(1) Maria: Wenn wir uns wirklich eine glücklichere Welt wünschen, müssen wir eine Vorstellung davon haben, was wir konkret damit meinen. Wir sind mit der Chronik bestimmt schon auf einem guten Weg, denn zunächst einmal ist es ja wichtig, die Themen abzustecken und zu sehen, welches die Basisprobleme in der Gesellschaft sind. Nachdem so viel darüber gesprochen wurde, habe auch ich mich etwas über den Schamanismus schlau gemacht. Es geht viel um Wunschverarbeitung, so wie ich es verstanden habe. Der Schamane inszeniert einen Wunsch mit bestimmten individuellen Riten und bringt ihn mit der Realität zusammen. Auch bei uns gibt es Ausdrücke wie „etwas herbeireden“, die darauf verweisen, dass so etwas wirklich funktioniert. Oder die berühmte „self-fulfilling prophecy“. Es muss ja etwas dahinterstecken, sonst hätten solche Begriffe nicht so viel Bedeutung.
In dieser Chronik haben wir einige Leute gesehen, deren Wünsche sich nicht erfüllt haben. Die stattdessen in ihren Ängsten hängen geblieben sind. Ich habe darüber nachgedacht, welche psychologischen Mechanismen da eine Rolle spielen und ich glaube, dass es in erster Linie an der Vorstellungskraft liegt, die bei vielen Leuten nicht hinreichend ausgebildet ist. Bevor sich ein Wunsch erfüllen kann, muss man ihn genau kennen. So habe ich es in einem Schamanenbuch gefunden. Dort stand, man soll sich den Wunsch möglichst plastisch vorstellen, mit vielen Details. Je präziser man seinen Wunsch formulieren kann, desto wahrscheinlicher wird seine Erfüllung. Dann wird der Wunsch zur Idee, zu etwas, das sich in die äußere Welt transportieren lässt. Der Wünschende hat die Erfüllung des Wunsches dann schon einmal erlebt oder vor-erlebt. Er hat sich damit vorbereitet auf die gewünschte Situation.
Ist es nicht so, dass wir meist gar nicht so genau wissen, was wir uns wünschen, weil es uns komisch vorkommt, darüber nachzudenken? Und vielleicht auch, weil uns unsere wirklichen, tiefen Wünsche, wenn wir sie uns klar machen würden, uns fremd erscheinen könnten oder peinlich? Haben wir Angst vor unseren Wünschen?
Als ich damals als junge Göre in die große Stadt kam, bekam ich schon einen gewissen Kulturschock. Ich stamme aus einer Bauernfamilie und habe sechs Geschwister. Es gab viel Arbeit auf dem Hof und obwohl ich sagen würde, dass ich eine glückliche Kindheit verbracht habe, gab es ganz andere Arten von Glück, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Was die Liebe angeht natürlich, aber auch die Musik, die Selbstständigkeit, viele Sachen. Gerade, was die Musik anging, konnte ich mich erst in Hamburg richtig entfalten, weil ich dort zum ersten Mal gesehen hatte, dass andere Leute auch solche Musik machen wie ich. Zuhause konnte ich mit meinen Klangexperimenten nicht groß landen, obwohl ich es mir eine zeitlang sehr gewünscht hatte. Als ich dann in meiner ersten Band in Hamburg nicht nur akzeptiert wurde, sondern man sogar meine Melodien in die Songs einarbeiten wollte, war ich von der Aufmerksamkeit zuerst überwältigt. Ich bin fast ausgeflippt und habe erst mal gemerkt, dass man lernen muss, mit Glück umzugehen. Wenn man eine Überdosis Glück bekommt, kann man tatsächlich Schaden nehmen. Paradox eigentlich. Ich denke, das ist im Schamanismus gemeint, wenn es um Wunschinszenierungen geht.
(2) Samira T.: Maja B. hat mich in der 45. Nachricht gefragt, was ich mit dem „Gegengewicht“ meine, wenn ich von meinem Freiraum spreche. Mir war das Wort gar nicht so aufgefallen, und ich musste erst einmal selber nachdenken, was ich mir dabei gedacht hatte, als ich es schrieb. Aber es ist schon so, dass ich insgesamt das Leben nicht so leicht finde. Deshalb brauche ich ja auch die Freiräume. Oft ist es stressig. Mein Mann ist oft von seiner Arbeit gestresst. Er hat viel zu tun, denn er baut gerade eine Firma auf. Wir müssen ja auch an die Zukunft denken, gerade jetzt, wo das Kind da ist. Oft helfe ich ihm auch und mache Sekretariatsarbeiten oder anderes, wenn viel zu tun ist. Und viel zu tun ist eigentlich immer. Ich glaube aber nicht, dass das etwas Besonderes ist. Ist es nicht für alle so, dass sie Freiräume und Gegengewichte brauchen, weil das Alltagsleben doch eher hart und trist ist, wenn mal ehrlich ist? Allerdings, bei Ozzy und ein paar anderen klingt es manchmal tatsächlich so, als würden sie es schon an dieser Basis in Frage stellen, dass das Leben hart ist. Mich wundert das ehrlichgesagt etwas, denn Ozzy hat es doch selbst erlebt. Und für ihn ist eben das Songschreiben so ein Gegengewicht.
