Heute stelle ich nur drei Beiträge ins Netz, da sie eine thematische Einheit ergeben und sie schon lang genug sind. Einige kürzere Beiträge, die hier angekommen sind, werden in die nächste Nachricht genommen.
(1) Ozzy: Liebe Jingle Bells, are you still rocking? Angesichts des neuen Buches versuche ich einmal eine kleine Zusammenfassung. Anfang Oktober schickte ich eine Mail an Maria, Simon und Carl, in der ich meine Rückkehr nach Deutschland ankündigte. Die drei hatten die spontane Idee mit dieser Chronik, denn sie verbanden meine Rückkehr mit Fragen, die an die Öffentlichkeit gerichtet sind. Wir untersuchen hier gesellschaftliche Mechanismen, um Möglichkeiten für kulturelle und politische Veränderungen auszuloten. Dabei vergleichen wir einiges von dem, was heute in der Welt geschieht, mit den Entwicklungen, die damals zum Brand im BLUESLAND geführt hatten. Da wir das Rechts-Links-Schema für überholt halten, nennen wir uns progressiv im Gegensatz zu konservativ. Manchmal ist das ein Kampfbegriff, hauptsächlich ist es aber eine eigenständige Mentalität, die sich nicht durch Abgrenzung definiert.
Eine der wichtigsten Waffen der Progressiven ist strategische Offenheit, immer da, wo sie auf ein ausweichendes Schweigen stoßen. Das Schweigen hingegen ist nach ihrer Ansicht eine der wichtigsten Waffen der Konservativen und des Establishments. Diese repräsentieren die derzeitige gesellschaftliche Macht im Land. Die Progressiven fordern vom Establishment eine ehrliche geistige Auseinandersetzung mit progressivem Gedankengut. Sie werfen den Konservativen vor, dass ihre Mentalität auf destruktiven Mechanismen der Angst beruht, denen sie konstruktive Mechanismen einer natürlichen Wunscherkundung und -erfüllung gegenüberstellen. Sie werfen ihnen auch passive Gewalt durch eine Elitenbildung vor, die Gesinnung vor Befähigung stellt. Sie gestehen ein, selbst konservative Anteile zu haben, ebenso wie die Konservativen progressive Anteile haben.
Es geht den Progressiven darum, neue Formen und Möglichkeiten der Gemeinschaft zu projizieren und vorzuleben, es geht ihnen nicht in erster Linie um die Bekämpfung eines wie auch immer definierten Konservatismus. Progressiv heißt gewaltlos, aber gewaltig. Angesichts der Entwicklungen in der Welt, mit Terror und Gegenterror, mit 3000 Toten in New York und Tausenden Toten in Afghanistan, angesichts auch eines zum Teil unverhohlenen Bellizismus in Politik, Presse und Gesellschaft, braucht der Pazifismus laute Stimmen. Und wenn er auch den Herrschenden nicht gefallen mag, er hat ein Recht darauf, fair angehört zu werden. Auch die Konservativen wissen, dass es uns um das Ganze geht und nicht um den persönlichen Vorteil und dass unsere Argumente nicht einfach von der Hand zu weisen sind.
Die politische Situation hat sich vorläufig beruhigt. Zu Zeiten der Gehorsamsfrage und der Bombardements auf Kabul habe ich in diesen Nachrichten einiges an Wut herausgelassen. Wenn man keine klare Position zum Beispiel gegen die Allmacht der Amerikaner zeigt, merken weder Freunde noch Feinde, welche Bedeutung bestimmte Ereignisse haben. Gleichzeitig ist diese kritische Auseinandersetzung auch ein Gewaltersatz. Wenn jemand seine Wut rausgelassen hat, befindet er sich wieder im emotionalen Gleichgewicht. Was kann man Besseres mit Wut oder anderen starken Gefühlen machen als sie in der Kunst zu sublimieren, sie in engagierten Gedanken zu bekunden oder sie in anderer Form sinnvoll zu verarbeiten? Dies ist die Art von offener Streitkultur, die ich für anstrebenswert halte. Oder ist es tatsächlich besser, sie zu verdrängen und verkümmern zu lassen, bis man taub geworden ist für tief erlebte Momente und für die Hoffnung auf ein reales Glück?
