(1) Uschi T.: Wenn ich beim letzten Mal noch gesagt habe, dass bei uns in der Werbebranche keiner so richtig Lust auf Weihnachten hat, dann muss ich das heute schon wieder relativieren. Wie es in unserem Fach so ist, hat sich die Stimmung geändert. (Oder hat sich einfach nur meine Stimmung geändert?) Das hat zum einen zu tun mit dem Krieg in Afghanistan. Nachdem die Amerikaner jetzt die wesentlichen Gebiete in Schutt gelegt und sie Tora Bora geknackt haben, ist es auch für Deutsche keine so peinliche und schlimme Sache mehr. Man atmet auf. Der Krieg gegen die Attentäter scheint jetzt unter Kontrolle zu sein und das Ausbleiben von Gegenschlägen trägt zur Beruhigung bei. Wenigstens psychologisch gesehen haben es die Amerikaner durchaus geschafft, noch vor Weihnachten eine Art Stabilität herzustellen und Ängste abzubauen. Ein bisschen scheint es so, als denken die Leute: Nach all diesen Katastrophen und nach all diesem Stress soll wenigstens Weihnachten schön werden, damit wir wieder etwas auftanken können.
Zum anderen gibt man sich in der Werbung auch deshalb wieder Mühe, weil trotz der Wirtschaftskrise eine besonders große Geldmenge im Umlauf ist. Durch die Einführung des Euro müssen ja die Reichen ihr ganzes Schwarzgeld irgendwo lassen. Man kann verfolgen, dass Luxusartikel wie Uhren und Schmuck, aber auch teure Elektronik, einen regelrechten Ansturm erleben. Volkswirtschaftlich gesehen ist das eine positive Entwicklung. Und jetzt, wo die heiße Zeit des Krieges erst einmal vorbei ist, kann man auch wieder ohne schlechtes Gewissen lustige Werbespots machen. Viele meiner Kollegen sind wieder zum normalen Tagesprogramm zurückgekehrt, ich allerdings nicht. Etwas hat mich aufgeschreckt. Wenn ich in diesen Tagen Werbetexte schreibe und bei den Aufnahmen dabei bin, stelle ich viel mehr Dinge in Frage als vorher. Der Begriff „Konsum“ bekommt für mich einen mehr und mehr negativen Beigeschmack.
(2) Mo: So so Ozzy, mir willst du also die Kulturrevolution in die Schuhe schieben, was? Das hast du dir ja nett überlegt. Aber warum nicht? Think big! Politisch gesehen sehe ich da durchaus einen Spielraum. Inzwischen gibt es, wie ich aus den Nachrichten weiß, (auch aus diesen hier), in Deutschland ja so gut wie kein Ressort mehr, in dem es nicht stark bis übermächtig kriseln würde. Und jetzt zanken sich auch noch die Europäer und die Amerikaner. Selbst über die Nato fallen wieder kritische Töne. Ich weiß zwar nicht, ob meine Visionen irgendeine Relevanz haben, aber ich bin gerne bereit, Ozzy zu entlasten, wenn es der guten Sache dienlich ist.
(3) D. Hofstaedter: Jens K. fragte mich in der 46. Nachricht nach der Bedeutung von Kinderschamanismus. In der Tat gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen kreativen kindlichen Riten und dem Schamanismus. Die Idee mit den drei kleinen Wunschsteinen gibt es beispielsweise im südamerikanischen Schamanismus. Dort sah ich Leute, die einfache kleine Figuren bei sich trugen, aus Papier, Stoff und farbigem Zwirn, kürzer als ein Streichholz. Vier oder fünf dieser Püppchen waren in einem kleinen bunten Stoffbeutel. Die Funktion dieser Figuren müsste etwa ähnlich sein wie die der drei kleinen Steine in der Streichholzschachtel, von der Jens K. erzählt hat.