(3) Hermann T.: Wenn im Prinzip jeder, wie Herr Hofstaedter es gesagt hat, einen progressiven und einen konservativen Teil in sich hat, heißt das ja, dass jeder auch in sich selbst Kämpfe führt oder mit sich selbst. Dass man widerstreitende und sich widersprechende Meinungen hat und Entscheidungen trifft. Ich habe es vor Jahren so ähnlich erfahren, als die Antworten, die ich auf die Welt kannte, nicht mehr ausreichten. Als ich das Gefühl hatte, alles würde falsch sein und nichts würde funktionieren. Ich kam irgendwann zu dem Gedanken, dass man alles Schlechte und alle Kritik in sich selbst suchen muss. Ich weiß nicht mehr, ob es aus einem Schuldgefühl heraus entstand oder einfach, weil mir niemand helfen konnte und ich etwas Neues ausprobieren musste. Meine Lebensstrategie funktionierte nicht mehr.
Dieses Prinzip „Suche den Fehler in dir selbst“ stammte also aus einer akuten Krisensituation. Später verselbstständigte es sich und wurde zu einer Art Spiel. Wenn zum Beispiel jemand anderes einen Fehler gemacht hat, der mir einen Nachteil gebracht hat, dann habe ich mich gefragt, warum es überhaupt ein Nachteil für mich ist und ich habe den Nachteil analysiert, weil er anscheinend eine Schwachstelle war. Oder wenn mich etwas gestört oder aufgeregt hat, habe ich mich gefragt, ob ich meine Empfindlichkeit überwinden kann, um mich von dieser Sache nicht mehr gestört zu fühlen. Oder, ob ich die Situation von vorneherein hätte verhindern können. Oder wenn ich von einem Telefonat gestört wurde, habe ich mich gefragt, warum ich das Telefon nicht leise gestellt habe, wenn ich nicht gestört werden wollte. Und so weiter. Das hat gar nichts damit zu tun, dass die anderen über mir stehen würden oder so etwas. Vielmehr ist es so, dass die anderen dafür verantwortlich sind, was sie selbst tun und wie sie selbst denken und fühlen und ich bin dafür verantwortlich, wie es mir geht und was ich mache.
Die heutigen Streitereien in der Gesellschaft betrachte ich mit Interesse und Faszination. Wenn die Journalisten in der Zeitung zum Beispiel über diesen Kalifen aus Köln ablästern oder auch über Arafat, oder Scharping, oder auch Juhnke, dann frage ich mich, was sie mit diesen Politikern oder Promis überhaupt zu tun haben. Natürlich ist es ihr Job, Kritik zu üben. Doch obwohl ein durchschnittlicher Zeitungsartikel immer einen Argumentationsfaden hat, merkt man oft schon an der Wahl und der Größe des Fotos, ob eine bestimmte Person in ein eher gutes Licht oder eher in ein schlechtes Licht gerückt wird und dass es oft auch einfach darum geht, jemanden in ein bestimmtes Licht zu stellen. Vieles ist Spiegelkritik: Man meint eigentlich sich selbst.
(4)Simon: Ich glaube, das Schlimmste, was die Gesellschaft sich selbst antut, ist, dass sie die Geschlagenen ablehnt, die sie selbst geschlagen hat und zwar eben weil sie geschlagen wurden. Das ist das Grausamste. Wenn ich mir einen Vater vorstelle, der sein Kind regelmäßig schlägt, vielleicht sogar brutal schlägt, er kann das Kind ja schon deshalb nicht mehr ernst nehmen, weil er selbst ihm ein schlechtes Image gegeben hat. Denn wie sieht jemand aus, den wir respektieren? Er ist stark und hat Charakter, eine natürliche Ausstrahlung, ist lebensfroh und gesund. Ein geschlagenes Kind ist nicht so. Ein geschlagenes Kind zieht sich zurück, fängt an zu stottern, ist ständig unsicher, hat Überreaktionen und ein gestörtes Verhältnis zu seiner Umwelt. Ein Verhalten, das dem Vater nicht gefallen wird und er hat es selbst herangezüchtet. Aber er schiebt es wieder auf das Kind und so geht es weiter, vielleicht so lange, bis das Kind jemand anderen schlägt oder ein Versager wird, oder aber, bis es den Vater zurückschlägt, um die Situation wieder auszugleichen. Michael Augustin, ein Journalist von Radio Bremen, hat einmal gesagt: „Kinder, die von ihren Eltern geschlagen wurden, schlagen nach ihren Eltern.“
(5) Silke P.: Ich glaube, Mo hat schon Erfolg damit, das BLUESLAND wieder auferstehen zu lassen. Es lebe das Internet, denn ohne das Internet wäre es unmöglich gewesen, die Leute aus dem BLUESLAND wieder zusammenzubekommen. Diese Form der Kommunikation ist jedenfalls nicht aufwendig und abstrakt genug, um die Leute nicht zu sehr zu verpflichten.
