(1) Gerhard: Schon kürzlich wollte ich schreiben, aber wir bekamen Besuch aus Marokko, der für ein paar Tage blieb. Ein Schulfreund meiner Frau, der jetzt in Casablanca lebt. Aus den Reformen, die der junge König in Marokko da in Gang bringen wollte, ist wohl leider nicht viel geworden, wie unser Freund erzählt. Besonders die Presse scheint darunter zu leiden.
Ich bin gefragt worden wegen der 10.000 Mark. Nun ja, das war eine unangenehme Geschichte, das stimmt. Ungefähr eine Woche vor dem Brand sind sie gestohlen worden. Ich habe das auch der Polizei damals erzählt, und es war Teil der Ermittlungen, aber die Tat konte nicht aufgeklärt werden. Ich habe das auch deshalb nicht an die große Glocke gehängt, weil ich das Geld für einige Stunden unbeaufsichtigt in meinem Büro ließ und nicht in den Tresor schloss, was eigentlich gar nicht meine Art ist. Es waren Konzerteinnahmen und Tageseinnahmen der Küche, an diesem Tag war viel los, und ich war ziemlich durcheinander. Ich war ja auch frisch verliebt. Naja, bin ich heute noch. Jedenfalls ließ ich das Geld im Büro, und das könnten einige Leute mitgekriegt haben. Wir hatten an dem Abend außerdem einen Kabelschaden in der Küche, um den ich mich kümmern musste. Ich weiß selber nicht, wieso ich das Geld nicht sofort eingeschlossen hatte, wie ich es üblicherweise tat. Deshalb kann es auch kein geplanter Raub gewesen sein. Ich wüsste auch nicht, welche Verbindung das Geld mit dem Brand haben sollte. Wir sind damals alle Möglichkeiten durchgegangen, aber haben nichts gefunden.
Was nun Ozzy angeht, so muss auch ich mich wundern, welchen Verlauf sein Leben genommen hat. Da war immer so viel positive Energie in dem Jungen und er hat sich offenbar nicht verändert. Es scheint tatsächlich so, als würden gewisse Kreise bewusst das Gespräch vermeiden, bewusst alles vermeiden, was dieses andere bei Ozzy betrifft. Nun, ich kannte Ozzy lange und auch ich habe mich bei vielen Dingen gewundert, die Ozzy gesagt und getan hat. Ich habe ihn in dieser Art auch beobachtet. Und ich stimme zu, dass man vieles von Ozzys Anderssein psychologisch deuten kann, so wie man jede Art von Verhalten psychologisch deuten kann.
Anscheinend aber hält der Durchschnitssbürger manche (welche?) Dinge für krankhaft, nur weil sie sich psychologisch deuten lassen. Oder ist es doch nur Ozzys Familie? Aber was heißt „nur“? Denn es bedeutete ja, dass er in einem solchen Klima geprägt wurde und schon in der ersten In-Group diese Erfahrungen machen musste. Und wenn er später merkt, dass es die anderen gar nicht juckt, dann ist für mich auch klar, dass diese Mitwisser in Ozzys Augen im Laufe der Zeit zu Mittätern werden, weil sie sich durch ihr Schweigen genauso verhalten wie diejenigen, von denen Ozzy als Ozzy abgelehnt wurde. Ebenso schließe ich mich Maria an, dass, wenn jemand wie Ozzy nicht durchgelassen wird, es andere mit weniger Überlebensenergie, die auch gut sind, es erst recht nicht schaffen können. Und zwar speziell die, deren Begabung von den Eltern nicht oder falsch gefördert wurde, aus welchen Gründen auch immer.
Hier liegen meiner Meinung nach auch Möglichkeiten für Veränderung. Ich bin eigentlich ein auf Ausgleich bedachter Mensch, aber um hier einen Ausgleich zu erzielen, würde ich aus meiner sicheren Entfernung auf jeden Fall für eine Weiterführung der Diskussion plädieren. Weitermachen, bis sich zeigt, was da wohl dahinter steckt. Oh ja, und danke für die Mail, dann ist das im Juli mit dem BLUESLAND-Treffen also abgemacht.
(2) Mr. Sunbird: Sonnenvögel, fliegt ins Licht. Sonnenvögel sieht man nicht. Regenvögel fliegen nicht. Ihnen wird leicht schwindelig.