Bemerkenswert am kindlichen Schamanismus ist, dass er die Motive des universalen Schamanismus intuitiv erkennt und von allein reproduziert. Denn Kinder wissen natürlich nichts von schamanischen Riten. Sie tun es, ohne darüber nachzudenken. Hier liegt ein großer Beweis für die Wissenschaftlichkeit des Schamanismus, ja überhaupt für seine Universalität. Wie anders ist es zu erklären, dass Menschen allen Alters, aller Zeiten und aller Kulturen immer wieder auf dieselben Prinzipien stoßen? Die drei Steinchen bzw. Stoffpüppchen sind psychologisch gedeutet Bewusstmacher und Erinnerungshilfen in Gestalt von rituellen Requisiten. Ein Kind, das daran glaubt, dass die Steinchen ihm seine Wünsche erfüllen können, wird durch diesen Glauben in einen bestimmten Rahmen gesetzt. Es setzt sich viel stärker mit seinen innersten Wünschen auseinander als andere Kinder. Es muss täglich neu entscheiden, für welche Wünsche es die Steine „ausgeben“ will, es wird auch Enttäuschungen erleben und Glaubenszweifel, es wird erfahren, dass es große und kleine Wünsche gibt und es wird sich auf die Erfüllung der Wünsche konzentrieren. Dadurch entstehen kognitive Strukturen im Kind, die ihm im späteren Leben nützlich sein können: Glaubenskraft, Wunscherfüllungssstrategien, Selbstbewusstsein, Neugier auf das Neue und das Unbekannte. Um dieses Phänomen didaktisch zu nutzen, müsste man allerdings ganz neue Rahmen und Formen finden. Die Lehrer würden in diesem Falle weniger versuchen, dem Kind etwas zu lernen zu geben, vielmehr würden sie etwas aus ihm herausholen. Sie würden das im Kind bereits vorhandene Wissen erkennen und fördern.
Auch Hermann T. in Nachricht 47 ist übrigens auf eine schamanische Technik gestoßen, als er sich das Spiel ausdachte, in dem er die Kritik immer in sich selbst suchte. Im Schamanismus wird dieses Phänomen oft mit der Figur des Coyoten dargestellt. Der Coyote ist der kleine Teufel auf deinen Schultern, der dich auslacht, wenn etwas schief geht, und der dich piesackt, wenn du wütend wirst. Immer, wenn du auf dich selbst gestellt bist, beobachtet dich der Coyote. Er stellt dir Fallen im Alltag und versucht zu erreichen, dass du die Fassung verlierst. Wenn es ihm gelingt, lacht er dich aus. Wenn du die Schuld auf andere schiebst, auch. Denn du bist für dich selbst verantwortlich. Normalerweise geht man einer solchen kritischen Bewusstmachung seines eigenen Handelns aus dem Weg, weil man sonst ständig wachsam sein müsste. Durch die märchenhafte Sublimierung der Selbstkritik in die Figur des Coyoten ist es dem Schamanen möglich, ein Spiel daraus zu machen, und den Coyoten auch noch herauszufordern. Der Spruch „Ich liebe Hindernisse“ ist so eine Herausforderung.
(4) Marco H.: Qualität setzt sich durch. Ja, wenn das so einfach wäre! Da macht der weise Herr Webmaster in der 45 es sich schön leicht. Sicher, der Satz hat etwas Bestechendes, er klingt nach Darwin und nach Sätzen wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Aber dahinter versteckt sich auch ein kümmerliches „Na, wird schon werden“ und ein befremdliches „Die Gerechtigkeit wird schließlich siegen“. Ich frage mich, warum wir dann überhaupt die Chronik schreiben, wenn alles eine Frage des Karmas ist. Aber die Chronik ist es dann wohl auch. Immerhin war zumindest im Falle von Herrn Webmaster ersichtlich, dass es dem schüchternen Mann sowieso eher um Ozzy ging, ja wahrscheinlich sogar um ihn selbst.
Naja, schüchtern bin ich selber. Und wütend. Deshalb bin ich wohl auch Schriftsteller geworden. Im Fernsehen läuft die Thomas-Mann-Verfilmung mit Armin Müller-Stahl. Ich bin begeistert von dem Film, weil er inszeniertes und dokumentarisches Material verbindet. Dadurch wirken die Figuren sehr nah und plastisch. Jetzt verstehe ich auch seine Literatur besser. Er war früher für mich der präziseste Schriftsteller, aber nicht sehr fesselnd. Er konnte mit einer Engelsgeduld Details beschreiben, dass man sich wunderte, wie ein Mensch so etwas Filigranes so stark und mächtig in Prosa ausdrücken kann. Es war schon wissenschaftlich. Den Zauberberg habe ich gelesen und ein paar Sachen. Thomas Mann hat um sich herum eine strenge und abstrakte Ordnung aufgestellt. Sehr deutsch, noch von der Kaiserzeit beeinflusst. Und hinter diesem Äußeren der sensible Zauberer. Es schien mir, als hätte Mann sein starkes Gefühlsleben mit Anstrengung kontrolliert, um es für die hohe Literatur zu nutzen und sich dadurch gleichsam zu entschuldigen für die Menge an Gefühl, die da in ihm war. Ist das auch deutsch?