Wenn ich manchmal Demokratur sage, dann meine ich damit Sachen wie Sonderseiten in der Zeitung über den autofreien Sonntag, mit großen übersichtlichen Schaukästen mit Pro und Contra, oder die Frage nach der adäquaten Christbaumbeleuchtung. Das sind in etwa die Themen, in der sich die Öffentlichkeit in Demokratie übt. Gegen eine solche Alibikultur stelle ich die Forderung nach angemessener Selbstkritik und die bereichernde Faszination der Erkundung des anderen.
Natürlich haue ich auch mal daneben, ich weiß. Wer tut das nicht? Das Plädoyer jedenfalls heißt: Verlagern wir den Krieg auf die Worte und Gesten, dann sparen wir uns das Blutvergießen. Und betrachten wir das andere mehr mit Neugier als mit Furcht! Die Konservativen geben den Kriegen so viel Aufmerksamkeit wie die Historiker. Je größer eine Gewalttat ist, desto wichtiger wird sie. Je größer ein Unglück, desto eher ist es eine Schlagzeile. Liegt nicht hier schon ein Irrtum? Der Weg zu einer Streitkultur und weg von der Streitverdrängung ist in erster Linie eine Bildungsfrage. Die Frage danach, wie man mit Kritik umgeht zum Beispiel. Alles Übel ist Unwissenheit, sagt Buddha. Und das ist meiner Ansicht nach auch, was der damalige Bundespräsident Herzog mit dem Ruck meinte, der durch Deutschland gehen müsse.
Zum Schluss noch ein Gruß an Lisa. Ja, ich erinnere mich noch ganz gut an dich. Das Gesundheitsamt hat sich nicht wieder gemeldet. Ich hoffe, das bleibt auch so. Vielleicht gefällt dir mein Song, den ich heute ins Netz stelle. Er ist aus der I-DON'T-BELIEVE-YOU-Session. – Übrigens, was ist eigentlich aus R. Baumann von den HOLOGRAMS geworden, von dem hört man ja gar nichts mehr. (23.12.01)
Audio: SOME SPACE (2:45) –
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(2) Simon: Gestern haben wir uns wieder bei Maria getroffen. Hanna und Marco sind dazugekommen und wir haben bis tief in die Nacht geredet. Nachdem das erste Buch nun fertig ist, haben wir uns gefragt, in welche Richtung es weitergehen soll. Wir denken, dass die wesentlichen Punkte inzwischen angesprochen sind. Was das BLUESLAND angeht, so sind wir froh, dass wir es virtuell ein wenig wieder haben auferstehen lassen können. Es sind auch ganz neue Aspekte für viele von uns dabei. Von den geklauten 10.000 Mark zum Beispiel wusste kaum jemand etwas. Vielleicht hat dieser Vorfall etwas mit dem Brand zu tun, was sagt Gerhard dazu? Wir weisen erneut darauf hin, dass wir uns über jede Information freuen, die zur Aufklärung des Verbrechens beitragen könnte. Es ist schon neun Jahre her, das ist wohl richtig, aber wir wissen immer noch nicht, wer es getan hat und warum.
Außerdem haben wir darüber nachgedacht, wie es politisch weitergehen soll. Ausgehend von unserer Ursprungsfrage, welches die Umstände waren, aus denen heraus Ozzy damals das Land verlassen hatte, haben wir eine umfassende politische und weltanschauliche Position entwickelt, die auf Gewaltlosigkeit, Transparenz und Gerechtigkeit beruht. Diese progressive Anschauung lässt sich zum Beispiel am Ego-Fraktal durchdeklinieren, aber darauf will ich jetzt verzichten.
Um unsere Position in der Gesellschaft zu repräsentieren, bauen wir ein eigenes Verständnis von Autorität auf. Genauer gesagt bauen die Künstler unter uns dieses Verständnis auf. Für sie ist – wenn ich das richtig nachvollzogen habe -der kreative Zustand des Kontrollverlustes und der Trance eine Hauptquelle der natürlichen Autorität. Eine Autorität im progressiven Sinne ist eine befähigte Person, die ihre Aufgabe darin sieht, einen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich jeder frei entwickeln kann, ohne unterdrückt zu werden. So ungefähr.
Unsere politischen Gegner sind die, die wir das Establishment nennen, weil sie echte Neuerungen aus einer nicht akzeptablen Angst heraus verhindern. Nach dem Elften September konnte man sehr gut sehen, welches die Kräfte sind, die sich auf gewalttätige Führer berufen und welches die Kräfte sind, die neue Gewalt nicht für die richtige Antwort auf Gewalt halten. Das Verhältnis dieser beiden Kräfte zueinander ist asymmetrisch. Umso stärker ist unser Drang, politisch zu handeln.