(3) Maja B.: Zu der Geschichte mit Helen Keller fällt mir ein weiterer pädagogischer Fall ein, nämlich Monty Roberts, der amerikanische Pferdezüchter. Er ist sehr bekannt, auch die Königin von England schätzt seine Künste, Pferde zu zähmen und auszubilden. Er hat auch eine eigene Philosophie, was die Arbeit angeht. In einer BBC-Dokumentation erzählte er, dass sein Vater bereits Pferde ausgebildet hat, er sie aber oft geschlagen habe. Der Junge wollte das nicht und er dachte sich etwas anderes aus: Er lernte die Sprache der Pferde. Er beobachtete aus dem Verhalten der Tiere, welche Botschaft sie hatten und welchen Gemütszustand. Auch beim Zähmen wilder Mustangs verwendete er keine Gewalt, sondern er konfrontierte das Tier mit dessen eigenen Verhaltensweisen, er kommunizierte mit ihm. Seine Erfolge sind Legende. Monty Roberts hat seine Methoden auch auf die Kindererziehung übertragen. Er findet Gesetzmäßigkeiten der Kommunikation. Ein außergewöhnlicher Mann.
Und steht er nicht durch sein eigenes Schaffen stellvertretend für viele Antworten, die hier bereits formuliert wurden? Von der Gewalt seines Vaters hat er sich abgewandt, um etwas Neues zu machen. Und er hat es gefunden. Es heißt Kommunikation. Es heißt auch, sich auf den Kommunikationsmodus des Anderen einstellen können. Da haben wir es doch! Das ist doch die Alternative zur Gewalt. Vergleichen wir das mit dem, was Herr Hofstaedter kürzlich über die Lehrer gesagt hat. Er nannte zwei Erziehungsansätze: den traditionellen, nach dem eine Art von Wissen vom Lehrer in das Kind hineingebracht wird, und den progressiven, nach dem das Wissen aus dem Kind herausgeholt wird, man also das Individuum fördert und sich entfalten lässt.
Für mich bedeutet Montys Ansatz zunächst, dass man sich selbst zähmen muss. So wie Monty das Pferd langsam an den Sattel gewöhnt hat, an seinen Anblick, an seinen Geruch, an sein Gewicht, an die Befestigungen, so muss man sich selbst an seine eigenen Wünsche und an sein eigenes Wesen heranführen. Niemand kann von heute auf morgen sein Verhalten an seine Wünsche anpassen. Das dauert Jahre und ist ein langer Prozess, der auch nach dem Erfolg noch lange andauert. Zweitens stellt sich für mich weiterhin die Frage nach der Angemessenheit von Zwang und überhaupt von Absichten in der Erziehung von Kindern. Die Helen-Keller-Geschichte hat mir mal wieder klargemacht, dass ich noch immer keine Gewaltdefinition bieten kann, die man politisch verwenden könnte. Manchmal ist Zwang eben richtig, oder wenigstens nicht falsch, aber wann? Welche Absichten dürfen wir bei der Erziehung gelten lassen, und sind wir wirklich aufrichtig hinsichtlich unserer Absichten? Da ist wohl noch viel zu tun.
(4) Roger B.: Ich frage mich, wohin die Sache jetzt laufen wird bzw. kann. Hier sind mittlerweile so viele Sachen angesprochen worden, aber es bewegt sich nichts. Im Moment bin ich etwas nachdenklich. Sind die Fortschritte im Diskurs wirklich Fortschritte? Gut, wir haben eine Chronik mit einigen zentralen Fragen der Gesellschaft zusammengestellt, mit vielen Denkanstößen. Für die, die hier schreiben, ist der Sinn also klar. Aber das ist etwas ganz anderes als politisch etwas zu bewegen. Denn wohin man auch sieht, es herrschen Nihilismus und Pessimismus. Ich versuche ja selbst, den Nihilismus des Punk zu reformieren, wenn ich an diesem Gespräch teilnehme. Und mich vom Optimismus der BULLETS anstecken zu lassen. Doch es scheint immer wieder ins Leere zu laufen. Läuft es jetzt doch auf eine politische Gruppe hinaus, oder auf was überhaupt?