Ich frage mich das nicht von ungefähr. Denn natürlich bin ich Lyriker geworden, weil ich starke Gefühle habe plus eine gewisse Sprache, um sie auszudrücken. Und den Drang, zu schreiben. Der gehört bestimmt dazu. Aber zunächst einmal sind es Gefühle. In meiner Welt sind sie die Basis allen Handelns und Verstehens. Trotzdem ist es oft tabu, darüber zu reden. Gefühle zeigt man nicht, ein Indianer kennt keinen Schmerz, komm zurück auf den Teppich, grübel nicht so viel usw.. Tabu, das heißt, dass man keine Reaktion bekommt, wenn man es zeigt oder darüber spricht. Dass das Thema tot gemacht wird durch Schweigen, durch die Vorspiegelung der Tatsache, dass da nichts dergleichen gewesen ist. Es ist nicht leicht, in einer Welt zu leben, die auf Gefühlen beruht und die dieselben Gefühle leugnet, leugnen muss oder lediglich in ritualisierter Form zulässt.
Ich hätte wohl heute nicht darüber geschrieben, wäre da nicht diese Wut. Und da ich ehrlich gesagt zu einigen Leuten aus der Chronik bereits Vertrauen gefasst habe, möchte ich es mit ihnen teilen. Die anderen stören mich dabei nicht. Es geht um eine Frau. Vor einigen Stunden sah ich sie zufällig im Waschsalon wieder. Julia. Ich hatte sie in diesem Jahr nur fünf Mal gesehen. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der wir ziemlich verliebt waren, aber sie hatte eine feste Beziehung. Ich wurde dann eifersüchtig, und sie wurde schweigsam, und es endete mit dem mehr oder vielleicht auch weniger erfolgreichen Versuch der Schadensminimierung auf beiden Seiten. Ich wollte sie ganz oder gar nicht, sie wusste nicht genau, was sie wollte, aber mich jedenfalls nicht. Nicht so. Was das mit Wut zu tun hat? Nun, ich war wütend, als ich sie heute gesehen habe. Ich konnte gerade noch Hallo sagen, und ich habe zugesehen, möglichst schnell wieder aus dem Laden raus zu sein. Das hat der Situation nicht entsprochen, denn ich spürte jede Menge lustiger Energiepartikel zwischen uns. Etwas anderes hätte geschehen müssen, ich wusste nicht, was. Ich bin wütend darauf, dass sie ihre Gefühle in bestimmten Momenten nicht gezeigt und sich versteckt hat, wütend, weil meine Umgebung Gefühle für Schwäche und Männer wie mich für Idontknowwhat hält, wütend, weil ich Menschen liebe, die mich nicht akzeptieren können, wie ich bin, wütend vor allem auf mich selbst, weil ich so blöd bin. Aber wenn ich es mir in Filmen ansehe, zum Beispiel Roberto Benigni in „Das Leben ist schön“, oder auch bei Crocodile Dundee, wo der Held einfach so überzeugend ist, dass er die Frau von dem anderen wegholen kann, naja, sehr überzeugend finde ich das auch nicht. Obwohl der Benigni-Film einer meiner Lieblingsfilme ist. Aber wie soll man das denn aushalten, wenn ..., ach drauf geschossen. Vielleicht bin ich auch nur neidisch. Es hilft mir schon ab und zu, mir meine eigene verklemmte Blödheit klarzumachen, denn irgendwann möchte ich auch mal etwas richtig machen. Aber was, soll ich mir vielleicht meine starken Gefühle abgewöhnen? Wütend!
(5) Lutfi M.: Vieles, was ich hier über das Gegensatzpaar „Wünsche“ und „Ängste“ gelesen habe, hat mich an Vorstellungen und Praktiken eines Sufi-Ordens erinnert. Die Sufis sind die muslimischen Mystiker. Bei vielen Riten geht es darum, Ängste abzuschütteln und sich zu öffnen und zu entfalten. Ich stimme auch dem zu, dass man sich von seinen Wünschen leiten lassen soll. Und in der Tat ist unser weltweites Informationssystem, die größte aller menschlichen Kollektivpsychen, auf Ängste ausgerichtet. Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Wenn Krieg ist, ist was los, dann gibt es viel zu schreiben, wenn Frieden ist, was soll man schreiben? Über die Wünsche der Leute? Das sind keine Nachrichten.
Menschen, die nach ihren Ängsten leben, legen sich eine dicke Haut zu. Im Arabischen sagen wir auch: Ihr Blut ist schwer. Sie haben sich Gefühle und Wünsche abtrainiert und sind dadurch weniger verletzlich. So kommen sie leichter in höhere Positionen. Sie sind hart. Nicht weich. Aber sie fürchten die Leute mit mit der dünnen Haut, weil die näher am Leben stehen und ein Verlangen auslösen, ihnen zu folgen. Hier ist der Orient fortschrittlicher als der Westen, denn die Sufis und ihre Vorstellung der Harmonie werden in der Gesellschaft, an der Basis, insgesamt ernster genommen.
Redaktion in Kiel, 20.12.01
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