“ Das hat wohl eher mit dem Dilemma zu tun, dass man wirkliches Mitleid zeigen möchte, aber es schon nicht mehr kann, weil man in einer sehr abstrakten Welt lebt, in der tatsächliche Nähe fast schon zu etwas Anstößigem geworden ist.
Viele nennen es ja auch Mitleid, wenn sie eigentlich nur die Schwächen der betreffenden Person hervorheben, sei es, um sich darüber stellen zu können und damit jemanden zu haben, dem es schlechter geht als einem selbst, sei es aus Sadismus. Denn wer will schon bemitleidet werden? Das wäre dann die negative Seite des Begriffs. Der Bemitleidende fühlt sich in der stärkeren Position und nutzt das aus. Der Mitleidende dagegen fühlt sich auf einer Stufe mit dem Armen, um den es geht. Habe ich das nicht schön gesagt? Oder? Übrigens, in der Schweiz will man ja jetzt Cannabis legalisieren, habt ihr das schon gehört? Mann, das bringt die Deutschen ganz schön zum Nachdenken.
(5) Jens K.: Wenn ich das so lese, was über den Schamanismus gesagt wird, erinnert mich das an die Vorstellungswelt, die ich als Kind hatte. Eine zeitlang hatte ich drei kleine Steine in einer Streichholzschachtel aufbewahrt, und für jeden Stein hatte ich täglich einen kleinen Wunsch frei. Die Steinchen mussten natürlich von einem ganz bestimmten Ort stammen. Ich weiß selbst nicht mehr, warum der Ort, wo wir mit der Familie damals sonntags spazieren gegangen waren, dieser spezielle Ort war. Das ging eine ganze Weile mit diesen Steinchen. Meine Schwester hat auch mitgemacht. Allerdings hat sie mir später erzählt, dass sie nie richtig daran geglaubt hat. Das hat mich irgendwie irrititert und auch enttäuscht. Denn ich hatte daran geglaubt. Selbst heute. Nicht, dass ich so etwas noch tun würde, aber damals war es richtig, daran zu glauben.
Vielleicht kann Herr Hofstaedter das einordnen, denn ich würde gern mehr über den psychologischen Sinn eines solchen Kinderschamanismus erfahren. Was steckt dahinter? Damals als Kind erschien mir das alles sehr bedeutsam, das muss einen Grund gehabt haben.
Redaktion in Kiel, 16.12.01
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