(5) Maria: Ich möchte gleich auf Rogers Beitrag antworten, den ich vorab habe lesen können. Schade, dass du vor ein paar Tagen keine Zeit hattest, als wir dich eingeladen hatten, denn dann wäre dein Beitrag bestimmt etwas anders verlaufen. Es geht gar nicht so sehr darum, was wir politisch erreichen wollen, sondern vielmehr darum, was mit uns geschieht, wenn wir bestimmten Fragen auf den Grund gehen. Wir kommen weiter und dadurch verändern sich auch unsere Rahmenbedingungen ständig. Eine politische Bewegung haben wir nicht im Sinn. Ozzy hat das auch noch mal ziemlich klar gesagt. Vielleicht können wir ein politisches Programm aus der Chronik ableiten, aber wenn wir ein solches wollten, hätten wir es geschrieben. Alles, was wir bis hierher erkennen können, ist, das wir irgendwas Neues machen und dass es ganz gut ist. Jetzt erforschen wir es weiter.
Auch ein Wort noch als Antwort auf Oliver von wegen Kompromissbereitschaft: Wenn dahinter die versteckte Kritik stehen sollte, dass Ozzy besser akzeptiert worden wäre, wenn er netter gewesen wäre, dann kann Oliver das vergessen. Ozzy ist anders. Man hätte ihn immer degradiert auf das, was er mit allen teilt, sein eigentliches Wesen aber wäre einfach wegradiert worden. Ozzy hat es in diesen Ausmaßen auch erst verstanden, als er fern von allem in Tunis war. Er sagte mir kürzlich, dass es für ihn auch nicht so leicht ist zu akzeptieren, anders zu sein. Er hat es sich ja nicht gewünscht, sondern er ist so. Ich denke, wenn wir bewirken können, dass Ozzy sich nicht mehr ausgegrenzt vorkommt, dann haben wir politisch etwas erreicht.
(6) Webmaster: Gut gebrüllt, Löwe! Ich meine natürlich die Replik von Marco H. aus der 48. Nachricht. Ein Mann, der sich zu wehren weiß. Recht so. Ob ich Ozzy meinte oder mich selbst? Nun, mag sein, was spielt das für eine Rolle? Es geht um andere Dinge. Die Fraktale haben mich angelockt. Ego-Fraktal, Abschieds-Fraktal, ja, das ist interessant. Es überschneidet sich mit dem, was ich die Wissenschaft der Situation nenne. Die Wissenschaft der Situation, meine Damen und Herren! Öffnen Sie sich diesem Gedanken, lassen Sie ihn auf der Zunge zergehen. Denn Situationen haben eine Grammatik. Deshalb kann man sie auf verschiedenen Ebenen beobachten und vergleichen. Was Ozzy fraktales Denken nennt, ist nichts anderes. Man sieht nach der Struktur der Situation, nicht nur nach der individuellen Situation. Hier liegt meiner Meinung nach eine Möglichkeit, Objektivität zu erreichen, um zum Beispiel Werte zu prüfen. Wenn es dann um Fragen wie der nach Autorität geht und der nach Gewalt, dann ist es am Sinnvollsten, typische Autoritätssituationen oder Gewaltsituationen zu beschreiben und dabei die Strukturen zu untersuchen. Diese Methode hat den Vorteil, dass man nah am Alltag bleibt und nicht ins theoretische Philosophieren kommt, das mir zuwider ist.
Nehmen wir als Beispiel das typische Gewaltszenario. Dafür brauchen wir eine Person A, die gewalttätg ist, und eine Person B, der Gewalt angetan wird. Dann eine Tat wie etwa eine Ohrfeige, dann ein Motiv und ein Resultat und andere Dinge. All dies sind Elemente der Situation. Definitionen von abstrakten Begriffen benötigen einen solchen Rahmen, sonst bleiben es Spielereien. Und je abstrakter der Begriff, desto notwendiger ist ein solcher Rahmen. Ich sitze seit mehreren Jahren an einer Art Situationslexikon, aber meine Instrumente sind noch zu kompliziert, obwohl ich weise bin. Wichtiger aber ist, sich klarzumachen, wofür wir das brauchen. Denn es ist viel Arbeit. Vielleicht könnte man sagen, man braucht die Objektivität einer Situationswissenschaft, um das Ego- und In-Group-Denken zu überwinden. Um zu einem Begriff von allgemeiner Gerechtigkeit zu gelangen, der politisch verwertbar ist. Etwa so. Wenn Sie weitere Fragen zum Sinn des Lebens haben, fragen Sie einfach im Netz nach dem Webmaster. Aber vielleicht frage ich Sie auch zuerst.
Redaktion in Kiel, 26.12.01
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