Vor einigen Tagen saß ich bei einem Cognac über der Chronik. Ich glaube, es war, als ich diese Gogo-Geschichte gelesen habe, die mich übrigens sehr amüsiert hat. Das legendäre Blueskonzert habe ich damals nicht miterlebt, aber ich war da an dem Tag, als das BLUESLAND abbrannte. Und nun erinnerte ich mich daran, dass ich ebenfalls ein seltsames Erlebnis im BLUESLAND hatte, an genau diesem Tag.
Und zwar geht es um Micki. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere an ihn. Er hing eigentlich immer im BLUESLAND rum, ab und zu hat er dort auch gearbeitet. Alle mochten ihn, weil er freundlich und hilfsbereit war. Außerdem machte er diese fantastischen Parodien, besonders auf Schauspieler. Ich saß mit ihm an einem Tisch an diesem Tag. Er war mit einem Kumpel da, ich glaube, der hieß Torsten, dann waren da noch meine Freundin Diana und noch jemand, an den ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Irgendwann wurde Micki unruhig und unkonzentriert. Diana fragte ihn etwas, und er hörte es nicht. Wir fragten ihn, ob alles okay ist, und er sagte ja. Dann sagte er nein, es wäre nicht alles okay. Er hätte ein seltsames Gefühl. Wir fragten ihn, was für ein Gefühl, und er meinte, dass irgendetwas Schlimmes passieren würde. Na gut, was sollten wir da sagen? Er meinte, es sei nur ein Instinkt, aber er würde auf seinen Instinkt hören. Er ist dann tatsächlich mit seinem Kumpel weggegangen. Es war ihm zwar unangenehm, uns so sitzen zu lassen, aber er hat es uns erklärt und gesagt, wir können gerne woanders weiter reden, aber er wolle den Ort verlassen. Im ersten Augenblick haben wir es sogar für eine Anmache gehalten. Aber das war es nicht. Zwei Stunden später bestätigte sich diese Vorahnung dann. Ich hatte dieses Ereignis verdrängt, weil ich an diesem Abend einen Schock bekam, von dem ich mich nur sehr langsam lösen konnte. Ich erinnerte mich nur daran, wie ein Feuerwehrmann mich aus der Hitze ins Freie trug. Ich war ohnmächtig geworden, aber sonst war mir Gott sei Dank nichts passiert.
Diese kleine Geschichte ist aber nicht nur eine Anekdote aus dem BLUESLAND, sie passt auch in den Diskurs. Als Micki gesagt hatte, er hätte so ein Gefühl, habe ich es ihm jedenfalls nicht geglaubt. Ich habe es respektiert, aber nicht geglaubt. So gut kannte ich ihn nicht. Aber selbst wenn. Auch sein Kumpel hat ihm wohl nicht so recht glauben können. Er ist jedenfalls nicht wegen der Ahnung mit ihm weggegangen, sondern weil er bei Micki bleiben wollte. Als es dann wirklich gebrannt hat, da habe ich Mickis Ahnung dann sofort geglaubt. Die Katastrophe war sehr real. Eine Ahnung dagegen scheint überhaupt nicht so real zu sein. Nachdem sich aber herausgestellt hatte, dass sie doch real war, muss ich mir heute die Frage stellen, wie man die Realität von Ahnungen und anderen Phänomenen erfassen und beschreiben kann.
Mit dem Frieden ist es ja ganz ähnlich: Frieden bedeutet oft die Abwesenheit von Krieg. Über Krieg kann man gut sprechen, das sind Soldaten und Waffen und Panzer, Tote und Verwundete, Geländegewinne, Bombardierungen, Flüchtlinge, Bomben, Gipfelkonferenzen, und so weiter, aber Frieden? Was soll das sein? Wie soll man darüber berichten? Es scheint, als sei der Frieden einfach nicht handfest genug, um ernsthaft in Frage kommen zu können.
Redaktion in Kiel, 18.12.01
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