Ozzy repräsentiert für mich – mit all seinen Stärken und Schwächen – die gelebte progressive Mentalität. Eines von Ozzys Hauptargumenten ist, dass die Gesellschaft – wiederum aus Angst – keine charakterstarken Individuen zulässt und sich dadurch selbst beschneidet. Dass die Eltern es nicht zulassen, dass ihre Kinder größer werden als sie selbst und mit den Lehrern ist es auch so. Dadurch ist die Gesellschaft durch die Generationen nach unserer Meinung immer dümmer geworden. Es gibt aber faktisch und tatsächlich Alternativen zum Materialismus und auf dieser Basis forschen wir weiter. Dank allen, die bisher hier geschrieben haben und wir hoffen, dass ihr weiterhin dabeibleibt. Vielleicht kommen wir dabei auch auf einen noch größeren gemeinsamen Nenner. (23.12.01)
(3) Hanna G.: Aufbruch! Ich liebe Aufbrüche. Sind sie nicht faszinierend? Wie ein bevorstehender Urlaub. Man weiß nicht genau, was einen erwartet, aber das ist gerade der Reiz an der Sache. Man erlebt so viel. Und es geht für mich gar nicht so sehr darum, politisch zu arbeiten, obwohl das ein guter Nebeneffekt ist, sondern darum, wieder einmal die Möglichkeit zu haben, alte Gewohnheiten hinter mir zu lassen und Neues durch mich hindurchzulassen. Die Eindrücke des gestrigen Abends waren sehr inspirierend für mich. Es war auch schön, zusammen diese ganzen Mails loszuschicken, an Gerhard und Mo und Mr. Sunbird und ein paar andere. Die Kommentare, die wir da abgegeben haben, waren zum Teil sehr erheiternd, aber das wird den unbeteiligten Leserinnen und Lesern leider verborgen bleiben müssen.
Um aber wieder auf das Niveau der Chronik zurückzukommen, und um meinen revolutionären Tribut für heute zu zollen: Warum sprechen wir nicht etwas detaillierter über Sex? Das liegt doch eigentlich nahe. Einige Leute haben ja schon angefangen. Wie? Ja, mit dem Sex auch, aber ich meine, mit dem Darüber Reden. Es geht doch in den Beiträgen immer wieder um die Grenzen und Hemmungen zwischen den Leuten, die auf Ängsten beruhen. Und die körperliche Liebe ist eine der Basissituationen der Kommunikation. Wer seine eigene Sexualität kennt, weiß so gut wie alles über seine Wünsche und seine Ängste. Aber wer kennt die schon? Auch dass die Gesellschaft konservativ ist merkt man an der Art, wie man mit dem Thema Sexualität umgeht. Es sind doch gesellschaftliche Mechanismen, die es verhindern, dass die jungen Leute eine gesunde Sexualität entwickeln. Die Überzivilisation.
Ich hatte früher sehr viele Hemmungen (und habe bestimmt noch einige) und ich erinnere mich, wie ich regelmäßig sehr große Angst bekam, wenn es „zur Sache“ ging. Meine frühen Erfahrungen waren deshalb auch nicht sehr erfolgreich. Als ich irgendwann einen Teil dieser Ängste überwunden hatte, zum Beispiel in Beziehungen, waren es immer mehr meine eigenen Wünsche, die „der Sache“ vorausgingen und nicht mehr die Ängste. Natürlich hat sich das positiv auf mein allgemeines Erleben ausgewirkt. Deshalb ist die Dichotomie „Wünsche/Ängste“ mir gut vertraut. Ich hätte nicht gedacht, dass sie auf so viele Lebenssituationen übertragbar ist, doch finde ich immer wieder dasselbe Prinzip. Ich denke, das liegt auch daran, dass besonders Künstler sich über ihre Hemmungen klar sein müssen, denn Hemmungen stören die Inspiration. Außerdem ist auch ein gewisser Stress dabei, sich auf einer Bühne zu zeigen und etwas vorzutragen. Wenn unsere Wünsche nicht stärker wären, könnten wir das kaum machen. (23.12.01)
Redaktion in Kiel, 24.12.01
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